Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Wolf Larsen entschloß sich, die Verteilung des Whiskys selbst vorzunehmen, und während ich in der Back mit einem frischen Trupp Verwundeter beschäftigt war, begannen die Flaschen in die Erscheinung zu treten. Ich hatte schon in meinem Leben Whisky trinken sehen, wie man ihn in den Klubs trank: etwas Whisky mit Sodawasser, aber nie, wie diese Männer ihn tranken: aus Konservendosen, aus Krügen und Flaschen in unendlichen Zügen, deren jeder an sich schon eine Ausschweifung war. Und sie begnügten sich nicht mit einem oder zweien. Sie tranken und tranken, und immer mehr Flaschen wanderten nach vorn, und immer mehr tranken sie. Alle tranken. Die Verwundeten tranken; Oofty-Oofty, der mir half, trank. Nur Louis hielt sich zurück, er befeuchtete sich die Lippen nur ganz vorsichtig, stimmte aber in den allgemeinen Lärm mit ein wie der Schlimmste von ihnen. Es war eine zügellose Schwelgerei. Mit lauter Stimme erörterten sie die Kämpfe des Tages, stritten sich über Einzelheiten oder wurden zärtlich und schlossen Freundschaft mit denen, gegen die sie gekämpft hatten, Gefangene wie Sieger sanken sich in die Arme und schworen sich schluckend mit mächtigen Flüchen gegenseitig ihre Hochachtung und Wertschätzung. Sie weinten über das Elend, das sie durchgemacht hatten, wie über das, was noch kommen mußte unter der eisernen Fuchtel Wolf Larsens. Und jeder verfluchte ihn und erzählte schreckliche Geschichten von seiner Brutalität.

Es war ein seltsamer und schrecklicher Anblick, der kleine, von Kojen eingerahmte Raum, dessen Boden und Wände hüpften und schwankten, das trübe Licht, in dem die schwingenden Schatten sich ungeheuerlich verlängerten und verkürzten, die rauchgeschwängerte Luft, der Geruch der Körper und des Jodoforms und der Anblick der erregten Menschen – oder Halbmenschen, wie ich sie lieber nennen sollte. Ich beobachtete Oofty-Oofty, der das Ende einer Bandage hielt und auf das Schauspiel blickte. Seine samtenen, strahlenden Augen glitzerten wie die eines Rehs, und doch wußte ich, daß ein barbarischer Teufel in seiner Brust schlummerte, der alle Sanftheit und die fast frauenhafte Weichheit in seinen Zügen und seiner Gestalt Lügen strafte. Und ich bemerkte das knabenhafte Gesicht Harrisons – sonst ein gutes Gesicht, jetzt aber das eines Teufels, verkrampft von Leidenschaft, als er den neuen Kameraden von dem Höllenschiff erzählte, auf dem sie sich befanden, und Flüche auf das Haupt Wolf Larsens herabregnen ließ. –

Wolf Larsen war es, immer Wolf Larsen, der seine Mitmenschen unterjochte und peinigte, eine männliche Circe er, und sie seine Schweine, leidende Tiere, die vor ihm krochen und sich nur heimlich in der Trunkenheit gegen ihn auflehnten. War ich nicht auch wie sie? Und Maud Brewster? Nein! Ich knirschte vor Wut mit den Zähnen, bis der Mann, den ich verband, unter meiner Hand zusammenzuckte und Oofty-Oofty mich neugierig anblickte. Ich fühlte mich plötzlich von mächtiger Kraft beseelt. Etwas in meiner neuentdeckten Liebe machte mich zum Riesen. Ich fürchtete nichts mehr. Ich mußte meinen Willen durchsetzen können trotz meinen fünfunddreißig, hinter Büchern verbrachten Jahren. Und so, außer mir, hochgehoben von einem starken Machtgefühl, stieg ich an Deck, wo der Nebel geisterhaft durch die Nacht trieb und die Luft süß, rein und still war.

Das Zwischendeck, wo die beiden verwundeten Jäger lagen, war eine Wiederholung der Back, nur, daß hier nicht auf Wolf Larsen geflucht wurde, und mit großer Erleichterung erschien ich wieder an Deck und ging nach achtern in die Kajüte. Das Abendbrot war bereit, und Wolf Larsen und Maud warteten auf mich.

