Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Schade, daß die ›Ghost‹ ihre Masten verloren hat, sonst könnten wir jetzt so schön auf ihr fortsegeln. Meinen Sie nicht auch, Humphrey?« Ich sprang erregt auf.

»Ja, wirklich, wirklich!« rief ich und schritt auf und ab.

Mauds Augen, die mir folgten, leuchteten hoffnungsfroh. Sie glaubte so fest an mich! Und dies Bewußtsein verdoppelte meine Kraft. Mir fiel ein, was Michelet sagt: »Die Frau ist dem Manne, was die Erde ihrem sagenhaften Sohne ist; er braucht nur niederzufallen und ihre Brust zu küssen, um wieder stark zu sein.« Zum ersten Male erkannte ich die wunderbare Wahrheit dieser Worte: erlebte ich sie doch an mir selbst! Das war Maud für mich: eine unversiegbare Quelle der Kraft und des Mutes. Ich brauchte sie nur anzusehen, nur an sie zu denken, und ich fühlte mich wieder stark.

»Es ist möglich, es ist möglich«, dachte ich und wiederholte es laut. »Was andere Männer vollbracht haben, kann ich auch vollbringen, und wenn niemand es je getan hat, so werde ich es tun.«

»Was, um Gottes willen?« fragte Maud. »Seien Sie barmherzig. Was werden Sie tun?«

»Wir werden es tun«, verbesserte ich mich. »Nun, nichts anderes, als die Masten der ›Ghost‹ wieder einsetzen und fortsegeln.«

»Humphrey!« rief sie.

Und ich fühlte mich so stolz über meine Absicht, als wäre sie schon ausgeführt gewesen.

»Aber wie sollten wir das machen?« fragte sie.

»Das weiß ich nicht«, lautete meine Antwort. »Das einzige, was ich weiß, ist, daß ich in diesen Tagen imstande bin zu tun, was es auch sei.«

Stolz lächelte ich ihr zu – zu stolz, denn sie senkte die Augen und schwieg einen Augenblick.

»Aber Kapitän Larsen«, wandte sie ein.

»Blind und hilflos«, antwortete ich schnell, indem ich ihren Einwand wie ein Staubkörnchen wegfegte.

»Aber seine furchtbaren Hände! Sie wissen, wie er sich über die Apothekenluke hinüberwarf.«

»Und Sie wissen auch, wie ich ihm kriechend entkam«, entgegnete ich gut gelaunt.

»Und Sie haben dabei Ihre Schuhe verloren.«

»Sie können doch nicht gut verlangen, daß die Wolf Larsen entwischten, wenn meine Füße nicht in ihnen staken.«

Wir lachten beide. Dann gingen wir ernstlich daran, einen Plan zu entwerfen, wie wir die Masten wieder in die ›Ghost‹ einsetzen und in die Welt zurückkehren sollten. Ich erinnerte mich dunkel des Physikunterrichts in meiner Schulzeit; dazu hatten mir die letzten Monate praktische Unterweisung in mancherlei technischen Handgriffen erteilt. Ich muß jedoch gestehen, daß ich, als wir zur ›Ghost‹ hinuntergingen, um eine Besichtigung vorzunehmen, beim Anblick der großen, im Wasser liegenden Masten fast den Mut verlor. Wo sollten wir beginnen? Hätte nur ein Mast gestanden, daß wir Blöcke und Taue hätten befestigen können, um ihn als Kran zu benutzen! Aber es gab nichts. Ich mußte an das Problem denken, sich selbst an den Haaren hochzuziehen. Ich verstand genügend von der Mechanik des Hebels; wo aber fand ich einen Stützpunkt?

Da war der Großmast, der an seinem jetzigen Ende einen Durchmesser von 15 Zoll hatte, noch 65 Fuß lang war und, wie ich überschläglich berechnete, wenigstens 3000 Pfund wog. Dann der Fockmast, dessen Durchmesser noch größer war und der sicherlich 3500 Pfund wog. Wo beginnen? Maud stand schweigend neben mir, während ich überlegte, wie ich die sogenannte ›Schere‹ der Seeleute herstellen sollte. Was jedem Matrosen bekannt war, mußte ich auf der Mühsalinsel erst erfinden. Ich mußte die Enden zweier Spieren kreuzweise zusammenbinden und sie wie ein umgekehrtes V an Deck aufstellen. Hieran konnte ich dann eine Talje und, wenn nötig, noch eine zweite befestigen. Und außerdem hatte ich ja das Ankerspill. Maud sah, daß ich zu einem Ergebnis gekommen war, und ihre Augen leuchteten verständnisvoll.

