Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Merkwürdigerweise ereignete sich trotz den allgemeinen Ahnungen nichts Besonderes auf der ›Ghost‹. Wir liefen weiter nach Norden und Westen, bis wir die japanische Küste erreichten und die großen Robbenherden fanden. Sie kamen durch den unendlichen Ozean – niemand wußte woher – auf ihren alljährlichen Wanderungen nach den Paarungsplätzen an der Beringsee. Und nach Norden fuhren wir, mordend und vernichtend, indem wir die geschundenen Körper den Haien überließen und die Häute einsalzten, damit sie später die schönen Schultern der Städterinnen schmücken konnten.

Es war Massenmord, und alles um des Weibes willen. Niemand aß das Fleisch oder gebrauchte den Tran. Nach einem guten Jagdtage war das ganze Deck mit Fellen und Körpern übersät und schlüpfrig von Fett und Blut, durch die Speigatten floß ein roter Strom, und Masten, Tauwerk und Reling waren blutbespritzt. Die Männer verrichteten ihr Handwerk wie Schlächter, mit bloßen, roten Armen und großen Messern in den Händen, um die schönen Seetiere, die sie getötet hatten, ihrer Felle zu berauben.

Ich hatte die Aufgabe, die Felle nachzuzählen, wenn sie von den Booten an Deck geschafft wurden, das Häuten und später die Säuberung des Decks zu beaufsichtigen. Es war keine erfreuliche Arbeit. Seele und Magen empörten sich dagegen. Und doch tat mir diese Arbeitsleistung und der Befehl über viele Männer gut. Meine Entschlossenheit entwickelte sich, und ich merkte, daß ich ausdauernd und abgehärtet wurde. Eines begann ich zu fühlen, daß ich nie wieder derselbe werden konnte, der ich gewesen war. Überlebten auch meine Hoffnung und mein Glaube an das menschliche Leben immer noch Wolf Larsens vernichtende Kritik, so hatte er dennoch Veränderungen in weniger wichtigen Dingen bei mir verursacht. Er hatte mir die Welt der Wirklichkeit geöffnet, von der ich bisher tatsächlich nichts gewußt, und die ich immer gescheut hatte. Ich hatte gelernt, das Leben, wie es wirklich war, näher zu betrachten, zu erkennen, daß es etwas auf der Welt gab, das Tatsachen hieß, sich zu befreien von der Herrschaft des Geistes und der Gedanken und einen gewissen Wert zu legen auf die greifbaren, gegenständlichen Seiten des Daseins.

Als wir die Jagdgründe erreicht hatten, sah ich Wolf Larsen mehr denn je. Denn wenn das Wetter schön war und wir uns inmitten einer Herde befanden, waren alle Mann in den Booten, und nur er und ich sowie Thomas Mugridge, der nicht zählte, blieben an Bord. Aber das war keine Erholung für mich. Die sechs Boote zerstreuten sich fächerförmig vom Schoner, bis das äußerste Luv- und Leeboot zehn bis zwanzig Meilen voneinander entfernt waren, dann kreuzten sie und jagten, bis die Nacht hereinbrach oder schlechtes Wetter sie zur Umkehr zwang. Unsere Aufgabe war es, die ›Ghost‹ in Lee des letzten Leebootes zu steuern, so daß alle Boote günstigen Wind hatten, wenn sie uns bei drohendem Unwetter erreichen wollten.

Es ist keine Kleinigkeit für zwei Mann, namentlich bei steifem Wind, ein Fahrzeug wie die ›Ghost‹ zu führen, zu steuern, Ausschau nach den Booten zu halten und Segel zu setzen und zu streichen. Daher galt es für mich, zu lernen, und schnell zu lernen. Das Steuern erfaßte ich leicht, aber in die Takelung zu klettern und nur durch die Kraft meiner Arme mein ganzes Gewicht hinaufzuschwingen, wenn ich die Wanten verließ, um noch höher zu gehen, war schon viel schwerer. Aber auch das lernte ich rasch, denn ich spürte in mir den heißen Wunsch, vor Wolf Larsen zu bestehen, mein Recht am Leben auf andern Wegen als denen des Geistes zu beweisen. Ja, es kam die Zeit, da es mir geradezu eine Freude machte, die Bewegungen der Mastspitze zu fühlen und mich mit den Beinen festzuklammern, während ich durch das Glas das Meer nach den Booten absuchte.

