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34. Kapitel.

Juarez war einmal aus seinem Zimmer getreten und hatte da Sternau getroffen, der für kurze Zeit noch draußen bei den Apachen gewesen war und nun zurückkam, um für seine Patienten zu sorgen. Einige kurze Bemerkungen, die sie austauschten, führten den Präsidenten zu dem Wunsch, den Grafen noch einmal zu sehen. Beide traten also bei ihm ein.

An dem Bett saß Mariano, der den Grafen nicht verlassen wollte. Letzterer war noch nicht erwacht, und so nahmen die beiden bei Mariano Platz, um ein halblautes Gespräch zu beginnen, das sich bald um die vergangenen Erlebnisse und die Verhältnisse der Familie Rodriganda drehte.

Sternau und Mariano erzählten abwechselnd alles, was Juarez noch nicht wußte, und dieser hörte mit der allergrößten Spannung zu. Da regte sich der Graf leise, sofort verstummte das Gespräch, und die Erzähler blickten auf den Kranken, dessen starre Züge sich zu beleben begannen. Aber noch kam er zu keinem vollständigen Bewußtsein. Die Falten seiner Stirn zogen sich aber leise und langsam empor, und seine Lippen öffneten sich.

»Amilla«, flüsterte er vernehmlich.

Dann fiel er in Bewußtlosigkeit zurück. Sternau befühlte im Hand und Schläfen.

»Der Puls geht schwach, aber regelmäßig«, sagte er in beruhigendem Ton. »Ich hoffe, daß wir eine große Gefahr nicht zu befürchten brauchen.« – »Hast du den Namen gehört, den er aussprach?« fragte Mariano. – »Ja. Es war Amilla.« – »Was mag er meinen?« – »Kennst du diesen Namen?« – »Nein, ich habe ihn noch nicht gehört.« – »Ich auch nicht, weder von ihm, noch aus dem Mund eines anderen.« – »Vielleicht träumt er.« – »Man pflegt auch im Traum nur die Namen solcher Personen auszusprechen, die man kennt, die wirklich vorhanden sind oder waren. Überdies glaube ich nicht, daß es sich hier um einen Traum handelt. Der Graf war vollständig bewußtlos. In einem solchen Zustand träumt man nicht; aber der zurückkehrende Geist pflegt gern bei irgendeiner Vorstellung anzuknüpfen, die ihn vor der Bewußtlosigkeit beschäftigte. Der Name Amilla und die Person, der er gehört, sind keine Traumgebilde, sondern Wirklichkeiten.« – »Ob es sich um irgendein Geheimnis handelt?« – »Wenigstens handelt es sich um eine uns noch unbekannte Person, die der Graf gekannt hat, das ist meine feste Überzeugung.« – »Jetzt ist er wieder bewußtlos?« – »Ich möchte eher annehmen, daß seine Seele nicht ohne Tätigkeit ist. Sieh her. Die Züge bewegen sich leise und haben einen beinahe bestimmten Ausdruck gewonnen. Das kommt bei voller Bewußtlosigkeit niemals vor.«

Die Wahrheit dieser Ansicht sollte sich sofort bestätigen, denn der Graf öffnete abermals die Lippen und flüsterte langsam und genügend vernehmlich:

»Frederico, o Frederico!«

Die drei Männer lauschten gespannt. Als sich jedoch nichts weiter hören ließ, sagte Mariano:

»Frederico! Wen mag er meinen?« – »Ich habe keine Ahnung davon. Er hat diesen Namen nie genannt, so lange ich ihn kenne. Warten wir also das Weitere ab.«

Es verging eine kleine Weile, dann breitete es sich wie ein Zug tiefer Betrübnis über das Gesicht des Grafen, und seine Lippen zuckten und lispelten:

»Ich verzeihe. Deine Mutter war schuld.«

Hierauf legte er sich auf die Seite und begann in tiefen, regelmäßigen Zügen zu atmen.

