Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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Mutter Careys Küchlein

Es gibt Seevögel, die man nur während des Sturmes erblickt: unheimlich schnelle Tiere mit langen und spitzigen Flügeln, eisenhartem Schnabel und rotbraunen unruhigen Augen, erscheinen sie plötzlich, Hunderte von Meilen vom Festlande, wie aus der wetterschweren Luft hervorgezaubert. Sie schießen dicht über die schäumenden Wellenkämme dahin und stoßen durch den sprühenden Gischt, der nach ihnen hascht und von dem sie sich mit kurzem, mächtigem Flügelschlage losreißen. Die englischen Matrosen nennen sie »Mother Carey's chicken« und erblicken in ihnen die sicheren Vorboten nahenden Unwetters. – Während des Sturmes umkreisen sie das Schiff oder lassen sich auf dessen Masten nieder, und wenn sich das Wetter legt, so verschwinden sie wieder: still, schnell, unheimlich, wie sie gekommen waren.

Es gibt Menschen, die diesen Seevögeln gleichen. Man weiß nicht, woher sie plötzlich kommen; – und wenn sie später ebenso plötzlich wieder verschwunden sind, so kann niemand sagen, wohin sie sich gewandt haben. Einsame, wortkarge Naturen, furchtlos, zu jeder wilden Tat bereit, kämpfen sie auf eigene Faust, wie ihre ersten Vorfahren, den harten Kampf ums Dasein. Sie achten ihr Leben gering und setzen es jeden Augenblick aufs Spiel; aber sie verteidigen es wie das Raubtier bis zum letzten Atemzuge, und sterbend noch versuchen sie, ihren Feind zu verletzen. – Wenn sie unterliegen, so verenden sie ohne Klage. – In geordneten, friedlichen Staaten können und dürfen sie nicht leben. Sie werden dort als gemeingefährlich unterdrückt. Die Unruhe, der wilde Sturm ist ihr Element. Da, wo der einzelne Mann etwas gilt, wo für Tapferkeit das Höchste feil, wo Gold zu erbeuten ist und Blut fließt, da, wo es heißt: dreinschlagen, zugreifen und festhalten, – da erblickt man sie.

Ich habe ihresgleichen unter verschiedenen Himmelsstrichen angetroffen – aber immer nur zu unruhigen Zeiten. Es ist mir nie gelungen, einen von ihnen genau kennen zu lernen, auch habe ich nur einmal einen mitteilsamen Menschen unter ihnen angetroffen; was ich von ihnen weiß, weil ich es gesehen und erfahren habe, ist Stückwerk. Aber auch dies wenige wage ich zu erzählen, weil es befremdlich ist und doch menschlich und wahr.


Im Jahre 1860 langte auf einem amerikanischen Teeklipper ein Reisender in Schanghai an, der sich in einem der wenigst besuchten, schlechten Wirtshäuser des Fremdenviertels niederließ, keinen Menschen in seiner Umgebung zu kennen schien, und niemandes Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war ein unansehnlicher, stiller Mann von vielleicht dreißig Jahren, mittelgroß, mit einer gewissen Eleganz, wennschon durchaus nicht auffällig gekleidet. Er hielt beim Gehen die Ellenbogen fest an die Seiten gedrückt und bewegte sich leicht und schnell durch die belebtesten Straßen, ohne sich den Weg versperren zu lassen und ohne Anstoß zu erregen. Er hatte ein hageres, wettergebräuntes Gesicht, helle Augen und schlichtes, kastanienbraunes Haar. Die Oberlippe war durch einen feinen, rötlichbraunen Bart bedeckt, Kinn und Wangen waren frei. – Wenige Monate nach seiner Ankunft in Schanghai war jedoch sein Namen schon in vieler Leute Munde, und als man mir eines Tages während eines Spazierganges auf dem »Bund« sagte: »Der Mann dort ist Colonel Wood«, da sah ich mir den Träger dieses Namens genau an und kannte nicht umhin, zu bemerken, daß sein Äußeres nur beim ersten, oberflächlichen Anblick unscheinbar genannt werden durfte. – Sobald man Wood genauer betrachtete, erkannte man, daß man einen ungewöhnlichen Menschen vor sich hatte. Seine Gliedmaßen waren von vollkommenem Ebenmaß und verrieten physische Kraft und körperliche Gewandtheit. Er schritt nachlässig einher und trat leise, doch sicher auf. Seine Bewegungen waren elastisch, abgerundet, geschmeidig wie die der großen Katzen; ich mußte dabei auch an das langsame, regelmäßige Arbeiten einer guten, starken Maschine denken, die, wenn sie mit voller Kraft treibt, erstaunliche Schnelligkeit entwickeln kann. – Wood, wie man ihn auf dem »Bund« sah, ging sozusagen »unter halbem Dampf«. – Er trug den Kopf etwas gesenkt und bewegte den Nacken nur sehr wenig; aber seine hellen, dreisten Augen, die von unten heraufblickten, schweiften wachsam nach rechts und nach links und musterten jeden Vorübergehenden mit kühler Aufmerksamkeit. Doch war nichts Herausforderndes in seinem Wesen, das im Gegenteil bescheiden oder wenigstens rücksichtsvoll genannt werden konnte und Aufsehen vermeiden zu wollen schien. – Er hatte einen großen Mund mit geraden, schmalen Lippen, ein breites Kinn und eine leicht gekrümmte, feine Nase.