Während Wolf Larsens Mannschaft sich so schnell und gründlich wie möglich betrank, blieb er selbst nüchtern. Nicht ein Tropfen Schnaps kam über seine Lippen. Unter den jetzigen Umständen wagte er es nicht, und er hatte niemand, auf den er sich verlassen konnte, außer Louis und mir, und Louis stand am Rade. Wir segelten weiter durch den Nebel, ohne Ausguck und ohne Lichter. Daß Wolf Larsen den Whisky auf seine Leute losgelassen hatte, wunderte mich, aber er kannte sie und das Geheimnis, in Freundschaft zusammenzukitten, was mit Blutvergießen begonnen hatte.

Sein Sieg über Tod Larsen schien eine merkwürdige Wirkung auf ihn auszuüben. Am Abend zuvor hatte er sich in einen Katzenjammer hineingeredet, und ich hatte einen seiner charakteristischen Ausbrüche erwartet. Aber nichts war geschehen, und jetzt war er in glänzender Stimmung. Vermutlich hatte sein Erfolg beim Kapern so vieler Boote und Jäger der gewöhnlichen Reaktion entgegengewirkt. Jedenfalls war der Katzenjammer vorbei, und die Teufel der Schwermut hatten sich nicht gezeigt. So dachte ich wenigstens, aber ach, wie wenig kannte ich ihn! Ich wußte nicht, daß er vielleicht gerade in diesem Augenblick über einen Ausbruch brütete, der schrecklicher sein sollte als alle, die ich bisher erlebt hatte.

Wie gesagt, er war scheinbar in glänzender Stimmung, als ich die Kajüte betrat. Er hatte wochenlang keine Kopfschmerzen gehabt, seine Augen waren so klar wie der Himmel, seine dunkle Gesichtsfarbe strahlte vor Gesundheit. Das Leben schwoll in prachtvollem Rhythmus durch seine Adern. Während sie auf mich warteten, hatte er Maud Brewster in eine angeregte Unterhaltung verwickelt. Das Problem, das sie erörterten, war die Versuchung, und aus den wenigen Worten, die ich hörte, schloß ich, daß für ihn Versuchung war, wenn ein Mensch sich verführen ließ und fiel.

»Denn sehen Sie,« sagte er gerade, »meiner Ansicht nach handelt der Mensch stets in Übereinstimmung mit seinen Wünschen. Was er auch immer tut, so tut er es, weil ihn der Wunsch dazu treibt.«

»Aber nehmen Sie an, daß er zwei Wünsche hat, die einander entgegengesetzt sind, so daß ihm das eine nicht erlaubt, das andere zu tun?« unterbrach Maud ihn.

»Das eben war es gerade, worauf ich hinauswollte«, sagte er.

»Und zwischen diesen beiden Wünschen offenbart sich die Seele des Menschen«, fuhr sie fort. »Ist es eine gute Seele, so wird sie das Gute wünschen und vollbringen, und das Gegenteil, wenn es eine schlechte Seele ist. Die Seele ist es, die entscheidet.«

»Schwindel!« rief er ungeduldig aus. »Es ist der Wunsch, der entscheidet. Ein Mensch, zum Beispiel, wünscht sich zu betrinken. Gleichzeitig aber will er sich nicht betrinken. Was tut er, und wie tut er es? Er ist eine Puppe, der Spielball seiner Wünsche, und von den beiden Wünschen gehorcht er eben dem stärkeren, das ist alles. Seine Seele hat gar nichts damit zu schaffen. Haha,« lachte er, »was halten Sie davon, Herr van Weyden?«

»Daß Sie beide Haarspalterei betreiben«, sagte ich. »Die Seele des Mannes sind seine Wünsche oder, wenn Sie wollen: Die Summe seiner Wünsche ist seine Seele. Sie haben alle beide unrecht. Sie, weil Sie den Wunsch, getrennt von der Seele, als das Wichtigste betrachten, Fräulein Brewster, weil für sie die Seele, getrennt von den Wünschen, die Hauptsache ist. In der Tat sind Seele und Wünsche ein und dasselbe.«

