Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX.

Mit einem Male nahm die Entwicklung der Dinge eine sensationelle Wendung.

James Steward, Privatdetektiv aus Chicago, wohnhaft im Hotel Mansion, Zimmer 27, wurde verhaftet.

In einer Nebengasse wartete ein streng geschlossenes Automobil. An der Tür des Zimmers 27 klopfte es. Steward öffnete. Er war beim Umkleiden. Es war sechs Uhr abends.

Ins Zimmer trat der Polizeichef Kovary. An der Tür standen zwei große hochelegante Gentlemen von scheinbar höchster Rassigkeit, die zum Soupieren ins Hotel gekommen waren. Auffallend waren sie nur dadurch, daß sie beide die Leiber von Ringkämpfern hatten. Der eine nahm den Raum zwischen den Türpfosten ein; der andere verstellte das Fenster. Kovary hatte einen schmerzlichen Ton in der Stimme und einen nie gesehenen Schmelz in den Augen, als er den Herrn Kollegen aus Chicago um Verzeihung bat und in den Überrock griff, der am Haken neben der Tür hing. Er zog, selbstbeherrscht, das Dossier aus einer langen speziell eingenähten Tasche.

Er erklärte Steward, daß er ihn in Schutzhaft nehmen müsse. Steward verstand sofort. Die hohe Politik forderte ihn als Opfer. Seine Bestürzung war in der Tat so groß, daß er mühevoll seine berühmte Kaltblütigkeit bewahren und dem Rivalen mit der größten Höflichkeit alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen konnte. Steward reiste in Gesellschaft des Chef-Kommissärs ab, fertig. Der Oberkellner nahm das Meldungsformular in Empfang und beugte sich ehrerbietig über das Trinkgeld.

Kovary und Steward gingen voran. In einiger Entfernung folgten die Begleiter. Als Steward in den Hauptflur einbiegen wollte, zupfte ihn Kovary leicht am Arm. Sie bogen weg, schwangen sich in einem Aufzug talab und liefen durch lange Korridore. Ah, sagte Steward, der das elektrische Schaltbrett wieder erkannte. Weiße Türen standen in Reih und Glied. Es gab mehrere Windungen zu umsegeln. Kovary zog einen Schlüssel. Eine der weißlackierten Türen führte in einen Hof, von da durch eine Toreinfahrt, an der Hotelgarage vorüber, in eine Nebengasse. Man kroch ins Auto, die kleine Schar großer oder starker Männer, das Chassis schaukelte.

Steward klemmte die Zähne. Er rührte sich nicht, sprach leichthin, aber er war um einige Schatten magerer im Gesicht.

Er erhielt Aufenthalt in einem Landhaus mit vollendetem Komfort, das leicht zu bewachen war. Täglich kam der Justizminister Herr von Leiman ihn besuchen. Er war ein alter feiner Herr mit Brille und weißem Bart, der am Kinn rasiert und an den Wangen und Kiefern rund geschoren war. Dadurch sah er gepflegt aus. Dies war auch seine Redeweise, obgleich er den ortsüblichen Dialekt sprach Er war jovial. Er betrachtete Steward immer neugierig und behandelte ihn mehr als eine Art Patient denn als Verbrecher. Die Vorspiegelung, daß Steward in Schutzhaft war, mußte aber fallengelassen werden. Steward war geschickt und nach allen Regeln der Kunst verhaftet worden. Er hatte das Dossier entwendet. Es bestand der Verdacht, daß er mit dem Morde in Zusammenhang stünde. Dem Meister-Detektiv konnte es nicht schwergefallen sein, einmal den genialen Verbrecher zu spielen.

Von dem Minister erfuhr Steward aus liebenswürdigen, beinahe leichtsinnigen Äußerungen, in denen auch ein Stück persönlichen Widerwillens zum Ausdruck kam, daß man Kovary versetzt hatte. Steward atmete auf. Ein Justizmord war verhindert worden. Zugleich schmeichelte er sich, daß damit auch das objektive Verfahren Kovarys gefallen sei, und sah schnellen Blicks sowohl die innere Wahrheit und Überzeugungskraft, als auch die Perspektiven seiner eigenen subjektiven Theorien vor sich. Aber der Zynismus des weltmännischen Besuches auf seiner Veranda, wo sie täglich Schach spielten, dämpfte ihn schnell. Kovary war nicht durch die Anhängerschaft Stewards entsattelt worden, sondern auf Veranlassung der dalmatinischen Regierung. Um den Gesandten-Skandal niederzuschlagen, hatte man die Enthaftung der Lady-Witwe verfügt. Sie war nicht mehr Angeklagte, sie war Zeugin. Gegenwärtig befand sie sich in Behandlung des aus Wien berufenen berühmten Nervenarztes und Psychoanalytikers Professor Schmerz. Ihre Aktien waren außerdem im selben Augenblicke gestiegen, da gegen Steward ein Verdacht aufzukeimen begann. Die Untersuchung der daktyloskopischen Abdrücke ergab Spuren von der Hand Stewards. Tableau.

