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III.

Glocken über der Stadt. Sie nisten in den hohen Türmen wie lärmende Vögel in den Bäumen und erheben nun ihre schwingenden Stimmen. Die Steine singen, die Luft singt und die Menschenherzen singen, von zitternden Wellenkreisen umringt, als schlügen die Glocken jedem in der eigenen Brust. Sie hatten Macht über die Seele. Bald dröhnten sie dumpf und schwerflüssig wie die Stimme des Herrn, die im Wogenrauschen und Gewittersturm spricht, bald erhoben sie sich hell und scharf wie Litaneigesang von Nonnen in schwärzlichen, bronzenen Gewändern hoch im Gewahrsam der Türme, die nun plötzlich eine Stimme hatten und redeten, riefen, drohten, befahlen. Wen riefen sie? Sie riefen den König, seine Würdenträger, die Stände, Gläubige und Ungläubige, Konservative und Liberale, Fürsten und Demokraten, kurz alle, die zum Landtag gehörten. Durch des Königs Gnade wieder einberufen, wurde die Ständeversammlung durch ein Hochamt eingeleitet und durch Gottes Wort gespeist, damit es bei der schweren Regierungsarbeit nicht an Erleuchtung fehle. Man war ja im Vormärz. Was die Glocken auf den kupfergrünen Türmen so machtvoll begonnen hatten, setzte die Orgel im Innern der Theatinerkirche mit noch größerer Seelengewalt fort. Kerzen brannten an allen Altären und badeten ihr Licht in Behältern von Gold und Silber und in dem tiefen warmen Glanz der Gemälde; Weihrauch stieg in blauen Wölkchen empor zu den Decken und Wölbungen, die ihr Reliefgespinst als ungeheueren, bestickten Baldachin über den Raum spannten und die Blicke aufwärts leiteten zu dem Himmelstraum der großen Kuppel, die mit ihren Engeln und Seligen auf blauem Grund die ganze Unendlichkeit ahnen ließ. Ein Gleichnis der überirdischen Herrlichkeit war das Gotteshaus, und was etwa noch an weltlicher Begehrlichkeit bei den frommen Landtagsmitgliedern vor dieser überwältigenden Größe der Erbauung standhielt, schwemmte der hochgelinde Strom von Orgelton und Chorgesang sanft hinweg.

Draußen an den weitgeöffneten Toren staute sich das Volk, von den Wachen zurückgedrängt, den Aufzug zu begaffen.

Diese lebendig gewordene Maskenanstalt, den Mummenschanz der vierziger Jahre: Goldbestickte Fräcke mit Staatsdegen und Dreimastern, ein maulwurfschwarzes Gewimmel von Jesuitenhüten und -Kutten, die pedantische Feierlichkeit von Professorenröcken mit sonntäglich weißen Halsbinden und Handschuhen und glatt gestrichenen Zylindern, die farbigen Burschenschaftermützen als lustige Klexe über Kanonenstiefeln, Samtjacketts und gestickten Tabaksbeuteln, ein bunter Wald von Fahnen und Standarten aller Kongregationen und Zünfte, die Innungszeichen der in Gott ruhenden, ehrsamen Handwerksverbände, Landestrachten der Leute aus Schwaben, Franken, der Pfalz, Nieder- und Oberbayern: kurz, die Stände. Unter den Neugierigen vor den Kirchentüren ein Stoßen und Drängen, ein Schimpfen und Wehklagen hinter den zurückdrängenden Wachen.

»Hier kannst du besser sehen, Vetter,« sagte der Kaufmann Weinschöppel zu seinem Besuch aus der Pfalz, dem Hofbesitzer Stindt, der einen abgerissenen bleichen Menschen mit verwildertem Haar und Bart am Ärmel nach sich zog; »hier kannst du bis in das Herz der Kirche sehen, wo gleich die große Faust des Diepenbrock mit dem Weihrauchfaß auffahren wird, der zum letztenmal hier zelebriert; Freund der königlichen Familie, seit einigen Tagen Erzbischof von Breslau, gewaltig mit dem Maul, aber ehrliche Haut!«

Der Vetter aus der Pfalz hatte nicht genug Augen und Ohren, um alles zu sehen und zu hören in diesen wenigen Tagen, da ihn sein Münchener Verwandter, der Kaufmann Weinschöppel, als freiwilliger Fremdenführer am Nasenring herumzog.

»Hast du den gesehen,« stieß er den Hofbesitzer wieder an, »den mit den vielen Orden und mit dem goldgestickten Frack?«

»Der Kleine, Schmächtige da mit dem großen Löschhut auf dem Kopfe?« fragte der naive Landbürger.

