Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Günstige Winde trieben die ›Ghost‹ schnell nordwärts in die Robbengründe. Wir trafen die Herden auf dem 44. Breitengrad in einer rauhen, stürmischen See, über die der Wind die Nebelbänke in wilder Flucht hetzte. Tagelang konnten wir nicht die Sonne sehen und Beobachtungen machen. Dann aber fegte der Wind die Oberfläche des Ozeans rein, die Wellen kräuselten sich schimmernd, und wir konnten feststellen, wo wir waren. Ein klarer Tag, auch drei oder vier konnten folgen, dann senkte sich der Nebel wieder auf uns herab, anscheinend dichter als je.

Die Jagd war gefährlich, aber dennoch wurden die Boote Tag für Tag hinuntergelassen, von der grauen Finsternis verschlungen und erst bei herabsinkender Nacht, ja oft erst viel später wiedergesehen. Wie Seegespenster huschten sie dann eines nach dem andern aus dem Grau hervor. Wainwright – der Jäger, den Wolf Larsen mit Boot und Mannschaft gestohlen hatte – benutzte den Nebel, um zu entwischen. Er verschwand eines Morgens mit seinen beiden Leuten in den kreisenden Schwaden, und wir sahen sie nie wieder. Nach einigen Tagen erfuhren wir jedoch, daß sie von einem Schoner zum andern gegangen waren, bis sie endlich ihren eigenen wiedergefunden hatten. Das hatte ich selbst schon längst tun wollen, aber es bot sich mir nie eine Gelegenheit. Es war nicht Sache des Steuermanns, mit in die Boote zu gehen, und welche List ich auch anwandte, gab Wolf Larsen mir doch nie die Erlaubnis dazu. Hätte er es getan, so würde ich irgendwie versucht haben, Fräulein Brewster mitzunehmen. Näherten sich die Dinge doch einem Stadium, an das zu denken mir Grauen einflößte. Ich wollte nicht daran denken, aber immer wieder erhob sich der Gedanke wie ein Spukgespenst in meinem Kopfe und wich nicht.

Ich hatte früher Seegeschichten gelesen, in denen die einsame Frau unter einer Schar von Männern als das natürlichste von der Welt vorkam; jetzt aber erfuhr ich, daß ich nie die tiefere Bedeutung dieser Situation erfaßt hatte. Und hier stand ich dieser Situation nun Angesicht zu Angesicht gegenüber. Um sie so lebendig wie möglich zu gestalten, brauchte es nur, daß die Frau Maud Brewster war.

Kein größerer Gegensatz als der zwischen ihr und ihrer Umgebung hätte je ersonnen werden können. Sie war zart und ätherisch, geschmeidig und mit leichten, anmutigen Bewegungen. Ich hatte nie das Gefühl, als ob sie schritte, oder es doch wenigstens nach Art gewöhnlicher Sterblicher täte. Eine seltene Leichtigkeit lag über ihr, und sie bewegte sich mit einer unbeschreiblichen Anmut. Näherte sie sich einem, so geschah es wie ein Vogel, der auf geräuschlosen Schwingen herniederschwebte.

Sie war wie ein Gegenstand aus Meißener Porzellan, und ich wurde immer wieder betroffen von einem Eindruck von Zerbrechlichkeit, den sie auf mich machte. Wie damals, als ich ihren Arm ergriffen hatte, um ihr die Kajütstreppe hinunterzuhelfen, war ich jederzeit darauf vorbereitet, sie zerbrechen zu sehen, falls sie zu hart angepackt würde. Nie habe ich eine solche Harmonie zwischen Körper und Geist gesehen. Ihr Körper schien ein Teil ihrer Seele zu sein, schien die gleichen Eigenschaften zu besitzen und an das Leben nur durch die zartesten Ketten gefesselt zu sein. In der Tat: sie trat leicht über diese Erde, und nur ein Geringes von grobem Staube haftete ihr an.

Wolf Larsen bildete einen schreienden Gegensatz zu ihr. Ich beobachtete sie, wie sie eines Morgens zusammen über das Deck schritten, und ich verglich sie als die äußersten Endpunkte der menschlichen Entwicklung – er der Höhepunkt aller Barbarei, sie das vollendetste Produkt höchster Zivilisation. Wahrlich: Wolf Larsen besaß einen ungewöhnlichen Intellekt, aber er benutzte ihn einzig im Dienste seiner wilden Instinkte, was ihn nur um so schrecklicher und wilder machte. Er besaß prachtvolle Muskeln und war athletisch gebaut, aber obwohl er fest und bestimmt auftrat, haftete seinem Schritt keine Schwere an. An Dschungel und Wildnis gemahnten Heben und Senken seines Fußes. Geschmeidig und stark – vor allem stark – war sein Gang wie der einer Katze. Er glich einem großen Tiger, einem tapferen Raubtier. So wirkte er, und in seinen Augen leuchtete zeitweise derselbe durchdringende Glanz auf, den ich in denen eingesperrter Leoparden oder anderer beutesuchender Geschöpfe der Wildnis in ihren Käfigen gesehen hatte.

