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III.

An der Wende des zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert befanden sich die europäischen Gesellschaften und Staaten in einer geistigen Krise, die mit der feierlichen Ordnung, dem Wohlstand und der bürgerlichen Geruhsamkeit, die allenthalben herrschten, in seltsamem, beinahe unverständlichem Widerstreite stand. Nach riesigen weltumspannenden Kriegen, die von sozialen Umstürzen gefolgt waren, war ein allgemeiner Erschöpfungszustand eingetreten. Die arbeitenden Klassen hatten sich durchgesetzt, es erwuchs eine kleinstbürgerliche Demokratie, aber mit patrizischen Ansätzen. Und zwar spielte dieses Massenpatriziat auf dem neuen Merkmal des Grundgenusses, das jedem physisch Arbeitenden gesichert war und jedem geistigen Arbeiter dann, wenn er seine geistige Leistung durch eine nützliche Handbeschäftigung aufwog. Forschung und Wissenschaft gingen etwas zurück, dagegen blühten die bildenden Künste außerordentlich empor, besonders die öffentliche Baukunst im Zusammenhang mit den bisher erforschten technischen Möglichkeiten. Aber der Stil, den sich diese breitgewordene zivilisierte Menschheit schuf, war nicht so sehr großartig und renaissancehaft, als liebenswürdig, gemütstief und sogar zimperlich. Es begann ein neues proletarisches Biedermeier. Oberflächliche und hübsche Dinge erfreuten die zu einem braven festen Glücke gekommenen Massen. Diese Menschen waren in ihren bösen Trieben gleichsam abgenützt und gesättigt und herzensgut. Ein leichtlebiger großstädtischer Ton wirbelte alles durcheinander, sentimentale und genußsüchtige Musik lockte die Sinne der Menge, Libretto und Operette beherrschten den Markt der nicht in Sinnfälligem schaffenden Künste. Starke philosophische Geister und ihre Gebilde wurden nicht ertragen.

Und daran zerbrach der verbürgte Frieden dieser taumelnden, wenig nachdenklichen, dem tüchtigen Sinne- und Sachenleben zugewandten Menschheit. Aus ihr selbst entstanden ihr zersetzende Keime, abnorme Willenskräfte, rachsüchtige Genien, Böses und Phantastisches sinnende Persönlichkeiten. Das proletarische Patriziat schloß sich kraft seiner Zahl, die als höchste Gottheit galt, und mit dem Merkmal der handkommenden Arbeit wie einst der Adel mit dem Schwerte durch Kastenstolz von allen anders Gezeichneten ab. Es gab einen Auswurf von Untauglichen, die sich zum geruhigen genießenden Verlauf ihres sozial festgefügten und planvoll ausgenützten Lebens nicht eigneten. Sie bildeten in den Großstädten einen geistigen Janhagel, lebten vom Staatsminimum, dessen Annahme sie oft verweigerten, bewohnten die schlichtesten Räume der Gemeindehäuser, streikten bei jedem Anlaß gegen die gewerbliche oder bureaukratische Zwangstätigkeit und füllten dergestalt die Straf- und Irrenanstalten. Beleidigt in ihren menschlichsten Instinkten durch Ordnung und Gleichmaß, wohlgefälligen und harmlosen Lebensablauf, Mangel an ehrlicher Aufregung, entzückt von einem Sinn für überirdische Verknüpfungen, Moraltheorien usw., formten sie bald eine Art neuer Tschandalenklasse. Es war vorauszusehen, daß sich an das Datum ihrer ersten politischen Organisation im Großen ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, eine neue, der alten entgegengesetzte Ära knüpfen würde. Vorläufig waren die Möglichkeiten, die wilden und diffusen Elemente zu einer Phalanx zusammenzuschweißen, nur geringe. Es bildeten sich private Vorläuferschaften heraus, Attacken auf eigene Faust, die für die zivilisierte Menschheit besonders darum gefährlich waren, weil geniale Begabung und schöpferische Kraft, persönlicher Mut, Abenteurerdurst und herrische Macht dem Einzelnen dieser Deklassierten nicht abgesprochen werden konnte; waren es ja gerade diese Fähigkeiten, gegen die sich eine auf ausgleichende Ordnung und Ruhe gestützte Vorherrschaft der Patrizier des Handgriffs wehren mußte. Die viel zu viele Gescheitheit ethisierender Problemschleuderer war eine ständige polizeiwidrige Bedrohung. So stand das seit zwei Jahrzehnten sanierte und befriedigte proletarische Europa vor einer geistigen Krise inmitten satter und materieller Ordnung.

