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XII.

Steward kam gerade dazu, als der Kommissär Kovary den Diener Morel und die Witwe des Ermordeten, Missis Philomena Akte San Remo, verhaftete. Durch das Gesicht der Lady fuhr ein Riß; ihre Augen knallten hell vor erbitterter Neugier in das feiste schöne Antlitz des mannhaften Kommissärs. Er schlug, während er die Formalität vernahm, traurig die Augendeckel nieder. Die Erwartungen, die stillen gesetzlosen Hoffnungen seines prallen und schiefen Fleisches schwollen unter der Zucht seines Beamtengehirnes so merklich zurück, daß er sich erst jetzt, wo er zu entsagen begann, ihrer bewußt ward und plötzlich in eine frohe Erlösung umschlug; er fühlte es wie Genugtuung, daß er dem fremden sinnlichen Bann des Weibes durch eine mechanische Hilfe von außen entgehen konnte. So groß sein natürliches Verlangen war, so tyrannisch stach jetzt sein Übelwollen nach ihr.

Das Erste, was Steward, auf den jetzt alle gespannt blickten, vernehmen ließ, war: Falsch! Er eilte mit großen Schritten in das Zimmer, merkwürdig flink, geradezu präpariert auf den Fall und seine Lösung. Der Kommissär erstattete ihm ein Referat. Als er von der Verhaftung berichtete, lachte Steward und legte ihm die Hand auf die Schulter; man wußte, jetzt würde er sagen, das ist ja alles Unsinn, Ihr habt die Unrechten erwischt. Statt dessen, die Brauen knitternd, sagte er: »Kommissär, Kommissär … auf jeden Fall Schutzhaft!«

Da ist er! schrie der Diener Morel, der die eigene Verhaftung mit dem Ausdruck vollständiger Verblödung angehört hatte. Er streckte die Hand triumphierend gegen den Geheimdetektiv, als könnte ihn diese Enthüllung befreien. Der Kommissär berichtete Steward von den Angaben des Dieners. Steward hörte sie und frug nach der Lady. Die Lady war inzwischen weggebracht worden. Kovarys tyrannische Faust begann sich um sie zu schließen. Steward verschob das Verhör und saugte die Seele des Dieners Morel aus.

Bis auf Kovary mußten sich alle Anwesenden in den Türrahmen zurückziehen.

Steward pflanzte sich inmitten des Raumes auf, nahe beim Schreibtisch, den Blick an der Leiche im Kanapee einhenkend. Sie war zugedeckt; man sah nur Stirn und Augen. Steward operierte sich zuerst einmal den Sinn und die Richtung dieses Blickes zurecht. Der Blick drückte nicht Grauen aus, sondern Lust der Auflösung. Ein Auge war matt geschlossen, Versagen des Muskels, Eindruck von Ätherrausch. Die Richtung schien streifend am Leib herunter auf eine Stelle der Wand zu zielen, an die sich Steward jetzt begab. Dort war seine eiserne Kasette von ungefähr Mannesgröße in die Wand eingelassen. Steward maß sie in allen Dimensionen mit den Augen, aber er hütete sich, sie zu berühren. Im Gegenteil, er und Kovary nahmen Instrumente aus der Tasche und blickten durch die Linsen, fuhren längs bestimmter Stellen darüber hin. Ein Beamter wurde herbeigerufen, er arbeitete vorsichtig mit Säuren und empfindlichen Frottierlappen. Jetzt war die Spur an der Kasette also daktyloskopiert.

Dann lüftete Steward die Decke, mit der man die Leiche schonend verhüllt hatte. Er prüfte den Papierdolch, dem keine Handspur abzunehmen war; die Schale war zu rauh. Aber aus der Hand des Toten wand Steward einen Streifen schwarzer rotgeblümter Seide.

Was ist das? Morel, unter dem Schutz von Polizisten hinter der Diele wartend, erzählte von den Sammlergewohnheiten des Gesandten. Die Seide stammte von dem Bausch, der längs des ein wenig querab stehenden Kanapees an die Wand genagelt war. Der Sterbende hatte im Todeskampf danach gegriffen. Das war einfach erklärt, fand Kovary. Aber Steward, der die Dinge in eine Perspektive, in einen scharfsinnigen assoziativen Strom zu schalten gewohnt war, stieß sich an dieser Harmlosigkeit des immer wiederkehrenden chinesischen Motivs. Er erfuhr schließlich von dem Diener Morel, daß der Seidenbausch an der Wand der jüngste Zuwachs zur Sammlung des Gesandten gewesen war. Er stammte von dem exotischen Damenbesuch her.

