Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Wir zogen sofort an Bord der ›Ghost‹, nahmen unsere alte Kajüte in Besitz und kochten in der Kombüse. Die Gefangennahme Wolf Larsens war zu einem äußerst günstigen Zeitpunkt erfolgt, denn der Nachsommer war vorbei, und es hatte regnerisches und stürmisches Wetter eingesetzt. Wir fühlten uns sehr behaglich auf dem Schoner, dem die ungleiche ›Schere‹ und der an ihm hängende Fockmast ein gewisses geschäftiges Aussehen verliehen, das baldige Abreise zu verkünden schien.

Wir hatten Wolf Larsen in Eisen, aber wie unnötig war es jetzt! Wie dem ersten, so war auch dem zweiten Anfall eine ernste Lähmung gefolgt. Maud machte diese Entdeckung, als sie am Nachmittag versuchte, ihm etwas zu essen zu geben. Er schien noch bewußtlos zu sein, und als wir ihn ansprachen, antwortete er nicht. Er lag diesmal auf der linken Seite und litt offenbar starke Schmerzen. In ewiger Unruhe warf er den Kopf hin und her. Dabei hob er das Ohr von dem Kissen, gegen das es gepreßt gewesen war, und sofort hörte er, was sie sagte, und antwortete.

Maud wandte sich zu mir. Ich preßte ihm wieder das Kissen gegen das linke Ohr und fragte ihn, ob er mich hörte, aber er regte sich nicht. Dann nahm ich das Kissen fort, wiederholte die Frage, und sofort erwiderte er, daß er mich verstände.

»Wissen Sie, daß Sie auf dem rechten Ohr taub sind?« fragte ich.

»Ja,« antwortete er mit leiser, aber fester Stimme, »und schlimmer als das: Meine ganze rechte Seite ist wie gelähmt. Ich kann weder Arm noch Bein bewegen.«

»Verstellen Sie sich nun wieder,« fragte ich ärgerlich. Er schüttelte den Kopf, und sein trotziger Mund verzog sich zu einem seltsamen, verzerrten Lächeln, wirklich, verzerrt, denn nur die Muskeln der linken Gesichtshälfte bewegten sich, während die rechte Seite starr blieb.

»Das war das letzte Spiel des Wolfes«, sagte er. »Ich bin gelähmt, ich werde nie wieder gehen. Oh, nur die andere Seite«, fügte er hinzu, als erriete er den mißtrauischen Blick, den ich auf sein linkes Bein warf, dessen Knie sich soeben unter der Decke gekrümmt hatte.

»Es ist auch wirklich Pech«, fuhr er fort. »Ich würde mich gefreut haben, wenn ich Ihnen wenigstens den Garaus gemacht hätte. Dazu, dachte ich, würden meine Kräfte noch reichen.«

»Aber warum denn?« fragte ich entsetzt, aber doch neugierig.

Wieder verzog sich sein trotziger Mund zu dem verzerrten Lächeln, und er sagte:

»Ach nur, um lebendig zu sein, zu leben und zu handeln, um das größere Stück Gärstoff zu sein, um Sie zu fressen. Aber auf diese Weise zu sterben . . .«

Er zuckte die Achseln oder versuchte es vielmehr, denn nur die linke Schulter bewegte sich. Sein Achselzucken war ebenso verzerrt wie sein Lächeln.

»Aber haben Sie eine Erklärung für Ihre Krankheit?« fragte ich. »Wo sitzt sie?«

»Im Gehirn«, erwiderte er sofort. »Die verfluchten Kopfschmerzen sind die Ursache.«

»Symptome«, meinte ich.

Er nickte. »Es gibt keine Erklärung. Ich bin nie in meinem Leben krank gewesen. Irgend etwas ist mit meinem Gehirn los. Ein Geschwür, ein Tumor oder etwas derartiges – etwas, das frißt und zerstört. Es greift mein Nervenzentrum an, frißt es Stück auf Stück, Zelle auf Zelle – vor Schmerz.«

»Auch die Bewegungszentren«, warf ich ein.

»Es scheint so, und das Verfluchte dabei ist, daß ich bei vollem Bewußtsein, vollkommen klar und geistig ungeschwächt hier liegen muß und weiß, daß die Kurve Zoll für Zoll abwärts geht, und daß ich immer mehr von der Außenwelt abgeschnitten werde. Ich kann nicht mehr sehen, Gehör und Gefühl verlassen mich, und bald werde ich auch nicht mehr sprechen können. Und doch werde ich hier sein, lebendig und ohnmächtig.«

»Und wie denken Sie nun über die Unsterblichkeit der Seele?« fragte ich ihn.

