Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Zu den stärksten Eindrücken meines Lebens gehören die Ereignisse auf der ›Ghost‹ in den vierzig Stunden, die der Entdeckung meiner Liebe zu Maud Brewster folgten. Nach einem stillen, geruhigen Leben war ich mit 35 Jahren in eine Reihe der unwahrscheinlichsten Abenteuer verwickelt worden, die ich mir je hatte träumen lassen, aber nie habe ich so viele und so spannende Erlebnisse gehabt wie in diesen vierzig Stunden. Und auch heute noch kann ich meine Ohren nicht ganz der leisen Stimme des Stolzes verschließen, die mir zuflüstert, daß ich, alles in allem, nicht übel dabei abgeschnitten habe.

Das erste war, daß Wolf Larsen den Jägern beim Mittagessen mitteilte, sie sollten in Zukunft im Zwischendeck essen. Das war etwas ganz Unerhörtes auf Robbenschonern, wo die Jäger stets Offiziersrang bekleiden. Er gab keine Gründe an, sie waren aber klar genug. Horner und Smoke hatten angefangen, Maud Brewster den Hof zu machen; es war dies an und für sich nur lächerlich und durchaus nicht beleidigend für Fräulein Brewster, aber es störte Wolf Larsen offenbar.

Die Ankündigung wurde mit tiefem Schweigen entgegengenommen, wenn auch die vier andern Jäger bedeutungsvoll auf die beiden Schuldigen blickten. Jock Horner verzog, seiner ruhigen Art gemäß, keine Miene. Aber Smoke stieg das Blut zu Kopfe, und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Wolf Larsen beobachtete ihn abwartend, den stahlharten Schimmer in den Augen, aber Smoke schloß wortlos wieder den Mund. »Wünschen Sie etwas?« fragte der Kapitän angriffslustig.

Das war eine Herausforderung, aber Smoke tat, als verstände er sie nicht.

»Was denn?« fragte er so unschuldig, daß Wolf Larsen aus der Fassung gebracht wurde, während die andern lächelten.

»Ach nichts«, sagte Wolf Larsen friedlich. »Ich dachte nur, Sie wollten gern eine 'runtergelangt haben.«

»Wofür?« fragte der unerschütterliche Smoke.

Jetzt lächelten Smokes Kameraden ganz unverhohlen. Der Kapitän hätte ihn töten mögen, und ich bin überzeugt, daß Blut geflossen sein würde, wenn Maud Brewster nicht dabeigewesen wäre. Ihre Anwesenheit hatte denn auch Smoke ermutigt. Er war zu vorsichtig, als daß er Wolf Larsens Zorn zu einem Zeitpunkt herausgefordert hätte, da dieser Zorn sich stärker als in Worten hätte äußern können. Ich fürchtete dennoch, daß es zum Kampfe kommen sollte, aber da ertönte ein Ruf vom Rudergast, der die Situation rettete.

»Rauch ahoi!« klang es die Kajütstreppe herab.

»Welche Richtung?« rief Wolf Larsen hinauf.

»Gerade achtern.«

»Vielleicht ein Russe«, meinte Latimer.

Bei seinen Worten zeigte sich Schrecken auf den Gesichtern der andern Jäger. Ein Russe konnte nur eins bedeuten: einen Kreuzer. Die Jäger hatten zwar nur eine annähernde Vorstellung, wo wir uns befanden, aber sie wußten doch, daß wir nicht weit von der Grenze des verbotenen Territoriums sein konnten, und alle kannten Wolf Larsens Ruf als Wilderer. Alle Augen richteten sich auf ihn.

»Wir sind vollkommen sicher«, beruhigte er sie lachend. »Diesmal gibt's keine Salzminen, Smoke. Aber ich will euch etwas sagen: ich will fünf gegen eins wetten, daß es die ›Macedonia‹ ist.«

Als keiner die Wette annahm, fuhr er fort: »Und wenn das stimmt, wette ich zehn gegen eins, daß wir Scherereien kriegen.«

»Nein, ich danke«, sagte Latimer freimütig. »Ich habe nichts dagegen, mein Geld zu verlieren, aber ich will wenigstens das Pferd laufen sehen. Es ist noch nie ohne Scherereien abgegangen, wenn Sie mit Ihrem Bruder zusammengetroffen sind, und ich will selbst zwanzig gegen eins darauf wetten.«

Seine Worte erregten allgemeine Heiterkeit, in die auch Wolf Larsen einstimmte, und die Mahlzeit verlief friedlich, obwohl er mich die ganze Zeit niederträchtig behandelte, mich höhnte und reizte, bis ich vor unterdrückter Wut zitterte. Aber ich wußte, daß ich mich um Maud Brewsters willen beherrschen mußte, und ich wurde belohnt, als ich einen ihrer Blicke erhaschte, der deutlicher als alle Worte sprach: ›Verlier den Mut nicht!‹

Wir standen von Tische auf und gingen an Deck, denn ein Dampfer war eine willkommene Unterbrechung des eintönigen Lebens auf See, und die Überzeugung, daß es Tod Larsen und die ›Macedonia‹ waren, vermehrte unsere Aufregung. Die steife Brise und die schwere See vom vergangenen Nachmittage hatten sich am Morgen etwas beruhigt, so daß es jetzt möglich war, die Boote hinabzulassen und zu jagen. Die Jagd versprach gut zu werden. Wir waren den ganzen Vormittag zwischen vereinzelten Robben hindurchgesegelt und liefen jetzt mitten in die Herde hinein.