»Sagen Sie, Morel – es wird Ihnen nichts geschehen, seien Sie ganz ruhig und überlegen Sie; wir halten Sie nur in Schutzhaft; es handelt sich hier um ein Verbrechen, dessen Täter auch zu weiteren Komplikationen geneigt sein dürften, indem sie die Zeugen entführen – bitte, Kommissär, achten Sie gut auf die Lady San Remo … sagen Sie also, Morel, Sie haben heute um eine gewisse Zeit im Zimmer Stimmen gehört. Welcher Art waren diese Stimmen?«

»Es war nicht die Stimme des Herrn, Sir … Entschuldigen Sie die Verkennung von vorher. Ich erinnerte mich bloß an Ihren Besuch letzthin, entschuldigen Sie die Verirrung … die Stimme im Zimmer war hoch«

»War es seine Frauenstimme?«

«Ja, es konnte eine Frauenstimme sein.«

»War es die Stimme der Lady San Remo?«

Der Diener wurde unruhig, schaukelte mit dem Kopf. »Im eigentlich nein, ich weiß wirklich nicht, ich will damit nicht sagen – den Vormittag über war die Tür versperrt. Ich habe sie dann, gerade weil ich sprechen hörte, nicht mehr geprüft. Aber ich kann sagen, es ist niemand aus diesem Zimmer oder dem Hause hinausgekommen. Vor sechs Uhr kam die Lady nach Hause, durch den Garten. Ich war gerade beim Gießen der Beete. Ungefähr zwanzig Minuten später hörte ich einen Schrei. Als ich zum Zimmer kam, stand die Lady davor, sie war sehr aufgeregt. Die Tür war offen.«

»Wo stak der Schlüssel?«

»Der Schlüssel stak, wo er jetzt steckt, an der Innenseite. Es ist ganz unmöglich, daß jemand hinein- oder herausgekommen ist.«

»Aber Sie hörten doch reden?«

»Ja. Aber ich will nichts behaupten. Die Stimme des Gesandten war es nicht. Ob es die der Lady war, weiß ich nicht. Ich glaube, eigentlich nicht.«

»Sie haben dem Kommissär mitgeteilt, daß um Mittag herum die Klappe am Telephonregister fiel. Was hatte das zu bedeuten?«

»Der Gesandte war mit der städtischen Telephonzentrale verbunden. Es bedeutete, daß zwischen dem Zimmer und einer fremden Stelle gesprochen wurde.«

»Wurde das Zimmer angerufen oder glauben Sie, daß man vom Zimmer aus hinausgesprochen hat?«

»Das Letzte. Denn wenn wir angerufen worden wären, hätte die Glühbirne im Dienerzimmer geleuchtet und die Glocke gerasselt.«

»Mit wem hat man im Zimmer des Gesandten zuletzt gesprochen?«

»Ich selbst habe den Doktor Brehm, unseren Hausarzt, verständigt, weil der Gesandte einen Anfall hatte. Der Doktor sagte, er würde wiederkommen. Er ist aber nicht mehr gekommen. Ich vermute, daß das Telephongespräch dazu diente, ihn abzubestellen.«

»Das werden wir gleich hören. Ich bitte, den Arzt anzufragen. Es steht also fest, daß aus dem Zimmer des Kranken gesprochen wurde. Wer sprach? Der Kranke selbst? Wissen Sie es?«

»Ich weiß es nicht. Man kann vom Dienerzimmer aus nicht horchen. Der Gesandte war öfters krank und wollte dann nie gestört sein.«

»Von einem chinesischen Diener haben Sie also nichts gemerkt?«

»Gar nichts. Er müßte direkt aus dem Boden gewachsen sein.«

»Er müßte direkt aus dem Boden gewachsen sein, hm – gibt es hier irgendwelche anderen Zugänge, vielleicht geheime?«

»Nein. Jene Tür dort führt in ein Hinterzimmer, in dem die Tiere untergebracht sind. Die Tiere waren lange sich selbst überlassen, da sie mich als Wärter nicht annahmen. Der Gesandte mußte selbst füttern.«