»Pst, pst!« gab ihm Weinschöppel listig zu verstehen; »der allmächtige Minister von Abel, der größte Pfaffenknecht des Jahrhunderts! Und der andere dort, der Große, das ist der frühere liberale Minister Fürst Wallerstein, der geflogen ist wegen dieses Kleinen. Seither ziehen die Rosenkranzverkäuferinnen als Aposteldamen herum, man rennt den Bettelmönchen nach, um ihre Säcke und Wägen mit Kälbern, Geflügel und Schmalz zu füllen, viele Klosterbrüder sieht man mit Testamenten in ihren Krallen, und die Schar Loyolas treibt eifrig die Knaben ins Kollegium, große schwarze Hirten hinter der Lämmerherde. Aber der König hat's so gewollt.«

»Warum? Hab's nie begriffen,« versicherte der Hofbesitzer.

» Aus Furcht!« flüsterte der Kaufmann, doch laut genug für die Umstehenden, die beifällig grinsten; »aus Furcht ist der König von ultraliberalen zu ultramontanen Grundsätzen übergegangen. Das hat die Julirevolution von 1830 in Paris verursacht. Da war es aus mit der Menschheitsbeglückung, aus mit Preßfreiheit, Denkfreiheit, Redefreiheit, Gewerbefreiheit. Dafür regieren die Verordnungen und die Zensur, die fürsorglich darauf sieht, daß der geistige Magen des Volkes beileibe nicht überladen wird!«

»Aus Furcht? Er geht unter den Leuten wie unsereiner und weiß: man liebt ihn. Heißt das fürchten?«

»Nun, was glaubt Ihr, warum er seinen Freund, den Bürgermeister Behr, in die Festung geschickt hat?«

Der Bauer machte ein erwartungsvolles Gesicht.

»Aus demselben Grund: aus Furcht!«

»Furcht sagt Ihr? Ich kann's nicht einsehen. Dagegen würde der ultramontane Minister auch nicht helfen können,« meinte der Pfälzer.

Der Zerlumpte hatte schweigend zugehört, gelegentlich lebhaft Beifall genickt und jetzt mit einem bedauernden Achselzucken sein Mißfallen ausgedrückt.

»Oh, Einfalt vom Lande!« begann wieder Weinschöppel, »seht Ihr denn nicht, was sonnenklar ist? ›Dem Volke muß die Religion erhalten werden!‹ Ein gläubiges Volk ist eben leichter zu regieren, ein Volk, das in die Kirchen rennt und dem Herrgott die Zehen abbeißt, gelt Schulmeister?« Dabei gab er dem Zerlumpten, der mit erregter Miene zustimmte, einen Klaps auf die Schulter und fuhr dann fort: »Ein Volk, das stumm gehorcht und sich mit Wechseln bezahlen läßt, deren Einlösung erst im Jenseits erfolgen soll, von wo aber bekanntlich noch keiner zurückgekehrt ist!«

Der Sprecher wurde durch Lärm und Unruhe unterbrochen. Die Augen aller wandten sich von dem Schauspiel, das die offene Kirche und die Aufzüge boten, ab, und die Finger zeigten aufgeregt nach der Straße hin:

»Da, da, da!«

»Ihr habt Glück, mein Herr Vetter aus der Pfalz,« fing Weinschöppel wieder an. »Da seht links rum die interessanteste Person im ganzen Königreich Bayern,« und nun senkte er die Stimme zu einem lauten Flüstern: »– die Geliebte unseres allergnädigsten Herrn und Königs ...«

»Wo, wo, wo?«

»Mensch, wozu habt Ihr Euere Augen! Seht Ihr denn nicht, die schöne spanische Fliege dort? Nun, muß sagen, kein übler Geschmack – verdammt schönes Weib! Ist doch vollständig angezogen? Sieht aber aus, als ob sie splitternackt wäre. Das Frauenzimmer versteht's! Immer als Amazone, immer im Reitkleid, immer in Samt gehüllt, der sich anschmiegt, daß man die Form besser sehen kann. Herrgott, 's Maul wässert einem – dieser Busen, diese Lenden, diese Beine! Gott sei Dank, daß man seine Grundsätze hat, gelt, alter Kerl?« und dabei stießen sich die Männer mit zynischem Gelächter an.