So wenigstens hatte fünf Jahrzehnte vorher Jack Slim diese Entwicklung vorausgesagt. Er lehrte, daß die Abschaffung der Kriege zwischen den Staaten, das Anwachsen der Staatsidee auf Kosten des Individuums in den kommenden Zeiten sozusagen verschärfter Humanität das geniale und expansive Individuum derart in die Opposition drängen wird, daß mit einem Anschwellen des Kriminellen im bürgerlichen Leben zu rechnen ist. Die Träger der gigantischen und kuriosen, der phantastischesten und mit der Gelehrtheit des Zeitalters bewaffneten Verbrechen werden die Intellektuellen sein. Es wird, so lehrte er, so weit kommen, daß sich gegen die menschliche Weltgesellschaft kleinere aber mächtigere Gegengesellschaften von Verbrechern aus den Talenten und Genies aller Völker bilden, so daß man wird ganze Armeen gegen sie aufbieten müssen. So gelangte denn Jack Slim dazu, sich mit den heutigen Mitteln der Kriminalistik zu beschäftigen, und fand sie unzulänglich. Die einzige Möglichkeit, um die Menschenseele zugunsten der Gesellschaft zu lenken, ist der Mediumismus.

Jack Slim kam nach Oaxa, weil es die damals modernste europäische Stadt war, aus kleinen konstruktiven Anfängen mit amerikanischer Schnelligkeit aus dem Boden gewachsen. Oaxa lag am Grand-Kanal, der das Schwarze Meer, die Donau-Theiß-Linie benützend, mit der Ostsee verbindet und zwar an jener Erweiterung, wo eine Depression der Steppe zu Bewässerungszwecken in der Form eines größeren Bassins ausgefüllt worden war. Die Stadt lag in der sogenannten ungarischen Landschaft des europäischen Vereinigte-Staaten-Systems. Ihr Name entstammt der Esperantosprache, er ist ein Rest des bekannten Versuches, dieses internationale Verkehrsmittel in suggestiven Umlauf zu bringen. Neuentstandene Städte der esperantistischen Zwischenperiode erhielten Bezeichnungen aus dem künstlichen Sprachschatze und meist trugen sie diese aus Pietät und Gewohnheit weiter. Als das Kunstgebilde im Geschmack der Menschen erlosch, weil es des poetischen Zusammenhangs mit den orphischen Urgründen aller seelenentsprossenen Sprache, die physisch bedingte Dichtung ist, entbehrte, nahmen die größten praktischen oder geistigen Umgangssprachen der Welt seinen Platz ein. Auch in Oaxa war das Esperanto vergessen, und der Schulbeflissene, und das war außer den geistig Minderwertigen jedermann, sprach neben dem landschaftlichen Idiom die großen Kultursprachen Englisch, Deutsch und Chinesisch. Gespräche über praktische Angelegenheiten liefen in Englisch, wo sie auf besonders heikle Gebiete der Forschung, der Seele, der Wissenschaft und besonders der Metaphysik übergingen, bedienten sich die Sprecher des Deutschen. Als Kultursprache des Gefälligen und Pretiösen, der Eleganz, der höchsten Vollendung galt merkwürdigerweise das Chinesische; vermutlich weil es einen ausgebildeten, durchdachten und seit Jahrtausenden abgeschliffenen Schatz von höflichen Ausdrücken hat. Das Chinesische hatte das Französische verdrängt. Man muß sich also vorstellen, daß Gespräche damals in den höheren Kreisen zumindest in Englisch und Deutsch gehalten worden sind.