»Jedoch«, fuhr ich fort, »hat Fräulein Brewster recht. Die Versuchung ist der Wind, der den Wunsch anfacht, bis er so stark ist, daß er uns übermannt. Der Wind mag nicht stark genug sein, den Wunsch die Oberhand gewinnen zu lassen, wenn er aber nur überhaupt weht, so ist es eben Versuchung. Und, wie Sie sagen, man kann sowohl zum Guten wie zum Bösen versucht werden.«

Ich war ganz stolz, als wir uns zu Tische setzten. Meine Worte hatten den Ausschlag gegeben. Wenigstens hatte ich der Diskussion ein Ende gemacht.

Aber Wolf Larsen schien so unterhaltsam zu sein, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Es war, als ob er vor innerer Energie beinahe barst. Fast im selben Augenblick begann er eine Diskussion über die Liebe. Wie gewöhnlich vertrat er die rein materialistische, Maud die idealistische Seite. Ich selbst beteiligte mich außer einigen kurzen Bemerkungen und Einwänden nicht an der Unterhaltung.

Er war prachtvoll, aber Maud auch, und eine Zeitlang verlor ich den Faden der Unterhaltung, weil ich ihr Gesicht beim Sprechen studierte. Es war ein Gesicht, das sonst selten Farbe annahm, heute aber war es leicht gerötet und erregt. Ihr Geist entfaltete sich frei, und das Turnier belustigte sie ebensosehr wie Wolf Larsen, der sich mächtig wohl fühlte.

In diesem Augenblick steckte Louis den Kopf in die Kajüte und flüsterte:

»Leise! Der Nebel geht hoch, und vorn ist die Backbordlaterne eines Dampfers.«

Wolf Larsen sprang an Deck, und zwar so rasch, daß er, als wir ihm nachgekommen waren, schon die Zwischendecksluke über dem trunkenen Lärm geschlossen hatte und jetzt nach vorn eilte, um auch die Backluke zu schließen. Obwohl der Nebel sich etwas gelichtet hatte, hing er noch über uns und verdunkelte die Sterne, so daß die Nacht ganz schwarz war. Gerade voraus konnte ich ein rotes und ein weißes Licht sehen und eine Maschine arbeiten hören; zweifellos die ›Macedonia‹.

Wolf Larsen war zur Ruff zurückgekehrt, und wir standen schweigend zusammen und beobachteten die Lichter, die schnell vor unserm Bug vorbeiglitten.

»Ein Glück, daß er keine Scheinwerfer hat!« sagte Wolf Larsen.

»Wenn ich nun laut riefe?« fragte ich flüsternd.

»Dann wären wir erledigt«, antwortete er. »Aber haben Sie auch daran gedacht, was sofort geschehen würde?«

Ehe ich Zeit hatte, meinem Wunsche, es zu erfahren, Ausdruck zu verleihen, hatte er mich mit dem Griff eines Gorillas an der Kehle gepackt, und durch ein schwaches Zittern der Muskeln gab er mir einen Begriff davon, wie er mir ohne weiteres das Genick brechen würde. Im nächsten Augenblick ließ er mich los, und wir starrten wieder auf die Lichter der ›Macedonia‹.

»Und wenn ich rufen würde?« fragte Maud.

»Sie sind mir zu teuer, als daß ich Ihnen etwas tun würde,« sagte er sanft – ja, es lag eine Zärtlichkeit, fast eine Liebkosung in seiner Stimme, die mich zusammenzucken ließ –, »aber tun Sie es doch lieber nicht, denn ich würde prompt Herrn van Weyden das Genick brechen.«

»Dann darf sie meinetwegen gern rufen«, sagte ich trotzig.

»Ich glaube kaum, daß sie den großen amerikanischen Kritiker Humphrey van Weyden opfern würde!« lachte er spöttisch.

Wir schwiegen, und wir hatten uns schon so aneinander gewöhnt, daß das Schweigen uns nicht verlegen machte; und als das rote und weiße Licht verschwunden waren, gingen wir wieder in die Kajüte, um das unterbrochene Abendbrot zu beenden.