»Jetzt schläft er, er wird nicht wieder sprechen«, sagte Sternau. – »Was hältst du von seinem Befinden?« fragte Mariano. – »Ich bin mit demselben zufrieden. Der Hieb, den er erhielt, hat ihn schwer betäubt, wird aber hoffentlich keine bleibende Wirkung zurücklassen.« – »Ich befürchtete schon ein Gehirnfieber oder gar eine geistige Störung.« – »Ein kleines Fieber, noch wahrscheinlicher eine momentane Geistesschwäche ist allerdings zu erwarten, wird aber bei aufmerksamer Pflege nicht schwer zu überwinden sein. Sein Schlaf ist jetzt tief, er wird ihn stärken. Er hört nicht, was wir sprechen; wir können also in unserer Unterredung fortfahren.«

Die Herren setzten nun das vorhin unterbrochene Gespräch fort, in dessen Verlauf Juarez jedes, auch das kleinste Ereignis erfuhr, das sich auf die Familie Rodriganda bezog.

»Man sollte das alles, alles für geradezu unmöglich halten«, sagte er. »Man fragt sich mit Abscheu, ob es denn wirklich so entsetzliche Menschen geben kann, wie diesen Landola und die beiden Cortejos. Señor Mariano, Sie sind also überzeugt, der Neffe des Grafen Ferdinando zu sein?« – »Ich kann nicht gut daran zweifeln«, antwortete der Gefragte. – »Ist Don Ferdinando auch dieser Ansicht?« – »Ganz und gar.« – »So gilt es, Licht in diejenigen Punkte zu bringen, die jetzt noch im Dunkeln liegen. Was ich dazu beitragen kann, das wird gern und sicher geschehen.« – »Es ist uns vom allergrößten Vorteil, auf Ihren Beistand rechnen zu dürfen«, versetzte Sternau. – »Oh«, meinte Juarez bescheiden, »mein Beistand ist jetzt noch gleich Null zu rechnen; aber ich hoffe, daß ich Ihnen recht bald beweisen kann, welche Teilnahme ich für Sie hege. Die Herrschaft der Franzosen kann nicht ewig dauern, allem Anschein nach ist ihr nur noch eine kurze Frist bemessen. Mit ihr wird der schwankende Thron des Erzherzogs zusammenbrechen. Dann bin ich wieder Herr des Landes, und sobald ich in die Hauptstadt gelange, wird mein erster Befehl der sein, die Gruft der Rodrigandas zu öffnen. Hoffentlich fällt mir dann dieser Pablo Cortejo in die Hände, mit dem auch ich eine bedeutende Rechnung auszugleichen habe.« – »Es kann nicht schwerfallen, ihn zu arretieren«, meinte Sternau. – »Es wird doch vielleicht seine Schwierigkeiten haben«, antwortete Juarez. »Man wird ihn vielleicht erst lange suchen müssen.« – »Ah, er ist versteckt?« – »Er ist bereits jetzt nicht mehr in der Hauptstadt.« – »Darf ich fragen, warum?« – »Ah, Sie wissen das noch nicht, Señor Sternau?« – »Ich habe allerdings eine Bemerkung gehört, an deren Wahrheit ich aber fast nicht glauben konnte. Es wurde der Name Cortejo in Verbindung mit politischen Ereignissen genannt.« – »So haben Sie dennoch die Wahrheit gehört.« – »Sie erwecken mein größtes Erstaunen.« – »Ja, dieser Cortejo ist als Prätendent aufgetreten.« – »Wirklich? Das ist ja geradezu lächerlich; das ist eine Komödie.« – »Allerdings ist es ganz und gar lächerlich. Sie kennen seine Tochter?« – »Diese Señorita Josefa Cortejo? Ja.« – »Eine Schönheit ersten Ranges natürlich.«

Sternau lachte.

»Ich möchte den Mann sehen, dem diese Schönheit gefährlich werden könnte!« antwortete er. – »Nun sehen Sie einmal dieses Bild!«

Juarez zog aus seiner Tasche eine Fotografie, die er den beiden Herren vorhielt.

»Ah, Sie haben ihr Porträt!« rief Sternau. – »Ja, das ist diese schöne Josefa«, bestätigte Mariano. »Sie scheint noch reizender geworden zu sein, als sie schon früher war.« – »Sie werden sich wundern, wie ich zu dieser Fotografie komme?« fragte Juarez. – Jedenfalls ist sie ein geheimes Angebinde«, antwortete Sternau lächelnd.