Der Rauch war noch mehrere Meilen achternaus, näherte sich aber schnell, als wir die Boote hinabließen. Sie trennten sich und fuhren in nördlicher Richtung über das Meer. Hin und wieder sahen wir ein Segel niedergehen, hörten die Büchsen knallen und sahen die Segel wieder hochgehen. Es wimmelte von Robben. Der Wind legte sich ganz; alles schien einen großen Fang zu verkünden. Als wir ausliefen, um in Lee der Boote zu kommen, sahen wir, daß das Meer mit schlafenden Robben bedeckt war. Sie lagen da zu zweit, zu dritt, in ganzen Haufen, dichter, als ich sie je vorher gesehen, der Länge nach auf der Oberfläche ausgestreckt und fest schlafend, so sicher wie eine Schar träger junger Hunde.

Unter dem näherkommenden Rauche wurden jetzt Rumpf und Aufbau des Dampfers sichtbar. Es war die ›Macedonia‹. Ich las den Namen durch das Glas, als das Schiff uns, kaum eine Meile steuerbord, passierte. Wolf Larsen warf wilde Blicke auf den Dampfer, und Maud Brewster wurde neugierig.

»Was für Scherereien denken Sie zu bekommen, Kapitän?« fragte sie heiter.

Er blickte sie an, und ein freundlicher Blick huschte über seine Züge.

»Ja, was meinen Sie? Daß sie an Bord kommen und uns die Kehlen abschnitten?«

»Ja, etwas Derartiges«, gestand sie. »Die Robbenjäger sind ja etwas so Fremdes für mich, daß ich beinahe auf alles gefaßt bin.«

Er nickte. »Ganz recht, ganz recht. Sie haben sich nur geirrt, wenn Sie nicht das Schlimmste erwarteten.«

»Was kann denn noch schlimmer sein, als wenn einem die Kehle abgeschnitten wird?« fragte sie überrascht und mit kleidsamer Naivität.

»Wenn einem der Geldbeutel abgeschnitten wird«, antwortete er. »Die Menschen sind heutzutage so eingerichtet, daß ihre Lebensfähigkeit durch den Inhalt ihres Geldbeutels bestimmt wird.«

»Wer mir den Geldbeutel stiehlt, stiehlt wertlosen Plunder«, zitierte sie.

»Wer mir den Geldbeutel stiehlt, stiehlt mir das Recht, zu leben«, lautete seine Antwort. »Trotz aller Sprichwörter! Denn wer mir mein Geld stiehlt, stiehlt mir mein Brot, mein Fleisch, mein Bett und gefährdet daher mein Leben.«

»Aber ich kann nicht einsehen, wieso der Dampfer irgendwelche Absichten auf Ihren Geldbeutel haben sollte.«

»Warten Sie nur ab, dann werden Sie es schon sehen«, erwiderte er grimmig.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Als die ›Macedonia‹ mehrere Meilen jenseits unserer Bootslinie war, begann sie, Boote auszusetzen. Wir wußten, daß sie vierzehn gegen unsere fünf hatte (eines war uns durch die Flucht Wainwrights abhanden gekommen), und sie begann damit weit in Lee unseres äußersten Bootes, kreuzte unsern Kurs und endete weit in Luv unseres ersten Luvbootes. Damit war die Jagd für uns verdorben. Hinter uns gab es keine Robben, und vor uns fegte die Linie der vierzehn Boote wie ein ungeheurer Besen die Herde vor sich hin.

Unsere Boote jagten über die paar Meilen zwischen der ›Macedonia‹ und ihren Booten und gingen dann zurück. Der Wind flüsterte nur noch leise, das Meer wurde immer ruhiger, und alles dies im Verein mit der großen Robbenherde machte den Tag zur Jagd wie geschaffen – es war einer der zwei oder drei ganz besonders bevorzugten Tage, die man in einer glücklichen Jagdsaison erwarten darf. Eine Schar zorniger Menschen, Puller, Steuerer und Jäger kletterte über die Reling. Jeder einzelne fühlte sich beraubt, und die Boote wurden unter Flüchen eingeholt, die Tod Larsen in alle Ewigkeit abgetan haben würden, wenn Flüche wirkliche Macht besäßen. »Tod und Verdammnis für ein Dutzend Ewigkeiten«, erklärte Louis und zwinkerte mir zu, als er sein Boot hochgeheißt und festgesurrt hatte.

