Jack London
Der Seewolf
Jack London

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Als ich an Deck kam, sah ich, daß die ›Ghost‹ Backbord halste und dicht am Winde in Luv eines wohlbekannten Sprietsegels vor uns ging. Alle Mann waren an Deck, denn sie wußten, daß etwas geschehen würde, wenn Leach und Johnson an Bord geholt wurden. Es war vier Glasen. Louis kam zur Ablösung nach achtern ans Rad. Es lag Feuchtigkeit in der Luft, und ich bemerkte, daß er sein Ölzeug angezogen hatte. »Was gibt es jetzt?« fragte ich ihn.

»Eine gesunde Regenbö, gerade genügend, um uns den Kragen naß zu machen, weiter nichts«, antwortete er. »Zu dumm, daß wir sie sichten mußten!« sagte ich, während der Bug der ›Ghost‹ von einer schweren See ein paar Strich aus dem Kurs geworfen wurde und das Boot einen Augenblick hinter dem Klüver zum Vorschein kam.

Louis drehte das Rad und antwortete ausweichend: »Sie hätten das Land doch nicht erreicht, das weiß ich.«

»Glaubst du nicht?«

»Nein, Herr van Weyden. In der nächsten Stunde kann sich keine solche Eierschale auf See halten, und es ist ein Glück für sie, daß wir hier sind, um sie aufzufischen.«

Wolf Larsen, der mittschiffs mit dem Geretteten gesprochen hatte, kam jetzt mit langen Schritten nach achtern. Das katzenartig Sprunghafte in seinem Gang war jetzt noch ausgeprägter als gewöhnlich, und seine Augen leuchteten hell.

»Drei Heizer und ein vierter Maschinist«, begrüßte er mich. »Aber wir werden schon Matrosen oder doch wenigstens Bootspuller aus ihnen machen. Und wie steht's mit der Dame?«

Ich weiß nicht warum, aber ich fühlte einen Schmerz wie einen Messerstich, als er sie erwähnte. Ich hielt es für einen gewissen törichten Stolz von meiner Seite, aber der Schmerz hielt an, und ich antwortete nur mit einem Achselzucken.

Wolf Larsen spitzte die Lippen zu einem langen höhnischen Pfeifen.

»Wie heißt sie denn?« fragte er.

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Sie schläft. Sie war sehr müde. Eigentlich hätte ich gedacht, von Ihnen etwas zu hören. Was für ein Schiff war es denn?«

»Postdampfer«, antwortete er kurz. ›City of Tokio‹ von Frisco nach Yokohama. Im Taifun außer Dienst gesetzt. Alter Kasten. Wurde leck wie ein Sieb. Sie sind vier Tage umhergetrieben. – Und Sie wissen nicht, wer oder was sie ist, wie? – Mädchen, Frau oder Witwe? – Na schön.«

Er schüttelte neckend den Kopf und sah mich mit lachenden Augen an.

»Wollen Sie – –«, begann ich. Es lag mir auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er die Schiffbrüchigen nach Yokohama zu bringen gedächte.

»Ob ich was will?« fragte er.

»Was wollen Sie mit Leach und Johnson machen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wirklich, Hump, ich weiß es nicht. Sie sehen doch, daß wir mit den Leuten, die wir vorhin an Bord genommen haben, genügend Mannschaft besitzen.«

»Die beiden haben sicher genug vom Desertieren«, meinte ich. »Nehmen Sie sie an Bord und seien Sie anständig gegen sie. Was sie auch getan haben: sie sind dazu getrieben worden.«

»Durch mich?«

»Durch Sie«, entgegnete ich fest. »Und ich warne Sie, Wolf Larsen, ich könnte meine Liebe zum Leben vergessen über dem Wunsche, Sie zu töten, wenn Sie in Ihrer Rache an diesen Unglücklichen zu weit gehen.«

»Bravo!« rief er. »Sie machen mir wirklich Ehre, Hump! Sie machen sich, und darum habe ich Sie gern.« Er änderte Stimme und Ausdruck. Sein Gesicht wurde ernst. »Glauben Sie an Versprechungen?« fragte er »Sind Sie Ihnen heilig?«

»Natürlich«, erwiderte ich.

