Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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4.

Der verhängnisvolle Tag war gekommen, und Büchner stand vor den Schranken des Gerichts, das über sein Schicksal entscheiden sollte. Sein Äußeres machte einen günstigen Eindruck. Seine Kleider saßen zwar etwas schlotterig auf dem abgemagerten Körper, aber es waren die Kleider eines Mannes aus der guten Gesellschaft; und daß Büchner dazu gehörte, das sah man sofort. Er trat ohne Ängstlichkeit und ohne Übermut auf: bescheiden und ernst. Das Gesicht war blaß, der Mund fest geschlossen, und die großen Augen hatten einen traurigen und gleichzeitig unverzagten Blick. Der Mann sah sicherlich nicht wie ein gemeiner Verbrecher aus! – Das hatte sich schon der Untersuchungsrichter gesagt, und in den Akten war von der guten Haltung des Angeklagten während des Verhörs gesprochen; das sagten sich jetzt auch die Mitglieder des Gerichtshofes, als sie in den öden Saal traten. – Derselbe war nämlich ganz leer. Die Freunde und Bekannten Büchners hatten untereinander verabredet, keiner sollte den Gerichtsverhandlungen beiwohnen. Sie wollten Büchner ersparen, in einer so bedrängten Lage von denjenigen gesehen zu werden, mit denen er jahrelang frei und freundschaftlich verkehrt hatte und hoffentlich bald wieder verkehren würde. Nur in einer Ecke des Zuschauerraumes saß ein einzelner Herr, der sich so klein wie möglich machte, den bebrillten Kopf tief gebeugt hielt und eifrig schrieb: der Berichterstatter des »North China Herald«.

Das Verlesen der Anklageschrift, das Verhör des Angeklagten, das Vernehmen der Zeugen, die Reden des öffentlichen Anklägers und des Verteidigers, die Darlegung des ganzen Falles durch den Präsidenten endlich: alles dies nahm viel Zeit in Anspruch. Das Verfahren hatte um zehn Uhr begonnen – nun war es ein Uhr. Büchner sah zum Erbarmen aus: totenblaß mit fieberhaft leuchtenden Augen. – Der öffentliche Ankläger war sehr gelinde mit ihm umgegangen, aber der Präsident hatte gewissenhaft seine Pflicht erfüllt, ohne jede Voreingenommenheit alles abzuwägen, was für und gegen die Anklage sprach, und dabei hatte sich Büchner eigentlich zum ersten Male klar gemacht, wie schwer, ja wie berechtigt der Verdacht sei, der auf ihm lastete. Seine Freunde, Prati besonders, hatten seine Unschuld als etwas so Selbstverständliches behandelt, daß auch er schließlich dazu gekommen war, seine Freisprechung als zweifellos zu betrachten. Bei der kalten, geschäftsmäßigen Zusammenstellung aller Momente, die dafür sprachen, daß Büchner der Dieb sei, überlief es ihn kalt. Wie, wenn er schuldig befunden würde, schuldig eines Diebstahls? – Er konnte den Gedanken nicht ausdenken; er war zu schrecklich. Es summte ihm in den Ohren, es schwirrte ihm vor den Augen. Er schloß die Lider, und da erhob sich dicht vor ihm und schwebte auf und nieder der in Phosphorlicht bläulich leuchtende Stern, zu dem er wochenlang allnächtlich emporgeblickt hatte, und seine Ohren vernahmen das Vorbeirauschen des dunklen Wussong, der sich zu seinen Füßen dem unermeßlichen Meere zuwälzte. – Das schimmernde Licht erblaßte, das summende Getöse verstummte: es wurde schwarz und still um ihn her. Er saß noch eine Weile, deren Dauer er nicht mehr ermessen konnte, mit geschlossenen Augen. Endlich schlug er sie wieder auf. Vor ihm stand sein Rechtsanwalt mit einem feuchten Taschentuch in der Hand, das nach Äther roch. – Büchner fühlte eine erfrischende Kühle an den Schläfen. Er blickte langsam, blöde um sich. Der Saal war leer, der Gerichtshof hatte sich zurückgezogen.

»Fassen Sie sich, Herr Büchner, haben Sie guten Mut!« sagte der Advokat.

Gleich darauf öffnete sich eine Tür vor ihm, und die Richter erschienen wieder.