In diesen beiden Sprachen bewegte sich auch die Unterredung zwischen Jack Slim und dem Gesandten San Remo. Dieser hatte nicht nur die diplomatische Aufgabe, einen im Süden Europas gelegenen, jung emporgekommenen Nationalstaat zu vertreten; er war als Gesandter auch Mitglied des europäischen Bundesrates und besaß sowohl großen Einfluß in geschäftlichen Angelegenheiten, als auch einen populären gesellschaftlichen Namen. Die Prognosen, die Jack Slim der Entwicklung der Dinge stellte, erregten bei diesem Vertreter einer Ordnung, wie sie nach den drei großen Weltkriegen als bürgerliche Reaktion aus den Zivilisationen des Westens zurückgeflutet war, bange Abneigungen. San Remo, ein großzügiger Geschäftsmann und durchdrungen von den imperialen Forderungen seiner Zeit, erblickte, wie er Slim mitteilte, die Zukunft der Menschheit in einer Aufrechterhaltung der heiligen Allianz jener beiden großen angelsächsischen und der föderierten lateinischen Weltmacht. Er hatte mitgearbeitet an der Errichtung des lateinischen Imperiums, das außer Frankreich, den Pyrenäen und Apenninen und dem vollständig romanisierten Norden Afrikas, wo eine romanische Berbermischrasse, den Boern ähnlich, wohnte, auch die mächtig gewordenen südamerikanischen Staaten umschloß. Er war auch eine der hervorstechenden Persönlichkeiten der großen aktiven Friedensperiode. Der europäische und Staatenweltbund hatte an ihm einen eifrigen Mitarbeiter. Dieses großzügige Schaffen gründete sich bei ihm wie bei vielen andern auf einen prinzipiellen Kult des Entreprenörs, wie ihn Cecil Rhodes dargestellt hat, und keineswegs auf materiellen Heißhunger, niedrige Gier oder despotische Veranlagung. Das nahezu naturgeschichtliche Problem dieser die westliche genannten Zivilisation, die energische Umgestaltung der Erdrinde im Sinne des technischen Fortschritts, hatte sich zur siegreichen Weltanschauung verdichtet und als solche ausgebreitet. Voraussetzung zur Lösung dieser Aufgabe erschien der liberale Gedanke in seiner schärfsten Form, dem Individualismus. So kämpfte denn San Remo deutlich mit Unlustgefühlen, als er die Zukunft aus Jack Slims Theorien abhorchte, und stimmte dann um so begeisterter zu, als aus ihnen zu entnehmen war, daß die Erstarrung der bürgerlichen Gesellschaft unter einem Klassenpatriziat von unten her von vorübergehender Dauer sein konnte; es war tröstlich, zu wissen, daß das heroische und geniale Blut ein solch unbelebtes Gleichmaß nicht ohne Sprengungsversuche würde ertragen können.

»Seltsam,« sagte San Remo und betrachtete mit tiefer Neugier sein Gegenüber, »seltsam ist mir daran nur, daß Sie, Jack Slim, darin eine Mission erblicken könnten, dieses maschinelle Biedermeier gegen wildere aber auch geistigere Störungen zu schützen. So wie ich Sie zu empfinden glaube, hätte ich Sie eher für ein Mitglied einer solchen geheimen Gesellschaft gehalten, die Sie soeben selbst schilderten und vorhersagten.«

