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XVI.

Daraufhin hatte Steward einige Tage verstreichen lassen, bis er sich jetzt persönlich zu dem Gesandten San Remo begab. Es wäre doch möglich gewesen, daß der Besitzer des Gartens die Szene vor seinem Hause mit Hilfe von geheimen Vorrichtungen beobachtet hatte. Kam Steward sofort nach diesen Vorgängen ins Haus, so konnte auf Zusammenhänge geschlossen werden. Diese sollten verwischt werden.

San Remo war für den Detektiv nicht gleich zu sprechen. Er hatte gerade mit seinen Pantern zu schaffen, und dann mußte er sich auch etwas Sammlung zurechtlegen. Der Detektiv sandte ihm in einem geschlossenen Kouvert seine Karte hinein. Der Diener Morel beschnüffelte sie; obwohl er artig war, fiel es ihm doch unangenehm auf, daß man sich ihm als dem Faktotum des Hauses gegenüber so verdeckte. Steward merkte das Mißtrauen des Lakaien und sprach in burschikoser Weise zu ihm, ein volkstümliches Englisch, das den Andern sofort vertraulicher machte. Er ging dabei mit zerstreuten und freien Manieren im Raum umher, öffnete Türen, klopfte an Wände und erwies sich überhaupt sehr agil und lebhaft. Nach zehn Minuten wurde er vom Gesandten empfangen, der seine Bereitschaft durch das Schnarren des Haustelephons verkündete.

San Remo saß im strengen Stil des Amtierenden an seinem Schreibtisch und erhob sich leicht, mit kurzem Erhellen grüßend, aber gleich wieder in eine berufliche Haltung gleitend. Steward setzte sieh nach einigem Suchen auf das Sofa, das schräg aus einer Ecke hervorstand. Durch diesen Trick flankierte er den Sitzenden, der ihm entweder das Profil bieten oder sich beim Herüberdrehen stark anstrengen mußte. Steward kannte solche kleine physiologische Praktiken, die einem mühelos die Überlegenheit in einer Situation sichern können; vielleicht hatte er kein genaues Bewußtsein davon, wie sehr ihn solche Gewohnheiten noch mit seinem Berufsvetter, dem martialischen Chef-Kommissär, verbanden.

»Ich komme im Falle Simpson,« sagte er und begann genau den Inhalt des Zimmers festzustellen. Geradeaus von seiner Lage am Divan stieß der Blick an eine chinesische Mattengarnitur, auf der durch das Mosaik zartester Fasern und gepreßter Strohspäne in Farben ein Mandarin oder dergleichen komponiert war, dem von einem halbnackten muskelwülstigen, dienend gebückten Mann mit Geißbart ein kurzes Krummschwert mit einer Sichelkante am Ende und ein Bogen und Köcher mit langen Pfeilen nachgetragen wurden. Das Bild stellte wohl einen Jagdheros dar. Das Schwert trat mit blaßblauer Stahlfarbe markant aus den übrigen milden Farben hervor, die Personen verschwanden etwas in der Riffelung, die durch die Struktur der Matte gegeben war. Sonst gewahrte Steward noch große Landschaften und Porträtsphotographien an den Wänden.

Des Gesandten Züge waren karg verschlossen. Man erkannte, daß man es in der Tat mit dem mächtigen und willensstarken Manne zu tun hatte, als der er in Politik und Öffentlichkeit bekannt war. Es schien nicht, als berühre ihn die Erwähnung des von dem Besucher angeschlagenen Themas angenehm.

»Ich bin der offizielle Verwalter des Falles Simpson, ich komme in dieser Sache von Chicago herüber,« fügte Steward begütigend hinzu.

