Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Wir warteten den ganzen Tag, daß Wolf Larsen an Land käme. Wir befanden uns in unerträglicher Spannung. Bald sah der eine, bald der andere angstvoll nach der ›Ghost‹. Aber er kam nicht. Er zeigte sich nicht einmal an Deck.

»Vielleicht hat er seine Kopfschmerzen«, sagte ich. »Als ich ihn verließ, lag er auf der Achterhütte. Dort mag er die ganze Nacht gelegen haben. Ich glaube, ich werde einmal hinübergehen und nachsehen.«

Maud sah mich flehend an.

»Es ist ganz gefahrlos«, versicherte ich ihr. »Ich nehme die Revolver mit. Sie wissen, daß ich alle Waffen genommen habe, die es an Bord gab.«

»Aber seine Arme, seine Hände, seine entsetzlichen Hände!« erwiderte sie. Und dann rief sie laut: »Ach Humphrey, ich fürchte mich so vor ihm! Gehen Sie nicht – bitte gehen Sie nicht!«

Sie legte ihre Hand bittend auf die meine, und mein Puls flog. In diesem Augenblick verrieten meine Augen sicher, was ich fühlte. Das liebe, entzückende Mädchen! Ich wollte meinen Arm um sie legen, wie damals in der Robbenherde, aber ich bedachte mich und hielt mich zurück.

»Es ist nicht gefährlich für mich«, sagte ich. »Ich werde nur über den Bug lugen.«

Sie drückte mir innig die Hand und ließ mich gehen. Aber die Stelle an Deck, wo ich ihn hatte liegenlassen, war leer. Er war offenbar nach unten gegangen. Diese Nacht wachten wir abwechselnd, denn niemand konnte wissen, was Wolf Larsen einfallen konnte. Er war zu allem fähig.

Wir warteten sowohl den nächsten Tag wie den darauffolgenden, ohne daß er ein Lebenszeichen gegeben hätte.

»Es sind wohl wieder die Kopfschmerzen«, sagte Maud am Nachmittag des vierten Tages, »vielleicht ist er krank, sehr krank, oder gar tot.«

»Oder er liegt im Sterben«, fügte sie hinzu, nachdem sie einen Augenblick auf meine Antwort gewartet hatte.

»Um so besser!« erwiderte ich.

»Aber denken Sie, Humphrey, ein Mitmensch in seiner letzten einsamen Stunde!«

»Vielleicht«, meinte ich.

»Ja, vielleicht«, räumte sie ein. »Wir wissen es nicht. Aber wenn, dann wäre es schrecklich. Ich würde es mir nie verzeihen. Wir müssen etwas tun.«

»Vielleicht«, meinte ich wieder.

Ich wartete, innerlich über das Weib in ihr lächelnd, das sie sich um Wolf Larsen sorgen ließ, gerade um ihn! Wo ist jetzt ihre Sorge um mich, dachte ich, den sie vorhin kaum über die Reling hatte blicken lassen wollen.

Sie war zu feinfühlig, um nicht zu erraten, was hinter meinem Schweigen lag. Und ihre Offenheit gab ihrer Feinfühligkeit nichts nach.

»Sie müssen an Bord gehen und einmal nachsehen, Humphrey«, sagte sie. »Und wenn Sie mich auslachen wollen, so haben Sie meine Einwilligung und meine Verzeihung dazu.«

Ich erhob mich gehorsam und schritt zum Strande hinab.

»Aber seien Sie vorsichtig!« rief sie mir nach.

Ich winkte ihr von der Back aus und ließ mich auf das Deck gleiten. Dann ging ich nach achtern auf die Laufbrücke und rief Wolf Larsen. Er antwortete und schickte sich an, die Treppe heraufzusteigen, und ich spannte meinen Revolver. Ich tat es ganz offen, aber er nahm keine Notiz davon. Er machte körperlich denselben Eindruck wie das letztemal, als ich ihn gesehen hatte, aber er war finster und schweigsam. Die wenigen Worte, die wir wechselten, konnten kaum eine Unterhaltung genannt werden. Ich fragte ihn nicht, warum er nicht an Land, und er mich nicht, warum ich nicht an Bord gekommen war. Seine Kopfschmerzen waren, wie er sagte, besser, und so verließ ich ihn ohne weiteres Parlamentieren.

Maud hörte meinen Bericht mit sichtlicher Erleichterung, und der Anblick des Rauches, der sich etwas später aus der Kombüse erhob, versetzte sie in bessere Stimmung. Am nächsten und übernächsten Tage sahen wir wieder den Rauch aufsteigen, und hin und wieder ließ Wolf Larsen sich auf der Achterhütte sehen. Aber das war auch alles. Er machte keinen Versuch, an Land zu kommen. Das wußten wir, denn wir hielten weiter unsere Nachtwachen. Seine Untätigkeit ängstigte und beunruhigte uns.

