Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10.

Der Tag war gekommen, an dem die Abgesandten der fremden Niederlassung Herrn Büchner den angekündigten feierlichen Besuch machen wollten. Edith hatte alles darauf vorbereitet. Der hübsche Speisesaal zu ebener Erde, das größte Gemach des Hauses, war überfüllt mit Blumen und Ehrenkränzen, die von den ehemaligen Freunden und Genossen Büchners als ein ferneres Zeichen der Teilnahme an dessen Geschick seit frühem Morgen eingetroffen waren. Der lange Holländer hatte es sich ruhig gefallen lassen, daß man ihm statt des gewöhnlichen bequemen Hausanzuges seine besten Kleider hingelegt, und er hatte sie, ohne eine Bemerkung zu machen, angezogen. – Mit dem Glockenschlage zwölf erschienen die Abgeordneten in schwarzen Fräcken, mit weißen Binden und den sonst nur bei Hochzeiten und Leichenbegängnissen gebräuchlichen hohen Hüten. An ihrer Spitze ging Francis Morrisson, der unter dem Arm ein großes Portefeuille aus rotem Leder trug. Sie stellten sich in feierlicher Ordnung an dem einen Ende des Saales auf und beschieden sodann den chinesischen Diener, der sie mit stummer Verwunderung beobachtet hatte, Herrn und Frau Büchner zu bedeuten, daß man sie erwarte. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und Büchner, von seiner in weiß gekleideten Frau gefolgt, trat in das Zimmer. Er blieb einen Augenblick an der Schwelle stehen, verneigte sich tief und sagte leise, doch so, daß es alle verstehen konnten:

»Ich danke Ihnen, meine Herren, für die große Ehre, die Sie mir erweisen.«

Darauf näherte er sich der Gruppe der Abgesandten und reichte einem jeden, Rawlston mit inbegriffen, die Hand, die sie alle herzlich drückten und schüttelten. Sodann gesellte er sich wieder zu seiner Frau, die in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war und dem Auftritt mit einem Gemisch von Rührung, Freude und Stolz beigewohnt hatte. Und nun trat Herr Francis Morrisson mit dem großen roten Portefeuille vor. Er öffnete es, – und man sah, daß es, gleich einem Brautgeschenk, mit blendend weißem Atlas gefüttert war, – entfaltete einen beschriebenen Bogen, der darin lag, räusperte sich und begann mit lauter, fester Stimme eine Adresse an Herrn Georg Büchner zu lesen. In wohltönenden, sorgfältig gewählten Ausdrücken war darin gesagt, daß Büchner von einem großen Unglück heimgesucht worden sei, daß er es mit männlichem Mut, ohne ein Wort der Klage ertragen und in seiner Gattin, einem Vorbilde aller edlen Frauen, eine mutige Gefährtin gefunden, die in unwandelbarer Treue an seiner Seite gestanden habe; der gütigen Vorsehung sei es zu danken, daß das Unglück, unter dem Büchner Unverdientes erduldet, sich nunmehr von ihm abgewandt habe. Deß müsse sich jeder Gute freuen, deß' freue sich die gesamte Kolonie, und als einen Ausdruck dieser herzlichen Teilnahme überreiche sie Herrn Büchner hiermit eine Ehrengabe, die er zu empfangen gebeten werde, »für sich und die Seinen als ein dauerndes Zeichen der Liebe und Achtung seiner Mitbürger.«

Frau Edith rannen die Tränen – Tränen des Glücks, über die Wangen; die ganze Versammlung – und es befanden sich darunter einige recht rauhe Männer – war sichtlich ergriffen. – Und Büchner? Er lauschte der Rede starr und stumm, aber er verstand die Worte nicht. Er begriff nur, daß man ihm Wohlwollen bezeigte, und er empfand, daß er sich dessen nicht mehr freuen konnte. Unwiderstehlich wie die Flut drang der Jammer über sein Elend auf ihn ein und bemächtigte sich seines ganzen Wesens. Die letzten Jahre der Einsamkeit zogen vor seinem Geiste vorüber. Er sah sich verachtet, ausgestoßen von der Gesellschaft, des Diebstahls verdächtig, ein Trinker, er sah sein düsteres, kaltes Heim, das selbst die lichte Erscheinung Ediths nicht zu erleuchten und zu erwärmen vermocht hatte, er sah, wie sie an seiner Seite freudenlos dahinwelkte, und er sah den Urheber all seines Elends, Prati, den ängstlichen Freund – und er zürnte ihm nicht. Sein Glück war dahin; das, was man ihm jetzt bot, machte es nicht wieder erstehen. Sie kamen zu spät mit ihren Glückwünschen und mit ihrem Troste. Was kümmerte ihn jetzt noch Anerkennung? Er hatte abgerechnet mit allem. Er war fertig mit dem Glück, mit der Hoffnung und mit dem Leben!