Dem Gesandten konnte nichts peinlicher sein als dieses Gespräch. Auf seinem feisten Gesichte traten Muskelkrämpfe hervor wie bei einem alten Schauspieler, er glich jetzt Napoleon dem Ersten. »Ich kenne Ihren Namen, Ihre Erfolge, Ihr Genie, Mister Steward,« sagte er mit unverhohlener Sorge; »aber Sie werden begreifen, daß ich in dieser Angelegenheit zurückhaltend bin. Der Fall Simpson ist mit diplomatischen Fußangeln bespickt. Ich bin hier in Oaxa der Vertreter der größten Seemacht des Mittelländischen Meeres. Meine Macht kontrolliert den Suezkanal, die Dardanellen und das ganze System des Grand Kanales, an dem Oaxa liegt. Als dominierende Gewalt von Suez verfolgen wir bis in die kleinsten Details die Ausbreitung der asiatischen Seemächte. Ich selbst bin in meinem Lande Spezialist für Asien, vermöge eines langjährigcn Aufenthalts und einer starken Affinität zum asiatischen Menschen. Wie Sie wissen, war die Geheimbaugesellschaft eine Spionageangelegenheit. Ein Amerikaner hatte das Geschäft in die Hand genommen. Unter dem Vorwand, Gebäude mit unterirdischen Gängen anzulegen, wie das jetzt eine aus China bezogene Mode ist, sollten die Kanalwerke bei Oaxa ausspioniert und miniert werden, um im Kriegsfall in die Luft gesprengt zu werden. Ja, Sie nicken, ich vermute, daß Sie soviel wissen,« sagte der Gesandte, graziös sein Gesicht zu einem Lächeln verfaltend; »ich hätte Ihnen auch nicht mehr darüber ausplaudern können, nein, ich kann es nicht, ich darf es nicht. Ich muß lieber auf die Verfolgung des Falles Simpson verzichten, als Einzelheiten über die politischen Zusammenhänge in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Sie verstehen, wenn die Oaxawerke im Kriegsfalle gesprengt werden, so bedeutet das nicht nur eine furchtbare Katastrophe für die ganze Umgebung; Oaxa ist der tiefste Punkt dieser europäischen Anlage und es würden hier Wassermassen von der Ausdehnung eines kleinen Meeres zusammenströmen und die Tiefebene überfluten. Es wäre aber auch das strategische Zusammenwirken zwischen unseren Flotten in den Nordmeeren und denen im Schwarzen Meere verhindert. Unverständlich bleibt nur, wie sich ein Amerikaner zu einer solchen Schurkerei hergeben kann. – Wie gesagt, darüber dürfte nicht der geringste Wink in die Öffentlichkeit gelangen.«

»Über die Schurkenhaftigkeit des Amerikaners kann ich Sie aufklären,« sagte Steward mit einer Tüchtigkeitsmiene. »Simpson ist nur ein naturalisierter Amerikaner; er ist eigentlich Armenier und heißt Simeonean. Ich bin der offizielle Verwalter des Gesamtfalles, Sir, Sie können mir unbedingtes Vertrauen schenken.«

»Ah,« machte der Gesandte und hob die Brauen; er seufzte: »Ja, er ist ein Armenier. Ein Armenier, natürlich. Nun, das erklärt vieles. Sehen Sie, ich habe ihn immer für einen Kreolen gehalten, er sprach fremd und sein Aussehen war bizarr. Also ein Armenier, so ein gerissener Magier, na ja …«

Der Gesandte ging mit der linken Hand am Schreibtisch spazieren, Steward merkte auf, das war das unwillkürliche Zeichen fortschreitender Gedankenklärung. Steward achtete zu diesem Zeitpunkte mehr denn je gerade auf solche Zeichen.

»Ja, ein Armenier,« bekräftigte er. »Das erklärt auch seine seltsame Wirkung auf Frauen; gerade auf amerikanische Frauen.«

Dem Gesandten fiel die Kinnlade herab; er schloß sie heftig, sah härter aus als vorhin.

»Es ist ja unglaublich,« sagte Steward harmlos, »welche Erfolge der Mensch bei den Chicagoer Damen gehabt hat. Er ist vierzehnfacher Bigamist. Es scheint, daß bei den Amerikanerinnen eine besondere Prädisposition für den exzentrischen Mannestypus besteht. Das liegt zum Teil an der sachlichen Überkultur, an der verwöhnten Erziehung und am übertriebenen Komfort; aber auch an einer unbefriedigten Sinnlichkeit. Der amerikanische Mann in seiner physiologischen Rassigkeit ist zu unproblematisch, zu human; darum treibt es die Frauen immer wieder in die Arme von animalischeren Kräften.«