Ich erinnere mich eines Tages, als die Boote früh ausfuhren, wie das Knallen der Büchsen immer ferner und schwächer klang und schließlich ganz erstarb, je weiter sie sich über das Meer zerstreuten. Es wehte ganz schwach aus Westen, aber der Wind schlief völlig ein, gerade als wir in Lee der Boote angelangt waren. Eines nach dem andern – ich sah es von der Mastspitze aus – verschwanden die sechs Boote hinter der Rundung der Erde, indem sie die Robben westwärts verfolgten. Wir lagen, nur ganz schwach in der stillen See rollend und außerstande, die Boote einzuholen. Wolf Larsen war ernst. Das Barometer fiel, und der Himmel im Osten gefiel ihm nicht. Er studierte ihn mit ununterbrochener Wachsamkeit.

»Wenn es dort«, sagte er, »plötzlich losbricht und uns in Luv von den Booten treibt, kann es leicht leere Kojen in Zwischendeck und Back geben.«

Gegen elf Uhr war die See blank wie Glas geworden. Um Mittag war die Hitze, obwohl wir uns hoch im Norden befanden, erstickend. Nicht ein Lüftchen wehte. Es war schwül und drückend, und ich erinnerte mich des kalifornischen Ausdrucks ›Erdbebenwetter‹. Etwas Unheilverkündendes war darin, und man hatte das unerklärliche Gefühl, daß das Schlimmste bevorstand. Langsam füllte sich der östliche Himmel mit Wolken, die uns wie ein schwarzes Gebirge der Höllenregion überragten. So deutlich konnte man Schlünde, Schluchten und Abgründe mit ihren Schatten unterscheiden, daß man unwillkürlich nach der weißen Brandungslinie ausschaute und auf ihr Brüllen lauschte. Und immer noch schaukelten wir sanft in der Windstille.

»Das ist keine Bö«, sagte Wolf Larsen. »Die alte Mutter Natur ist daran, sich auf die Hinterbeine zu stellen und loszulegen, und wir können froh sein, Hump, wenn die Hälfte unsrer Boote durchkommt. Sie täten am besten, nach oben zu gehen und die Toppsegel loszumachen.«

»Aber wenn es losbricht, und wir sind nur zwei hier?« fragte ich mit einem Klang von Protest in der Stimme.

»Na, wir wollen tun, was wir können, und den ersten Anprall benutzen, um unsere Boote zu erreichen, ehe unsere Leinwand in Fetzen geht. Was dann geschieht, dafür gebe ich keinen Deut. Die Hölzer werden schon halten, und das werden wir beide auch, wenn es auch eine harte Nuß für uns wird.«

Immer noch hielt die Stille an. Wir aßen zu Mittag. Es war eine hastige, ängstliche Mahlzeit mit dem Gedanken an die achtzehn Mann draußen auf See hinter dem Horizont und die himmelhohen Wolkenberge, die langsam näher zogen. Wolf Larsen schien indessen ganz unbekümmert, nur beobachtete ich, als wir an Deck zurückkehrten, ein schwaches Zittern der Nasenflügel und eine spürbare Unrast in seinen Bewegungen. Sein Gesicht war starr, die Linien hart geworden, und doch lag in seinen Augen – blau und klar waren sie an diesem Tage – ein seltsamer Schimmer, ein helles funkelndes Licht. Ich war überrascht, ihn von einer grimmigen Fröhlichkeit gepackt zu sehen, er schien sich zu freuen auf den bevorstehenden Kampf, durchschauert, gehoben zu werden durch das Bewußtsein, daß einer der großen Augenblicke bevorstand, in denen die Ebbe des Lebens zur Flut schwillt.

Ohne zu ahnen, daß er es tat, oder daß ich es sah, lachte er einmal laut, spöttisch und herausfordernd dem nahenden Sturm entgegen. Noch jetzt sehe ich ihn vor mir wie einen Zwerg aus ›Tausendundeiner Nacht‹ vor dem ungeheuren Antlitz eines bösen Geistes. Er trotzte dem Geschick und fürchtete sich nicht.

Er schritt nach der Kombüse. »Köchlein, wenn du fertig bist mit deinen Töpfen und Pfannen, wirst du auf Deck gebraucht. Halt dich bereit, wenn du gerufen wirst.«

»Hump,« sagte er, als er den bewundernden Blick bemerkte, den ich auf ihn warf, »das ist besser als Whisky, und da versagen auch Ihre Dichter.«

Der westliche Himmel war unterdessen finster geworden. Die Sonne war verdunkelt und unsern Blicken entzogen. Es war zwei Uhr nachmittags, und ein geisterhaftes Zwielicht hatte sich, hier und dort von purpurnen Strahlen durchschossen, auf uns herabgesenkt. In diesem purpurnen Licht erglühte das Gesicht Wolf Larsens, und meine aufgeregte Phantasie umgab ihn mit einem Heiligenschein. Wir lagen inmitten einer unirdischen Stille, während alles um uns Töne und Bewegung verkündete. Die drückende Hitze war unerträglich geworden. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, und ich fühlte ihn an meiner Nase herabträufeln. Mir war, als sollte ich ohnmächtig werden, und ich griff nach der Reling, um einen Halt zu finden. Und gerade da kam ein ganz, ganz schwaches Lüftchen. Es kam von Osten, kam wie ein leises Säuseln und ging wieder. Die schlaffen Segel bewegten sich nicht, und doch hatte mein Gesicht den Luftzug gespürt und eine Kühlung empfunden.

