Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der weiße Hirsch

Es ist eine Sitte an Jovelins Hof, daß der Jäger, der den weißen Hirsch gestreckt hat, die schönste Dame küssen darf. König Artus hatte einst mit allen Rittern der Tafelrunde als Gast zu Arundele geweilt, und da war das adelige Tier, das sich fast niemals sehen läßt, durch seinen Speerwurf gefallen. Der weiße Hirsch trägt nicht ein ästiges Geweih wie andere Hirsche, sondern ein einziges, gerade aufragendes Horn; daraus war des Bretonenkönigs Hifthorn gefertigt worden, das er immer beim Jagen mit sich führt. Seit jenem Tage galt die Sitte des Küssens.

Der weiße Hirsch ist so stolz, daß er die Gesellschaft der anderen Tiere des Waldes verschmäht und immer allein äst. Nur an dem Tag des Sommers, wo die Sonne ihren höchsten Stand hat und die Elfenhochzeit im Walde gefeiert wird, sucht auch der weiße Hirsch die Hinde, die von der Herde für ihn aufgezogen und keusch bewahrt worden ist.

Diesen weißen Hirsch hatte Tristan, der einsam im Tannicht jagte, mit einem leichten Gabilot durch den Hals getroffen; sterbend lag das schöne Tier zu den Füßen des Pferdes. Der Hirsch rang stolz und lautlos mit dem Tode. Noch einmal hob er den schlanken Leib, äugte schmerzlich zu dem Jäger auf und brach tot zusammen. Tristan wurde so bange zumut, als hätte er einen werten Menschen getötet. Er stieg aus dem Sattel, vertrieb die herankläffende Meute, damit das edle Tier nicht im Tode verletzt werde, und zog sein Pferd am Zaume nach durch den Wald. Die Düsternis schwoll ihm im Herzen an; er schämte sich der Tat, denn er erkannte wohl die edle Art des Waldtieres, das er getötet hatte.

Aber Kaherdin stürmte lärmend heran, und Tristan konnte es nicht leugnen, daß der weiße Hirsch von ihm gestreckt worden war. Da sammelten sich alle Jäger um die Beute, stellten ihr Jagen ein und bliesen den Hirschentod. Kaherdin lachte laut: »Du Glücklicher, keine darf dir nun den Mund versagen! Welche wirst du um den ihren bitten?« Schon lang nährte Kaherdin den Wunsch, seine Schwester mit Tristan zu vermählen; und heut gedachte er ein schickliches Küssespiel anzustellen.

Aber Tristan fand kein Lächeln, er antwortete kaum auf des Jünglings Scherzreden. Der kannte Tristans Art und ließ sich's nicht verdrießen.

Die Kunde, daß Tristan den weißen Hirsch gefällt hatte, lief hurtig ins Schloß voraus, und manche Dame tat flugs süßes Mandelöl auf die Lippen, daß Tristan wohl empfangen sei, wenn er danach begehrte, und war heimlich gesonnen, ihm mehr zu schenken als den Mund, den er fordern durfte. Auch Gwendoline war heute voll Munterkeit. Sie söhnte sich mit Alienor aus und beide Mädchen steckten die Köpfe zusammen. Nun mußte alles an den Tag kommen! Denn daran gab es keinen Zweifel, um wessen Kuß Tristan bitten werde! Und bei dem ersten würde es nicht bleiben – wenn es der erste ist, setzte Alienor hinzu.

Isolde aber war in arger Verlegenheit. Sie ging nicht in den Saal hinab, als die Herren kamen; das wäre ihr gewesen, als hätte sie sich Tristan dargeboten. Oben saß sie und lauschte auf das Lachen. Sie hätte gar zu gerne gewußt, ob Tristan den Kuß schon verlangt hatte, den keine weigern durfte. Aber die Freundinnen ließen sie heut allein.

Alle tranken Tristan zu und feuerten seinen Mut an. Doch er blieb schweigsam. Schließlich ward den Jägern unbehaglich in seiner Nähe. Sie rückten ab und ließen ihn allein. Die Damen aber leckten enttäuscht das süße Öl von ihren Lippen. Als Herr Agrevain zuviel getrunken hatte, fing er sich die kleine Alienor, die bis auf die Treppe hinausgelaufen war, und küßte sie wacker. Sie schrie und zerkratzte ihm die Stirn, aber er schwor, Tristan hätte ihm das Recht des weißen Hirsches abgetreten, und so mußte sie ihn gewähren lassen; darob hatte sie später manchen Spott zu dulden, denn die Mädchen brachten ihr auf, sie hätte es wohl gewußt, daß Tristan nicht auf sein Vorrecht verzichtet habe.

Aber für Tristan wurde das Lärmen und Lachen zum Überdruß. Er ging in den Hof hinaus und lehnte sich über die Brustwehr. Da stiegen aus dem dunkeln Park die Reiher auf, die hier gerastet hatten; mit schwerem Flügelrauschen schwammen sie über den Wald hin in die Frühsommernacht, ihre Schatten gingen über Tristan. Sie flogen gen Norden, dem Meere zu. An den einsamen dunkelgrünen Seen von Cornwall würden sie sich niedersenken, scheu und schwer zu beschleichen. Lange sah ihnen Tristan nach. Die Reiher zogen heimwärts, und seine Sehnsucht war auf ihren Flügeln. Sie hörte unten das Meer brausen mit seinem alten Getön und sah die Burg Tintaguel im Mondschein schlafen. Sie blickte in das Gemach der Königin ...

Tristan dachte der Tage, da er auf Skine die Reiher gejagt hatte, um ihnen den jungen weichen Brustflaum zu rauben. Isolde hatte daraus ein Totenhemd gewoben in den einsamen, sehnsüchtigen Stunden der Nacht, ein Totenhemd, groß genug für sie beide. Sie wußten es wohl, daß sie an einem Tage sterben würden, durch die Wut des Königs getötet oder mit freiem Willen, eines dem anderen folgend ...

Vom Turmzimmer her sah Isolde ihn an der Mauer lehnen. Durch Gwendoline wußte sie schon, was sich zugetragen, und sie jubelte in ihrem Herzen, daß Tristan von keiner den Kuß begehrt hatte. Weil sie sich verborgen gehalten, trug er Harm! Nur sie wollte er küssen! Jetzt war ihr volle Gewißheit gegeben, zu ihr ging sein Sehnen! In tiefer Liebe ruhte der Blick der Königin auf der dunkeln Gestalt, die da in die Nacht hinaus träumte.

»Vielleicht, daß er morgen um deinen Kuß bittet?« fragte Gwendoline mit großen Augen. Sie fragte anders als die kecke Alienor, die sich heute verkrochen hatte. Doch Isolde schüttelte den Kopf: »Nein, glaub das nicht! Ich möchte es nicht!« Aber sie wußte, wie es die Freundin wußte, daß sie ihm nie etwas wehren würde, daß sie ihm große Liebe erzeigen wollte.


 << zurück weiter >>