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Dritter Teil.

X.

Und da geschah das Unglück, wie es Steward seit Wochen erwartet hatte.

Alle Vorbereitungen waren ungenügend gewesen. Steward durchlief die Erfahrungen seines wechselvollen Lebens, prüfte die Morphologie des Verbrechens, die er in mäßigen und gedankenreichen Stunden zusammengesetzt hatte. Er kannte alle Systeme, nach denen so oder so gearbeitet werden mußte, weil auch das Verbrechen seine Gesetze hat, gerade insofern es in einer bestimmten Beschränktheit ablaufen muß. Diesen Fall hatte man ihm nun seit Wochen vor Augen gesetzt. Er gestand zu, dieser Fall war eine Komposition; er war mit solcher Umsicht, Durchsichtung des Möglichkeiten-Materials, so nach vielen Seiten wendbar angelegt, daß er wie ein konzentriertes Modell von Kriminalität anmutete. Wenn man beobachtete, mit welchen Feinheiten der Skala sowohl nach unten als nach oben hierbei gespielt worden war, so konnte man beinahe auf die Vermutung kommen, daß es sich um eine Karikatur handle; gleichsam als wollten die Urheber die ganze Schicht des Kriminellen sowohl mit dem Verbrecher als seinem Gegenstück, dem Wächter der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, ad absurdum führen. Dem widersprach aber der Ernst der Tatsache, die da gemeldet wurde. Ein Mensch war ermordet, und das war nicht mehr witzig. Ein Exponent von gesellschaftlichem Rang war einem schlauen Hinterhalt zum Opfer gefallen. Das war nichts weniger als witzig.

Steward erfuhr die Nachricht im Café um sechs Uhr nachmittags. Seit den letzten Beobachtungen war er in stündlicher Unruhe und Erwartung. Der Fall war diesmal so kraß, weil Steward die gegen ihn selbst gerichtete Spitze spürte. Man hatte ihn aus Chicago anonym nach Oaxa berufen. Er schwankte, noch als er über den Newyorker Broadway hinab zur Battery-Bucht schritt, ob er wirklich die Fähre nach Hoboken benützen solle, um den nächsten Eildampfer nach Europa zu erklettern. Er schwankte noch, als er schon den Fuß auf den Blechplatten der Stiege und die Hand am steilen Geländer hatte. Aber dann stieß der Dampferkoloß ab und kleine naseweise Bugsierer stupften ihn wichtig wie eine Meute in die Bay hinaus, und da schwankte Steward nicht mehr.

Das erste Radiogramm, das die Antennen der »Transozeanic« aus dem Osten her auffingen, und zwar kaum daß die Bugsierer ihre Stumpfnasen in den Leib des Passagierriesen gestemmt hatten, war an James Steward gerichtet und enthielt die Worte: »nicht ausweichen stop gilt diesmal sinn ihres lebens stop stop«.

Der Absender war also in erster Linie ein guter Psychologe. Er wußte erstens, daß Steward diesmal weniger taktfest war als sonst und daß es galt, die Möglichkeit abzuschneiden, die noch immer gegeben war, wenn Steward sich im letzten Augenblick besann und mit dem letzten Bugsierer wieder nach Hoboken zurückfuhr. Außerdem aber war es auch ungewöhnlich, daß das angekündigte Verbrechen nicht im Zusammenhange mit einem materiellen Vorteil, sondern gleichsam mit einer moralischen oder weltanschaulichen Frage gebracht war.

Ein Verbrechen aus Philosophie! Natürlich war es möglich, daß diese gewollte Nuance die Finte darstellte, auf die Steward eingehen sollte; daß sie gewählt worden war in der Berechnung, sie würde gerade die unsichere Stimmung und Schwäche in Steward hervorrufen, die nun tatsächlich bei ihm eingetreten war. Andererseits mußte sich Steward sagen, daß niemand auf diese Nuance geraten konnte, der nicht in ihrer Atmosphäre lebte; und daß Geschäftsverbrecher in einer solchen lebten, konnte verneint werden; denn selbst wenn das Ziel mit materiellen Vorteilen verknüpft war, so waren doch die Methoden die der Atmosphäre; und gerade das, schlicht gesagt, beunruhigte Steward, denn in dieser Sphäre fühlte er sich fremd und seine sachliche Ruhe verlor an Präzision und Anwendbarkeit. Es war das erste Mal, daß er einem sozusagen philosophischen Verbrecher gegenüberstand.

Der Absender gebot ihm Halt. Er nannte sich stop. Am Schluß des Telegramms stand zweimal stop. Das konnte nun ein Irrtum des Telegraphenbeamten sein. Aber der Mann im Radio-Office wies nach, daß er zweimal stop aufgenommen hatte. Der Irrtum lag also entweder bei der Aufgabestation, und das war sehr umständlich festzustellen; übrigens war es überflüssig, denn man konnte, ohne abergläubisch zu sein, diese Unterschrift für einen Fingerzeig nehmen; und das war dann auch das Oder; es wurde ihm Stop geboten. Stop, worin? In seiner Mission? In seiner Methode? In seinem letzten Fall?