»Köchlein«, rief Wolf Larsen mit leiser Stimme. Thomas Mugridge erschien mit einer erbarmenswert kläglichen Miene. »Nimm die Focktalje und halt sie quer, und wenn die Schoot glatt geht, dann ist es gut, und du kommt hübsch mit der Talje her. Und wenn du Unsinn machst, dann wird es der letzte sein, den du je gemacht hast. Verstanden?«

»Herr van Weyden, halten Sie sich fertig, die Vorsegel übergehen zu lassen. Dann springen Sie nach oben und breiten die Toppsegel aus, so schnell es mit Gottes Hilfe geschehen kann – –, je schneller Sie machen, desto leichter geht es. Und wenn der Koch nicht fix macht, dann geben Sie ihm eins zwischen die Augen.«

Ich verstand das Kompliment und war froh, daß keine Drohungen meine Unterweisungen begleiteten. Wir lagen hart nach Nordwest, und es war seine Absicht, beim ersten Windstoß zu halsen.

»Wir kriegen die Brise in die Dillen«, erklärte er mir. »Nach den letzten Schüssen müssen die Boote sich nach südwärts gewandt haben.«

Er drehte sich um und schritt nach achtern ans Rad. Ich ging nach vorn und stellte mich an den Klüver. Ein zweites Lüftchen kam und ging, und noch eines. Die Leinwand schwang sich träge.

»Gott sei Dank, es kommt nicht auf einmal, Herr van Weyden!« lautete der inbrünstige Stoßseufzer des Cockneys.

Und ich war in der Tat dankbar, denn ich hatte inzwischen genug gelernt, um zu wissen, was für ein Unglück geschehen konnte, wenn in einem solchen Falle alle Segel gesetzt waren. Das Säuseln wurde zu Windstößen, die Segel blähten sich, die ›Ghost‹ bewegte sich. Wolf Larsen packte das Rad, drehte es hart nach Backbord, und wir begannen abzufallen. Der Wind kam jetzt direkt von achtern, knurrend und mit immer stärkeren Stößen, daß meine Toppsegel lustig flatterten. Ich sah nicht, was anderswo vorging, wenn ich auch an dem plötzlichen Rollen und Überkrengen des Schoners und an dem Umstand, daß der Wind jetzt von der andern Seite kam, merkte, daß Fock- und Großsegel herumgeschwungen waren. Ich hatte alle Hände voll zu tun mit Klüver und Stagsegel, und als dieser Teil meiner Aufgabe gelöst war, sprang die ›Ghost‹ nach Südwest, den Wind in den Dillen, und alle Schoote steuerbord. Ohne Atem zu schöpfen – obwohl mein Herz vor Anstrengung wie ein Hammerwerk schlug – sprang ich zu dem Toppsegel hinauf, und ehe der Wind zu stark geworden war, hatten wir sie gesetzt und standen wieder auf Deck. Dann ging ich nach achtern, um weitere Befehle entgegenzunehmen.

Wolf Larsen nickte beifällig und überließ mir das Rad. Der Wind nahm beständig zu, und die See stieg. Eine Stunde lang steuerte ich, und in dieser Stunde wurde es mit jedem Augenblick schwerer. Ich hatte keine Übung, bei der Schnelligkeit, mit der wir jetzt fuhren, und mit dem Wind in den Dillen, zu steuern. »Jetzt gehen Sie mit dem Glas nach oben und sehen Sie, einige von den Booten zu finden. Wir haben wenigstens zehn Knoten gemacht und machen jetzt zwölf bis dreizehn. Das alte Mädel weiß, was es zu tun hat.« Ich kletterte auf die vorderen Dwarssalinge, einige siebzig Fuß über dem Deck. Wie ich über die weite Fläche vor mir blickte, wurde mir die Notwendigkeit klar, daß wir eilen mußten, wenn wir überhaupt noch jemand von der Mannschaft finden wollten. Beim Anblick der schweren See, die wir durchfuhren, zweifelte ich tatsächlich, daß sich noch ein Boot auf dem Meere befand. Es schien mir unmöglich, daß ein so gebrechliches Fahrzeug diesem Ansturm von Wind und Wogen widerstehen könnte.