Wie die Göttin der Wollust schritt Lola Montez, das geraffte Reitkleid ein wenig hochgezogen, über die Straße, den Pfützen ausweichend, geradeswegs zum Kirchenportal. Die Menge war erstarrt im Anblick dieser fremdartigen Schönheit. Augen und Mund aufgerissen – im Halbkreis um die Kirche ein einziges, ungeheueres, glotzendes Kollektivauge und ein einziger, in die ganze Breite gezogener, vor Staunen aufgerissener Kollektivmund.

Zwei Studentlein standen am Weg, Elias Peißner, der Türmerssohn aus Vilseck in der Pfalz und Wolfram Horner, ein Küsterssohn aus Dinkelsbühl, zwei Schüler mit hellen, verzückten Augen und keusch zurückgestrichenem Blondhaar. Jedem hatte die Mutter einen Beutel Geld gegeben, die Ersparnisse langer, entbehrungsreicher Jahre, und dazu den Segen mit den Worten: »Werde was Rechtes!« Mit guten Vorsätzen war jeder von den Jünglingen nach der unbekannten Stadt München gezogen, um dort an der Hohen Schule die großen Wissenschaften und das große Leben zu erlernen.

Die standen nun da und waren verdonnert. Das Leben trat ihnen plötzlich in der gefährlichsten und verführerischesten Verkörperung entgegen, wie sie es nie in der Hohen Schule durch die Kraft der heiligen Wissenschaft erträumen konnten.

Was wußten die Bürschlein von dem Leben, was wußten sie von der Liebe?

Jetzt durchzuckte sie eine Ahnung, ein plötzliches Erwachen, ein jäher Erkenntnisblitz, der ein Geheimnis auf einen Augenblick erhellt – aber schon ist es vorüber. Haß und Empörung gegen das Weib, das zum erstenmal seine Sinne reizt, ist das vorherrschende Gefühl des keuschen Jünglings; Haß und Empörung und eine unbestimmte Bangigkeit, die ihn in die Flucht peitscht, zugleich aber auch eine süße Erstarrung, die ihn willenlos macht.

Wolfram von Dinkelsbühl zog den Elias von Vilseck schon am Ärmel und rief angstvoll:

»Fort, komm fort!«

War es die Furcht um sich selbst oder um den anderen? Trotzdem standen sie wie angewurzelt.

»Was gibt's?« fragte Lola verwundert über die beiden Studenten, die ihr den Weg verstellt hatten. Ihre blauen Augen hoben die leuchtenden Schwingen, sie sah die hübschen, schön gewachsenen Jünglinge, sie sah die Bestürzung, den Schrecken und zugleich die Schamröte in ihren Gesichtern und lächelte, als ob ihr der erfahrene Instinkt ihrer Natur den Zusammenhang eröffnet hätte.

»Ihr scheint Angst zu haben?« fragte die Raffinierte, die von der Blödigkeit der Jungen belustigt schien.

»Ja!« stieß Wolfram hervor und riß sich los, als wäre er einem Dämon entsprungen. Riß sich los aus den Schlingen und Fallen dieser Augen und dieses Lächelns und ließ den Freund allein zurück – das Bündnis der Jünglinge hatte von dieser Stunde an einen Bruch. Elias, der Türmerssohn aus Vilseck, blieb mit hellen, verzückten Augen stehen, obschon auch in ihm Haß, Empörung und Furcht gegen erwachende, dunklere Leidenschaften kämpften.

Hämische Worte wurden in dem Haufen laut, der sich von seinem Staunen und Gaffen erholt hatte. Ehe Montez den Fuß über die Kirchenschwelle setzen konnte, hatten die Leute die Kette der Wache durchbrochen und drängten hinter den letzten Festgästen in die Kirche nach, so daß ihr der Eintritt in das Gotteshaus, wo sich der König mit seinen Staatsmächten befand, durch dieses Volk, das sich dazwischen warf, verwehrt war.

»Der Lehrer Thom soll da unter dem Pfeiler stehen bleiben,« drängte Weinschöppel den armseligen Begleiter des Hofbesitzers in die Pforte hinein; »hier bleibe er stehen und halte sein Gesuch dem König entgegen, der hier herauskommt!«

Aber die Wache stieß die Leute wieder zurück.

»Halt da! Zurück!« Der kommandierende Leutnant packte den Zerlumpten, riß ihn zurück: »Was will der Kerl von Seiner Majestät? Wache!«

Der Kaufmann und der Hofbesitzer mengten sich ein.