Juarez schüttelte belustigt den Kopf und meinte:

»Oh, dann müßte diese Donna Josefa im Besitz von tausend zarten Geheimnissen sein. Nein, nein, sie schickt ihr Bild im ganzen Land umher.« – »Zu welchem Zweck denn?« – »Um Proselyten zu machen, um Anhänger anzulocken. Diese Dame gebärdet sich bereits jetzt als Tochter des Präsidenten oder Königs von Mexiko.« – »Mein Gott, das ist ja entsetzlich albern! Hat dieser Cortejo denn wirklich einigen Anhang gefunden?« – »Mehr als man denken sollte. Der Panther des Südens agitiert für ihn.« – »Das müßte einen besonderen Grund haben.« – »Gewiß, obgleich ich diesen Grund nicht finden kann. Außerdem läuft ihm allerhand Gesindel zu, das sich bei ihm wohl sein läßt.« – »Er wird diese Menschen von dem Geld bezahlen, das ihm die mexikanischen Besitzungen der Familie Rodriganda einbringen.« – »Das ist allerdings eine unumstößliche Gewißheit. Dieser Mensch wird den Schaden, den er verursacht, nie wieder gutmachen können; aber ich gebe Ihnen die heilige Versicherung, daß, falls er in meine Hände fällt, die Strafe ihm im verdienten Maß zufallen wird.« – »Hat man keine Ahnung, wo er sich gegenwärtig befindet?« – »Er ist von der Hauptstadt aus nach den südlichen Distrikten gegangen, wo der Panther des Südens leider eine fast unbeschränkte Gewalt besitzt. Ob er sich noch dort befindet, ist nicht zu sagen, aber so viel ist gewiß, daß er in den mittleren und nördlichen Staaten des Landes bald verloren sein würde, gleichviel, ob er den Franzosen oder mir in die Hände fiele.«

In diesem Augenblick wurde die Unterhaltung durch Pirnero unterbrochen, der die Tür öffnete. Wie bereits erwähnt, fragte Mariano nach seinem Begehr.

»Dieser Señor Geierschnabel wünscht den Señor Präsidenten zu sprechen«, antwortete der Wirt, indem er sich zurückzog.

Juarez trat einige Schritte vor und fragte:

»Geierschnabel, der Wegweiser? Kommt Ihr in geheimer Angelegenheit?« – »O nein«, antwortete der Gefragte. »Diese Herren wissen ja bereits, was ich Ihnen zu sagen habe, Sir.« – »So tretet ein. Ich glaube nicht, daß wir den Kranken wecken.« – »Er schläft fest«, meinte Sternau. »Wir können ohne Sorge sein.«

So durfte also der Amerikaner in das Zimmer treten. Juarez betrachtete ihn genau.

»Setzt Euch, Señor«, sagte er, auf einen Stuhl deutend. »Ich vermute, daß Ihr eine Botschaft an mich habt.«

Der Jäger musterte den Präsidenten ebenso genau, wie er von diesem betrachtet worden war, und spitzte den Mund, um einen Strahl Tabaksbrühe von sich zu spritzen; da aber fiel ihm ein, daß es doch vielleicht nicht ganz fein sei, in Gegenwart eines Präsidenten von Mexiko sich des Überflusses auf so ungenierte Weise zu entledigen. Er gab also seinem Mund die gewöhnliche Lage wieder und antwortete:

»Ich schätze, daß Sie richtig geraten haben, Sir. Es ist wirklich eine Botschaft, die ich an Sie auszurichten habe.« – »Von wem?« fragte Juarez. – »Von einem Englishman.« – »Ah, von einem Engländer?« fragte Juarez erstaunt. »Ich erwarte allerdings von einem solchen sehr wichtige Botschaft!« – »Ich kalkuliere, daß es diejenige ist, die ich bringe.« – »Wie heißt dieser Engländer, Señor?« – »Es ist Sir Henry Lindsay, Graf von Nothingwell.«

Da machte Juarez ein außerordentlich überraschtes Gesicht und sagte:

»Sir Henry Lindsay? Ah, da habe ich mich geirrt. Das ist die Botschaft leider nicht, die ich erwartet habe.« – »Warum soll es diese denn nicht sein, Sir?« – »Es gelang mir vor einiger Zeit, Sir Henry einen Dienst zu erweisen. Wenn er mir jetzt eine Botschaft sendet, wird es eine private sein, aber nicht eine solche, wie ich sie erwarte.« – »Vielleicht irren Sie sich doch. Darf ich fragen, welcher Natur die Botschaft ist, die Sie erwarten?« – »Sie ist diplomatischer Natur.« – »Das lassen sie um Gottes willen den alten Pirnero nicht hören, sonst hält er Ihnen eine Rede von der diplomatischen Vererbung vom Vater auf die Tochter. Übrigens muß ich sagen, daß ich Ihnen allen allerdings einen privaten Gruß von Sir Henry zu bringen habe. Ich soll Ihnen sagen, daß er Ihnen von Herzen ergeben und zu jedem Dienst bereit sei. Daß dies aber nicht eine leere Redensart ist, beweist er durch die Tat, indem er im Begriff steht, Ihnen einen Besuch abzustatten.« – »Seinen Besuch? Das wäre überraschend. Wo befindet er sich?« – »In El Refugio an der Mündung des Rio Grande del Norte!«