Der Gesandte erhellte sich. Er nickte. Steward fuhr gleichmütig, aber ganz in die abstrakten Zusammenhänge seines komplizierten Falles vertieft, fort: »Das erotische Moment spielt eine große Rolle bei Verbrechen in der höheren menschlichen Gesellschaft. Und ich glaube, nebenbei gesagt, das ist erst der Anfang. Ohne Zweifel stehen wir erst am Beginn des Geschlechterproblems. Die Geschichte zeigt eine wachsende Verschärfung der Stellung von Mann und Frau. Die Charaktere spalten sich mit zunehmender Zivilisation, nicht umgekehrt. Eine Zeitlang schien es, als ob sie sich verwischten. Das war allein auf jene Episode der Gesellschafts-Einebnung, auf die Massen- und Proletariats-Verirrung jener berüchtigten Jahrzehnte zurückzuführen; in ihrem Gefolge wurden natürlich wie die Schichten, Kasten und Persönlichkeiten, so auch die durch die Entwicklung geschaffenen Differenzen der Geschlechter vorübergehend gelöscht. Aber so wie bei steigendem und bewußtem Geschichtstempo die ganze Frage sich auf Rassen und Persönlichkeiten zuspitzt, während die große Masse der Menschen immer mehr ins Gleichgültige sinkt, so treffen auch die Geschlechter schon rein physisch alle Anstalten, sich eigenartiger herauszumodellieren. Und damit wird in Zukunft die Liebe in allen Formen noch viel mehr im Mittelpunkt des menschlichen Lebens stehen als bisher. Schon heute gibt es Typen, bei denen sie das ganze Leben ausfüllt. Denken Sie nur an Strindberg. Die Generationen nach ihm hielten ihn zwar für einen Hysteriker und Hypochonder. Man glaubte, es besser machen zu können als er, man sanierte das Verhältnis von Mann und Weib; man schaltete es überhaupt aus und die Liebe geriet etwas außer Kurs; das heißt sie sank auf ihre gewöhnlichste physische Form zurück, auf die unproblematische Geschlechtstatsache à la Orient. Aber wieder eine Generation mehr, und wir sind heute in einem rasenden Strudel von Erotik. Mann und Weib werden heute kaum mehr miteinander fertig.«

Der Gesandte blickte starr auf den Detektiv. »Ich staune, Mister Steward. Sie haben so furchtbar Recht. Mit dem einfachen Liebesgeständnis ist nichts entschieden. Wie immer ein Paar in der höheren Gesellschaft zueinander stehen mag, die Situation ist ein Problem, je leidenschaftlicher und begabter die Individuen sind. Ihre Ansichten stimmen mit den Prognosen Jack Slims überein. Haben Sie seine Werke gelesen? Sie kennen übrigens auch Strindberg Ich staune.«

»Ja, unsereiner muß sein Handwerkszeug so genau kennen wie irgendein anderer Meister. Früher studierten wir Schlosserei; das heißt, nur Schlosserei und die praktische Chemie, Sprengstoffmittel …« Steward streifte die Kasse, die in die Wand eingelassen war. »Aber das richtet sich nach dem Personal, das uns gegenübersteht Heute studieren wir Psychologie, Politik, Geheimlehren, auch von der Liebe müssen wir etwas wissen …«

»Sie rechnen also mit sehr hochstehenden Verbrechern?« frug der Gesandte aufmerksam.

»Ja, ich rechne gleichsam mit Verbrechen aus Hochstehendheit. Mit einer Art abstrakter Verbrecher. Das Verbrechen stirbt mit Vervollkommnung der Gesellschaft keineswegs aus. Es hat seine eigene Biologie, seine Entwicklung. Komplizierte Gesellschaft, komplizierte Verbrechen. Das geht bis ins Okkulte.«

»Was verstehen Sie unter Geheimlehren?«

»Zweierlei. Die Geheimbaulehre, die Geheimmittel, die Wünschelrute sind zum Beispiel der materielle Teil Dann gibt es auch einen intellektuellen Teil.«

»Ich darf mich Ihnen wohl von diplomatischer Seite zeigen. Gehe ich fehl in der Annahme, daß Sie wegen der ersten Partie Ihrer Geheiminstruktion zu mir gekommen sind?«

»Es stimmt.«

»Ja … was sollen wir denn da nun machen … ich kann Ihnen die Akten, die darüber in meinem Besitz sind, unmöglich ausfolgen. Unmöglich. Die Interessen der Weltpolitik gehen selbstverständlich selbst vor die des bürgerlichen Rechtes. Simpson« – den Gesandten kostete es sichtlich Unbehagen, den Namen in den Mund zu nehmen – »kann ich Sie versichern, hat nichts weniger als meine Sympathie. Ich habe auch keinen Grund, ihn zu schonen. Alles was darüber in Umlauf ist, ist leeres Gerede. Meine Herren Kollegen von den anderen Botschaften möchten mich dadurch persönlich unmöglich machen, weil ich ihnen zu stark bin.« San Remos Augen glänzten in einem Zyklon von Energie und Selbstvertrauen, seine Schultern hoben sich. Er war wieder Napoleon. »Trotzdem verstehe ich eines nicht recht: was können Ihnen die Akten nützen? Es steht nichts von Wert für Sie darin. Mit Simpson oder Simeonean haben sie gar keine Beziehung. –«