Ich erfuhr, daß Wood jeden Abend auf der amerikanischen Kegelbahn anzutreffen sei, und begab mich, wenige Stunden nachdem ich ihm zum ersten Male begegnet war, dorthin, um ihn wiederzusehen. Der Blick, den er mir zuwarf, als ich in den Schuppen trat, zeigte mir, daß er mich sofort wiedererkannt hatte. Ich setzte mich, ließ mir ein Glas Soda und Brandy bringen und sah dem Spiele zu. Woods Gefährten schienen mir »Suchende«, das heißt stellenlose Kapitäne oder Steuermänner zu sein, wenigstens sahen sie mit ihren runden, breiten Schultern und harten, braunen Gesichtern wie seefahrende Leute aus. – Wood, der, wie ich gleich darauf bemerken konnte, gut kegelte und die großen, schweren Kugeln die lange Bahn hinunterwarf, als wären es leichte Bälle gewesen, drehte mir eine Zeitlang den Rücken, dann wandte er sich langsam zu mir und sah mich mit einem eigentümlichen, fragenden Blicke an, gleichsam als erwarte er, von mir angeredet zu werden und wolle mich aufmuntern, dies zu tun; dann stellte er einen Stuhl an denselben Tisch, an dem ich saß, nahm Platz und redete mich an:

»Wir trafen uns heut' nachmittag auf dem ›Bund‹« sagte er.

Ich bejahte dies. Er sah mich wieder forschend an und fuhr dann mit freundlicher Stimme fort:

»Wünschen Sie mich zu sprechen?«

Ich mußte dies verneinen, und ich tat es in sehr höflicher Form und nicht ganz frei von Verlegenheit; denn es kam mir plötzlich vor, daß es Herrn Wood einfallen könnte, mir sein Mißfallen darüber zu bezeugen, daß ich ihn auf der Straße und auch jetzt wieder verschiedene Male scharf angesehen hatte. Er aber sagte kein Wort, stand gelassen auf und kümmerte sich ferner nicht mehr um mich.

Als ich einem Bekannten, der seit langer Zeit in Schanghai wohnte und mit allem, was dort vorging, vertraut war, von meinem Zusammentreffen mit Wood erzählte, lachte jener und sagte:

»Das ist ganz klar! Der Kolonel glaubte, Sie wollten sich von ihm anwerben lassen. Sie haben ihm Vertrauen eingeflößt. – Ich gratuliere! – Er hätte Sie gleich zum Offizier, vielleicht zu seinem Adjutanten gemacht. – Da ist eine Karriere für Sie, wenn Sie rasch Geld verdienen wollen!«

Ich verspürte aber keine Lust, in des Obersten Dienste zu treten.

Kolonel Wood – niemand wußte, woher ihm sein Titel kam, denn man hatte in der kosmopolitischen Fremdenniederlassung von Schanghai mit Leichtigkeit festgestellt, daß er sich denselben in keiner zivilisierten Armee der Welt erworben haben konnte – war bald nach seiner Ankunft in Schanghai auf geheimnisvolle Weise in Verbindung mit dem Tau-tai, dem Präfekten der Stadt, getreten und hatte von diesem die Ermächtigung erhalten, ein Freiwilligenkorps gegen die Taiping-Rebellen auszurüsten. Dann war er während mehrerer Wochen verschwunden, als er sich wiederum auf dem »Bund« zeigte, verlautete aus chinesischen Kreisen, daß Wood im Innern von China, auf dem Wege nach Sutschau, Wunder der Tapferkeit verrichtet hätte. Mit einem kleinen Haufen wüsten Gesindels, das er in den übelberüchtigtsten Schenken von Hongkong, Canton und Makao zusammengerafft und mit guten amerikanischen Schießwaffen versehen, hatte er starke Abteilungen der Rebellenarmee angegriffen und Vernichtung und Verwirrung unter ihnen angerichtet. Gleichzeitig hatte er den Taiping einen Teil ihres Raubes abgejagt und war damit bis in die Nähe von Schanghai zurückgegangen, wo die Siegesbeute unter den Leuten, die tapfer unter seinem Befehl gefochten hatten, in redlicher Weise verteilt worden war. Einige Unzufriedene hatten zwar gemurrt und geklagt, daß der Colonel die kostbarsten Sachen für sich behalten habe; aber Wood hatte sich in seiner kleinen Armee schon »Getreue« zu machen gewußt und regierte seine Leute mit der gewaltsamen Autorität eines Räuberhauptmanns. Er hatte gedroht, Musterung zu halten, und die Unzufriedenen waren zum Schweigen gebracht worden oder davongelaufen.