Ich konnte die volle Gewalt des Sturmes nicht fühlen, denn wir liefen mit ihm; aber von meinem luftigen Sitze sah ich auf die ›Ghost‹ hinunter und sah ihre Form sich im Fahren scharf von der schäumenden See abheben. Zuweilen hob sie sich und durchschnitt eine schwere Woge, daß die Steuerbordreling verschwand und das Deck bis zu den Luken von dem kochenden Ozean bedeckt war. Dann konnte ich infolge des Rollens nach Luv plötzlich mit schwindelerregender Schnelligkeit durch die Luft sausen, als ob ich am Ende eines ungeheuren, umgekehrten Pendels hing, dessen Schwingungen siebzig Fuß oder noch mehr betrugen.

Einmal überwältigte mich das Entsetzen über dies schwindelnde Kreisen, und sekundenlang klammerte ich mich mit Händen und Füßen an, schwach und zitternd, unfähig, das Meer nach den vermißten Booten abzusuchen, und ohne etwas anderes von ihm zu wissen, als daß es brüllend unter mir die ›Ghost‹ zu überwältigen suchte.

Aber der Gedanke an die Männer dort draußen rüttelte mich auf, und in der Suche nach ihnen vergaß ich mich selber. Eine Stunde lang sah ich nichts als das öde, trostlose Meer. Da erblickte ich an einer Stelle, wo ein unsteter Lichtstrahl den Ozean traf und die Oberfläche in schäumendes Silber verwandelte, einen kleinen schwarzen Punkt, der in einem Augenblick himmelwärts geschleudert wurde und dann verschwand. Ich wartete geduldig. Wieder tauchte der schwarze Punkt in dem silbernen Gischt, ein paar Striche backbord vorm Bug, auf. Ich versuchte nicht erst zu rufen, sondern übermittelte Wolf Larsen die Nachricht durch Schwingen der Arme. Er änderte den Kurs, und als der Punkt sich jetzt gerade voraus zeigte, signalisierte ich, daß es stimmte.

Der Punkt wuchs, und zwar so schnell, daß ich erst jetzt unserer eigenen Schnelligkeit ganz innewurde. Wolf Larsen machte mir Zeichen, hinunterzukommen, und als ich neben ihm am Rade stand, unterwies er mich, wie ich brackbassen sollte.

»Machen Sie sich darauf gefaßt, daß die ganze Hölle losbricht«, warnte er mich, »aber kümmern Sie sich nicht darum. Sie haben Ihre Arbeit zu tun und lassen Köchlein an der Fockschoot stehen.«

Ich bahnte mir meinen Weg nach vorn, aber es war kein großer Unterschied, welche Seite ich benutzte, da die Luvreling genau wie die Leeseite unter Wasser begraben wurde. Nachdem ich Thomas Mugridge angewiesen hatte, was er tun sollte, kletterte ich einige Fuß hoch in die vordere Takelung. Das Boot war jetzt ganz nahe, und ich konnte genau sehen, wie es mit dem Bug gerade im Winde lag und Mast und Segel über Bord geworfen hatte und treiben ließ, um sie als Seeanker zu benutzen. Die drei Männer schöpften das Wasser aus. Jede Woge entzog sie dem Blick, und ich wartete erregt und von der Furcht gepackt, sie nie wieder auftauchen zu sehen. Das Boot konnte plötzlich auf einem schäumenden Wellenkamm in die Luft schießen, daß der Bug himmelwärts zeigte und ich den ganzen Boden sah, bis es auf dem Heck zu stehen schien. Dann sah ich einen Augenblick die mit wahnsinniger Hast schöpfenden Männer. In der nächsten Sekunde stürzte das Boot vornüber in das gähnende Tal, und die ganze Seite mit dem Achterende stand senkrecht in die Luft. Jedesmal, wenn es wieder zum Vorschein kam, erschien es mir wie ein Wunder.