Da erhob sich der Präsident schnell von dem Stuhl und sagte:

»In El Refugio? Oh, von dorther soll ja die erwartete Botschaft kommen!« – »Richtig! Und ich bin es, der sie bringt.« – »Ihr? Von Sir Henry?« – »Ja.« – »So ist er ...?« – »Ja, er ist der geheime Bevollmächtigte Englands, den Sie erwarten.« – »Ah, wer hätte das gedacht! Sir Henry der Gesandte Altenglands. Er soll willkommen sein! Aber sagt, was bringt er? Glück oder Unglück?«

In dem sonst so ruhigen Gesicht des Präsidenten drückte sich die größte Spannung aus.

»Glück«, antwortete der Amerikaner. – »Gott sei Dank!« rief, von einer großen Sorge befreit, Juarez. – »Ja, danken Sie Gott, aber auch dem wackeren Sir Henry!« sagte Geierschnabel. »Ich habe eine Unterhaltung belauscht, aus der ich hörte, daß er sich in London die größte Mühe gegeben hat, für Sie zu wirken. Er ist auch in Paris, Berlin und Wien gewesen, um in Ihrem Interesse tätig zu sein. Er hat viel dazu beigetragen, daß England seine Drohung mit derjenigen der Vereinigten Staaten gegen Frankreich vereint. Jetzt ist er des Erfolges so gewiß, daß er behauptet, die Zeit sei nahe, in der Frankreich gezwungen werde, seine Truppen aus Mexiko zu entfernen.«

Da schlug Juarez die Hände zusammen und sagte tief aufatmend:

»Wenn dies der Fall wäre!« – »Tragen Sie keine Sorge!« entgegnete der Jäger in bestimmtem Ton. »Sir Henry gab mir den Auftrag, Ihnen, da er jetzt selbst noch nicht zugegen ist, an seiner Stelle die tröstliche Versicherung zu geben, daß England und Amerika sich, falls die Franzosen nicht freiwillig gehen, vereinigen werden, sie mit Gewalt fortzutreiben und dem Präsidenten Juarez Gerechtigkeit und Anerkennung zu verschaffen.«

Da streckte der Präsident dem Boten die Hand entgegen und sagte:

»Hier, nehmt meine Hand, Señor! Diese Botschaft ist mir lieber als viele Millionen in klingender Münze, obgleich mir das Geld sehr notwendig ist.«

Geierschnabel drückte die dargebotene Hand und erwiderte:

»Keine Sorge, Sir! Für Geld wird auch gesorgt!« – »Ja. Ich habe vor kurzer Zeit von den Vereinigten Staaten eine beträchtliche Summe erhalten, die zu rechter Zeit in meine Hände kam.«

Der Jäger lächelte verheißungsvoll.