»Sir, Sie werden mir die Akten nicht aushändigen und ich will es gar nicht versuchen, sie zu bekommen. Mir genügt, wenn Sie mir eines sagen: halten Sie das Stück wirklich nur aus den hochpolitischen Gründen der internationalen See- und Kanalpolitik zurück, die Sie mir vorhin andeuteten; oder haben Sie auch persönliche Gründe?«

Der Gesandte erhob sich irritiert. Sein Kinn stieß vor. Er war wachsgelb. Steward lächelte höflich und erwartungsvoll, blieb aber sicher sitzen.

»Das ist Gerede. Bloßes Gerede. Ich habe es Ihnen schon gesagt,« schnob der Gesandte. Er durchquerte das Zimmer, die Arme im Rücken verschränkt. Steward wunderte sich, wie klein er war. Er hatte ganz kurze, untüchtige Waden, wie ein Knabe, anhängselartig. Der napoleonische Schädel wurde unten Lügen gestraft. Als er saß, hatte man es nicht gemerkt.

Steward war etwas bestürzt über die Heftigkeit des Gesandten. Sein langes Gesicht schloß sich noch länger auf. »Ah, pardon Sir, das ist ein Mißverständnis. Bitte, verzeihen Sie … beruhigen Sie sich, ich kläre auf. Erlauben Sie, daß ich Fragen an Sie stelle?«

»Bitte!« stellte sich der Gesandte eilig hin.

»Ich muß Sie schon fragen, Sir, haben Sie kein unruhiges Gefühl? Nein? Fühlen Sie sich nicht beobachtet? Haben Sie nicht die Besorgnis, daß Ihnen eine … Unannehmlichkeit drohe?«

»Wie meinen Sie?« frug der Gesandte. »Sie stellen seltsame Fragen. Ich erinnere mich da an eine Ankündigung, die man mir von Ihnen gegeben hat. Vor einigen Tagen, hm, es war in einer Gesellschaft, da war von Ihnen die Rede. Es kam zur Sprache, daß, wo Sie hinträten, die Verbrechen nur so aus dem Boden schössen. Ich gestehe, als ich heute Ihren Namen auf der Visitkarte las, wurde mir einen Augenblick lang unheimlich zumute. Vermutlich in Erinnerung an jenes Gespräch. Ich entsinne mich jetzt auch eines anderen Eindrucks. Sind Sie nicht schon öfters vor meinem Garten gestanden oder wenigstens vorübergegangen?«

»Sie glauben sich also zu erinnern, daß Sie mich sahen? Warum, bitte, beobachten Sie die Passanten so sorgfältig? Suchen Sie jemanden? Beobachten Sie vielleicht Ihrerseits einen Beobachter?«

»Nein niemals, ganz und gar nicht. Ich erwarte auch niemanden. Das heißt, ich erwarte täglich den neuen Tierwärter. Aber das ist doch nicht so wichtig. Ihrer Person glaube ich mich als eines Zufalles erinnern zu können, nur so im Vorbeigehen. Ich stand gerade bei meinen Rosen. – Da kamen Sie vorbei.«

»So so. Also dann ist ja alles in Ordnung. Ich habe mich geirrt. Einen Tierwärter erwarten Sie. Wozu brauchen Sie den?«

»Für die Tiere. Ich habe ungezähmte Kuguare aus Indien mitgebracht. Seit vier Wochen bin ich ohne Wärter, der alte ist gestorben, es war ein alter mexikanischer Dresseur. Nun wurde mir aber ein asiatischer Diener in Aussicht gestellt, der sich gut auf Tiere versteht … bitte, kommen Sie mal herüber!«

»Sie schwärmen für Exotisches, sehe ich,« sagte Steward, der sich erhob. »Da haben Sie ein interessantes Stück.«