»Quatsch!« lautete die Antwort. »Die Sache ist einfach die, daß meine höheren physischen Zentren unberührt sind. Ich besitze noch mein Gedächtnis, ich kann denken und Schlüsse ziehen. Wenn das vorbei ist, bin ich fertig. Bin nicht mehr. Die Seele –?«

Er lachte höhnisch. Dann drehte er sein linkes Ohr wieder gegen das Kissen, zum Zeichen, daß er die Unterhaltung nicht fortzusetzen wünschte.

Maud und ich machten uns an unsere Arbeit, bedrückt durch den Gedanken an das furchtbare Geschick, das ihn betroffen hatte – wie furchtbar es war, sollten wir erst später ganz erfahren. Es lag etwas von dem Schrecken der Vergeltung darin. Unsere Gedanken waren ernst und feierlich, und wir sprachen anfangs nur flüsternd miteinander.

»Sie könnten mir gern die Handeisen abnehmen«, sagte er abends, als wir neben ihm standen und über seinen Zustand sprachen. »Ganz sicher, ich bin Paralytiker. Ich habe mich schon auf das Wundliegen gefaßt gemacht.«

Er lächelte sein verzerrtes Lächeln. Mauds Augen waren starr vor Entsetzen, und sie mußte sich abwenden.

»Wissen Sie, daß Ihr Mund ganz schief ist, wenn Sie lächeln?« fragte ich ihn, denn ich wußte, daß sie ihn pflegen mußte, und wollte ihr so viel wie möglich ersparen.

»Dann werde ich nicht mehr lächeln«, sagte er ruhig. »Ich dachte mir schon, daß irgend etwas nicht stimmte. Ich hatte den ganzen Tag ein taubes Gefühl in der rechten Backe. Und seit drei Tagen spüre ich schon etwas, abwechselnd schienen immer Arm und Hand, Bein und Fuß eingeschlafen.«

»Also mein Mund ist schief, wenn ich lächle?« fragte er kurz darauf. »Nun, von jetzt an denken Sie sich, daß ich innerlich lächle, mit meiner Seele, wenn Sie wollen, mit meiner Seele. Denken Sie sich, daß ich jetzt lächle.«

Und einige Minuten lag er still da und hing seinen seltsamen Vorstellungen nach.

Innerlich war er ganz unverändert. Er war immer noch der alte, unbezwingliche, furchtbare Wolf Larsen, nur jetzt gefangen in diesem Fleische, das einst so unbesiegbar und prachtvoll gewesen. Jetzt band es ihn mit unfühlbaren Fesseln, hüllte seine Seele in Finsternis und Schweigen und schloß ihn aus von der Welt, die für ihn der Inbegriff aufrührerischer Tatkraft gewesen war.

Wir nahmen ihm die Handeisen ab, konnten uns aber doch nicht mit seinem Zustand vertraut machen. Unser Gefühl lehnte sich dagegen auf. Was hatten wir noch von ihm zu erwarten? Wir wußten es nicht; aber vielleicht Furchtbares! Sein Geist konnte sich gegen das Fleisch erheben, konnte ausbrechen, wer wußte es? Unsere Erfahrung machte uns unsicher, und nur mit einem Gefühl von Angst gingen wir wieder an unsere Arbeit.

Mit der ›Schere‹ hievte ich den Großbaum an Bord. Seine vierzig Fuß mußten genügen, um den Mast hereinzubringen. Mit einer an der ›Schere‹ festgemachten Leine schwang ich den Baum hoch, daß er im Gleichgewicht pendelte, dann ließ ich das Ende auf das Deck herab, wo ich, um ihn vor dem Rutschen zu bewahren, große Klampen befestigt hatte. Den Einzelblock meiner ›Schere‹ hatte ich am Ende des Baumes festgemacht. Mit dem Spill konnte ich nun die Spitze des Baumes nach Belieben heben und senken, während das Ende seinen festen Halt behielt. Dazu konnte ich ihn mit Hilfe von Fallen seitwärts schwingen. An der Spitze befestigte ich einen Flaschenzug, und als die ganze Einrichtung fertig war, hatte ich meine helle Freude an der Kraft und Leichtigkeit, mit der sie arbeitete.

Natürlich nahm mich dieser Teil der Arbeit zwei volle Tage in Anspruch, und erst am Morgen des dritten waren wir fertig. Ich hatte mich besonders ungeschickt dabei angestellt. Ich hatte gesägt, gehackt und gestemmt, bis das verwitterte Holz aussah, als wäre es von Mäusen angeknabbert. Aber jetzt ging es auch.