»So?« meinte er. »Denken Sie etwa, daß England zurückbleiben werde?« – »Was könnte ich billigerweise von ihm erwarten, außer dem, was Ihr mir soeben sagtet, Señor?« – »Oh, haben die Vereinigten Staaten Geld, so hat England gewiß auch welches!« – »Ihr wollt doch nicht etwa sagen, daß ...?« – »Daß England Geld schickt?« – »Ja, das meine ich.« – »Wie nun, wenn ich gerade das sagen wollte?« – »Dann wären meine Erwartungen allerdings auf das glänzendste übertroffen.« – »Nun, so will ich Ihnen mitteilen, daß Sir Henry einige Fässer voll blanker Sovereigns für Sie mitgebracht hat, lauter schöne Goldstücke, Sir.« – »Ist es möglich?« rief Juarez. – »Möglich? Wirklich ist es. Ich habe die Fässer selbst gesehen, und da rechne ich, daß es wahr sein muß. Das Geld kommt direkt aus der englischen Münze.« – »Welch ein großes Glück! Nun kann ich zahlen und neue Kräfte werben!« – »Ja, das können Sie. Übrigens weiß ich ganz genau, daß der Präsident der Union Ihnen von Kalifornien aus eine ganze Schar tüchtiger Kerle sendet, die sich nicht vor dem Teufel, noch viel weniger aber vor den Franzosen fürchten.« – »Sie kommen mir gelegen. Es soll ihnen an nichts fehlen. Ich werde sie gut ausrüsten, denn nun habe ich Geld, um Waffen und Munition kaufen zu können.« – »Was das betrifft, so nehmen Sie sich nur immer Zeit! Es fällt dem Präsidenten nicht im Traum ein, Ihnen Leute zu schicken, die unbewaffnet sind. Übrigens ist Sir Henry Lindsay mit einem Schiff gekommen, das ganz mit Waffen und Munition für Sie beladen ist. Ich habe alles selbst gesehen.« – »Das geht weit, weit über meine Erwartungen hinaus. Welche Art von Waffen sind es?« – »Zwölf Kanonen mit Zubehör, einige tausend Revolver nebst Patronen, ebenso viele Degen, zehnmal so viel Messer, und, was die Hauptsache ist, achttausend gute Gewehre, die Ihnen prächtige Dienste leisten werden.«

Das Gesicht des Präsidenten glänzte vor Freude, und in seinen dunklen Augen stand ein großer, heller Tropfen.

»Ich habe gelitten und geduldet, denn ich dachte, meine Zeit werde kommen«, sagte er bewegt. »Ich sah das Land verwüsten und den Wohlstand meines Volkes zerrütten, aber ich zagte nicht, denn es gibt eine Gerechtigkeit, die höher ist als der Thron Frankreichs. Ich stehe an der äußersten Grenze des Landes, für dessen Wohl ich mein Leben geben würde, und nur wenige Getreue sind es, die sich bei mir befinden. Gott aber gibt mir jetzt ein Zeichen, daß meine Gebete erhört sind. Ich werde meine Fahne wieder entfalten, und sobald meine Stimme erschallt, werden alle wahren Patrioten sich um mich versammeln, um den Feind hinauszuwerfen. Der Anfang ist gemacht, die ersten vier Kompanien des Feindes sind vernichtet, und nichts soll mich hindern, den begonnenen Lauf fortzusetzen. Ich werde von hier aus direkt nach Chihuahua marschieren, um diese Stadt und dadurch die ganze Provinz von der Gewaltherrschaft der Franzosen zu befreien. Vorher aber muß ich wissen, wann und wo ich den Lord zu erwarten habe. Welchen Auftrag hat er Euch gegeben?« – »In dieser Beziehung gar keinen. Ich soll Ihre Wünsche hören und sie ihm bringen.« – »So wartet er auf Eure Rückkehr?« – Ja.« – »Wie lange braucht Ihr, um nach El Refugio zu gelangen?«

Der Yankee streckte seine sehnigen Arme aus, betrachtete seine Fäuste und antwortete:

»Ich rudere gut. In sechs Tagen werde ich unten sein.« – »Ah, dann seid Ihr ein Tausendkünstler!« – »Pah! Man hat gelernt, ein kleines, leichtes Kanu über das Wasser zu bringen.« – »Aber wie lange Zeit braucht man denn, um stromaufwärts nach hier zu kommen?« – »Donnerwetter, es kommt da eben ganz darauf an, welch ein Fahrzeug man hat, Sir!« – »Nun, welches Fahrzeuges wird sich der Lord bedienen?« – »Er hat an Deck zwei kleine, seicht gehende und schnell fahrende Dampfboote. Er ist jetzt beschäftigt, sie zusammenzusetzen. Sie sind bestimmt, die Fracht des Schiffes auf dem Strom zu tragen, und werden ihre Schuldigkeit schon tun.« – »Welchen Weg legen sie in einem Tag zurück?« – »Ich glaube, daß sie in neun bis zehn Tagen hier sein können.« – »Das würde also zusammen mit den sechs Tagen, die Ihr abwärts braucht, sechzehn Tage machen. Das dauert mir allerdings zu lange. Sechzehn Tage darf ich nicht vergehen lassen, ehe ich Chihuahua nehme.« – »Wer sagt, daß Sie lange warten sollen? Sie haben wackere Jäger und fünfhundert Apachen bei sich. Diese Leute genügen vollständig, um die Stadt zu nehmen. Wie steht es aber mit Coahuila?« – Auch diese Stadt muß mit der gleichnamigen Provinz mein werden.« – »Liegen viele Franzosen dort?« – »Einige Kompanien.« – »Nun, so kalkuliere ich, daß es Ihnen nicht schwerfallen wird, auch diese Stadt in Ihre Hände zu bringen. In welcher Zeit von heute an können Sie in Chihuahua sein?« – »In drei Tagen.« – »Und wieviel Tage braucht ein Reitertrupp, um von da nach Coahuila zu kommen?« – »Fünf Tage.« – »Nun gut. In drei Tagen in Chihuahua, zwei Tage dort bleiben, fünf Tage nach Coahuila, sind zehn Tage. Vier Tage vorher komme ich nach El Refugio, wir brechen dann sofort auf, dampfen den Fluß herauf bis nach Belleville und Revilla und biegen in den Sabinafluß ein, der auf Coahuila zuläuft. Da, wo er sich in zwei Arme teilt, warten wir auf Sie. Das ist ungefähr zwölf Meilen von Coahuila entfernt Ich glaube, diese Berechnung klappt so gut, daß wir für unserer Zusammentreffen gar keinen passenderen Ort finden könnten.«