»Nichtschuldig!«

Mehr hörte er nicht. Er nahm alle Kraft, die er besaß, zusammen. Er wollte sich nicht ein zweites Mal schwach zeigen. »Ein Glas Brandy,« murmelte er. Der Advokat nahm ihn am Arm und führte ihn aus dem Gerichtssaal ins Freie.

Dort sah er sich plötzlich von einer jubelnden Menge umringt: »Hurra für den alten Büchner!« Zwanzig Hände streckten sich ihm entgegen, Prati, der erregbare Südländer, weinte laut und sprach in seiner Aufregung italienisch. In der ganzen Versammlung war nur ein Gesicht, das nicht freudig bewegt war: das des Freigesprochenen. Dieser blickte stumm und anscheinend teilnahmlos um sich und sagte endlich leise: »Bitte, meinen Chair«. Der Tragstuhl war sogleich bereit, und die vier starken Kulis trabten mit ihrer Last davon.

»Wohin, Master?«

»Zu Frau Onslow!«

Als er durch den Garten getragen wurde, der vor Frau Onslows Hause lag, erblickte er auf der Veranda die lichte Gestalt Ediths. Sie eilte ihm entgegen, aber einige Schritte vor ihm blieb sie stehen und wurde so bleich wie er.

»O Georg, o Georg! Ist es möglich? Sprich! Sag', daß ich mich irre!«

Aber er konnte nicht sprechen, es war ihm, als müsse er ersticken. – »Meine Edith, meine einzig geliebte, gute, arme Edith!« brachte er endlich hervor. Da brach das Mädchen mit einem leisen Aufschrei zusammen. Ihre Ohnmacht gab ihm seine Kraft wieder. Er nahm sie und trug sie auf die Veranda, und in demselben Augenblick erschien bei Frau Onslow.

»Freigesprochen!« sagte Büchner kurz, und dann bemühte er sich mit Frau Onslow um die Ohnmächtige.

»Lassen Sie uns einen Augenblick allein,« sagte diese ruhig! »das wird schnell vorübergehen. – Rufen Sie das Kammermädchen: sie soll kaltes Wasser und Eau de Cologne bringen.«

Büchner entfernte sich schleunigst und tat, wie ihm geheißen war. Dann sah er am äußersten Ende der Veranda, wie die zwei Frauen mit der Leidenden beschäftigt waren; aber er wagte sich nicht in ihre Nähe. Die Kammerfrau kam und ging. Frau Onslow drehte ihm beharrlich den Rücken und verdeckte mit ihrer breiten Gestalt die vor ihr liegende Edith. Endlich wandte sie sich um, und durch ein freundliches Zeichen des milde lächelnden Hauptes beschied sie Büchner in ihre Nähe. Vor ihm, mit aufgelösten, feuchten Haaren und bleichem Antlitz, aber mit einem Ausdruck innigen Glücks in den großen Augen, lag seine Braut.

»Du böser Mann,« sagte sie, »wie du mich erschreckt hast!«

»Aber womit denn, mein Kind? Ich begreife nicht.«

»Du sahst aus, als ob man dich verurteilt hätte.«

»Um Gotteswillen! Sag' das nicht. – Wie konntest du es nur denken?« Er fuhr schaudernd zusammen.

»Nun ist alles gut. Gib mir deine Hand, mein guter, alter, großer Georg.«

Einen Monat lang schien es, als ob alles gut werden wollte. Büchners Freunde wetteiferten während dieser Zeit miteinander, ihm zu zeigen, daß er ihr Vertrauen nicht verloren habe. Er empfing zahlreiche Einladungen von ihnen, bis bekannt wurde, er fühle sich noch angegriffen von der Aufregung der letzten Wochen und wünsche bis zu seiner Verheiratung zurückgezogen zu leben und nur mit seiner Braut und Frau Onslow zu verkehren. Das fand man in Ordnung und ließ ihn unbehelligt. Der einzige, der sich nicht aus seiner Nähe vertreiben lassen wollte, war Prati, der sich auch mit Frau Onslow befreundet hatte, und der keinen Tag vorübergehen ließ, ohne mit Büchner in dessen oder Frau Onslows Wohnung zusammenzutreffen.