»Es ist also niemand hereingekommen, außer den inkriminierten Personen. Hier hat aber ein Kampf stattgefunden, und zwar ein ziemlich lebhafter. Sie müssen doch das Knattern des Rahmens und das Bersten der Gipsfigur gehört haben.«

»Ja. Das war aber noch morgens … ich weiß wirklich nicht, wie es zuging, ich will auch keine Anschuldigungen vorbringen … in der Frühe war die Lady dagewesen. Als ich mit der Post hereinkam, befand sich das Zimmer bereits in solchem Zustand. Der Gesandte fühlte sich sehr unwohl, er verbot mir, aufzuräumen.«

Die Augen des Kommissärs Kovary bohrten sich tief in eine Ecke; seine Kinnladen traten ganz hart hervor, er biß darauf, malmte eine Sache zwischen ihnen. Der Tyrann Kovary erhob sich in ihm, er fühlte sich bodenlos getäuscht, Hoffnungen, die man seinem Mannestrieb gemacht hatte, wurden jetzt abgeschnitten; denn selbstverständlich hatte er gehofft, eine mit dem bürgerlichen Recht in Einklang stehende Galanterie erweisen zu können, für die sich der Lohn ihm in der dünnen Schwingung eines Paars mondäner Beine vage andeutete. Kovary bildete sich selbst eine Vorstellung von dem Verlauf der Dinge, in den er sich, ohne zu wissen, daß Empfindungen ihn in eine Gedankenklause drückten, mit steifen Kiefern verbiß.

Das bemerkte Steward, der diesen Dingen großen Wert zuzumessen gelernt hatte, seit er sich einem psychologisch geschulten Gegner gegenüber wußte. Denn jedes gefühlsmäßig getrübte Urteil würde, so kalkulierte Steward, von diesem Gegner benützt werden, um die richtige Spur zu verwischen. Man durfte durch falsche Schlüsse dem Gegner keine Anhaltspunkte bieten; denn solche würden von diesem unterstrichen werden. Sie mußten die Untersuchung fälschen und aufs Treibeis führen. Steward brachte sich also, ohne daß auch er es gemerkt hätte, in einen Gegensatz zur Auffassung des offiziellen Kommissärs und dehnte diesen Gegensatz auf die Personen aus. Es entstand, da der Kommissär ihm banal und nicht scharfsinnig genug zu schließen schien, eine kleine ärgerliche Spannung, und Steward murmelte warnend: »Psychologie des Zeugen!« Denn Steward, der eine vorgefaßte Meinung hatte, dieser Fall sei unerhört verwickelt, und der sich mit der Tiefsinnigkeit schmeichelte, mit der er sich konterminiert glaubte, wollte nun einfach nicht, daß die Aussagen des Dieners Morel als vollwertig genommen würden. Er hatte da einen Standpunkt, daß diesmal die rein mechanischen Fügungen zur Erklärung des Vorganges nicht hinreichten; dahinter steckte mehr. Die chinesischen Passionen des Gesandten zum Beispiel waren ausschlaggebender als die durch Ohren- und Augenzeugen kontrollierbare Mechanik der Ereignisse. Und dazu kamen noch die geheimen Mechanismen, von denen aus gewissen Gründen nicht gesprochen werden durfte und die selbst dem Kommissär verschwiegen bleiben mußten. Steward aber wußte davon und stellte sie in Rechnung.

Am Telephon meldete sich jetzt die Assistentin des Arztes Dr. Brehm. Der Arzt selber war nicht zu Hause. Er war auch Mittags abwesend, als vom Palais San Remo aus die Visite abbestellt worden war. Auch damals war die Assistentin am Telephon. Nein, ihr war nichts aufgefallen. An eine besondere Stimme konnte sie sich nicht erinnern. Kovary bedauerte diese unergiebige Auskunft kopfschüttelnd, Steward aber, der diesmal alles seiner Phantasie verdanken wollte, betrachtete diese Lücke als nebensächlich.

Er, Steward, würde den Fall von einer ganz anderem Seite her aufbauen. Er suchte seine Indizien diesmal außen, in der Welt abseits der Umgebung der Ereignisse, und würde auf rein gedanklichem Wege am Ziele landen.

Der Diener Morel und die Witwe des Ermordeten blieben also in Verdachtshaft, die Steward zugleich als Schutzhaft auslegte; denn es war möglich, daß man die Lady oder den Diener entführte, um erst recht den Argwohn gegen sie zu kräftigen.


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