Maud sprach Dawsons Gedicht »Impenitentia Ultima«. Sie tat es wundervoll, aber ich beobachtete nicht sie, sondern Wolf Larsen. Der faszinierende Blick, den er Maud zuwarf, faszinierte mich. Er war ganz außer sich, und ich bemerkte, daß er unbewußt die Lippen bewegte und Wort für Wort so schnell formte, wie sie es aussprach. Er unterbrach sie bei folgenden Zeilen:

»Und ihre Augen sollten mein Licht sein, wenn die Sonne hinter mir erlosch,
Und die Viola in ihrer Stimme sollte der letzte Ton in meinem Ohre sein.«

»Es ist eine Viola in Ihrer Stimme«, sagte er geradezu, und in seinen Augen flammten die goldenen Lichter. Ich hätte jauchzen mögen über ihre Ruhe und ihren Gleichmut. Sie beendete die Schlußstrophen, ohne zu stocken, und lenkte die Unterhaltung in weniger gefährliche Bahnen. Und die ganze Zeit hindurch saß ich in halber Betäubung da, der Lärm aus dem Zwischendeck ertönte durch das Schott, und der Mann, den ich fürchtete, und die Frau, die ich liebte, sprachen immer weiter. Der Tisch war nicht abgeräumt. Der Mann, der die Stelle von Thomas Mugridge eingenommen hatte, befand sich offenbar bei seinen Kameraden in der Back.

Wenn Wolf Larsen je den Gipfel des Lebens erreichte, so tat er es jetzt. Immer wieder vergaß ich meine eigenen Gedanken, um ihm zu folgen, und ich folgte ihm mit Erstaunen, unmittelbar bezwungen durch seinen wunderbaren Verstand, durch den Zauber seiner Leidenschaft, denn er predigte die Leidenschaft des Aufruhrs.

Natürlich wurde dann Miltons Lucifer angeführt, und die Kühnheit, mit der Wolf Larsen diesen Charakter analysierte, war eine Offenbarung seines unterdrückten Genies. Ich wurde an Taine gemahnt, und doch wußte ich, daß der Mann nie etwas von diesem glänzenden, wenn auch gefährlichen Denker gehört hatte.

»Er vertrat eine verlorene Sache, und er fürchtete sich nicht vor Gottes Donnerkeilen«, sagte Wolf Larsen. »Wenn er auch in die Hölle gestürzt wurde, so blieb er doch unbesiegt. Ein Drittel der Engel Gottes hatte er mitgebracht, und sofort reizte er die Menschen auf, sich gegen Gott zu empören, und gewann den größten Teil aller menschlichen Generationen für sich und die Hölle. Warum er vom Himmel herabgeschleudert wurde? Weil er weniger tapfer als Gott war? Weniger stolz? Weniger ehrgeizig? Nein! Tausendmal nein! Gott war der Stärkere. Ihm verlieh der Donner größere Macht. Lucifer aber war ein freier Geist. Dienen hieß für ihn ersticken. Er zog Leiden in Freiheit aller Glückseligkeit einer bequemen Knechtschaft vor. Er machte sich nichts daraus, Gott zu dienen. Er wollte niemand dienen. Er war keine Gallionsfigur. Er stand auf eigenen Füßen. Er war eine Persönlichkeit.«

»Der erste Anarchist!« lachte Maud lebhaft, indem sie sich erhob und sich dann anschickte, ihre Kajüte aufzusuchen.

»Dann ist es gut, Anarchist zu sein!« rief er. Auch er hatte sich erhoben und blickte ihr, die in der Tür stand, ins Gesicht. Dann zitierte er weiter:

                                            »Hier endlich
Winkt uns die Freiheit, hat der Allmächtige
Die Zelte seines Neides nicht gebaut
Und wird uns nicht vertreiben. Unsre Herrschaft
Ist sicher hier; und herrschen, wie man will,
Ist schon den Ehrgeiz wert auch in der Hölle:
Dort lieber Herrscher, als im Himmel Knecht!«

Es war der trotzige Ruf eines mächtigen Geistes. Die Kajüte hallte wider von seiner Stimme, wie er so, hin und her schwankend, das sonnenverbrannte Gesicht leuchtend und mit stolz zurückgeworfenem Kopfe dastand und die Augen golden und männlich, fest und unwiderstehlich auf Maud heftete, die in der Tür stand.