Morrisson hatte geendet und legte das geschlossene Portefeuille auf den Tisch. – Büchner wollte sprechen, danken. Die Stimme versagte ihm. Wie ein Greis bewegte er den Kopf leise hin und her, und einem gänzlich Hilflosen gleich erhob er zitternd beide Hände. Ein rauher Laut – ein Seufzer, ein Stöhnen – entrang sich seiner Brust. Noch einmal richtete er einen trostlosen Blick auf alle, die gekommen waren, ihn zu erfreuen; darauf wandte er sich langsam ab und schritt der Tür zu. Dort blieb er einige Sekunden stehen: seine Lippen bewegten sich, aber man vernahm nicht, was er sprach – und dann war er gegangen.

Edith eilte ihm nach, nicht, ohne einem jeden der Anwesenden die Hand gedrückt zu haben. »Die Freude hat ihn überwältigt,« wiederholte sie dabei verwirrt. – »Sehr erklärlich, sehr natürlich,« erwiderten die Gäste, »er ist nicht mehr an Freude gewöhnt. Grüßen Sie ihn herzlich! Wir hoffen, Sie und ihn bald wiederzusehen.«

Sie entfernten sich höchlichst befriedigt mit der Art, wie sie ihren Auftrag ausgeführt hatten, und mit dem tiefen Eindruck, den dies auf den langen Holländer gemacht zu haben schien. Sie wußten plötzlich alle, daß er seit Jahr und Tag das Trinken aufgegeben hatte.

»Wie die kleine Frau an ihm hängt – er muß ein edler Mann sein – eine Seele von Mensch – nun wird er bald wieder der Alte sein – ich freue mich schon darauf, ihn im Klub und auf der Kegelbahn zu sehen. – Es müßte ihm dort ein feierlicher Empfang bereitet werden.« – Dieser Vorschlag fand begeisterte Zustimmung: ein silberner Pokal sollte ausgeschoben und es dabei so eingerichtet werden, daß Büchner ihn gewinnen müsse. Diese Frage beschäftigte die Mehrzahl der Abgesandten auf dem Heimwege.

Ich befand mich während der ganzen Zeit in Schanghai und hatte Büchner oftmals gesehen. Er fühlte sich zu mir hingezogen – das kann ich mir nachsagen, ohne mich zu rühmen; denn wenn ich einmal einen Tag hatte vorübergehen lassen, ohne bei ihm vorzusprechen, so besuchte er mich an Bord der »Aurora Belisle«, während er sonst doch nicht gern zu irgend jemand ging. Ich glaube deshalb auch, daß ich seinem Herzen näher stand als seine alten Bekannten in Schanghai. – Weshalb? – Vielleicht weil ich ihm von Anfang an vertrauensvoll entgegengetreten war, sodann, weil ihm die schöne Reise, die wir von Yokohama nach Schanghai zusammen gemacht hatten, in guter Erinnerung geblieben sein mochte, und endlich – Sie dürfen dies nicht für eine Eitelkeit halten – weil ihm das ruhige Wesen des alten Seemanns vielleicht besser gefiel als die laute Zutraulichkeit der Leute auf dem Lande. Denn ich bin schweigsam – wenn ich nicht spreche. Sie verstehen, was ich sagen will: ich kann lange Geschichten erzählen und tue es ganz gern; aber wenn ich nichts zu sagen habe, so verhalte ich mich ruhig. Ich störe nicht leicht jemand durch mein Sprechen. – Büchner fühlte sich bei mir willkommen und unbeobachtet. Manchmal kam er an Bord und sagte: »Guten Tag!« und ging dann nach hinten, wo er sich niederlegte, mit dem Kopf auf die Schiffswand, um den Wussong vorüberfließen zu sehen. Er hatte eine eigentümliche Zuneigung zu dem Strome gefaßt. – Nach einer Stunde sagte er: »Auf Wiedersehen!« Und die vier Worte waren alles, was ich während seines Besuches von ihm gehört hatte. – Ein anderes Mal war er gesprächiger. Das heißt nach seiner Art: hier und da einige Worte, die ich mir dann am Abend, wenn ich auf dem Deck spazieren ging, zusammenreimen mußte, um sie zu verstehen. Das Auffallendste an ihm in der letzten Zeit war das ewige Nachdenken und Grübeln, und ich fand heraus, daß seine Gedanken sich unausgesetzt mit seiner Frau, seinem verstorbenen Freunde und auch mit Francis Morrisson beschäftigten. Seine Frau beklagte er: sie führe an seiner Seite ein freudenloses Dasein, und das könne nie besser werden, so lange er lebe; Morrisson nannte er häufig »den liebenswürdigen Herrn Morrisson«; aber es klang nicht freundlich in seinem Munde, und das fiel mir auf, denn es war nicht seine Art, sich über andere unfreundlich oder spöttisch zu äußern; von Prati sprach er nie anders als von seinem Freunde: »Er war für andere ein schlechter Mensch, aber für mich war er gut,« sagte er. »Alle dürfen ihn verachten – auch Edith – aber ich kann es nicht und will es nicht!« Die letzten Worte: »Ich will es nicht« wiederholte er mehrere Male mit besonderem Nachdruck, gleichsam, als weise er eine an ihn gerichtete Zumutung zurück. – Ich habe mir gedacht, daß über diesen Punkt zwischen ihm und seiner Frau Meinungsverschiedenheiten bestanden, die gelegentlich zu unerfreulichem Wortwechsel führen mochten.