»Dann schließen wir einen Pakt«, fuhr er fort, dieser vollendete Schauspieler. »Wenn ich verspreche, keine Hand an Leach und Johnson zu legen, versprechen Sie mir dann, nicht zu versuchen, mich zu töten? – Oh, ich fürchte mich nicht vor Ihnen, das nicht«, beeilte er sich hinzuzufügen.

Ich wollte kaum meinen Ohren trauen. Was ging in dem Manne vor?

»Abgemacht«, fragte er ungeduldig.

»Abgemacht«, antwortete ich.

Er streckte mir die Hand entgegen, aber als ich sie herzlich schüttelte, hätte ich schwören mögen, seine Augen höhnisch aufblitzen zu sehen.

Wir schlenderten über die Ruff nach Lee. Das Boot war jetzt fast zum Greifen nahe und befand sich in einem elenden Zustande. Johnson steuerte, während Leach schöpfte. Wolf Larsen bedeutete Louis, etwas seitwärts zu halten, und wir schossen, keine zwanzig Fuß in Luv, an dem Boot vorbei. Die ›Ghost‹ narrte sie. Das Sprietsegel flatterte schlaff, und das Boot richtete sich auf, was die beiden Männer schleunigst veranlaßte, die Plätze zu wechseln. Das Boot stampfte, und während wir uns jetzt auf einer hohen Woge hoben, stürzte es tief hinab.

In diesem Augenblick sahen Leach und Johnson in die Gesichter ihrer Kameraden, die mittschiffs über die Reling lehnten. Keiner grüßte. In den Augen der andern waren sie Tote, und zwischen ihnen lag der Abgrund, der Lebendige und Tote scheidet.

Gleich darauf befanden sie sich der Ruff gegenüber, auf der Wolf Larsen und ich standen. Wir sanken in das Wellental, während sie sich auf den Kamm erhoben. Johnson blickte mich mit einem unsagbar zerquälten Ausdruck an. Ich winkte ihm zu, und er erwiderte meinen Gruß, aber mit einem Winken, das hoffnungslos und verzweifelt war. Es war, als nehme er Abschied. Leachs Augen konnte ich nicht fangen, denn er schaute mit dem alten unversöhnlichen Haß Wolf Larsen an.

Dann waren sie achteraus gekommen. Plötzlich füllte sich das Sprietsegel mit Wind, und das offene Fahrzeug krengte so, daß es aussah, als sollte es kentern. Eine Sturzsee schäumte darüber hinweg und begrub es unter schneeweißem Gischt. Dann hob sich das Boot wieder. Es war halb voll Wasser, und Leach schöpfte wie wahnsinnig, während Johnson sich, weiß vor Angst, an die Ruderpinne klammerte.

Wolf Larsen lachte kurz und spöttisch und schritt nach der Achterhütte. Ich erwartete, daß er befehlen würde, beizudrehen, aber die ›Ghost‹ hielt ihren Kurs, und er gab kein Zeichen, Louis stand unbeweglich am Steuerrad, aber ich bemerkte, daß die vorn in Gruppen stehenden Matrosen uns bestürzt anblickten. Immer weiter schoß die ›Ghost‹, bis das Boot nur noch ein kleiner Punkt war. Da ertönte Wolf Larsens Stimme, die befahl, steuerbord zu halsen.

Wir gingen zurück, zwei Meilen oder mehr in Luv der mit den Wellen ringenden Nußschale, dann wurde der Außenklüver niedergeholt, und wir drehten bei. Robbenboote sind nicht dafür eingerichtet, gegen den Wind zu gehen. Sie sind darauf angewiesen, sich in Luv zu halten, um, wenn der Schoner anfährt, vor dem Winde laufen zu können. In dieser ganzen wilden Einöde gab es jedoch keine Zuflucht für Leach und Johnson außer der ›Ghost‹, und so begannen sie entschlossen gegen den Wind anzukämpfen. Es ging nur langsam in der schweren See. Jeden Augenblick konnten sie unter den schäumenden Sturzseen begraben werden. Immer wieder, unzählige Male, sahen wir das Boot luven und wie ein Kork wieder zurückgeschleudert werden.