Wieder lag dies unsagbare Entsetzen in ihrem Blick, und, beinahe flüsternd, sagte sie: »Sie sind Lucifer.« Die Tür schloß sich, und sie war fort. Er starrte ihr eine Weile nach, dann kam er wieder zu sich und wandte sich zu mir.

»Ich will Louis am Rad ablösen«, sagte er kurz. »Um Mitternacht werden Sie mich ablösen. Jetzt legen Sie sich am besten nieder und schlafen ein bißchen.«

Er zog ein Paar Fausthandschuh an, setzte seine Mütze auf und stieg die Treppe hinauf, während ich seiner Aufforderung, mich niederzulegen, Folge leistete. Ohne einen mir bewußten Grund, nur einer geheimnisvollen Eingebung folgend, entkleidete ich mich nicht, sondern legte mich völlig angekleidet in die Koje. Eine Zeitlang lauschte ich auf den Lärm im Zwischendeck und stellte Betrachtungen an über die Liebe, die zu mir gekommen war, aber mein Schlaf war auf der ›Ghost‹ gesund und natürlich geworden, und bald erstarben Singen und Schreien, meine Augen schlossen sich, und mein Bewußtsein sank in den Halbtod des Schlummers.

Ich weiß nicht, was mich weckte, aber ich stand ganz wach vor meiner Koje, und meine Seele zitterte wie in Gefahr, als hätte mich Trompetenschall gerufen. Ich riß die Tür auf. Die Kajütslampe war tief herabgebrannt. Und ich sah Maud, meine Maud, die sich aus den Armen Wolf Larsens zu befreien suchte. Ich konnte ihre verzweifelten Anstrengungen sehen, sie preßte ihr Gesicht gegen seine Brust, um ihm zu entkommen. Alles dies sah ich in einem Nu, und schon sprang ich in die Kajüte.

Ich schlug ihm mit der Faust mitten ins Gesicht, aber der Schlag hatte keine Kraft. Er brüllte wie ein wildes Tier und schob mich mit der Hand weg. Er schob mich nur, fegte mich mit dem Handrücken fort, aber so ungeheuer war seine Kraft, daß ich fortgeschleudert wurde, wie von einem Katapult. Ich stieß gegen die Tür des Raumes, in dem Thomas Mugridge früher geschlafen hatte, und das Paneel zersplitterte unter der Wucht meines Körpers. Schwankend richtete ich mich wieder auf und befreite mich mit Mühe aus den Trümmern der Tür. Einen Schmerz fühlte ich nicht, ich war nur von einer grenzenlosen Wut beherrscht. Ich glaube, daß ich laut schrie, als ich zum zweitenmal mit gezücktem Messer ansprang.

Aber es mußte etwas geschehen sein. Sie taumelten auseinander. Ich war schon mit dem Messer über ihm, aber ich hielt den Stoß zurück. Ich war verwirrt. Maud lehnte sich mit ausgestreckter Hand gegen das Schott. Wolf Larsen aber schwankte, die Linke gegen die Stirn gepreßt und die Augen bedeckend, während er halb betäubt mit der Rechten nach einem Halt suchte. Er stieß gegen die Wand, sein Körper schien bei der Berührung eine physische Erleichterung zu spüren, die Muskeln erschlafften, es war, als hätte er den verlorenen Kurs wiedergefunden, als wisse er wieder, wo er sich befand, als habe er wieder einen Halt.

Dann übermannte mich wieder die Wut. Alles Unrecht, alle Demütigungen, alles, was ich und andere durch ihn erlitten, die Ungeheuerlichkeit, die allein in der Existenz dieses Mannes lag, stand in blendender Helle vor mir. Blind, wahnsinnig, sprang ich von neuem auf ihn los und stieß ihm das Messer in die Schulter. Mir war sofort klar, daß es nichts als eine Fleischwunde war – ich hatte den Stahl in seinem Schulterblatt knirschen hören – und ich hob nochmals das Messer, um ein Ende zu machen.