»Tut nicht so, als ob Ihr mich nicht kennet, Herr Leutnant Nußbaum!« begann Weinschöppel in seiner scharfen, hämischen Art. »Sollten Sie etwa nicht wissen, Herr Leutnant, daß Ihr Herr Vater und ich alte Freunde sind, und daß mein Weib die Patin Ihrer hübschen Jungfer Braut Marianne ist? Wir sind anständige Leute hier: das hier ist der Hofbesitzer Stindl aus der Pfalz, und dieser Mann da ist der Schulmeister Thomas Dieter, genannt der Lehrer Thom, den die Bauern, diese filzigen Dummköpfe, verhungern lassen wollten mit Weib und Kind, um den lumpigen Schulkreuzer zu sparen. Das haben die Pfaffen getan – er war ihnen zu ›aufgeklärt‹. Seht einmal diesen Jammerkerl, den sie um den Balg geschunden! Da spürt man, daß man noch ein Herz im Leib hat. Zu Fuß ist er nach München gewandert und will hier dem König sein Gnadengesuch überreichen ...«

»Tut mir leid, hier ist nicht der Ort dafür; er soll sich ausweisen, also vorwärts auf die Wache!«

Es erhob sich ein Geschrei, das Volk begann sich aufzulehnen und für den Unglücklichen Partei zu ergreifen gegen den Offizier und die Wachsoldaten.

Eine helle, wohlklingende Stimme, die plötzlich wie Gesang über dem Lärm schwebte, rief:

»Herr Leutnant!« Es war die Montez. »Überlassen Sie mir diesen Menschen, ich bitte Sie!«

Es erging dem jungen Krieger nicht anders, wie es den anderen Betörten erging: er war augenblicklich verwandelt. Zwar die Pflicht und Autoritätsgefühl, soldatisches Wesen nötigten ihm einige Haltung auf, doch ehe sich der Verdutzte erholen konnte, hatte sich Lola schon an Thomas Dieter gewendet und ihn ausgefragt.

»Ich hab' doch gearbeitet, was und wo ich konnte,« stammelte der vertriebene Schullehrer seine Unglücksgeschichte und hob bebend vor Erregung zwei zerschundene Fäuste empor: »Da! Am Donau-Main-Kanal habe ich gearbeitet als Taglöhner für ein paar Kreuzer täglich, und auch das ist zu Ende. Es wird nicht mehr weitergebaut ... Mein armes Weib, meine Kinder ...«

Er konnte nicht weiter, Tränen liefen aus den aufgerissenen Augen über das Hungergesicht; doch der Mann schien es gar nicht zu wissen, daß er weinte, weinte über Weib und Kind und über sich.

Das Herz der Mondaine war leicht gerührt und neigte zum Wohltun. Rasch gab sie dem hilflos verlegenen Studenten Elias von Vilseck ihre Reitgerte und sonstige Dinge, die sie trug, zum halten, der nun über und über rot wie ein linkischer Diener dastand, und schüttete den ganzen Inhalt ihrer Börse mit Gold- und Silberstücken in die Hand des erbarmungswürdigen Thom.

»Da, für Ihr Weib und Ihre Kinder!«

Der Volkshaufen, anfänglich zu gaffender Bewunderung, dann zur Schmähsucht und Frechheit gegen die Kurtisane gestimmt, war jetzt begeistert.

»Hoch Lola Montez, Vivat!« riefen einige Stimmen.

»Ruhe!« befahlen andere.

»Gib doch der Sennora das Gesuch!« raunte Weinschöppel dem Lehrer Thom zu, der nicht wußte, wie ihm geschah. »Es ist am besten Weg!«

»Das Gesuch an den König,« sagte Thom mechanisch.

»Lassen Sie mich, was soll ich damit?«

Ein Nachzügler der Staatswürdenträger hatte den Vorgang mit angesehen, machte eine tiefe Verbeugung und sagte:

»Nehmen Sie es, Sennora, Sie tun ein gutes Werk damit!«

Rasch nahm Lola Montez das zerknitterte Papier an sich und steckte es in den Busen.

»Staatsrat von Berks« – stellte sich der Unbekannte vor.

Ein Moment der Spannung, während alle auf die Schöne blickten wie auf einen Genius: die Leute mit stieren Glotzaugen, der hellblickende verzückte Jüngling, der Leutnant als Paris mit Raupenhelm und prallen weißen Lederhosen, der faunsgesichtige alte Staatsrat, der rüpelhafte Weinschöppel als genius loci – sie alle waren ohne Unterschied des Standes oder des Alters trotz mannigfacher innerer Widerstände augenblicklich bereit, die Schleppträger der gelästerten Hetäre zu sein.

»Patrona Bavariae!« rief begeistert der Staatsrat mit einer tiefen Verneigung.

»Die Vorsehung im Unterrock!« spottete Weinschöppels Frechmaul.


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