»Hören Sie sie an und sagen Sie selbst, ob es schwer ist, den Lebensnerv ihrer Seele herauszufinden«, sagte Wolf Larsen. »Treue und Liebe? Hohe Ideale? Das Gute? Das Schöne? Das Wahre?«

»Ihr angeborener Rechtssinn ist gekränkt«, mischte Maud Brewster sich in die Unterhaltung.

»Sie sind sentimental,« höhnte er, »ebenso sentimental wie Herr van Weyden. Die Leute fluchen, weil ihre Wünsche durchkreuzt sind. Das ist alles. Was sie wünschen? Gutes Essen und weiche Betten, wenn sie an Land kommen und eine gute Löhnung erhalten – Weiber, Suff und Völlerei und das Tierhafte, das wahrlich das Beste in ihnen, ihr höchstes Ziel, ihr Ideal ist. Die Gefühle, die sie zeigen, sind wahrhaftig kein rührender Anblick, und doch sehen wir, wie tief diese Gefühle gehen, denn Hand an ihren Beutel, heißt Hand an ihre Seele legen.«

»Sie benehmen sich doch nicht so, als ob es Ihren Beutel betroffen hätte«, meinte sie lächelnd.

»Kann sein, daß ich mich anders benehme, denn es hat sowohl meinen Beutel wie meine Seele betroffen. Bei den derzeitigen Fellpreisen auf dem Londoner Markt und einer ungefähren Schätzung, was wir heute nachmittag gefangen hätten, wenn die ›Macedonia‹ es uns nicht weggeschnappt hätte, hat die ›Ghost‹ etwa 1500 Dollar eingebüßt.«

»Und das sagen Sie so ruhig –«, begann sie.

»Aber ich bin nicht ruhig; ich könnte den Mann töten, der mich beraubt hat«, unterbrach er sie. »Ja, ja, ich weiß, dieser Mann ist mein Bruder – wieder die alte Sentimentalität! Pah!«

Sein Gesicht veränderte sich plötzlich. Seine Stimme klang weniger barsch und ganz aufrichtig, als er jetzt sagte:

»Ihr müßt glücklich sein mit eurer Sentimentalität, wahrhaft glücklich, weil ihr vom Guten träumt und das Gute findet und deshalb selbst gut seid. Aber sagt, ihr beiden, findet ihr mich gut?«

»Sie sind gewissermaßen gut anzuschauen«, urteilte ich. »In Ihnen liegen alle Kräfte für das Gute«, lautete die Antwort Maud Brewsters.

»Da haben wir's!« rief er ärgerlich. »Leere Worte! Euer Gedanke, den ihr da aussprecht, ist unklar, unscharf und unbestimmt! Es ist in Wirklichkeit gar kein Gedanke. Es ist ein Gefühl, eine Empfindung, auf Illusionen aufgebaut, und entspringt nicht im geringsten eurem Intellekt.«

Während er sprach, wurde seine Stimme wieder sanfter und ein vertraulicher Klang kam in sie. »Wissen Sie, daß ich mich manchmal über dem Wunsch ertappe, auch blind für die Tatsachen des Lebens zu sein und nur seine Phantasien und Illusionen zu kennen. Die sind natürlich falsch, alle falsch und vernunftswidrig; aber jedesmal, wenn ich Angesicht zu Angesicht mit Ihnen stehe, sagt mir meine Vernunft, daß es doch die größte Freude sein muß, zu träumen und in Illusionen zu leben, und wenn sie noch so falsch sind! Und alles in allem ist die Freude ja doch der Lohn des Lebens. Ohne Freude ist das Leben wertloses Tun. Arbeiten und leben ohne Lohn ist schlimmer als tot sein. Wer der größten Freude fähig ist, lebt am stärksten, und eure Träume und Illusionen bereiten euch weniger Unruhe und befriedigen euch mehr als meine Tatsachen.«

Er schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Ich zweifle oft, zweifle an dem Werte der Vernunft. Träume müssen wirklicher und befriedigender sein. Gefühlsmäßige Freude erfüllt mehr und währt länger als verstandesmäßige. Ich beneide Sie, beneide Sie!« Er schwieg, und sein Blick wanderte abwesend über sie hin und verlor sich auf dem ruhigen Meere. Die alte eingefleischte Schwermut senkte sich wieder über ihn, und er überließ sich ihr widerstandslos. Er hatte sich in eine Art Katzenjammer hineingeredet, und wir konnten sicher sein, daß in wenigen Stunden der Teufel in ihm wach wurde.


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