Am Tage meiner Abreise von Schanghai, eine Woche etwa, nachdem Büchner die Ehrengabe der Kolonie überbracht worden war, kam er in der Dämmerung an Bord. Ich hatte mich bereits von ihm und seiner Frau verabschiedet; aber es freute mich, ihn noch einmal zu sehen, und ich hieß ihn an der Treppe willkommen.

»Weshalb haben Sie keinen Sampan (chinesisches Boot) genommen?« fragte ich. »Die Ebbe läuft heute stark. Ihr Ausleger ist in solchem Wasser gefährlich.«

»Nein, das kennt mich,« antwortete er.

Er schwang sich an Bord, nachdem er sein Fahrzeug an der Treppe befestigt hatte.

»Ich wollte Ihnen noch einmal Lebewohl sagen, Kapitän.« Er blickte nach dem grauen Novemberhimmel. »Sie werden Wind bekommen,« fuhr er fort, und dann, auf den Wussong deutend, der zischend und gurgelnd an der Schiffswand vorüberzog: »Wie er singt und ruft!«

Nachdem er einige Minuten gleichgültig die Vorbereitungen zur Abreise, die an Bord getroffen wurden, beobachtet hatte, zog er die schwere Jacke aus, mit der er gekommen war, und legte sie, nach Matrosenart sorgfältig gefaltet, in ein kleines Paket zusammen.

»Was machen Sie?« fragte ich.

»Ich mache es mir bequem. Ich will noch eine Spazierfahrt unternehmen und will in meinen Bewegungen nicht beengt sein.«

Er schwenkte die langen Arme hin und her, als versuche er, ob sie auch gut in den Gelenken arbeiteten.

»Sie würden besser tun, nach Hause zu fahren,« sagte ich; »in einer Stunde haben wir dunkle Nacht.«

»In einer Stunde bin ich zu Hause,« antwortete er leise und nachdenklich. – Er zauderte noch einige Sekunden, endlich sagte er: »Es muß geschieden sein. Also noch einmal, leben sie wohl, Kapitän, und bewahren sie mir ein gutes Andenken!« – Er stieg behende die Treppe hinab, nahm mit Sicherheit in dem schwankenden Fahrzeuge Platz, löste das Tau und stieß ab. Ein einziger Ruderschlag brachte ihn hinter das Schiff. Ich sah ihm nach, sein Gesicht war mir zugewandt; aber er blickte nicht wieder auf. Es war ein Antlitz so starr und kalt wie das eines Toten. – Er spielte anfänglich mehr mit den Rudern, als daß er arbeitete, und bog langsam nach dem entgegengesetzten Ufer ab. – Herr Boswell, der Steuermann, hatte sich zu mir gesellt.

»Herr Büchner sollte sich mit dem kleinen Ding nicht zu breit vor den Strom legen,« sagte er.