Johnson war ein ausgezeichneter Seemann. Nach anderthalb Stunden befand er sich fast Seite an Seite mit uns und dachte, uns beim nächsten Halsen zu erreichen.

»So, ihr habt's euch überlegt?« hörte ich Wolf Larsen murmeln, als ob sie ihn hätten hören können. »Ihr wollt an Bord, was? Na schön, dann versucht's doch. Hart Steuerbord!« befahl er Oofty-Oofty, dem Kanaken, der unterdessen Louis am Rad abgelöst hatte. Ein Befehl folgte dem andern. Der Schoner ging in den Wind, und Fockschoot und Großschoot wurden gelockert. Und vor dem Winde liefen wir und hüpften über die Wogen, während Johnson unter Lebensgefahr seine Schoot nachließ und, hundert Fuß hinter uns, unser Kielwasser kreuzte. Wieder lachte Wolf Larsen, und diesmal machte er ihnen Zeichen, uns zu folgen. Er hatte offenbar die Absicht, mit ihnen zu spielen, ihnen statt der Prügel, wie ich annahm, eine Lehre zu erteilen, allerdings eine gefährliche Lehre, das leichte Fahrzeug konnte jeden Augenblick kentern. Johnson braßte sofort vierkant und folgte uns. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Wohin sie sich auch wandten, sahen sie sich dem Tode preisgegeben, und es war nur eine Frage der Zeit, daß eine der ungeheuren Sturzseen das Boot treffen, darüber hinweg und weiterrollen würde.

»Der Tod sitzt ihnen im Nacken«, murmelte Louis mir ins Ohr, als ich nach vorn ging, um dafür zu sorgen, daß Außenklüver und Stagsegel eingeholt wurden.

»Ach, er wird wohl bald beidrehen und sie aufnehmen«, ermunterte ich ihn, »er will ihnen nur eine Lehre erteilen, das ist alles.«

Louis sah mich von der Seite an. »Glauben Sie das wirklich?« fragte er.

»Natürlich«, erwiderte ich. »Du nicht?«

»Ich denke nur an meine eigene Haut«, lautete seine Antwort. »Und ich bin gespannt, wie alles ausläuft. Eine schöne Bescherung hat der Whisky angerichtet, den ich in Frisko trank, und das Mädchen achtern wird noch eine schöne Bescherung für Sie anrichten. Aber eins weiß ich: Sie sind ein rechter Narr!«

»Wie meinst du das?« fragte ich Louis, der sich, nachdem er seinen Pfeil abgeschossen hatte, abwandte.

»Wie ich das meine?« rief er. »Das fragen Sie noch? Auf meine Meinung kommt es nicht an, nur auf die vom Wolf. Vom Wolf sage ich, vom Wolf!«

»Würdest du mir beistehen, wenn es not täte?« fragte ich unwillkürlich, denn er hatte nur meiner eigenen Besorgnis Ausdruck verliehen.

»Ihnen beistehen? Ich stehe nur dem alten dicken Louis bei, und damit hab' ich schon genug zu tun. Wir sind erst am Anfang, sage ich Ihnen, ganz am Anfang.«

»Ich hätte dich nicht für einen solchen Feigling gehalten«, höhnte ich.

Er warf mir einen geringschätzigen Blick zu. »Ich hab' nie einen Finger für den armen Narren gerührt«, er wies auf das winzige Segel achtern, – »und da meinen Sie, ich sei verrückt, mir den Hals für eine Frau zu brechen, die ich bis zum heutigen Tage noch nie gesehen habe?«

Verächtlich wandte ich mich ab und ging nach achtern. »Es ist am besten, wenn Sie das Toppsegel einholen lassen, Herr van Weyden«, sagte Wolf Larsen, als ich zur Ruff kam.