Prati zeigte sich eifrig bemüht, eine Versöhnung zwischen Rawlston und Büchner herbeizuführen. Aber in dieser Beziehung scheiterte alle Beredsamkeit an Büchners entschieden ablehnender Haltung. Hätte sich Edith mit ihm verbunden, so wäre es den beiden vielleicht gelungen, Büchners Starrsinn zu beugen; aber das junge Mädchen stand auf Seite ihres Verlobten. »James hat sich zu schlecht benommen,« sagte sie. – »Es ist unmöglich, daß Georg ihm jetzt schon verzeihe. Heute könnte es sich doch nur um eine Scheinversöhnung handeln. Ich selbst möchte meinem Bruder noch nicht wieder gegenübertreten ... Später vielleicht, aber heute nicht.«

»Aber mein liebes, gnädiges Fräulein, seien Sie doch nicht so hart,« entgegnete Prati. »Dem reuigen Sünder gegenüber soll man Barmherzigkeit üben. Und wenn Sie wüßten, wie reumütig Ihr armer Bruder ist! Sie sind eine gute Schwester! Sehen Sie denn nicht, daß Sie ihn unglücklich machen, daß Sie ihm seine Stellung hier verderben? Denn keiner von Büchners Freunden will mit ihm umgehen, so lange Sie nicht mit ihm verkehren.«

»Das tut mir leid,« antwortete Edith, »aber er hat sich zu schlecht benommen. Bedenken Sie doch, daß er mich gewaltsam von Georg losreißen wollte. Wie konnte er ihn je eines Diebstahls für fähig halten! – Nein, es geht wirklich nicht! Wir können vorläufig nicht zusammentreffen.«

»Und der Brief, den er an den Untersuchungsrichter geschrieben hat? Zeigt er nicht deutlich, was er von Büchner stets gehalten?«

»Lieber Herr Prati, lassen wir das! Sie haben die besten Absichten. Ich bin Ihnen dankbar für alle Freundschaft, die Sie uns in dieser schweren Zeit erwiesen haben und noch erweisen möchten. Ich bin Ihnen auch für Ihre Freundschaft zu meinem Bruder dankbar. Aber alles, was Sie sagen und tun könnten, macht nicht ungeschehen, daß James mir ins Gesicht gesagt hat, Georg sei ein Dieb. Ich wünschte, der Tag möchte bald kommen, wo ich das vergessen habe; heute wäre es mir unmöglich, nicht daran zu denken, wenn ich ihn sähe, und solange ich dies fühle, ist es besser, wir gehen ein jeder unsere eigenen Wege.«

Rawlston fühlte sich so unglücklich über die Wendung, welche die Dinge genommen hatten, daß er eines Tages den Entschluß faßte, China auf längere Zeit zu verlassen. Es schmerzte ihn, daß er an dem Tage der Verheiratung seiner Schwester in Schanghai sein sollte, ohne der Vermählung beizuwohnen, und er bereitete sich darauf vor, nach Amerika abzusegeln. Dort und in Europa wollte er ein Jahr oder länger verweilen, während seiner Abwesenheit überließ er seinen Vertrauensmännern, den Herren Wallice und Prati, die Leitung des Geschäfts. Er wußte, daß er sich auf die Sachkenntnis, Vorsicht und Ehrlichkeit dieser bewährten Diener seines Hauses vollständig verlassen konnte. Zwei Tage vor der Abreise schrieb er einen herzlichen Brief an Edith. Er sagte darin, er wäre sich nicht bewußt, ihr ein Unrecht zugefügt zu haben. Was er getan, das sei aus Liebe für sie, aus Furcht, sie könne unglücklich werden, geschehen. Wenn er sie dadurch beleidigt habe, so betrübe ihn das in tiefster Seele, denn es lebe niemand auf der Welt, der ihm seine Schwester je ersetzen könnte; sie werde in ihm stets einen treuen Bruder finden, und er bäte sie, ihm eine gute Schwester zu bleiben.

In der Dunkelheit ließ sich Edith durch Frau Onslow zu ihrem Bruder begleiten. Tief verschleiert, so daß sie von den Dienern nicht erkannt wurde, betrat sie sein Zimmer, während Frau Onslow in einem Nebengemach auf sie wartete. Sie fiel ihm um den Hals und sagte:

»Nur wenige Worte, James. Zwischen uns beiden kann kein Haß leben. Ich bin und bleibe deine treue Schwester. Aber das darf heute niemand wissen als du und ich und Frau Onslow. Lebe wohl! Auf Wiedersehen! Möge es dir nur gut gehen!«

»Ein Wort, Edith,« sagte Rawlston.