Es war, als ob der lange Holländer es vernommen hätte, denn in demselben Augenblick schlug er mit dem einen Ruder kräftig ein: das Boot machte eine viertel Wendung und lag gerade mit der vollen Strömung. Und nun begann Büchner wirklich zu arbeiten. Wie ein großer Pendel schwang der lange Körper vor- und rückwärts. Ich erkannte an der regelmäßigen Geschwindigkeit und dem großen Umfang der Bewegungen, daß Büchner sich, weit ausgreifend, mit der ganzen Kraft seines schweren Körpers auf die Riemen legte.

»Wenn Herr Büchner noch zehn Minuten so weiter fährt, so gebraucht er eine Stunde, um zurückzukommen,« bemerkte der Steuermann. Er setzte das Glas, das er in der Hand hielt, ans Auge und beobachtete den Davoneilenden etwa eine halbe Minute lang; dann reichte er mir das Instrument, ohne ein Wort zu sagen.

Büchner war bereits über »Sutschau-Creek« hinaus und näherte sich dem Ausgang des Hafens.

»Mein Boot,« rief ich, »und die vier besten Männer!«

Jedermann verstand, was es galt. Eine Minute später hielt ich das Steuerruder der Gig: »Nun, Leute! Euer Bestes!«

Alle hatten sie den langen Holländer lieb gewonnen, wennschon der stille Passagier kaum je mit einem von ihnen gesprochen hatte. Wir flogen durch die Bai. Das kleine Fahrzeug erbebte bei jedem Ruderschlag. Von den Schiffen aus, an denen wir vorbeifuhren, blickte man uns nach. Man meinte wohl, wir liefen ein Rennen gegen Zeit. Aber so hatten meine Leute noch in keiner Regatta gearbeitet. – Jetzt waren wir an Sutschau-Creek vorüber. In weiter Entfernung sah ich den Ausleger, und durch das Glas konnte ich erkennen, daß der lange Holländer noch immer mit voller Kraft ruderte. Der eine und der andere meiner Leute versuchte, sich nach ihm umzudrehen – aber die schwere, schnelle Arbeit gestattete es nicht.

»Nun, Kapitän?« fragte der Mann am Schlagruder.

»Vorwärts, Männer! Ich sehe ihn.«

Und die Schwingungen der Leute über den Riemen wurden noch weiter und schneller. Es war ein kalter Abend – aber der Schweiß rann ihnen von den Stirnen.

Die Entfernung zwischen uns und dem Ausleger verringerte sich. Ich zog ein Tuch aus der Tasche und stand auf und winkte damit. Ich sah durch das Glas. – Richtig! Er hatte die Riemen gehoben und ließ sich vom Strome treiben.

Ich gab das Signal: »Eins, zwei, drei: Hurra!« und noch einmal: »Eins, zwei, drei: Hurra!« riefen wir fünf wie aus einer Kehle.

Der Wind trug den Schall zu dem Flüchtigen. Aber der hatte wieder die Ruder ergriffen, und sein Fahrzeug flog vor uns dahin. – Die Jagd hatte schon über eine halbe Stunde gedauert. – »Vorwärts, Leute! Mut!« – Sie keuchten schwer, aber arbeiteten tapfer weiter. Die Nacht brach schnell herein. – Kaum konnte ich das Boot vor mir noch auf dem grauen Wasser unterscheiden. – »Was ist das?« – Ich suchte es mit dem Glase – da schwamm es – leer! Nach wenigen Minuten lagen wir daneben.

Die Leute beugten die Köpfe bis dicht über das Wasser und sahen scharf aus nach allen Richtungen; nirgends eine Spur vom langen Holländer. Im Boote fanden wir seinen Hut und die sorgfältig zusammengelegte Jacke. Wir suchten, das Wasser noch eine halbe Stunde lang ab. Da war es dunkle Nacht geworden, und wir mußten die Rückfahrt antreten. Bald darauf ging der Mond auf, und es wurde wieder heller. Auf halbem Wege, den Strom hinauf, kam uns eine dunkle Masse entgegengeschwommen: die »Aurora Belisle«. Boswell hatte schon vom Deck aus gesehen, daß wir fünf Mann an Bord der Gig waren; und als auch der leere Ausleger aufgezogen wurde, da brauchte ich ihm nicht erst zu sagen, was vorgefallen war.

Am nächsten Morgen begegneten wir, noch im Fluß, einer Bark, die nach Schanghai ging. Der gab ich einen Brief für Frau Onslow mit. An Frau Edith zu schreiben, hatte ich nicht den Mut.