Die ›Ghost‹ änderte plötzlich ihren Kurs und hielt ab, und mich durchfuhr der Gedanke, Wolf Larsen könne die Rettung als unmöglich aufgegeben haben. Dann aber sah ich, daß er sich fertig machte, beizudrehen, und sprang aufs Deck, um bereit zu sein. Wir lagen jetzt gerade vor dem Wind, und das Boot befand sich in der gleichen Höhe wie wir. Ich fühlte, wie wir plötzlich stillstanden, eine schnelle, drehende Bewegung, und wir fuhren gerade in den Wind hinein. Als wir im rechten Winkel lagen, packte uns der Wind (dem wir bisher weggelaufen waren) mit voller Gewalt. Unglücklicherweise kehrte ich ihm zufällig das Gesicht zu. Wie eine Mauer prallte er gegen mich an und füllte mir die Lunge mit Luft, die ich nicht imstande war, auszuatmen. Ich wollte ersticken – da krengte die ›Ghost‹ nach vorn über, und in diesem Augenblick sah ich, wie eine ungeheure See sich hoch über meinem Kopfe erhob. Ich wandte mich seitwärts, schöpfte tief Atem und blickte wieder hin. Die Woge überragte die ›Ghost‹, und ich blickte gerade zu ihr empor. Ein Sonnenstrahl streifte den brechenden Rand, und ich sah einen halb durchsichtigen, grünen Schimmer mit milchiger Schaumkante.

Dann kam sie herab. Die Hölle brach los – alles geschah auf einmal. Ich erhielt einen zermalmenden, betäubenden Schlag, der mich jedoch nicht an einer bestimmten Stelle, sondern am ganzen Körper traf. Ich verlor den Halt, ich war unter Wasser, und mir fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß jetzt das Furchtbare kam: ich sollte über Bord gespült werden! Mein Körper wurde hilflos hin und her, um und um geschleudert, gestoßen und zerhämmert, und als ich den Atem nicht länger anhalten konnte, drang mir das beißende Salzwasser in die Lunge. Aber in allem hatte ich nur einen Gedanken: den Klüver nach Luv bringen. Ich hatte keine Furcht vor dem Tode. Ich zweifelte nicht, daß ich irgendwie durchkommen mußte. Und während der Gedanke, Wolf Larsens Befehl auszuführen, ununterbrochen meinem betäubten Bewußtsein vorschwebte, schien mir, als könnte ich ihn mitten in dem wilden Chaos am Rade stehen sehen, wie er seinen Willen dem Sturm entgegenstemmte und ihm Trotz bot.

Ich stieß hart gegen etwas, das ich für die Reling hielt, und atmete wieder frische Luft. Ich versuchte, mich zu erheben, stieß mir aber heftig den Kopf und wurde auf Hände und Füße zurückgeschleudert. Durch einen glücklichen Zufall war ich unter den Backkopf und in eine Tauschlinge gefegt worden. Als ich auf allen vieren herauskroch, stieß ich auf Thomas Mugridge, der als ein stöhnendes Häufchen Elend dalag. Aber ich hatte keine Zeit zu verlieren, ich mußte den Klüver nach Luv bringen.

Als ich wieder nach vorn kam, schien das Ende gekommen. Auf allen Seiten ertönte Knirschen und Krachen von Holz, Eisen und Leinwand. Die ›Ghost‹ wurde zerrissen und zerfetzt. Fock und Toppsegel, die bei dem Manöver aus dem Wind gekommen waren und aus Mangel an Leuten nicht rechtzeitig geborgen werden konnten, rissen mit Donnerkrachen in Fetzen, während der schwere Baum von Reling zu Reling schlug und zersplitterte. Die Luft war schwarz von Schiffstrümmern; losgerissene Taue und Stags zischten und wanden sich wie Schlangen, und mitten in das Gewirr krachte die Fockgaffel.

Der Baum konnte mich nur um wenige Zoll verfehlt haben, und das brachte mich wieder zur Besinnung. Vielleicht war die Lage doch noch nicht hoffnungslos. Ich erinnerte mich der Worte Wolf Larsens. Er hatte erwartet, daß die Hölle losbrechen würde, und nun war es so weit. Aber wo war er? Ich erblickte ihn, wie er das Großsegel mit seinen entsetzlichen Muskeln einholte. Das Heck des Schoners hob sich hoch in die Luft, und ich sah seinen Körper sich gegen eine weiße Sturzsee abzeichnen, die schnell vorbeischoß. Alles dies, und vielleicht noch mehr – eine ganze Welt von Chaos und Trümmern – sah, hörte und begriff ich in vielleicht fünfzehn Sekunden.

Ich hielt mich nicht damit auf, zu sehen, was aus dem kleinen Boot geworden war, sondern sprang an den Klüver. Der begann zu flattern, straffte sich und erschlaffte mit scharfem Knattern. Aber durch Anziehen der Schoot und mit Aufbietung aller meiner Kräfte brachte ich ihn langsam zurück, indem ich immer einen Augenblick benutzte, wenn er schlaff war. Das weiß ich: Ich tat mein Bestes. Ich zog, daß mir das Blut unter den Nägeln herausspritzte, und während ich arbeitete, rissen Außenklüver und Stagsegel donnernd in Fetzen.