Ein neuer Schlag hatte Wolf Larsen getroffen. Er hatte die Stimme verloren oder war jedenfalls daran, sie zu verlieren. Nur hin und wieder konnte er noch Gebrauch von ihr machen. Aber plötzlich konnte die Stimme mitten im Satze versagen, und dann mußten wir zuweilen stundenlang warten, bis die Verbindung wieder hergestellt war. Er klagte über starke Kopfschmerzen. In dieser Periode dachte er sich ein System aus, um sich mit uns verständigen zu können, wenn er überhaupt nicht mehr sprechen konnte: ein einfacher Händedruck bedeutete ja, ein doppelter nein. Es war gut, daß wir diese Vereinbarung trafen, denn schon am Abend versagte die Sprache ganz. Jetzt beantwortete er unsere Fragen durch Händedrücken, und wenn er zu sprechen wünschte, kritzelte er seine Gedanken mit der Linken, kaum lesbar, auf ein Blatt Papier.

Der strenge Winter war im Anmarsch. Ein Sturm folgte dem andern mit Schnee, Hagel und Regen. Die Robben hatten ihre große Wanderung nach dem Süden angetreten, und die Roockery war so gut wie verlassen. Ich arbeitete fieberhaft. Trotz Wind und Wetter war ich vom frühen Morgen bis zum späten Abend an Deck und machte tüchtige Fortschritte.

Meine Erfahrungen beim Einrichten der ›Schere‹ und des Fockmastes kamen mir jetzt zugute. Ich brachte Takelung, Stags und Falle an. Wie gewöhnlich, hatte ich die Arbeit unterschätzt: ich brauchte zwei Tage dazu. Und dabei war noch so vieles zu tun, wie zum Beispiel das Einrichten der Segel, die gänzlich umgearbeitet werden mußten.

Während ich am Fockmast arbeitete, nähte Maud an den Segeln, immer bereit, ihre Arbeit aus der Hand zu legen, wenn es galt, mir zu helfen, wo meine beiden Hände nicht ausreichten. Das Segelleinen war hart und schwer, und sie nähte nach Matrosenart mit der ganzen Handfläche und einer dreikantigen Segelnadel. Ihre armen Hände waren bald von Blasen bedeckt, aber sie kämpfte tapfer weiter, und dazu kochte sie und pflegte den Kranken.

»Nun, was sagen Sie dazu?« sagte ich am Freitagmorgen. »Heut kommt der Großmast an die Reihe!« Alles war bereit. Mit Hilfe des Ankerspills holte ich den Mast beinahe klar über die Reling. Kurz darauf pendelte er frei über Deck.

Maud klatschte in die Hände, als sie einen Augenblick nicht den Törn zu halten brauchte. Dann aber wurde ihr Gesicht plötzlich traurig.

»Er ist nicht über dem Loche«, sagte sie. »Müssen Sie nun wieder ganz von vorn anfangen?«

Ich lächelte überlegen, dann ließ ich eine Talje nach, zog die andere an, und der Mast schwang sich mitten über das Deck.

Gerade zu der viereckigen Öffnung der Staffel senkte sich das Ende herab, aber da drehte sich der Mast, so daß das eine Viereck nicht in das andere paßte. Doch ich war mir nicht eine Sekunde lang unklar, was ich zu tun hatte. Ich rief Maud zu, sie solle nicht weiter herunterlassen, ging dann an Deck und machte die Taschentalje mit einem Rollstich am Mast fest. Dann ging ich wieder nach unten, während Maud ziehen mußte. Beim Schein der Lampe sah ich, wie sich das Mastende langsam drehte, bis seine Ränder parallel zu denen der Staffel standen. Maud kehrte wieder zum Ankerspill zurück. Langsam senkte sich der Mast Zoll für Zoll, drehte sich aber wieder leicht dabei. Wieder richtete Maud die Lage mit der Taschentalje, und wieder ließ sie den Mast herab, bis Viereck in Viereck paßte. Der Mast war eingesetzt.

Ich rief, und sie kam schnell herunter, um zu sehen. Im gelben Schein der Laterne betrachteten wir unser Werk. Dann sahen wir uns an und klatschten in die Hände. Ich glaube, wir hatten beide feuchte Augen vor Freude über unsern Erfolg.

»Schließlich ging es doch ganz leicht«, meinte ich.

»Und doch ist es das reine Wunder, daß es vollbracht ist«, sagte Maud. »Ich vermag es kaum zu glauben daß der große Mast wirklich steht; daß Sie ihn aus dem Wasser gehoben, durch die Luft geschwungen und an seinen Platz gebracht haben. Es war eine Titanenarbeit.«

»Wir sind wahre Erfinder«, rief ich fröhlich, hielt aber inne und zog die Luft ein.

Ich warf einen hastigen Blick auf die Laterne. Sie rauchte nicht. Wieder zog ich die Luft ein.