»Was haben Sie vor?« fragte sie.

»Das Gerümpel klarzubringen!« antwortete ich und wies auf das wirr durcheinander liegende Wrackgut im Wasser.

Ach, welch eine Entschlossenheit lag allein in diesen Worten! »Das Gerümpel klarzubringen!« Ein so echter seemännischer Ausdruck von den Lippen Humphrey van Weydens – wer hätte das vor wenigen Monaten für möglich gehalten!

In meiner Haltung und Stimme mußte etwas Theatralisches gelegen haben, denn Maud lächelte.

»Das habe ich sicher irgendwo schon mal gelesen«, meinte sie lustig.

Ich stieg sogleich in Selbsterkenntnis von meinem Thron herunter, um gedemütigt und verwirrt zu gestehen, daß ich etwas sehr Törichtes gesagt hätte.

Sofort schlug sie um.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie.

»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, würgte ich hinunter. »Mir geschieht es ganz recht. Ich bin noch der reine Schuljunge. Aber Schwamm drüber! Jetzt heißt es, das Gerümpel klarzubringen. Wenn Sie mit ins Boot kommen wollen, können wir uns an die Arbeit machen.«

Und wir machten uns an die Arbeit.

Ihre Aufgabe war es, auf das Boot zu achten, während ich daranging, den Wirrwarr zu ordnen. Und welch einen Wirrwarr! Falle, Schoote, Leinen, Stags – alles war von den Wellen hin und her geworfen, verwickelt und verfilzt. Ich gebrauchte das Messer nicht mehr, als durchaus notwendig war, und bald war ich bis auf die Haut durchnäßt vom Durchziehen der langen Taue unter Spieren und Masten, dem Ausscheren der Leinen und dem Aufwickeln im Boote.

Die Segel mußten an verschiedenen Stellen durchgeschnitten werden, und die vom Wasser schwere Leinwand stellte hohe Anforderungen an meine Kraft; aber bei Einbruch der Nacht war es mir doch gelungen, alles auf den Strand zu schaffen und dort zum Trocknen auszubreiten. Als wir aufhörten, um Abendbrot zu essen, waren wir beide sehr müde, aber wir hatten ein tüchtiges Stück Arbeit verrichtet, wenn es auch nicht nach viel aussah.

Am nächsten Morgen stieg ich mit Maud, deren Hilfe sich als ausgezeichnet erwiesen hatte, in den Raum der ›Ghost‹ hinab, um die alten Maststümpfe zu entfernen. Wir hatten kaum mit der Arbeit begonnen, als das Klopfen und Hämmern auch schon Wolf Larsen herbeirief.

»He, da unten!« rief er durch die offene Luke herunter.

Bei dem Klang seiner Stimme preßte Maud sich schutzsuchend an mich, und bei der jetzt folgenden Unterhaltung lag ihre Hand auf meinen Arm.

»He, da oben«, erwiderte ich. »Guten Morgen!«

»Was machen Sie da,« fragte er. »Versuchen Sie, mein Schiff in den Grund zu bohren?«

»Im Gegenteil, ich setze es wieder instand«, lautete meine Antwort.

»Aber was setzen Sie denn instand, zum Donnerwetter?« Seine Stimme klang verwundert.

»Ich will die Masten wieder einsetzen«, entgegnete ich leichthin, als wäre es die einfachste Sache von der Welt.

»Mir scheint, Sie haben endlich gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen, Hump«, hörten wir ihn sagen, und dann schwieg er eine Weile.