Immer weiter hahlte ich, das Gewonnene mit einer Doppelschlinge haltend, bis ich beim nächsten Schlaffwerden weiterzog. Dann gab der Klüver plötzlich leichter nach; Wolf Larsen stand neben mir und hahlte allein weiter, während ich das Segel festmachte.

»Machen Sie schnell!« rief er laut, »und kommen Sie!«

Ich folgte ihm und bemerkte, daß trotz Vernichtung und Verderben noch eine gewisse Ordnung herrschte. Die ›Ghost‹ drehte bei. Sie war immer noch seetüchtig. Waren auch die andern Segel fort, so hielt sich das Schiff, da der Klüver nach Luv gebracht und das Großsegel flach niedergeholt war, doch noch mit dem Bug gegen die wütende See.

Ich blickte mich nach dem Boote um, und während Wolf Larsen die Bootstalje klarmachte, sah ich, wie es sich in Lee, keine zwanzig Fuß entfernt, auf einer großen Woge hob. Und so genau hatte Wolf Larsen seine Maßnahmen berechnet, daß wir gerade darauf zutrieben, so daß wir nichts zu tun hatten, als die Taljen an jedem Ende einzuhaken und das Boot an Bord zu heißen. Aber das war leichter gesagt als getan. Im Bug stand Kerfoot, während Oofty-Oofty am Heck und Kelly mittschiffs standen. Als wir näher trieben, wurde das Boot von einer Woge gehoben, und wir sanken in das Wellental, bis ich gerade vor mir die drei Männer die Köpfe beugen und nach uns auslugen sah. Im nächsten Augenblick wurden wir gehoben und emporgeschwungen, während sie tief hinabsanken. Es mußte fast ein Wunder geschehen, wenn die nächste See nicht die ›Ghost‹ auf die winzige Eierschale niederschmettern sollte.

Aber da warf ich dem Kanaken, Wolf Larsen vorn Kerfoot das Tau zu. Beide Taue waren in einem Nu eingehakt, und die drei Männer nahmen gewandt den richtigen Augenblick und sprangen gleichzeitig an Bord des Schoners. Als die ›Ghost‹ sich jetzt seitwärts überlegte, wurde das Boot an der Schiffswand aus dem Wasser gehoben, und ehe wir wieder hinüberkrengten, hatten wir es schon an Bord geheißt und kieloben auf das Deck gelegt. Ich bemerkte, daß Kerfoots linke Hand von Blut troff. Sein Mittelfinger war zu Brei zerquetscht worden. Aber er gab kein Zeichen des Schmerzes und half uns mit der rechten Hand, das Boot auf seinem Platz festzumachen.

»Bring' den Klüver rüber, Oofty!« befahl Wolf Larsen, als wir eben mit dem Boot fertig waren. »Kelly, komm nach achtern und laß das Großsegel locker! Und du, Kerfoot, geh nach vorn und sieh, was aus Köchlein geworden ist! Herr van Weyden, gehen Sie nach oben und schneiden Sie alles lose Zeug weg, das Ihnen in die Quere kommt!«

Und nachdem er seine Befehle erteilt hatte, sprang er in seiner eigentümlichen, tigerhaften Weise nach achtern zum Rade. Während ich mühsam die Wanten zum Fockmast hinaufkletterte, setzte sich die ›Ghost‹ langsam in Bewegung. Als wir diesmal ins Wellental sanken und von Sturm und See herumgeschleudert wurden, konnten keine Segel mehr eingeholt werden, und auf halbem Wege zu den Dwarssalingen wurde ich durch die Gewalt des Windes so gegen die Takelung gepreßt, daß es mir unmöglich gewesen wäre, zu fallen. Die ›Ghost‹ lag fast ganz auf der Seite, und die Masten standen parallel zum Wasser, so daß ich, wenn ich das Deck der ›Ghost‹ sehen wollte, nicht hinunter, sondern beinahe im rechten Winkel blicken mußte. Aber ich sah das Deck gar nicht, denn dort, wo es hätte sein sollen, war nichts als kochendes Wasser, aus dem nur zwei Masten herausragten; das war alles. Einen Augenblick war die ›Ghost‹ ganz unter dem Meere begraben. Als sie jetzt allmählich vor den Wind ging und der seitliche Druck geringer wurde, richtete sie sich langsam auf, und ihr Deck durchbrach wie ein Walrücken die Meeresfläche.