»Nein, James, laß mir meinen Frieden! Es ist unrecht von mir, daß ich ohne Georgs Erlaubnis zu dir gekommen bin. Aber ich konnte nicht anders: es war mir unmöglich, dich scheiden zu sehen, ohne mich mit dir versöhnt zu haben. Aber weiteres Unrecht will ich nicht tun. Also lebe wohl, mein lieber, lieber Bruder!« – Sie umarmte ihn noch einmal, »schreibe an Georg, aber sprich nicht von unserer Zusammenkunft!« Und gleich darauf war sie verschwunden. – Der Auftritt hatte kaum zwei Minuten gedauert.

Zwei Tage später brachte Prati dem langen Holländer einen Brief. Dieser erkannte auf dem Umschlag die Handschrift Rawlstons und behielt das Schriftstück unentschlossen in der Hand, die leise zitterte.

»Nun, lesen Sie nur! Unangenehmes enthält das Schreiben nicht, soviel ist gewiß. Rawlston ist heute früh nach Kalifornien abgesegelt.«

Darauf erbrach Büchner den Brief. Er enthielt folgende Zeilen:

»Geehrter Herr! Ich will Schanghai nicht verlassen, ohne Ihnen zu Ihrer bevorstehenden Vermählung mit meiner Schwester meine Glückwünsche darzubringen. Das Schicksal hat Sie in letzter Zeit hart verfolgt; aber indem es Ihnen die Liebe Edith Rawlstons gab, war es gütig für Sie, und dessen freue ich mich. – Glauben Sie an meine unveränderliche freundschaftliche Gesinnung. –

Aufrichtig der Ihrige

J. R.«

In Büchners Gesicht bewegte sich während des Lesens dieses Briefes kein Muskel, Prati, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, schien etwas anderes erwartet zu haben und sagte verdrießlich:

»Es ist wirklich nicht leicht, Sie zufrieden zu stellen.«

Büchner sah seinen Freund eine Weile groß und stumm, abwesenden Blickes an, dann erwiderte er leise: »Es kann nie wieder gut werden.« Darauf fuhr er, wie im Selbstgespräch, fort: »Heute Nacht träumte mir, ich sei verurteilt worden und säße im Gefängnis. Das war nicht schlimmer, als was da ist.– Am liebsten wäre ich ganz allein, weit von hier und sähe niemand, der mich kennt.«

»Wie können Sie so undankbar und ungerecht sein! Auch Edith Rawlston möchten sie nicht mehr sehen?«

»Es wäre besser für sie, ich sähe auch sie nicht wieder,« sprach er finster.

Er erhob sich langsam, strich sich mit der Hand über die heiße Stirn und näherte sich dem Tisch, auf dem eine Flasche stand. Prati folgte seinen Bewegungen mit aufmerksamen Blicken. – Der lange Holländer nahm wieder einmal eine starke Dosis der von ihm beliebten Medizin gegen Unruhe und Traurigkeit.

»Sie trinken reinen Brandy bei dem heißen Wetter?« bemerkte Prati. »Tun Sie das nicht; Sie schaden Ihrer Gesundheit. Ich trinke nie etwas Aufregenderes als Rotwein und Wasser.«

Büchner hatte das Glas bedächtig geleert und atmete befriedigt auf. »Ich trinke auch nichts Aufregendes, lieber Freund,« sagte er in freundlichem Tone – »Beruhigendes!«

»Aber Brandy kann Sie doch nicht beruhigen!« Der andere nickte verschiedene Male und blinzelte dabei verständnisvoll mit den Augen, worauf Prati sich mit sorgenschwerem Gesicht entfernte. – Die Zuneigung, die der Italiener zu dem langen Holländer gefaßt hatte, war geradezu rührend, und dabei war Prati nicht etwa ein Mensch, der sein Herz auf der Hand jedermann entgegentrug: er erschien im Gegenteil als ein recht zurückhaltender kleiner Mann, der wohl wegen seiner Höflichkeit und Gefälligkeit beliebt war, aber früher keinen vertrauten Freund im ganzen »Settlement« besessen hatte.