Aber Maud hatte meinen ersten Stoß gesehen und schrie: »Nicht! Bitte nicht!«

Ich ließ einen Augenblick den Arm sinken – nur einen Augenblick. Dann erhob ich das Messer wieder, und es wäre sicher aus gewesen mit Wolf Larsen, wäre sie nicht dazwischengetreten. Ihre Arme umschlangen mich, ihr Haar berührte mein Gesicht. Mein Puls flog, und meine Wut wuchs mit seinen Schlägen. Sie blickte mir mutig in die Augen.

»Um meinetwillen!« flehte sie.

»Um ihretwillen will ich ihn töten!« rief ich und versuchte, meinen Arm frei zu machen, ohne sie zu verletzen.

»Still!« sagte sie und legte mir die Hand sanft auf die Lippen. Ich hätte sie küssen können, wenn ich es nur gewagt hätte, denn inmitten meiner Wut wirkte ihre Berührung so süß, so unsagbar süß. »Bitte, bitte«, flehte sie, und sie entwaffnete mich mit diesen Worten, wie sie mich – das habe ich später erfahren – stets mit ihnen entwaffnen wird.

Ich trat zurück und steckte das Messer in die Scheide. Ich blickte auf Wolf Larsen. Er preßte die Linke immer noch gegen die Stirn und bedeckte seine Augen. Sein Kopf war gebeugt. Er schien plötzlich gelähmt zu sein. Sein Körper brach in den Hüften zusammen, seine mächtigen Schultern sackten nach vorn.

»Van Weyden!« rief er heiser und mit einem Klang von Angst in der Stimme. »Van Weyden, wo sind Sie?« Ich blickte Maud an. Sie sagte nichts, nickte nur.

»Hier«, antwortete ich und trat zu ihm. »Was ist mit Ihnen?«

»Helfen Sie mir auf einen Stuhl«, sagte er mit derselben furchtsamen Stimme.

»Ich bin ein kranker Mann, ein sehr kranker Mann, Hump«, sagte er, als meine stützenden Arme ihn losließen und er auf den Stuhl sank.

Sein Kopf fiel vornüber auf den Tisch und wurde in seinen Händen begraben. Ab und zu schwankte er wie vor Schmerz hin und her. Als er einmal aufblickte, sah ich den Schweiß in schweren Tropfen unter den Haarwurzeln auf seiner Stirn stehen.

»Ich bin ein kranker Mann, ein sehr kranker Mann«, wiederholte er immer wieder.

»Was ist Ihnen denn?« fragte ich, indem ich ihm meine Hand auf die Schulter legte. »Kann ich etwas für Sie tun?«

Aber er schüttelte meine Hand mit einer ungeduldigen Bewegung ab, und eine Weile stand ich schweigend neben ihm. Maud starrte ihn mit einem Ausdruck von Furcht und Schrecken an. Wir hatten keine Ahnung, was ihm geschehen war.

»Hump,« sagte er endlich, »ich muß in die Koje. Reichen Sie mir Ihre Hand. Es wird gleich vorübergehen. Ich glaube, es sind die verfluchten Kopfschmerzen. Ich hatte es schon gefürchtet. Ich hatte ein Gefühl – nein, ich weiß nicht, was ich rede. Helfen Sie mir in meine Koje!«

Als ich ihn aber in die Koje gebracht hatte, vergrub er wieder sein Gesicht in den Händen, bedeckte die Augen, und, als ich mich zum Gehen wandte, hörte ich ihn murmeln: »Ich bin ein kranker Mann, ein sehr kranker Mann.«

Als ich herauskam, sah Maud mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf und sagte:

»Es ist ihm etwas zugestoßen. Was, weiß ich nicht. Er ist hilflos und furchtsam – sicher das erstemal in seinem Leben. Es muß geschehen sein, noch ehe er den Messerstich erhielt, denn der hat ihn nur ganz oberflächlich getroffen. Sie müssen doch gesehen haben, was es war.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen. Es ist mir genau so rätselhaft. Er ließ mich plötzlich los und taumelte. Aber was tun wir? Was soll ich tun?«

»Warten Sie bitte, bis ich wiederkomme«, antwortete ich kurz.