»Aber ich sage es Ihnen, Hump,« rief er wieder, »Sie bringen es nicht fertig.«

»O doch, ich bringe es fertig«, gab ich zurück. »Ich bin schon dabei.«

»Aber dies ist mein Schiff, mein Eigentum. Wenn ich es Ihnen nun verbiete?«

»Sie vergessen,« erwiderte ich, »daß Sie nicht mehr das stärkste Teilchen Ferment sind. Sie waren es einmal; damals hätten Sie mich fressen können, wie Sie sich auszudrücken beliebten. Jetzt aber ist es anders geworden, und jetzt könnte ich Sie fressen. Die Hefe ist ausgegoren.«

Er lachte kurz und unbehaglich auf. »Ich sehe, Sie geben mir meine Philosophie in ihrem vollen Werte wieder. Aber machen Sie nicht den Fehler, mich zu unterschätzen. Ich warne Sie zu Ihrem eigenen Besten.«

»Seit wann sind Sie denn Philanthrop geworden?« fragte ich. »Sie müssen gestehen, daß Sie äußerst inkonsequent sind, wenn Sie mich jetzt zu meinem Besten warnen.«

Er beachtete den Spott in meinen Worten nicht und sagte: »Gesetzt, ich schlösse jetzt die Luke über Ihnen. Hier können Sie mich nicht zum Besten halten wie in der Apotheke.«

»Wolf Larsen,« sagte ich streng und redete ihn zum ersten Male bei dem Namen an, unter dem er bekannt war, »ich bin nicht imstande, einen Wehrlosen, der keinen Widerstand leistet, niederzuschießen. Das haben Sie zu meiner eigenen wie zu Ihrer Befriedigung festgestellt. Aber jetzt warne ich Sie, nicht so sehr um Ihret- wie um meinetwillen: In dem Augenblick, in dem Sie die geringste Feindseligkeit gegen mich begehen, knalle ich Sie nieder. Ich kann es bequem von hier aus; wenn Ihnen danach der Sinn steht, so versuchen Sie, die Luke zu schließen.«

»Nichtsdestoweniger verbiete ich Ihnen, verbiete es Ihnen ausdrücklich, an meinem Schiff herumzupfuschen.«

»Aber Mann,« sagte ich vorwurfsvoll, »Sie stellen die Tatsache, daß dies Ihr Schiff ist, fest, als sei das ein moralisches Recht. Haben Sie denn jemals bei Ihrer Handlungsweise andern gegenüber moralische Rechte gelten lassen? Sie können doch nicht im Ernst glauben, daß ich solche Rücksichten nehme!«

Ich war unter die offene Luke getreten, so daß ich ihn sehen konnte. Die völlige Ausdruckslosigkeit seines Gesichtes, das ich jetzt ungesehen beobachtete, war im Verein mit den starren Augen kein angenehmer Anblick.

»Und daß irgend jemand – und sei es selbst Hump – so armselig wäre, ihm Achtung zu zollen«, höhnte er. Der Hohn kam ausschließlich durch seine Stimme zum Ausdruck. Sein Gesicht blieb so ausdruckslos wie zuvor. »Wie geht es Ihnen, Miß Brewster?« fragte er plötzlich nach einer Pause.

Ich erschrak. Sie hatte nicht das leiseste Geräusch gemacht, hatte sich nicht einmal bewegt. War es möglich, daß er noch einen Schimmer des Augenlichtes behalten hatte? Oder daß ihm die Sehkraft wiederkehrte?

»Was machen Sie, Kapitän Larsen?« fragte sie ihrerseits. »Wieso wissen Sie denn, daß ich hier bin?«

»Ich habe Sie natürlich atmen gehört. Mir scheint, Hump macht Fortschritte, finden Sie nicht?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie und lächelte mir zu. »Ich kenne ihn nicht anders.«

»Dann hätten Sie ihn früher sehen sollen.«

»Wolf Larsen in bittern Pillen,« murmelte ich, »vor und nach dem Einnehmen.«

»Ich sage Ihnen nochmals, Hump,« drohte er, »lassen Sie lieber die Finger davon.«

»Aber liegt Ihnen denn nicht genau soviel wie uns daran, von hier wegzukommen?« fragte ich verwundert.

»Nein«, lautete seine Antwort. »Ich gedenke hier zu sterben.«

»Wir aber nicht«, beendete ich das Gespräch trotzig und nahm mein Klopfen und Hämmern wieder auf.


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