Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Ich glaube, meine linke Seite wird auch lahm«, schrieb Wolf Larsen am Morgen nach seinem Versuch, das Schiff in Brand zu stecken. »Die Gefühllosigkeit nimmt zu. Ich kann kaum die Hand bewegen. Sie müssen lauter sprechen. Die letzten Leinen sind bald gekappt.«

»Haben Sie Schmerzen?« fragte ich.

Ich mußte meine Frage laut wiederholen, ehe er antwortete: »Nicht immer.«

Seine Linke tastete langsam und mühevoll über das Papier, und mit größter Schwierigkeit entzifferten wir das Gekritzel. Es war wie eine Geisterschrift.

»Aber ich bin noch hier, voll und ganz hier«, kritzelte die Hand langsamer und mühseliger als je.

Der Bleistift entfiel ihr, und wir mußten ihn wieder zwischen seine Finger stecken.

»Wenn ich keine Schmerzen spüre, habe ich ganz Ruhe und Frieden. Ich habe nie so klar gedacht. Ich kann über das Leben nachdenken wie ein weiser Hindu.«

»Und die Unsterblichkeit?« rief ihm Maud ins Ohr.

Dreimal versuchte die Hand zu schreiben, tappte verzweifelt. Der Bleistift fiel. Vergebens wollten wir ihn ihm wieder reichen. Die Finger vermochten sich nicht mehr zu schließen. Da umschloß Maud seine Hand mit der ihren und drückte sie zusammen, und er schrieb mit großen Buchstaben und so langsam, daß zwischen jedem einzelnen Minuten vergingen:

»Q–u–a–t–s–c–h.«

Dies war Wolf Larsens letztes Wort: Quatsch – skeptisch und unbezwinglich bis zuletzt. Arm und Hand sanken nieder. Ein leichtes Zucken durchfuhr seinen Körper. Dann regte er sich nicht mehr. Maud ließ seine Hände los. Die Finger öffneten sich durch ihr eigenes Gewicht, und der Bleistift fiel zu Boden.

»Können Sie noch hören?« rief ich, indem ich seine Hand faßte und auf den einmaligen Druck wartete, der ›ja‹ bedeutete. Es erfolgte keine Antwort. Die Hand war tot.

»Ich habe bemerkt, daß dir Lippen sich leicht bewegten«, sagte Maud.

Ich wiederholte die Frage. Die Lippen bewegten sich wirklich. Maud legte die Fingerspitzen darauf. Nochmals wiederholte ich die Frage. »Ja«, verkündete Maud. Wir blickten uns erwartungsvoll an.

»Was nun?« fragte ich. »Was sollen wir ihn fragen?«

»Ach, fragen Sie ihn – –«

Sie zögerte.

»Fragen Sie ihn etwas, das ein Nein als Antwort erfordert«, schlug ich vor. »Dann werden wir Gewißheit haben.«

»Sind Sie hungrig?« rief sie.

Seine Lippen bewegten sich unter ihrem Finger, und sie meldete: »Ja.«

»Wollen Sie etwas Fleisch haben?« lautete die nächste Frage.

»Nein«, verkündete sie.

»Brühe?«

»Ja, er möchte etwas Brühe haben,« sagte sie und blickte zu mir auf. »Bis sein Gehör völlig versagt, werden wir uns mit ihm verständigen können. Dann –« Sie sah mich mit einem seltsamen Blick an. Ich sah, wie ihre Lippen zitterten und ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie wankte, und ich fing sie in meinen Armen auf.

»Ach, Humphrey,« schluchzte sie, »wann wird dies alles ein Ende haben? Ich bin so müde, so müde.«

Sie barg ihren Kopf an meiner Schulter, ihre zarte Gestalt wurde von heftigem Weinen geschüttelt. Wie eine Feder lag sie mir im Arm, so leicht und ätherisch. »Jetzt ist sie doch zusammengebrochen!« dachte ich. »Was kann ich ohne ihre Hilfe tun?«

Aber ich beruhigte und tröstete sie, bis sie sich zusammenriß und ihr Gleichgewicht ebenso schnell wiedergewann, wie sie sich körperlich zu erholen pflegte.

Als der Fockmast stand, machte die Arbeit sichtliche Fortschritte. Fast ehe ich es wußte, und ohne daß ich mich besonders angestrengt hätte, war der Großmast eingesetzt. Dann wurde die Piek am Fockmast angebracht, und einige Tage später befanden sich alle Stags und Wanten an ihren Plätzen. Toppsegel wären für eine nur aus zwei Köpfen bestehende Mannschaft nur gefährlich gewesen, und so heißte ich die Marsstengen an Deck und machte sie fest.

Noch einige Tage brauchten wir, um die Segel fertigzustellen und festzumachen. Wir hatten nur drei: Klüver-, Fock- und Großsegel, und geflickt, verkleinert und formlos, wie sie waren, paßten sie nur schlecht zu einem so schöngebauten Fahrzeug wie die ›Ghost‹.

Von meinen vielen neuen Berufen eignete ich mich sicher am wenigsten zu dem eines Segelmachers. Ich wußte besser mit den Segeln umzugehen, als sie zu verfertigen, und ich zweifelte nicht, daß es mir gelingen sollte, den Schoner in irgendeinen japanischen Hafen zu bringen. Ich hatte wirklich ein gut Teil Navigation aus den an Bord befindlichen Büchern gelernt, und zudem hatte ich Wolf Larsens Sternenskala, nach der ein Kind sich hätte orientieren können.

Was ihren Erfinder betraf, so hatte sich sein Befinden wenig geändert, außer der Tatsache, daß seine Taubheit zunahm und die Bewegungen seiner Lippen immer schwächer wurden. An dem Tage aber, als wir mit den Segeln fertig wurden, vernahm ich das letzte Wort, und die letzte Bewegung seiner Lippen hörte auf – aber nicht, ehe er auf meine Frage: »Sind Sie voll und ganz da?« noch einmal »Ja« geantwortet hatte. Die letzte Leine war gekappt. Irgendwo in der Grabkammer des Fleisches weilte noch die Seele des Mannes. Umschlossen vom lebendigen Lehm, brannte diese starke Intelligenz, die wir gekannt hatten, aber sie brannte in Schweigen und Finsternis. Und sie war körperlos geworden. Sie wußte nichts mehr von ihrem Körper. Sie kannte keinen Körper. Sie kannte nur sich selbst und die Weite und Tiefe von Ruhe und Dunkelheit.


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