Sie kamen in die Nähe der Kajütskappe, wo ich stand. Obgleich sie es durch kein äußeres Zeichen verriet, spürte ich doch, daß sie sich in großer Erregung befand. Sie machte irgendeine nichtssagende Bemerkung, blickte mich an und lachte unbekümmert, dann aber sah ich, wie ihre Augen unwillkürlich, wie fasziniert, die seinen suchten; sie senkte sie wieder, aber doch nicht schnell genug, um das Entsetzen, das in ihnen geschrieben stand, zu verbergen.

In seinen Augen sah ich die Ursache ihrer Erregung. Sonst grau, kalt und hart, waren sie jetzt warm, sanft und golden, und es tanzten in ihnen winzige Lichter, die erloschen und schwanden, aber wieder aufflammten, bis sie die Augen ganz mit einem glühenden Leuchten erfüllten. Vielleicht verursachten sie den goldenen Schein. Jedenfalls waren seine Augen golden, verführerisch und herrisch, lockend und zwingend und verliehen einem Befehl, einem Schrei des Blutes Ausdruck, den kein Weib, am wenigsten Maud Brewster, mißverstehen konnte.

Ihre Angst steckte mich an, und in diesem Augenblick der Furcht – der entsetzlichsten Furcht, die ein Mann fühlen kann, wußte ich, daß sie mir unsäglich teuer war. Das Bewußtsein, daß ich sie liebte, überkam mich gleichzeitig mit der Angst, und beide Gefühle umkrallten mein Herz und ließen mein Blut gefrieren und zugleich aufrührerisch wallen. Ich fühlte mich von einer fremden Macht bezwungen und wandte mich wider Willen, um in Wolf Larsens Augen zu blicken. Aber jetzt hatte er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Die goldene Farbe und das schimmernde Licht waren erloschen. Seine Augen funkelten kalt und grau, als er sich jetzt plötzlich mit einer unbeholfenen Bewegung abwandte.

»Ich fürchte mich,« flüsterte sie schaudernd, »ich fürchte mich so.«

Auch ich fürchtete mich und befand mich in starker Erregung über die Entdeckung, die ich gemacht hatte, aber es gelang mir, gelassen zu antworten:

»Es wird schon alles gut werden, Fräulein Brewster. Glauben Sie mir, es wird alles gut werden.«

Sie antwortete mit einem kleinen dankbaren Lächeln, das mein Herz klopfen ließ, und ging dann die Kajütstreppe hinunter.

Lange blieb ich dort stehen, wo sie mich verlassen hatte. Es war eine zwingende Notwendigkeit für mich, mich zu besinnen und mir klar darüber zu werden, welche Wendung die Dinge genommen hatten. Jetzt endlich war sie gekommen, die Liebe, war zu mir gekommen, nun, da ich es am wenigsten erwartet hatte, und unter den schwierigsten Verhältnissen.

Maud Brewster! Meine Erinnerung flog zurück zu dem ersten dünnen Bändchen auf meinem Schreibtisch, und ich sah zum Greifen deutlich die ganze Reihe schmaler Bändchen auf meinem Bücherbrett vor mir. Mit welcher Freude hatte ich jedes von ihnen begrüßt! Alljährlich war eines von ihnen erschienen, und jedesmal war es das Ereignis des Jahres für mich gewesen. Sie hatten eine verwandte Saite in meinem Geiste angeschlagen, und in diesem Sinne hatte ich sie kameradschaftlich begrüßt; aber jetzt hatten sie ihren Platz in meinem Herzen gefunden.

Und dann kehrte mein Geist – ungereimt und sinnlos – zu einer kleinen biographischen Bemerkung in dem roten Bande ›Wer ist's?‹ zurück. ›Sie ist in Cambridge geboren und 27 Jahre alt.‹ Und ich sagte mir: ›27 Jahre alt und doch noch frei?‹ Wie konnte ich wissen, ob sie noch frei war? Und der Stich neugeborener Eifersucht jagte allen Zweifel in die Flucht. Nein, es war sicher. Ich war eifersüchtig, also war ich verliebt. Und die, die ich liebte, war Maud Brewster. Obgleich ich stets von Frauen umgeben gewesen, hatte ich sie nur rein ästhetisch betrachtet, weiter nichts. Ich hatte wirklich manchmal geglaubt, daß die Regel keine Geltung auf mich hätte, daß ich ein Einsiedler wäre, dem das Glück der Liebe versagt sei. Und nun war es doch gekommen! In einer Art Ekstase verließ ich meinen Platz an der Kajütskappe und schritt über das Deck, indem ich die wundervollen Verse Elisabeth Brownings murmelte:

»Traumbilder waren viele Jahre lang
Genossen statt der Frau'n und Männer mir;
Die besten Kameraden seid doch ihr.
Kein süßer Lied ein andrer je mir sang.«

Jetzt aber erklang das süßere Lied in meinen Ohren, und ich war blind und taub für alles um mich her. Die scharfe Stimme Wolf Larsens rüttelte mich auf. »Zum Donnerwetter, was treiben Sie?«

Ich war nach vorn geschritten, wo die Matrosen mit Anstreichen beschäftigt waren, und bemerkte jetzt, daß ich mit dem Fuße fast einen Farbentopf umgestoßen hätte.

»Schlafwandeln, Sonnenstich – wie?« brummte er.

»Nein, Verdauungsstörung«, erwiderte ich und ging weiter, als ob mir nichts Ungewöhnliches begegnet wäre.


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