Auf diese Weise verging eine ganze Woche. Wir hatten keinen andern Gedanken als Wolf Larsen, und der Druck, den seine Anwesenheit auf uns ausübte, hinderte uns, uns irgendwie mit den Dingen, die wir geplant hatten, zu befassen.

Aber am Ende der Woche hörte der Rauch auf, aus dem Kombüsenschornstein zu steigen, und Wolf Larsen zeigte sich nicht mehr auf der Achterhütte. Ich konnte sehen, wie Mauds Besorgnis wieder wuchs, wenn sie sich auch scheute oder vielleicht zu stolz war, ihre Bitte zu wiederholen. Konnte man ihr einen Vorwurf daraus machen? Mir war selbst nicht wohl zumute bei dem Gedanken, daß dieser Mann, den ich zu töten versucht hatte, so nahe seinen Mitmenschen allein sterben sollte. Er hatte recht: Die Tatsache, daß er Hände, Füße und Körper hatte wie ich, bedeutete eine Forderung, die ich nicht außer acht lassen konnte. Das zweitemal wartete ich daher nicht, bis Maud mich schickte. Ich stellte fest, daß wir kondensierte Milch und Marmelade brauchten, und eröffnete ihr, daß ich an Bord gehen wollte. Ich konnte sehen, daß sie schwankte. Sie ging sogar soweit, zu murmeln, daß die Sachen nicht so wichtig wären, und daß mein Ausflug ergebnislos verlaufen könnte. Und wie sie früher aus meinem Schweigen meine Gedanken erraten hatte, so hörte sie jetzt aus meinen Worten heraus, daß ich nicht um der kondensierten Milch und der Marmelade willen an Bord ging, sondern wegen ihrer Besorgnis, die sie nicht hatte verbergen können.

Als ich bei der Back war, zog ich mir die Schuhe aus und ging auf Strümpfen geräuschlos nach achtern. Diesmal rief ich auch nicht von der Laufbrücke. Ich stieg vorsichtig hinunter und fand die Kajüte leer. Die Tür zu seiner Kabine war verschlossen. Ich dachte zuerst daran, anzuklopfen, erinnerte mich dann aber meiner vorgeschobenen Absicht und entschloß mich, sie auszuführen. Sorgfältig jedes Geräusch vermeidend, hob ich die Falltür im Boden und legte sie um. In der Apotheke wurden sowohl Kleidungsstücke wie Lebensmittel aufbewahrt, und ich nahm die Gelegenheit wahr, mich mit Unterwäsche zu versehen.

Als ich wieder heraufkam, hörte ich ein Geräusch aus Wolf Larsens Kabine. Ich duckte mich und lauschte. Der Türgriff knarrte. Instinktiv schlich ich mich hinter den Tisch zurück und spannte meinen Revolver. Die Tür öffnete sich, und er erschien. Nie hatte ich eine so tiefe Verzweiflung gesehen wie die, welche sich auf seinem Gesicht – dem Gesicht Wolf Larsens, des Kämpfers, des starken Mannes, des Unbezwinglichen – ausprägte. Wie ein Weib, das die Hände ringt, hob er die geballten Fäuste und stöhnte. Dann ließ er die eine Hand sinken und fuhr sich mit der Handfläche langsam über die Augen, als wischte er Spinnweben beiseite.

»Gott, Gott!« stöhnte er, und wieder hob er die Fäuste in der unendlichen Verzweiflung, die in seiner Kehle zitterte.

Es war gräßlich. Ich zitterte am ganzen Körper und konnte fühlen, wie mir der Schauder den Rücken entlang rann und der Schweiß auf die Stirn trat. Es gibt sicher wenige Dinge in der Welt, die furchtbarer sein können als der Anblick eines Starken in dem Augenblick seiner äußersten Schwäche, seines völligen Zusammenbruches.

Aber durch die Anspannung seines unbezwinglichen Willens gewann Wolf Larsen seine Selbstbeherrschung wieder. Es war eine mächtige Anspannung. Seine ganze Gestalt wurde von dem Kampfe geschüttelt. Es sah aus, als sollte er im nächsten Augenblick bewußtlos niederstürzen. Sein Gesicht zuckte und verzerrte sich vor Schmerz, bis er wieder zusammenbrach. Und wieder hob er die Fäuste und stöhnte. Ein-, zweimal schöpfte er tief Atem und seufzte. Dann gelang es. Ich hätte fast glauben können, daß es der alte Wolf Larsen war, und doch lag in seinen Bewegungen eine Andeutung von Schwäche und Unentschlossenheit.