Wenige Tage später fand die Vermählung zwischen Edith Rawlston und Georg Büchner in Frau Onslows Hause statt. Auf Büchners Wunsch waren nur wenige Einladungen zu der Feier ausgesandt worden, aber Prati hatte dabei natürlich nicht gefehlt. – Das junge Paar machte eine Hochzeitsreise von vier Wochen nach Nagasacki und kehrte sodann nach Schanghai zurück. Prati und Frau Onslow benutzten diese Zeit, um die neue Wohnung einzurichten, die Büchner in einem stillen Viertel der fremden Niederlassung gemietet hatte. Es war ein hübsches, neues, kleines Haus, das Prati vor etwa sechs Monaten gekauft hatte, und das er seinem Freunde zu einer verhältnismäßig billigen Miete überlassen konnte. Er hatte nämlich mit dem Ankauf des Hauses ein gutes Geschäft gemacht, und es lag ihm besonders daran, einen ordentlichen Mieter dafür zu finden. Er konnte sich deshalb mit einem bescheidenen Zins begnügen. Büchner war mit dieser Anordnung wohl zufrieden, denn er mußte sich zunächst einfach einrichten. Das kleine Vermögen von achttausend Dollars, das er sich erspart hatte, lag auf dem amerikanischen Konsulat »zur freien Verfügung der Herren Rawlston u. Co.«, und er hatte, seitdem er seine alte Stelle verlassen, noch keine Beschäftigung gefunden. Das machte ihm jedoch wenig Sorge, denn er hatte nur zu wählen zwischen einem halben Dutzend guter Anstellungen, die ihm angeboten waren und wußte, daß er jeden Tag mit Leichtigkeit soviel verdienen könnte, wie er gebrauchte, um mit Edith ohne Geldsorgen zu leben. Einstweilen machte er ruhig von dem Kredite Gebrauch, den Prati ihm als etwas ganz Selbstverständliches eröffnet hatte. Alle diejenigen seiner Bekannten, die wohlhabend genug dazu waren, hätten dasselbe getan; denn man war damals in Geldsachen nicht kleinlich in Schanghai, wo das Geschäft blühte und das Geld sozusagen auf der Straße lag. Ediths Mitgift betrug fünfzigtausend Dollars. Sie hatte darüber freie Verfügung, denn dies Geld war ihr Anteil aus der Hinterlassenschaft der verstorbenen Eltern. Büchner hatte mit seiner Braut nie ein Wort über deren Vermögensverhältnisse gewechselt. Erst als es sich darum handelte, den Heiratskontrakt aufzusetzen, kam die Sache zur Sprache. Der amerikanische Konsul, ein scharfer Geschäftsmann, stellte nach kurzer Unterredung mit Büchner und dessen Braut fest, wie die Sachen lagen: Edith besaß, wie gesagt, bare fünfzigtausend Dollars – Büchner schuldete an Prati etwa dreitausend. Das Mißverhältnis war so groß, daß Büchner darüber eine gewisse Beschämung empfand und dem Konsul, der den Heiratskontrakt aufsetzen wollte, errötend sagte, selbstverständlich werde das Vermögen seiner Frau deren Privateigentum bleiben.

»Also keine Gütergemeinschaft?« fragte der Konsul schnell.

»Nein, sicherlich nicht!«

Edith erhob dagegen zunächst lebhaften Einspruch. Der Konsul schwieg dazu und saß, die Augen geschlossen, anscheinend teilnahmlos da, während das junge Mädchen mit Entrüstung den Gedanken zurückwies, daß zwischen ihr und Büchner in Zukunft nicht alles gemeinschaftlich sein sollte. Aber Frau Onslow hatte richtiges Verständnis für die Empfindungen ihres Günstlings und sagte ruhig und ernst: »Edith, du mußt nachgeben, was Herr Büchner vorschlägt, gereicht ihm zur Ehre und ist recht. Erschwere ihm nicht, seine Pflicht zu tun.« Darauf wurde die Angelegenheit so geordnet, wie Büchner es gewünscht hatte. Das junge Ehepaar hätte nun mit den Zinsen der fünfzigtausend Dollars, wenn auch einfach, so doch bequem leben können: denn Edith, die als Mädchen sehr anspruchsvoll gewesen war, schien die bescheidenste Frau werden zu wollen; aber es erhob sich eine neue Schwierigkeit. Das Geld war bei Ediths Bruder, im Hause Rawlston u. Co., niedergelegt, und Büchner weigerte sich, auch nur einen Cent von dem Kapital oder von den Zinsen darauf zu entnehmen. Prati, Herr und Frau Onslow und Edith erklärten das für töricht und redeten sich müde, um Büchner zur Vernunft zu bringen. Aber es zeigte sich bei dieser Gelegenheit zum ersten Male, daß Büchner außerordentlich eigensinnig sein konnte.