Dann rasten wir über die wilde stürmische See, während ich wie eine Fliege in den Salingen hing und nach den andern Booten ausspähte. Nach einer halben Stunde sichtete ich das zweite. Es trieb kieloben, und Jock Horner, der dicke Louis und Johnson klammerten sich verzweifelt daran fest. Diesmal blieb ich in der Takelung, und es gelang Wolf Larsen, beizudrehen, ohne den Halt zu verlieren. Wie zuvor trieben wir hin. Taljen wurden festgemacht und Taue den Männern zugeworfen, die wie Affen an Bord kletterten. Das Boot selbst wurde, als es an Bord gezogen wurde, an der Schiffswand zerschmettert, aber das Wrack befestigten wir sicher, denn es konnte ausgebessert und wieder seeklar gemacht werden.

Wieder drehte sich die ›Ghost‹ in den Wind, und diesmal tauchte sie so tief ins Meer, daß ich einige Sekunden dachte, sie würde nie wieder zum Vorschein kommen. Selbst das Steuerrad, das ein ganz Teil höher als das Mitteldeck angebracht war, verschwand immer wieder unter den Wellen. In solchen Augenblicken hatte ich ein seltsames Gefühl, allein mit Gott zu sein, allein mit ihm und dem Chaos, das sein Zorn verursacht hatte. Dann tauchte das Rad wieder auf, und dahinter die breiten Schultern Wolf Larsens, seine Hände, die in die Spaken griffen und den Schoner in den Kurs zwangen, den er wollte. Er selbst ein irdischer Gott, der den Sturm beherrschte, das herabstürzende Wasser von sich abschleuderte und sein Fahrzeug ritt, wohin er wollte! Ach, welch ein Wunder! Daß winzige Menschlein leben, atmen, schaffen und ein so gebrechliches Ding aus Holz und Leinwand durch diesen furchtbaren Kampf der Elemente führen konnten.

Wie zuvor schwang sich die ›Ghost‹ aus dem Schlund herauf, hob ihr Deck über das Wasser und jagte vor dem heulenden Sturm dahin. Es war jetzt halb sechs, und eine halbe Stunde später, als das letzte Tageslicht einem unheimlichen, trüben Zwielicht wich, sah ich das dritte Boot. Es trieb kieloben, und von der Mannschaft war nichts zu sehen. Wolf Larsen wiederholte sein Manöver, hielt ab, drehte dann nach Luv und ließ sich hintreiben. Aber diesmal verfehlte er das Boot um vierzig Fuß, und es trieb vorbei.

»Boot vier«, rief Oofty-Oofty, dessen scharfe Augen in der Sekunde, als es, kieloben, aus dem Gischt auftauchte, die Nummer erspäht hatten.

Es war Hendersons Boot, und zugleich mit ihm hatten wir Holyak und Williams, einen der Vollmatrosen, verloren. Über ihr Schicksal konnte kein Zweifel herrschen, aber das Boot schwamm hier, und Wolf Larsen wollte noch einen verwegenen Versuch machen, es wiederzuerlangen. Ich war aufs Deck heruntergekommen und sah, wie Horner und Kerfoot vergebens gegen den Versuch protestierten.

»Bei Gott! Ich lasse mir mein Boot nicht stehlen – und wenn die ganze Hölle los wäre!« rief er laut, und obgleich wir alle vier die Köpfe zusammensteckten, um besser zu hören, klang seine Stimme nur schwach und wie aus ungeheurer Ferne.

»Herr van Weyden!« rief er, und ich hörte seine Stimme wie ein schwaches Flüstern, »bleiben Sie mit Johnson und Oofty am Klüver. Die andern achtern an die Großschoot! Los, oder ich fahre geradeswegs mit euch in die andere Welt! Verstanden?«

Und da er das Ruder hart umlegte und die ›Ghost‹ sich drehte, blieb den Jägern nichts übrig, als zu gehorchen und zu helfen, das kühne Wagnis nach Möglichkeit zu einem guten Abschluß zu bringen. Wie groß die Gefahr war, kam mir zum Bewußtsein, als ich nochmals unter den zermalmenden Seen begraben wurde und mich, mit dem Tode ringend, an die Nagelbank am Fuße des Großmastes klammerte. Meine Finger verloren ihren Halt, und ich wurde über Bord ins Meer gefegt. Schwimmen war unmöglich, aber ehe ich sinken konnte, war ich schon wieder zurückgeschwemmt. Eine starke Hand packte mich, und als die ›Ghost‹ endlich wieder auftauchte, sah ich, daß ich mein Leben Johnson verdankte. Er spähte ängstlich umher, und ich bemerkte, daß Kelly, der im letzten Augenblick nach vorn gekommen war, fehlte.