Ich ging an Deck. Louis stand am Rade.

»Du kannst nach vorn gehen und dich hinlegen«, sagte ich und nahm selbst das Ruder.

Er gehorchte ohne Zögern, und ich befand mich allein an Deck der ›Ghost‹. So leise wie möglich geite ich die Toppsegel auf, fierte Außenklüver und Stagsegel, holte den Klüver nach Backbord und legte das Großsegel hart an den Wind. Dann ging ich zu Maud hinunter. Zum Zeichen des Schweigens legte ich den Finger auf die Lippen und trat in Wolf Larsens Raum. Er befand sich noch in demselben Zustand, wie ich ihn verlassen hatte, und bewegte den Kopf – fast schlangenartig – hin und her.

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte ich.

Er gab zuerst keine Antwort, als ich aber meine Frage wiederholte, sagte er: »Nein, nein, es ist gut. Lassen Sie mich allein bis morgen früh.«

Als ich mich aber zum Gehen wandte, bemerkte ich, daß sein Kopf die schaukelnde Bewegung wieder aufgenommen hatte. Maud wartete geduldig auf mich, und mit einem freudigen Gefühl bemerkte ich die königliche Haltung ihres frei erhobenen Kopfes und ihre schönen ruhigen Augen. Ruhig und zuversichtlich waren sie wie ihr Gemüt.

»Wollen Sie sich mir für eine Seereise von etwa sechshundert Meilen anvertrauen?« fragte ich.

»Sie wollen –?« sagte sie, und ich wußte, daß sie meine Absicht erraten hatte.

»Ja, eben das«, antwortete ich. »Uns bleibt keine Wahl als das offene Boot.«

»Um meinetwillen, meinen Sie?« sagte sie. »Sie selbst sind doch gewiß hier ebenso sicher wie bisher.«

»Nein, wir haben beide keine andere Möglichkeit als das offene Boot«, wiederholte ich tapfer. »Wollen Sie sich bitte so warm wie möglich ankleiden und alles, was Sie mitnehmen wollen, zusammenpacken. – Und machen Sie so schnell wie möglich'«, fügte ich hinzu, als sie sich umwandte, um ihre Kajüte aufzusuchen. Die Vorratskammer befand sich gerade unter der Kajüte, ich öffnete die Falltür, nahm ein Licht und stieg hinunter, um mich mit Proviant zu versorgen. Ich wählte hauptsächlich Konserven, und als ich fertig war, streckten sich mir von oben ein Paar Hände willig entgegen, um in Empfang zu nehmen, was ich ihnen zureichte.

Wir arbeiteten schweigend. Ich verschaffte mir auch Decken, Fausthandschuhe, Ölzeug, Mützen und ähnliches aus der Vorratskiste. Es war keine Kleinigkeit, sich in einem kleinen Boot der rauhen, stürmischen See anzuvertrauen, und es war durchaus notwendig, sich gegen Kälte und Nässe zu schützen.

Wir schafften fieberhaft, um unsern Raub an Deck zu bringen und mittschiffs zu schleppen, ja, wir strengten uns so an, daß Maud, die nicht über große Körperkräfte verfügte, erschöpft aufgab und sich auf die Stufen zur Achterhütte setzen mußte. Aber das half wenig, und so legte sie sich rücklings auf das harte Deck. Sie streckte die Arme aus und ließ alle Muskeln erschlaffen, ein Trick, den ich von meiner Schwester kannte und mit dessen Hilfe sie sich bald erholt haben mußte. Ich war mir auch bewußt, daß es nicht unwichtig für uns war, Waffen zu besitzen, und so ging ich in Wolf Larsens Kabine, um sein Gewehr und seine Büchse zu holen. Ich sprach ihn an, aber er gab keine Antwort, obgleich sein Kopf hin und her schwankte und er nicht schlief.

»Leb' wohl, Lucifer!« flüsterte ich bei mir, während ich leise die Tür schloß.