Ich spürte eine Erleichterung, wenigstens bezüglich der beiden Männer. Es war klar, daß er ihnen nicht zu weit weglaufen wollte. Bei diesem Gedanken schöpfte ich wieder Hoffnung und führte den Befehl rasch aus. Ich hatte kaum den Mund geöffnet, als die Leute auch schon eifrig an die Falle und in die Takelung sprangen. Wolf Larsen sah ihren Eifer und lächelte grimmig.

Das Boot kam immer näher und wurde wie ein lebendes Wesen durch die wallende grüne Masse gewirbelt. Es hob und senkte sich, erschien auf den ungeheuren Rücken der Wogen und verschwand hinter ihnen, um kurz darauf wieder zum Vorschein zu kommen und himmelan zu schießen. Es schien unmöglich, durchkommen zu können, aber immer wieder vollbrachte es das Unmögliche mit schwindelerregender Fahrt. Ein Regenschauer trieb vorbei, und aus dem Dunkel tauchte das Boot dicht neben uns auf.

»Hart Steuerbord!« rief Wolf Larsen und sprang selbst ans Rad, um es herumzuwerfen.

Wieder jagte die ›Ghost‹ mit dem Wind um die Wette dahin, und zwei Stunden lang folgten Johnson und Leach uns. Wir drehten bei und liefen fort, drehten bei und liefen fort, und immer noch stieg das kämpfende Segel himmelwärts und stürzte in die vorbeischießenden Täler. Eine Viertelmeile von uns entzog eine dichte Regenbö das Boot unsern Blicken. Es kam nie wieder zum Vorschein. Der Wind verwehte den Regen, aber kein Segel zeigte sich auf der bewegten Fläche. Einen Augenblick glaubte ich, den schwarzen Boden des Bootes sich von dem Gischt einer brechenden Welle abheben zu sehen. Das war alles. Für Johnson und Leach war der Kampf ums Dasein beendet.

Die Mannschaft blieb in einer Gruppe mittschiffs stehen. Keiner ging nach unten, und keiner sprach ein Wort. Nicht einmal Blicke wurden getauscht. Alle schienen wie betäubt – sie standen in Betrachtungen versunken da und versuchten, sich das Geschehene klarzumachen. Wolf Larsen ließ ihnen indessen nicht viel Zeit zum Nachdenken. Er setzte die ›Ghost‹ in den Kurs auf die Robbenherden und nicht nach Yokohama. Aber die Leute hatten ihren Eifer beim Hahlen und Fieren verloren, und ich hörte manchen Fluch, der ihren Lippen entschlüpfte, schwer und dumpf wie sie selbst. Nicht so die Jäger. Smoke, der Unbezähmbare, erzählte eine Geschichte, und unter schallendem Gelächter begaben sie sich ins Zwischendeck.

Als ich auf der Leeseite nach achtern ging, näherte sich mir der Maschinist, den wir gerettet hatten. Sein Gesicht war weiß, und seine Lippen zitterten.

»Großer Gott, was ist das für ein Fahrzeug?« rief er.

»Sie haben ja selbst Augen im Kopf«, antwortete ich fast brutal, so sehr schnürten Schmerz und Furcht mir das Herz zusammen.

»Ihr Versprechen?« fragte ich Wolf Larsen.

»Ich dachte gar nicht daran, sie an Bord zu nehmen, als ich es gab«, erwiderte er. »Und was auch geschehen ist, so werden Sie mir jedenfalls zugeben, daß ich nicht Hand an sie gelegt habe . . . Im Gegenteil, im Gegenteil«, lachte er einen Augenblick später.

Ich antwortete nicht. Ich war unfähig, zu sprechen, mein Geist war verwirrt. Ich wußte, daß ich Zeit brauchte, um über das Geschehene nachzudenken. Die Frau, die jetzt unten in der Kajüte schlief, bürdete mir eine Verantwortung auf, die mir schwer aufs Herz fiel, und der einzige vernünftige Gedanke, der mir durchs Hirn flackerte, war, daß ich nichts übereilen durfte, wenn ich ihr überhaupt eine Hilfe sein wollte.


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