Ich war beunruhigt, begann mich zu fürchten. Er mußte auf seinem Wege auf die offene Falltür stoßen, und das hieß, daß er mich entdeckte. Ich war wütend auf mich selbst bei dem Gedanken, in dieser feigen Stellung, auf dem Boden kriechend, gefaßt zu werden. Noch war Zeit. Ich sprang auf und nahm ganz unbewußt eine trotzige Haltung ein. Aber er beachtete mich gar nicht. Auch die offene Falltür schien er nicht zu beachten. Ehe ich noch die Situation richtig verstanden hatte, war er in die Öffnung getreten. Der eine Fuß glitt hinein, während der andere gerade im Begriff war, sich zu heben. Als er aber den festen Boden unter sich vermißte und die Leere spürte, war er im selben Augenblick wieder der alte Wolf Larsen mit seinen Tigermuskeln. Im Fallen schleuderte er seinen Oberkörper hinüber, so daß er mit ausgestreckten Armen auf Brust und Bauch drüben landete. Im nächsten Augenblick hatte er die Beine hochgezogen und war aus dem Loch heraus. Aber er rollte in meine Marmelade und mein Unterzeug.

Sein Gesichtsausdruck zeigte, daß er wußte, was hier vorging. Bevor ich jedoch seine Gedanken erraten konnte, hatte er schon die Falltür über der Apotheke geschlossen. Da verstand ich. Er dachte, er hätte mich gefangen. Er war blind, stockblind. Mit zurückgehaltenem Atem, um mich nicht zu verraten, beobachtete ich ihn. Er trat schnell in seine Kabine. Ich sah, wie seine Hand den Türgriff verfehlte, tastete, ihn aber nicht fand. Das war eine günstige Gelegenheit. Ich lief auf Zehenspitzen durch die Kajüte und die Treppe hinauf. Er kam zurück und schleppte eine schwere Seekiste hinter sich her, die er auf die Falltür stellte. Dann nahm er die Marmelade und das Unterzeug und legte alles auf den Tisch. Als er dann nach oben ging, zog ich mich schnell zurück und kletterte geräuschlos auf die Hütte.

Er schob die Schiebetür ein wenig beiseite und stützte die Arme darauf, blieb aber auf der Laufbrücke stehen. Es hatte den Anschein, als blicke oder starre er vielmehr das Deck des Schoners entlang, denn seine Augen waren ganz starr und blinzelten nicht. Ich stand nur fünf Fuß entfernt von ihm – gerade vor seinen Augen. Es war unheimlich. Ich kam mir wie ein unsichtbarer Geist vor. Ich winkte mit der Hand, natürlich ohne jede Wirkung. Als aber der flackernde Schatten einmal sein Gesicht traf, sah ich sofort, daß er etwas gemerkt hatte. Sein Gesicht drückte höchste Erwartung und Spannung aus, als versuche er, sich über den erhaltenen Eindruck klar zu werden. Er wußte, daß er auf irgend etwas, das draußen geschah, reagierte, daß irgend etwas in seiner Umgebung vorging, aber was es war, darüber konnte er sich nicht klar werden. Ich hörte auf, die Hand zu schwenken, so daß auch der Schatten sich nicht mehr bewegte. Er wandte langsam den Kopf von einer Seite zur andern, hin und zurück, jetzt in die Sonne, dann wieder in den Schatten, indem er sich durch das Gefühl zu orientieren versuchte.

Ich bemühte mich ebenso eifrig wie er, die Ursache zu entdecken, daß man etwas so Unfühlbares wie einen Schatten fühlen konnte. Wenn nur die Augäpfel beschädigt und die Sehnerven nicht ganz zerstört waren, war die Erklärung einfach. Sonst konnte ich mir nur denken, daß die empfindliche Haut den Temperaturunterschied zwischen Schatten und Sonnenschein spürte. Oder vielleicht – wer könnte es sagen? – war es der so viel umstrittene sechste Sinn, der ihm ein Gefühl des Wechsels von Licht und Schatten übermittelte. Er gab jedoch bald den Versuch auf, sich über dieses Phänomen klar zu werden, und schritt mit einer Schnelligkeit und Sicherheit, die mich überraschten, über das Deck. Und doch lag in seinem Gang diese Andeutung von Schwäche, wie sie Blinden eigen ist. Jetzt kannte ich ihre Ursache.

Zu meinem Ärger – aber ich mußte doch darüber lachen – entdeckte er meine Schuhe auf der Back und nahm sie mit in die Kombüse. Ich beobachtete ihn, wie er Feuer machte und daran ging, sich sein Essen zu kochen. Dann stahl ich mich in die Kajüte, um Marmelade und Unterzeug zu holen, schlüpfte an der Kombüse vorbei und kletterte auf den Strand, um barfuß Bericht zu erstatten.


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