»Ja, es ist wertvoll. Es ist eigentlich ein Vexierbild, ein Kryptogramm. Sehen Sie dieses blau hervorplatzende Schwert? Sein Kontur ist ein Buchstabe, eigentlich ein Ideogramm Es heißt Schwert; dann aber bedeutet es auch etwas Abstraktes, nämlich: Welt-Vollender, Lebenserhöher, Lustspender. Als solches ist es ein Sigel, ein Stichwort zu einem Spruch: kommt Schwäche, greif zu mir. Das alles liegt in den drei Kurven, aus denen es großartig besteht. Das Chinesische ist reich an solchen Begriffsgenerationen. Die höhere chinesische Kunst ist derart abstrakt durchsetzt, hinter jeder Bedeutung steht noch eine tiefere, die nur Eingeweihte wissen. Ich sammle diese aus Leidenschaft, und was Sie vor sich sehen, ist ein Prachtstück.«

Steward folgte der Einladung. Er sah sich rings im Zimmer um. An den Wänden hingen Landschaften und Photographien, und dann dieses mächtige chinesische Strohgeflecht. Steward klopfte leise an die Wand, aber dem Gesandten schien dies aufzufallen, so unterbrach er es. Vor ihm trotzte ein braunglasierter kantiger Eisenklumpen, die Kassa. Sie stand in die Wand hinein. Steward, der groß war, legte sich mit verschränkten Armen darauf und gewann so einen Stützpunkt, das vom Gesandten interpretierte chinesische Wertstück aufmerksam zu studieren.

»Ja!« sagte er, »sehr schön, wirklich sehr schön und geistreich. In diesen älteren fremden Kulturen findet sich ein eigentümliches Prinzip. Die Staffelung. Die Dinge haben einen Vordergrundsinn und einen Hintergrundsinn …«

»… und es ist niemals ganz herauszubekommen, welchen endgültigen und letzten Sinn sie haben,« ergänzte der Gesandte eifrig. »Niemals, glauben Sie mir. Ich habe jahrelang unter diesen Menschen gelebt; und ich verstand sie zuletzt weniger als zuerst; und ob Sie's glauben, gerade dadurch verstand ich sie zuletzt doch besser. Dinge, die mir anfangs sinnlos schienen, entfernten zuletzt dann dennoch die Andeutung eines Sinnes. Ich bin heute sicher, daß wir die letzten Sinne der meisten Dinge in Asien überhaupt nicht verstehen, weil wir Europäer uns nur bei den Vordergrundbedeutungen aufhalten. In die letzte Tiefe der Geheimniszwiebel dringen wir nicht vor.«

»Na,« meinte Steward, ostentativ mit Komik seufzend, da ihm diese poetische Übertreibung eines Liebhabers denn doch über die Grenze vernünftiger Toleranz ging. »Da muß es ja für einen Detektiv in China sehr unangenehm sein … wenn jede Sache immer wieder etwas noch Tieferes bedeutet, wenn gar nichts Es selbst ist …«

Der Gesandte lachte und sagte witzig: »Ja, oder es braucht eben einen chinesischen Detektiv,« und beide lächelten, und Steward freute sich so sehr über diesen Witz, daß er sich abschließend emporrichtete und dabei flink mit beiden Händen an den Rückenkanten der großen Kassa hinabfuhr, beinahe zärtlich bewegt über diese gesellige Freude.

Dann spaltete San Remo die zweite Tapetentüre auf, die in einen dunklen, durch ein Hoffenster belichteten Raum führte. Er war durchbeizt von einem nach Gier, Niedertracht und Trägheit riechenden lauen Dunst. Die Wände starrten von grauem Metall in Formen schriller Dissonanz, ungewohnte Kurven schwangen im Raum, die Mauer krabbelte förmlich von lebendiger Bizarrerie. Es war eine Waffensammlung aus China, Tibet, Japan und Sumatra, erzählte der Gesandte. Er drehte Licht an. Da schossen vergoldete Drachen breit aus der Decke hervor, barocke Knäuel, Papierschirme und plusternde Lampions rotierten und schwankten im Luftzug. Hinter einer Eisentür mit großem ringversehenem Riegel wurde gescharrt, als ob Sand dagegen flöge. Der Gesandte öffnete die Tür und zog zugleich ein Gitter vor. Das Licht stach hinein, es traf ein Gewühl von flaumiger schmollender Bewegung, eine dunkle Masse floß dort gurgelnd durcheinander. Plötzlich flammte ein beinsägender Laut daraus empor, der sich in einem von den Wänden zurückkollernden Brei von Geräuschen verlor.

»Bobobo, Korrô, Tempeste, Flora!« zankte der Gesandte.