Der letzte Fall … Steward saß gerade im Café City und las den »Mercury of Oaxa«. Er las sehr genau, von der Politik bis hinten zu den Anzeigen, aus denen er wertvolle Winke zu entnehmen pflegte. Über die »Geheimbau«-Affäre hielt er sich dicht. Nichts entging ihm. Rätselhaft wurde dieser einfache Schwindlerfall durch seine lokalen Zusammenhänge mit dem Geschehnis, unter dessen Vorspiegelung Steward nach Oaxa gelockt worden war. Standen die beiden Dinge miteinander in Verbindung? Wollte man ihn noch fester in den Fall Simple verstricken, oder war der Fall Simple selbst nur die erste Etappe zu dem größeren Coup, mit dem man ihn, Steward, jetzt ludern wolle? Graham Simple, Defraudant, zuständiger Nordamerikaner armenischer Abstammung, trat auch unter dem Namen Simpson auf, recte Simeonean; Spezialität waren Heiratsschwindeleien, Gründungsschwindel; Wüstling, großer Einfluß auf Frauen, Verbindungen in der besten Gesellschaft.

Es war möglich, daß dieser Simple recte Simeonean eine Konkurrenz hatte oder einen Gegner aus nicht genügend gewürdigter Mitarbeiterschaft; und dieser hatte Steward auf Simples Spur gehetzt, die über Wien nach Oaxa führte. Wenn nichts anderes dahinter keimte als diese gewöhnliche Verbrecherlaune, dann war Steward diesmal gerade durch die Einfältigkeit des Hinterhalts gründlich hineingefallen. Wegen dieses Falles, in dem es sich kaum um Menschenleben und nur um die Verschiebung von ein paar Millionen von einem Platz auf den andern handelte, hätte Steward sich nicht aus Nordamerika weggerührt.

Steward fürchtete diese Entdeckung, denn wenn er ehrlich war, so war ihm die peinliche Situation, in die ihn der philosophische Fall versetzt hätte, doch auch wieder pikant; es hätte ihn gereizt, seine gut disziplinierten Mittel mit denen eines heterogenen Geistes zu messen. Er hatte also ein schönfärberisches Interesse, die abenteuerliche Möglichkeit offen zu lassen und die Geschichte Simple nur als Filiale des Geheimnisses von Oaxa überhaupt zu betrachten.

Flüchtig notierte er den Tod des Totengräbers vom Zentralfriedhof, eines alten Matadors, lokale Berühmtheit, dem der Reporter gruselige Wortkräfte entschlachtete. Das Bildnis eines Inders fesselte ihn, der mit Turban und im Kniesitz aus runden prahlerischen Augen kalbig auf den Leser glotzend, seine Heil- und Wahrsagemethoden empfahl, Watterkant-Straße 7, dritte Etage, Atelier. Um die Geheimbau-Affäre drehten sich die Blätter herum, sie schoben Politik vor; man sagte, daß die Person des flüchtigen Direktors Simpson mit hohen halbpolitischen Funktionären in zart zu behandelnden Beziehungen gestanden habe; so strich der verantwortliche Redakteur immer wieder alle Anspielungen seiner Windhunde aus der Zeitungsform in der Setzerei heraus. Aber Steward wäre nicht Steward gewesen, wenn er davon nicht hätte Wind bekommen und nicht alle Möglichkeiten berechnet in Bereitschaft hielt, die von dem Fall Simple aus die Wahrheit des erst herannahenden Falles im voraus verunstalten konnten.

Steward gestand sich, daß er sich in einem phantastischen Aufruhr befände. Er hatte sich, zur Vorbereitung auf den telegraphisch gestoppten Fall Oaxa, durch übermäßiges Studium auf einem ihm bisher nicht geläufigen Gebiete übernommen. Ein Wust von physiologischem Wissen, geheimnisvolle Erscheinungen wie Wünschelrute, Astralleib, Telepathie und geistige Politik, eine neu aufgetauchte Disziplin, die der menschlichen Gesellschaft das endgültige Paradies durch eine Art suggestiver Gewaltsamkeit aufzwingen wollte, gingen in seinem Kopf durcheinander. Bruchstücke aus der »Soziologie der Zukunft« des Jack Slim hatte er auswendig im Kopfe. Mit peinlicher Manie verzeichnete er Stimmungsbilder aller der Personen, von denen er eine Beziehung zu dem Zukunftsverbrechen annehmen durfte. Er suchte nicht nur mehr der äußeren Daten und Indizien habhaft zu werden, sondern erstreckte seine Recherchen auf das seelische Gebiet.

Der Kampf, den man ihm angesagt hatte, war hart, und er mußte mit dem vollständigen Arsenal antreten. Er erinnerte sich genau der seelischen Konstellation vor dem Hause San Remos; überwach, überblickte er Zusammenhänge zwischen den allgemeinen Gedankengängen, wie man sie in Büchern niederlegt, und den rein physischen Ereignissen, die aus ihnen kommen mögen. Seine Unterredung mit San Remo hatte es bestätigt.

So benützte Steward die durchschnittlichen Bulletins der Zeitungen, um an dem Vorstellungswerk zu bauen, das er mit entfesselter exakter Einbildungskraft über dem Telegramm aus Wien aufrichtete.

Ei hatte den »Mercury of Oaxa« noch nicht beendet, als ein großer schmächtiger Mann, blaß, blonden Schnurrbarts, beamtenhaft und gewöhnlich, draußen vor dem Café aus einem Automobil stolperte und schnell zwischen den um diese Zeit vollbesetzten, wie mit Trauben von Menschen behangenen Tischpilzen hindurchwatete. Der Mann war der Agent Rakowitz. Er behielt den steifen Filzhut tief im Kopfe. Es war nach sechs Uhr abends.

»Kommen Sie schnell, schnell, Kovary läßt bitten,« sagte er nervös, aber voll Positur über der Aufregung, zu Steward. »Der dalmatinische Gesandte San Remo ist tot. Ermordet.«

Während der lange Benzinwagen wie ein Pfropfen sich durch die Straßenröhren pumpte, so daß man den Druck der Materie links und rechts saugen spürte, erzählte Rakowitz den Hergang.


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