»Es brennt!« sagte Maud plötzlich in überzeugten Ton. Wir sprangen zur Treppe, aber ich kam ihr zuvor und war zuerst an Deck. Aus dem Zwischendeck stieg eine dichte Rauchwolke empor.

»Der Wolf ist noch nicht tot«, murmelte ich, als ich durch den Rauch hindurchsprang.

Der Rauch war so dicht in dem engen Raum, daß ich mich vorwärts tasten mußte; und solche Macht hatte die Persönlichkeit Wolf Larsens über meine Einbildungskraft, daß ich darauf vorbereitet war, den würgenden Griff des hilflosen Riesen um meinen Hals zu fühlen. Ich zauderte; da dachte ich an Maud. Ich sah sie plötzlich vor mir, wie sie, die braunen Augen feucht vor Freude, im Schein der Laterne im Raum vor mir gestanden, und ich wußte, daß ich nicht umkehren konnte.

Keuchend und fast erstickend erreichte ich Wolf Larsens Koje. Ich streckte die Hand aus und tastete nach der seinen. Er lag regungslos da, bewegte sich aber leicht bei meiner Berührung. Ich fühlte über und unter seine Decken. Hier war keine Wärme, kein Anzeichen von Feuer zu spüren. Aber der Rauch, der mich blendete, husten und nach Luft schnappen ließ, mußte doch eine Ursache haben! Ich verlor einen Augenblick den Kopf und rannte verwirrt im Zwischendeck herum. Ein heftiger Zusammenstoß mit dem Tische brachte mich wieder zu mir. Ich überlegte mir, daß ein hilfloser Mann das Feuer nur dort, wo er lag, hatte anzünden können.

So lief ich denn wieder zu Wolf Larsens Koje. Dort stieß ich auf Maud. Wie lange sie sich schon in dieser erstickenden Luft befand, wußte ich nicht.

»Schnell an Deck!« befahl ich entschieden.

»Aber Humphrey –«, begann sie mit seltsam heiserer Stimme. »Bitte gehen Sie!« herrschte ich sie an.

Gehorsam zog sie sich zurück. Da fiel mir ein: »Wie, wenn sie die Treppe verfehlt!« Ich eilte ihr nach und blieb am Fuße der Treppe stehen. War sie schon oben? Als ich noch zögernd dort stand, hörte ich sie leise rufen:

»Ach, Humphrey, ich kann nicht herausfinden.«

Ich stieß auf sie, wie sie sich am Paneel vorwärts tastete, und trug sie halb zur Treppe. Die reine Luft wirkte wie Nektar. Maud war nur schwach und benommen, und ich ließ sie an Deck liegen, während ich zum zweiten Male nach unten ging.

Die Rauchwolke mußte ganz dicht bei Wolf Larsen sein – diesen Gedanken hielt ich fest, als ich gerade auf seine Koje zuging. Während ich unter seinen Decken herumtastete, fiel mir etwas Heißes auf den Handrücken. Es brannte, und ich zog die Hand schnell zurück. Jetzt begriff ich: Durch die Öffnung hindurch hatte er die Matratze der Oberkoje in Brand gesteckt. Seine Linke war noch imstande gewesen, es zu tun. Bei dem Mangel an Luftzug hatte das feuchte Stroh der Matratze nur schwelen können.

Als ich sie aus der Koje riß, schlugen sofort die hellen Flammen heraus. Ich löschte die brennenden Strohreste und stürzte dann an Deck, um Luft zu schöpfen. Einige Eimer Wasser genügten, um den Brand zu löschen. Zehn Minuten später hatte sich der Rauch genügend verzogen, daß ich Maud erlauben konnte, herunterzukommen. Wolf Larsen war bewußtlos, aber die frische Luft brachte ihn bald wieder zu sich. Während wir noch mit ihm beschäftigt waren, machte er uns durch Zeichen verständlich, daß er Papier und Bleistift wünschte.

»Bitte, stören Sie mich nicht,« schrieb er, »ich lächle.« »Sie sehen, daß ich immer noch ein Stückchen Hefe bin«, schrieb er kurz darauf.

»Aber nur ein sehr kleines Stückchen, Gott sei Dank!« sagte ich.

»Danke«, schrieb er. »Und doch bin ich noch voll und ganz hier, Hump. Ich vermag schärfer zu denken als je zuvor in meinem Leben. Nichts stört mich mehr. Die Konzentration ist vollkommen. Ich bin voll und ganz hier, ja mehr als das!«

Es war wie eine Botschaft aus der Nacht des Grabes, denn der Körper dieses Mannes war sein Mausoleum geworden. Und hier, in diesem seltsamen Grabe, flatterte sein Geist und lebte. Er sollte flattern und leben, bis die letzte Verbindung abgebrochen war, und dann – wer wußte, wieviel länger sie noch flattern und leben konnte?


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