»Unter keiner Bedingung darfst du einen Heller von dem Gelde nehmen,« sagte er. »Es ist dies mein ausdrücklicher Wille.«

Und davon war er nicht abzubringen. Ja, er zeigte sich bald so erregt, daß die vier, die auf ihn einredeten, eingeschüchtert wurden und das Gespräch abbrachen.

»Das fehlte gerade noch!« murmelte Büchner ergrimmt vor sich hin. »Ich hoffe imstande zu sein, meine Frau auch ohne das Rawlstonsche Vermögen zu ernähren. Jedenfalls will ich es versuchen und für meine Person lieber Hungers sterben, als das Geld anrühren.«

Edith war einen ganzen Tag über diesen Auftritt unglücklich, wie konnte Georg nur so heftig sein! Er hatte im Zorn gesprochen, und die Blicke, die er auf sie geworfen, waren feindlich gewesen. Aber die Liebe verzeiht alles! – Ja, Georg hatte ganz recht. Edle, männliche Gesinnung machte ihm den Gedanken verhaßt, daß es scheinen könne, er lebe auf Kosten seiner Frau. Es war unrecht gewesen, ihm dies nur einen Augenblick zuzumuten.

Frau Onslow war zu gut, um sich über diese Sinnesänderung von Edith nicht zu freuen. Sie streichelte der schönen, jungen Frau sanft die Wangen und sagte: »Du hast ganz recht: tue und verlange nie etwas, was deines Mannes Stolz verletzen könnte. Er ist in dieser Beziehung krankhaft empfindlich. Dies ist aber kein Unglück, und mit der Zeit wird sich das wieder ändern. Du bist jung und kannst es abwarten.«

Der Auftritt schien bald aus aller Gedächtnis geschwunden zu sein; jedenfalls sprach niemand mehr davon. Einstweilen lebte Büchner von dem Gelde, das Prati unaufgefordert zu seiner Verfügung stellte.

In dem neuen kleinen Büchnerschen Hause sah es, dank Frau Onslows und Pratis Bemühungen, wohnlich und hübsch aus. Büchner besaß von alters her eine gute Einrichtung für zwei Zimmer. Weder er noch Edith waren während der Verlobungszeit in der Stimmung gewesen, die Einkäufe zu machen, welche zur Umwandlung der Junggesellenwirtschaft in eine häusliche Einrichtung für Mann und Frau notwendig waren. Man hatte übrigens damals in Schanghai keine große Wahl. Alle Welt besaß dieselben schwarzen, schweren Kanton-Möbel im Salon, dieselben hellbraunen Ningpo-Betten, Tische und Stühle im Schlafzimmer, und dieselben Pinang-Sessel auf der Veranda. Es handelte sich nur darum, ob man das Allerbeste oder weniger Gutes nehmen wollte. Darüber entschied der Geldbeutel allein, und Büchner hatte sich deshalb damit begnügen können, Prati und Frau Onslaw die Summe zu nennen, die er zu deren Verfügung stellen konnte, um alles anzuschaffen, was noch an Möbeln und Wäsche zur Vervollständigung der Einrichtung gebraucht wurde.

Es war erstaunlich, wie gut Frau Onslow und Prati eine verhältnismäßig geringfügige Summe angewandt hatten, denn es fehlte in der neuen Einrichtung an nichts Notwendigem – und alles Vorhandene war vom Besten. Die Möbel für den Salon, die Prati besorgt hatte, waren zu einem Spottpreise erstanden worden. Im gewöhnlichen Handel wären sie das Doppelte und Dreifache des von Prati dafür gezahlten Preises wert gewesen. Dieser hatte Frau Onslow mitgeteilt, als sie sich bei Ankunft der prächtigen Tische, Schränke und Stühle etwas beunruhigt gezeigt, er habe einen Gelegenheitskauf machen können – bei einem ruinierten Möbelhändler. Frau Onslow war darüber höchlich erfreut und machte dabei die philosophische Bemerkung, daß des einen Unglück oftmals des andern Glück sei. Als es schließlich an die Ausschmückung der Wohnung kam, leisteten die hübschen Hochzeitsgeschenke: alte Vasen, Pariser Uhren, japanische und chinesische Kabinette, französische Lampen und silberne Leuchter und Pokale aus Kanton – vortreffliche Dienste, und Frau Onslow und Prati konnten sich rühmen, gute Arbeit getan zu haben, als sie am Tage vor Büchners Rückkehr den letzten Rundgang durch die niedliche Wohnung machten und alles daselbst in schönster Ordnung fanden.


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