Wir bekamen schlechtes Wetter und machten eine lange Reise bis Hongkong. Bei meinem dortigen Agenten fand ich von Frau Onslow einen Brief, der mir den Jammer ihrer Freundin erzählte. Die Leiche Büchners war nicht gefunden worden. Sein Freund, der Wussong, hatte sie hinausgetragen in das graue Meer.

Ich kehrte damals nicht nach Schanghai zurück, da ich Fracht für London bekam und im Dezember nach dort absegelte. Ich war jedoch mit Frau Onslow in Verbindung geblieben und erfuhr durch diese im Laufe der Zeit, Edith habe ein ganzes Jahr in vollständiger Zurückgezogenheit verbracht: den Verstorbenen beweinend, ihrem Schmerze allein lebend, ohne Trost zu suchen, ja zunächst ohne Trost empfangen zu wollen. Aber der friedliche Bote hatte nicht allzu lange vergeblich an das junge Herz geklopft. Ungefähr zwei Jahre, nachdem ich Schanghai verlassen hatte, schrieb mir Frau Onslow, Edith habe endlich dem langen, treuen werben Francis Morrissons nachgegeben und sich mit diesem vermählt. »Jedermann,« so schloß der Brief, »wünscht ihr von Herzen, sie möge an seiner Seite das Glück finden, das sie durch ihre treue Liebe für unsern armen verstorbenen Freund, nach dem schweren Trübsal, das sie erduldet, so reichlich verdient hat. Aber sie sieht noch nicht glücklich aus, wenn sie auch wieder ruhig und freundlich geworden ist und von ihrer Menschenscheu geheilt erscheint. Sie würden in der stillen Frau mit den ernsten Augen die lachende Edith Rawlston kaum wiedererkennen. – Und wissen Sie, Kapitän, was sie am meisten zu Francis Morrisson hingezogen hat? – Daß er Georgs Freund im Unglück war, daß er stets an seine Unschuld glaubte, daß er den Armen in seinem Elend bemitleidete und ihm hilfreich zur Seite stand. Das hat ihn der guten kleinen Frau teuer gemacht, das hat sie ihm nie vergessen, das allein war es, was ihm zuerst die Türen des Hauses wieder öffnete, die, nach Büchners Tode, außer für ihren Bruder und für mich, ein Jahr lang jedermann verschlossen blieben. – Als ich erkannte, wie die Sachen lagen, daß Francis Morrisson Edith liebte, daß es der Zweck seines Lebens sein würde, sie glücklich zu machen, da habe ich getan, was in meinen Kräften stand, um die Trauernde dem neuen Werben zuzuneigen. Es ist mir endlich gelungen – und ich glaube damit ein gutes Werk getan zu haben.«

Der nächste Sommer brachte mich wieder nach Schanghai. Aber meine Freunde Morrisson und Onslow waren vor der Hitze nach Chefoo im Norden entflohen, wohin ich ihnen nicht folgen konnte.

Eines Tages machte ich dem Kirchhof meinen Besuch. Ich tue dies jedesmal, wenn ich nach Schanghai komme. Früher kannte ich dort niemand; heute ruht dort so mancher, den ich im Leben lieb gehabt habe. Ich suchte nicht nach Büchners letzter Ruhestätte, denn ich wußte, ich würde sie nicht finden können. Aber als ich durch die stillen Reihen schritt, fiel mein Blick auf ein mit frischen Blumen bedecktes Grab: darauf stand ein Kreuz aus schwarzem Marmor. – Der Stein trug ein Datum – aber keinen Namen.

Ich blieb sinnend stehen. – Wie kam das Grab eines Namenlosen zu solch liebevollem Blumenschmuck? Da erblickte ich den Totengräber und winkte ihm herbei.

»Wer ruht in diesem Grabe?« fragte ich.

»Ein Fremder, ein Italiener, so hat man mir gesagt.«

»Und wer sorgt für das Grab?«

»Frau Francis Morrisson. Augenblicklich bin ich damit beauftragt, da sie verreist ist. Der Fremde hier soll eines Herrn Büchner, des ersten Mannes von Frau Morrisson, treuer Freund gewesen sein; aber Herr Büchner hat auf diesem Friedhof keine Stätte, und so kommt die Frau und betet am Grabe des Fremden, als wie an dem ihres verstorbenen Mannes. Eine treue Frau – und eine mildtätige Frau. – Gott segne sie!«

Dazu sagte ich »Ja und Amen!«


 << zurück weiter >>