»Meine politische Auffassung,« antwortete Slim ablenkend, »spielt bei diesen Unternehmungen keine Rolle. Die Frage, die vorliegt, ist eine rein kriminalistische. Ob die Verbrecher der Zukunft ein gewisses historisches und vielleicht ein Naturrecht für sich in Anspruch werden nehmen können, entscheidet nicht darüber, wie der Schutzapparat der Gesellschaft organisiert sein muß, um seine Aufgabe zu erfüllen. Die mechanischen kriminalistischen Methoden sind unzureichend, that's all. Der Beamte, auch der genialste Kriminalbeamte, muß gegenüber einem solchen Feinde, wie wir ihn theoretisch voraussagen, plump erscheinen.«

San Remo wölbte die Augenbrauen und gab seinem Gesicht einen vertraulichen Ausdruck: »Sollten Sie, Meister, nicht gerade das Gegenteil damit verfolgen … ich meine, sollte es Ihnen, der Sie vielleicht ein Vorfahre Ihrer eigenen theoretischen Verbrecher sind, nicht doch darum zu tun sein, schon jetzt den Feldzug gegen die Kriminalisten unserer materialistischen menschlichen Gesellschaft zu beginnen? …«

»Sie denken an jemand besonderen?« frug Slim und blickte nach den Photographien an der Wand, aus deren Reihe groß und massig das energisch-müde Antlitz des Cecil Rhodes hervortrat.

San Remo folgte den Blicken Slims geschmeichelt; die Anwesenheit dieser Photographie im Arbeitszimmer des Staatsmannes war kein Zufall; als Zufall betrachtete er es offenbar auch nicht, wenn seine Besucher zwischen ihm und dem Porträt seines Lieblings Vergleiche anstellten und eine gewisse Ähnlichkeit bemerken zu können glaubten; es war der Typus einer spezifischen Energie einer bestimmten Zeit, der die beiden ähnlich sein ließ. Im übrigen waren zwischen dem Briten und dem Südeuropäer Rassenunterschiede auch jetzt noch bemerkbar. Das Gemeinsame in beiden Gesichtern war um diese Zeit ein europäischer Gesichtsschnitt, der sowohl eine Anlehnung an Amerikanisches als eine Abfärbung von jüdisch-geistiger Energie zum Ausdruck brachte. An dem Briten trat mehr das erste, an dem Südländer mehr das zweite hervor.

So mochte denn diese Neigung San Remos, sich in Beziehung zu der großen staatsbildenden Person zu bringen, oder auch der aus dem Gespräch hervorkletternde Blick Jack Slims schuld daran sein, daß er die Frage Slims als eine direkte Anspielung verstand: »Sie meinen …?«

»Nein, ich meine natürlich nicht Cecil Rhodes, der damit nichts zu tun hat. Rhodes ist der klassische Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen; der kommerzielle Eroberer, der Aktivist der menschlichen Riesenplantage, der konstruktive Reichsbildner; aus der Distanz von späteren Jahrhunderten, deren Mittelpunkte nicht mehr in Europa liegen und von deren Gewordenheit aus der retrospektive Sinn der Weltgeschichte durchaus bei den übrigen jungen Kontinenten, den konstruktiven Vielrasse-Reichen sein wird, muß der personale Anhaltspunkt niemand anderer als dieser Mann sein. Aber was hat Rhodes mit meinem Vorhaben zu tun? … Und doch, er hat damit zu tun. Er ist eben der größte Vertreter einer rein mechanischen Zivilisation gewesen; insofern muß ich ihn als meinen sehr geehrten Gegner betrachten …« Die beiden Herren machten einander eine sehr höfliche, sehr leise Verbeugung. San Remos Gesicht blieb unverändert, aber er schluckte Speichel. Slim lächelte knäblich, er hatte nur eine Harmlosigkeit gesagt, bitte doch dahinter nichts zu bemerken, Herr Legationsrat. »Aber an sonst niemand haben Sie gedacht, Sir?«

»Wollen Sie denn, daß ich an jemand Bestimmten gedacht habe?« frug San Remo klug, und im selben Atemzuge schien ihm etwas einzufallen und er fügte hinzu: »Steward?«


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