Wolf Larsen hatte das Boot verfehlt, die Lage hatte sich geändert, und so mußte er seine Zuflucht zu einem andern Manöver nehmen. Da wir mit dem Wind und allen Segeln nach Steuerbord liefen, kam er herum und halste backbord zurück.

»Großartig!« rief Johnson mir ins Ohr, als wir glücklich die Überschwemmung, die notwendige Folge des Manövers, überstanden hatten, und ich wußte, daß sein Ausruf sich nicht auf die seemännische Tüchtigkeit Wolf Larsens, sondern auf die Leistung der ›Ghost‹ selbst bezog.

Es war jetzt so dunkel, daß von dem Boote nichts mehr zu sehen war. Wolf Larsen aber führte, wie durch einen unfehlbaren Instinkt geleitet, das Ruder. Obwohl wir immer halb unter Wasser waren, wurden wir diesmal in kein Wellental hinuntergeschwemmt, sondern trieben geradeswegs auf das Boot zu, das, freilich arg beschädigt, an Bord geheißt wurde. Es folgten zwei Stunden furchtbarer Anstrengung. Wir alle an Bord – zwei Jäger, drei Matrosen, Wolf Larsen und ich – refften zuerst den Klüver, dann das Großsegel. Beigedreht und mit so wenig Leinwand war das Deck einigermaßen trocken, und die ›Ghost‹ wippte wie ein Kork auf den Seen.

Ich hatte mir gleich im Anfang die Haut von den Fingern gerissen, und beim Reffen hatte ich vor Schmerz kaum die Tränen zurückhalten können. Als jetzt alles getan war, ließ ich mich wie ein Weib gehen und warf mich, jammernd vor Schmerz und Erschöpfung, aufs Deck.

Unterdessen war Thomas Mugridge wie eine ertrunkene Ratte unter dem Backkopf hervorgezogen worden, wo er sich feige verkrochen hatte. Als er achtern nach der Kajüte geschleppt wurde, sah ich plötzlich zu meinem Schrecken, daß die Kombüse verschwunden war. Wo sie gestanden hatte, war klar Deck.

In der Kajüte fand ich alle Mann, auch die Matrosen, versammelt, und während der Kaffee auf dem kleinen Ofen gekocht wurde, tranken wir Whisky und kauten Zwiebäcke. Nie im Leben war mir Essen so willkommen gewesen, und nie hatte mir heißer Kaffee so geschmeckt. So gewaltig rollte und stieß die ›Ghost‹, daß selbst die Matrosen sich nicht bewegen konnten, ohne sich festzuhalten, und daß wir mehrmals unter allgemeinem Geschrei nach Backbord an die Wand geschleudert wurden, als hätten wir uns an Deck befunden.

»Zum Teufel mit dem Ausguck!« hörte ich Wolf Larsen sagen, als wir uns satt gegessen und getrunken hatten. »An Deck kann doch nichts mehr gemacht werden. Wenn jemand uns überrennen will, können wir ihm doch nicht ausweichen. Alle Mann in die Kojen, und versucht ein bißchen zu schlafen!«

Die Matrosen kämpften sich nach vorn und setzten unterwegs die Seitenlichter, während die beiden Jäger zum Schlafen in der Kajüte blieben, da es nicht ratsam war, die Zwischendecksluke zu öffnen. Wolf Larsen und ich amputierten gemeinsam Kerfoots zerschmetterten Finger und vernähten die Wunde. Mugridge, der die ganze Zeit, während er Kaffee machen und aufwarten mußte, über innere Schmerzen geklagt hatte, schwor jetzt, daß er zwei oder drei Rippen gebrochen hätte. Aber er mußte bis zum nächsten Tage warten, zumal ich nichts von gebrochenen Rippen verstand und erst darüber nachlesen mußte.

»Ich finde nicht, daß es das wert war,« sagte ich zu Wolf Larsen, »ein zersplittertes Boot für Kellys Leben!«

»Kelly war nicht viel wert«, lautete die Antwort. »Gute Nacht!«

Nach allem, was sich ereignet hatte, bei fast unerträglichen Schmerzen in den Fingerspitzen und den Gedanken an die drei vermißten Boote, gar nicht zu reden von den wilden Sprüngen, die die ›Ghost‹ machte, hätte ich nicht geglaubt, daß es möglich gewesen wäre, zu schlafen. Aber meine Augen müssen sich in demselben Augenblick geschlossen haben, als mein Kopf das Kissen berührte, und in äußerster Erschöpfung schlief ich die ganze Nacht, während sich die ›Ghost‹, einsam und ungeleitet, ihren Weg durch den Sturm erkämpfte.


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