Er berichtete Steward über die Kuguare und ihre Pflege. Die Tiere waren zu seinem Leidwesen matt, sie kamen nicht ins Freie. Warum nicht? Seine Frau, sagte der Gesandte, mochte sie nicht leiden. Sie vertrug den Geruch nicht. Im Garten konnte er ihnen keinen Zwinger bauen, weil sie durch ihr Lärmen in diesem Stadtviertel Aufsehen erregen würden. Das ist grausam, meinte Steward. Jaja, sagte der Gesandte betrübt; was ist zu machen. Ich muß sie verschicken, wenn der neue Wärter kommt, sollen sie fortgebracht werden. Ich füttere sie jetzt selbst. Aber die Reinigung des Stalles fällt mir schwer; ich glaube, man riecht es schon ein wenig in der Umgebung, Missis Philomena wenigstens behauptet es. Korrô, das Männchen, ist nicht leicht zu behandeln. Unlängst ging er mir durch und kam bis ins Arbeitszimmer. Was denken Sie: das Landschaftsbild mit den Kühen haben Sie wohl gesehen; ich kam gerade recht, um zu verhindern, daß sich Korrô dort ein Kalb wegholte. Seither ist er immer begierig, wieder einzubrechen.

Steward hörte an, was San Remo verliebt über die Eigenheiten und Eskapaden der Tiere zu berichten hatte. Es erschien ihm wie eine Ablenkung vom Thema, die dem Andern erwünscht wäre. Sie traten in das Herrenzimmer zurück.

»Ich begreife, daß Sie sich nicht fürchten, Sir,« sagte Steward, »wenn man solche Wächter hat … und ich dachte, Ihnen unter die Arme greifen zu müssen. Entschuldigen Sie also. Aber, bitte, ich habe meine Dienste angeboten … sie wurden abgelehnt … ich lehne meinerseits jede Verantwortung ab. Das übrige ist Sache der öffentlichen Polizei.«

»Aber, bitte, bitte,« und der Gesandte streckte die Arme aus … »wollen Sie nicht eine Kleinigkeit zu sich nehmen, unser Gespräch war so interessant, ich freue mich außerordentlich, Sie zu kennen. Bitte, nehmen Sie doch wenigstens Zigaretten.« Er sprang auf die Kassa zu, brachte einen Karton indischer Zigaretten. Steward beobachtete ihn peinlich. Es beschäftigte jenen ein Gedanke.

Steward nahm von den Zigaretten, lobte sie, lächelte, verbeugte sich, paffte sie an, sog. Der Gesandte bewegte den Mund, kaute einen Ausspruch vor. »Das also ist James Steward,« sagte er und faßte dessen Person ins Auge. »Sie beschäftigen sich mit Psychologie. Merkwürdig, wie Ihre Ansichten denen des Professor Slim ähneln. Kennen Sie Slim?«

»Sie fragen leichthin,« antwortete der Detektiv scharf. »Sie können nicht verheimlichen, daß Sie wohl einmal mit ihm konferiert haben und daß dabei mein Name gefallen ist.« Der Gesandte nickte leicht. »Nein, ich kenne Slim noch nicht – das heißt, bloß vom Sehen. Aber ich kenne seine Ansichten und Bücher. Eines Tages kamen sie an, ein Paket, dann Nachzügler, so plötzlich wie eine Herausforderung …«

»Und so sind Sie denn einer Meinung mit ihm.«

»Ja, ich billige seine Verbrechen der Zukunft«.

»Und erweitern ihn um einen Abschnitt ›Liebe der Zukunft‹.«

»Unter anderem, ja. Aber ich bin durchaus auf der Hut, es könnten viele Erklärungen aus diesem einen Motiv falsch sein. Es gibt so viele andere, das gefährlichste ist: Geist.«

»Nun,« sagte der Gesandte ironisch, »davor sind wir heute wohl noch sicher.« Er betrachtete sein Gegenüber spöttisch.

Nach einigen Redensarten nahmen sie mit bravourösen Höflichkeiten voneinander Abschied. Der Diplomat baute seine gewölbte Brust erfolggeschwellt vor den Schreibtisch hin. Er hatte einige markante Falten in den Mundwinkeln; so saß er schon dort, als Steward noch einmal seine Verbeugung bei der Tapetentüre machte, die der Diener auf das prasselnde Signal hin aufgerissen hatte, indem er Stock und Hut vorhielt. Ja, da saß Napoleon und hatte der neugierigen Kriminalistik den Fall Simpson abgejagt.

Steward freute sich. Er erschien sich dem Unwissenden ein heimlicher und geheimnisvoller Wohltäter. Man wird es ja sehen.


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