Das nächste, was ich mir verschaffen mußte, war Munition – ein leichtes, obwohl ich dazu auf die Laufbrücke mußte. Hier bewahrten die Jäger die Munitionsvorräte auf, die sie mit in die Boote nahmen, und hier, nur wenige Schritte von ihrem wüsten Gelage, nahm ich zwei Kisten.

Dann mußte ein Boot hinabgelassen werden. Dies war keine Kleinigkeit für einen einzelnen Mann. Als ich die Surringe entfernt hatte, heißte ich es zuerst am Vordertakel und dann achtern, bis es klar von der Reling kam. Dann ließ ich es immer abwechselnd an den beiden Takeln hinunter, bis es an der Schiffsseite dicht über dem Wasser hing. Ich vergewisserte mich, daß es richtig mit Riemen, Klampen und Segel versehen war. Das Wichtigste war Trinkwasser, und ich nahm daher sämtliche Fässer aus den andern Booten. Da es alles in allem neun Boote waren, hatten wir nun Wasser in Hülle und Fülle und zugleich Ballast, obwohl wir jetzt Gefahr liefen, das Boot zu überlasten, wenn wir den ganzen Proviant übernahmen.

Während Maud ihn mir reichte und ich ihn im Boot verstaute, kam ein Matrose aus der Back an Deck. Er blieb eine Weile an der Luvreling stehen (wir waren an der Leereling beschäftigt) und schlenderte dann langsam mittschiffs, wo er wieder haltmachte und, mit dem Rücken gegen uns, in die Windrichtung blickte. Ich konnte mein Herz schlagen hören, während ich mich im Boot verkroch. Maud hatte sich aufs Deck gleiten lassen und lag, wie ich wußte, regungslos im Schatten der Reling. Aber der Mann wandte sich nicht ein einziges Mal um, er reckte die Arme, gähnte, schritt wieder zur Back und verschwand.

Nach einigen Minuten waren wir mit dem Verladen fertig, und ich ließ das Boot zu Wasser. Als ich Maud über die Reling half und ihren Körper dicht an dem meinen fühlte, konnte ich nur mit Mühe den Ruf »Ich liebe Sie! Ich liebe Sie!« unterdrücken. Wirklich: Humphrey von Weyden ist verliebt, dachte ich, als ich sie ins Boot hob und ihre Finger sich um die meinen klammerten. Ich hielt mich mit der einen Hand an der Reling fest und stützte sie mit der andern, und mich durchzuckte einen Augenblick ein Gefühl von Stolz. Ich besaß Kräfte, wie ich sie noch vor wenigen Monaten nicht gehabt – an dem Tage, als ich mich von Charley Furuseth verabschiedet hatte, um mit der unglückseligen ›Martinez‹ nach San Francisco zu fahren.

Das Boot hob sich auf einer Woge, Mauds Füße berührten den Boden, und ich ließ ihre Hände los. Dann warf ich die Takel los und sprang ihr nach. Ich hatte noch nie im Leben gerudert, aber ich legte die Riemen aus und bekam mit großer Anstrengung das Boot klar von der ›Ghost‹. Dann versuchte ich, das Segel zu setzen. Ich hatte beobachtet, wie die Bootssteurer und Jäger ihre Sprietsegel setzten, aber es war doch mein erster Versuch. Ich brauchte zwanzig Minuten, um zu machen, was sie in vielleicht zweien schafften, aber schließlich war es getan, und, die Ruderpinne in der Hand, ging ich in den Wind.

»Dort liegt Japan,« bemerkte ich, »gerade vor uns.«

»Humphrey van Weyden, Sie sind ein mutiger Mann!« sagte sie.

»Nein,« antwortete ich, »aber Sie sind eine mutige Frau.«

Wie auf eine gemeinsame Eingebung wandten wir den Kopf, um noch einen letzten Blick auf die ›Ghost‹ zu werfen. Ihr niedriger Rumpf hob sich und rollte auf der Woge, ihre Segel schimmerten undeutlich in der Nacht, das festgemachte Rad kreischte, dann entschwand sie unsern Blicken, und wir waren allein auf dem dunklen Meer.


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