Der Präsident überlegte und erwiderte:

»Ihr habt recht, Señor. Da sieht man wieder, daß Geierschnabel einer der besten Führer ist. Wir wollen es bei dieser Bestimmung bewenden lassen. Aber wie steht es mit der Sicherheit Eures Transportes?« – »Oh, da machen Sie sich keine Gedanken, Sir! Ich habe einige wackere Jungens zusammengebracht, die für diese Sicherheit zu sorgen wissen. Übrigens ist ja auf der ganzen Route nichts zu fürchten. Indianer gibt es dort nicht, und die Herren Franzosen werden uns wohl auch nicht im Weg herumlaufen.« – »Das ist auch meine Ansicht. Also der Lord kommt selbst mit?« – »Ja, er und seine Tochter.« – »Seine Tochter?« fragte Juarez erstaunt. »Was? Miß Amy Lindsay ist bei ihm?« – »Ja.« – »Welch eine Kühnheit! Haben Sie es gehört, Señor?«

Mit dieser Frage wandte sich Juarez an Mariano. Dieser antwortete:

»Ich wußte es bereits. Señor Geierschnabel hat es uns heute vormittag erzählt.« – »Und was haben Sie bei dieser Botschaft gedacht?« – »Ich nahm mir vor, mit Geierschnabel den Fluß hinabzuschiffen.« – »Sie werden dies auch tun?« – »Es wird leider unmöglich sein.«

Bei diesen Worten zeigte Mariano auf den schlafenden Grafen. Dieser war sein Oheim. Durfte er ihn in diesem Zustand verlassen?

Da wandte sich der Präsident an Sternau:

»Señor, Sie haben mir alle Ihre Schicksale erzählt, aber Sie haben vergessen, mir zu sagen, was Sie zu tun gedenken.«

Sternau antwortete:

»Wir gedachten, nach der Hacienda del Erina zu reiten und diesen Cortejo beim Schopf zu nehmen. Zugleich aber wollten wir eine Gelegenheit suchen, die Nachricht, daß wir noch leben und wieder frei sind, nach der Heimat gelangen zu lassen.« – »Und dies ist noch jetzt Ihr Vorsatz?« – »Ja.« – »So ersuche ich Sie, sich mir anzuschließen. Ihr Weg führt ja über Chihuahua. Folgen Sie mir noch bis Coahuila, so teilen wir uns in den Vorteil. Ich habe eine Anzahl tüchtiger Männer bei mir, und Sie reisen in meiner Gesellschaft sicherer als allein. Übrigens brauchte Señor Mariano die beschwerliche Stromfahrt nicht zu unternehmen, sondern er könnte seine Braut mit uns von Coahuila aus erreichen.« – »Dieser Plan ist gut«, meinte Geierschnabel. »Was übrigens die Stromfahrt betrifft, so könnte ich den Herrn gar nicht mitnehmen.« – »Warum nicht?« fragte Mariano. – »Mein Kanu ist zu leicht, es trägt nur einen Mann, mich allein.« – »Man könnte ein größeres nehmen.« – »Dann würde die Fahrt langsamer vonstatten gehen. Nein, Sir, gehen Sie auf den Plan des Herrn Präsidenten ein. Ich kalkuliere, daß es das beste ist, was ich Ihnen raten kann.« – »Aber wird unser Kranker mit nach Chihuahua können?« fragte Mariano Sternau. – »Es fragt sich, wann wir aufbrechen«, antwortete dieser. – »Ich breche bereits morgen früh auf«, sagte der Präsident. – »Das ist für den Grafen zu früh.« – »So müssen wir leider bleiben«, klagte Mariano. – »Das ist auch mir unlieb. Ich hätte Sie gern bei mir gehabt«, sagte Juarez.