Der ewig lächelnde Justizgreis sah Steward unverwandt in die Augen und erzählte beim Schachspiel, wie Kovary gleich anfangs darauf gedrungen habe, gegen Steward das »Patent« in Verwendung zu bringen. Und gab zu, daß dieser Eifer den höheren Gerichtsbehörden, die von der Regierung den strikten Auftrag auf möglichst geräuschlosen Abbau des Simpson-San-Remo-Falles erhalten hatten, schwül gemacht hatte, was mit ein Grund für Kovarys wohlverdiente Beförderung in einen höheren Rang und auf einen bureaukratischen, weniger exekutiven Posten gewesen war. Da senkte Steward die Lider; es war seine Art der Genugtuung, des gepflegtesten Detektiv-Lächelns aus Eitelkeit.

Der Minister behandelte also Steward wie einen Kurbedürftigen und kleidete seine Verhöre in die denkbar lustigste Konversation. Als er ein Bild zu haben glaubte, blieb er von Stund an aus. Jetzt erst erkannte Steward, daß er in der Tat verhört worden war. Der Minister war zwar technisch ein Widersacher des Polizeichefs, aber er war von derselben Initiative erfüllt wie dieser, auf seine Art. Er hatte einfach das Gegenstück zum »Patent« in Anwendung gebracht. Kovary drückte; der Minister saugte.

Steward, der inmitten einer ländlichen Umgebung Zeit hatte, vergaß sich in theoretische Grübeleien. Er maß die Systeme aneinander, das objektive und das subjektive. Es wollte ihm scheinen, als habe er in seiner Subjektivität auf verschiedene Objektwerte nicht genügend geachtet. Da stand er also in der Dunkelkammer und klappte sie zur Camera obscura um, indem er die rote Scheibe am Guckloch der Tür ins Scharnier fallen ließ. Ein schlohweißer Lichtkegel schäumte über die Ränder und brach auf die Flächen nieder. Der Kopf Slims, unter anderen, erschien und der Turban, der ihn begleitete. Unter den Turban ergänzte sich Steward die Gestalt eines kurzgestutzten exotischen Kerls, der in seinen Falten eine wissenschaftlich konstruierte Wünschelrute verbarg. Ach, diese beiden, erkannte Steward zu spät, waren nicht oben am Trottoir, sie waren damals unten an seiner Tür vorbeigegangen, gerade als er die Klappe fallen ließ. Und Steward ging dann als Verhafteter den Weg abwärts mit Kovary und seinen Ringkämpfern in Abenddreß und Zylinderhut. Neben der Tür zur Dunkelkammer holte Kovary einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf, jenseits der Garage tauchten sie in das Kupee … Aber Steward war zäh, die Ideen saßen fix. Er zog die Nutzanwendung dieser Erfahrung, verspielt war verspielt. Eine Befürchtung betäubte seine Einfallsfreudigkeit doch: Periskop! dachte er blitzschnell. Er sah ein Faß. Es war schadhaft. Unwahrscheinlich, daß jemand darin stand. Einbildung. Aber ein Periskop? Wäre aus dem Film und der vergrößernden Projektion auch nicht der Haarstrich eines Periskops zu entnehmen gewesen? – Etwas spät. Die Filmaufnahme war mit dem Dossier in die Hände der Justiz geraten und vermutlich an die zuständige Regierung ausgefolgt worden.

Das Periskop, das Steward visionär vor sich sah, entsprang dem Prinzip der Camera obscura. Die Camera obscura war Stewards großes Erlebnis, eine konzentrierte böse erlösende aufklärende Erfahrung, das Symbol eines von ihm erkannten geistigen und hirnlichen Prinzips. Die Camera obscura! Die vagen Schatten einer auffällig schillernden molluskenhaften Umwelt mit allzuviel Bewegung und Beziehung sprangen isoliert logisch, scharf, vielsagend, perspektivenreich auf den subjektiven Schirm, der sie band. Das schöpferische Fabriksgeheimnis, das Arkanum war, die Dinge nicht hintereinander, sondern gleichzeitig, ahndevoll zu sehen, wie im Traum placiert, ineinander, auseinanderfaltbar wie ein Fächer, simultan. Wenn Steward schaute, vermochte er Sicherheit zu empfinden, am rechten Weg zu sein; zäh hielt er an seinen ersten Theorien trotz des Fehlschlages fest. Wenn er das Nacheinander des Tatsächlichen zerlegte, unterliefen Irrtümer, Fälle des Übersehens.

Steward fühlte in seiner Lage augenblicklich weder Unbehagen noch Besorgnis. Allzuoft hatte bureaukratischer Polizeiverstand ihn auf seinem Wege behindert. Er war, statt gesuchter Verbrecher, dutzendmal wegen vorwitziger Tricks, die ihn mit dem betreffenden Verbrechertyp oder einem Moment aus dessen Handlungen identifizieren mußten, verhaftet gewesen; ganze Sammlungen von Anekdoten der Unterhaltungs-, der schöngeistigen und Film-Literatur erzählten davon.

So suchte er in seiner Einsamkeit, die durch fern auftauchende Gestalten von Arbeitern auf Feldern, von Gärtnern, Kutschern und Mägden, verkleideten Vertretern seines eigenen Berufes aber in öffentlichem Dienste, begrenzt war, durch Selbstversenken in purpurne Schatten die Zusammenhänge der letzten Ereignisse in einen Blick zu pressen.


 << zurück weiter >>