Da meinte Sternau nach einigem Nachdenken:

»Vielleicht gibt es einen Ausweg, Señor Juarez. Glauben Sie nicht, daß sich das Fort Guadeloupe in vollständiger Sicherheit befindet?« – »Ich bin überzeugt davon.« – »So können wir den Grafen einstweilen zurücklassen?« – »Wo denkst du hin!« rief Mariano. »Wer soll ihn pflegen?« – »Die beiden deutschen Ärzte, die hier wohnen. Sie sind tüchtige Mediziner und werden gewiß nichts unterlassen, was zu seiner Genesung beitragen kann.« – »Aber wenn die Franzosen dennoch ...« – »Die Franzosen?« fiel Juarez ein. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß kein bewaffneter Franzose wieder nach Fort Guadeloupe kommen wird. Und wenn dennoch das Gegenteil geschähe, so wäre auch in diesem Fall nicht die mindeste Gefahr zu befürchten. Ein Graf Rodriganda kann von den Franzosen nie als Feind betrachtet werden, denn er ist ihnen ja niemals als Feind entgegengetreten.« – »Aber die Indianer, die Komantschen!« sagte Mariano vorsichtig. – »Oh, die haben eine solche Schlappe erhalten, daß sie jahrelang nicht versuchen werden, wiederzukommen, mein lieber Señor.« – »Sie könnten sich gerade dadurch zur Rache veranlaßt fühlen.« – »So werde ich Sie auch für diesen Fall beruhigen. Es kostet mich bei den beiden Häuptlingen der Apachen nur ein Wort, und sie legen eine genügende Anzahl von Kriegern in die Nähe des Forts, um dasselbe zu beschützen und zu bewachen.« – »Wollen Sie dieses Wort aussprechen?« – »Gewiß, ich werde es tun.« – »So bin ich befriedigt, Señor. Es handelt sich nur noch um die Frage, wie mein Oheim uns nachkommen und wiedertreffen soll.« – »Die Apachen werden ihn nach Coahuila bringen, wo wir ihn erwarten. Habe ich nicht recht, Señor? Stimmen Sie bei?«

Die letzten Fragen waren an Sternau gerichtet Dieser nickte und antwortete:

»Ich stimme bei. Wir haben die Verpflichtung, den Lord in Coahuila zu erwarten, wir müssen uns Ihnen anschließen. Der Graf liegt hier sicher und wird sich in ausgezeichneter Pflege befinden. In einigen Tagen hat er sich erholt und wird uns unter der Begleitung der Apachen sicher nachkommen, Du hast gar nichts zu befürchten, mein lieber Mariano.« – »Nun gut, so mag es geschehen«, meinte dieser. »Es ist nicht zu verwundern, daß man nach allem, was wir erlebt und erfahren haben, vorsichtig wird.« – »So sind wir also einig«, nahm Juarez wieder das Wort. »Wann werdet Ihr aufbrechen, Señor Geierschnabel?« – »Sobald als möglich«, antwortete dieser. – »Doch nicht vor morgen?« – »Warum nicht, Sir? Am liebsten stiege ich sofort in mein Kanu.« – »Jetzt, bei Nacht?« – »Ja. Ich habe keine Zeit zu verlieren.« – »Ah, Ihr seid ein wackerer Mann. Ihr nehmt Eure Pflichten ernst, und ich will Euch da nicht hinderlich sein. Ich werde nach meinem Zimmer gehen, um Euch einige Worte aufzuschreiben, die Ihr dem Lord übergeben sollt. Kommt mit!«

Die beiden gingen.

»Und ich«, sagte Sternau, »werde einmal nach dem anderen Patienten sehen. Don Ferdinando schläft; er bedarf jetzt meiner nicht; der Schwarze Gerard aber liegt so schwer, daß ich ihn nicht vernachlässigen darf.«


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