Die Kunde von den Woodschen Heldentaten hatte sich schnell in allen Vertragshäfen der chinesischen Küste verbreitet, und als es hieß, der amerikanische Colonel sei wieder in Schanghai und werbe dort für seine Armee, da kamen die »Sturmvögel« von Norden und Süden geflogen, und auf allen Wegen in und um Schanghai konnte man einigen von »Mutter Careys Küchlein« begegnen. Man sagte, es befänden sich darunter bestrafte und flüchtige Verbrecher, englische, amerikanische, französische, spanische fortgelaufene Matrosen, Piraten, denen das Meer in der Nähe der fremden Kriegsschiffe zu unsicher geworden war und die nun ihr Glück auf dem festen Lande probieren wollten, Goldsucher aus Kalifornien, Kulihändler aus Makao und ähnliches Gesindel. – Es war eine wilde, gefährliche Gesellschaft, die man nicht lange in der ordentlichen, handeltreibenden Fremdenniederlassung geduldet haben würde, wenn der ganze Schwarm nicht bald nach seinem Auftauchen auch wieder verschwunden wäre.

Kolonel Wood führte seine »Küchlein« von neuem in die von den Taiping überzogenen Landstriche, wo ihr Nahen Schrecken verbreitete, und wo die chinesischen Rebellen vor ihnen flohen wie Schafe vor den Wölfen.

Bald darauf kamen unerfreuliche, aber nicht gerade überraschende Nachrichten aus dem Innern. – Woods Leute wüteten dort noch ärger als die Rebellen. Sie schlugen und vernichteten diese, wo sie sie antrafen; – aber sie wollten um jeden Preis kämpfen, töten, plündern, – und wenn die Taiping sich ihnen nicht stellten, so fielen sie über die friedlichen Land- und Stadtbewohner her, die von den Rebellen noch verschont geblieben waren.

Der Tau-tai von Schanghai konnte schlechterdings nicht umhin, über das ungebührliche Benehmen seines Verbündeten Wood Mißbilligung zu äußern; aber er ergriff keine Maßregeln, um diesem und seiner Bande das Handwerk zu legen. Er hatte kaum zu befürchten, daß die Kunde der Woodschen Missetaten bis nach Peking dringen würde; dagegen gereichte es ihm zu nicht geringem Ruhme, dorthin berichten zu können, daß es seiner energischen und umsichtigen Verwaltung gelungen sei, die Rebellen in Respekt zu halten und ihnen bei verschiedenen Gelegenheiten empfindliche – vom Tau-tai natürlich sehr übertriebene – Verluste beizubringen.

Die chinesischen Kaufleute munkelten unter sich, der Tau-tai teilte mit Wood den Raub, den dieser von seinen Streifzügen nach Schanghai zurückbringe, und beide, der Präfekt und der Oberst, seien in kurzer Zeit reiche Leute geworden; aber diese und ähnliche Behauptungen waren nicht zu begründen.

Mit der Zeit verbreitete sich Woods Ruf mehr und mehr. Er zeigte sich, so erzählte man, als ein hervorragender Feldherr. Es gelang ihm zu verschiedenen Malen, zahlreiche Rebellenhorden zu überraschen und zu überrumpeln. Er hielt eine gewisse Manneszucht unter seiner wilden Rotte aufrecht und zwang ihr Achtung ab durch die tollkühne Todesverachtung, mit der er bei jedem Kampfe den gefährlichsten Posten für sich und seine unmittelbare Umgebung wählte und von dort aus, immer vor der Front, dem Feinde entgegenging.

Woods Ansprüche und wohl auch sein Ehrgeiz wuchsen mit seinen Erfolgen. Er erklärte die Rebellion, die bereits Millionen von Menschenleben verschlungen und unberechenbaren materiellen Schaden angerichtet hatte, für ein Kinderspiel, dem er – wenn man ihm nur die einfachen und verhältnismäßig bescheidenen Mittel, die er zu dem Zweck beanspruchte, gewährte – im Handumdrehen ein Ende machen wollte. Die Ortsbehörde von Schanghai lieh solchen Reden ein williges Ohr. Der kleine Stadtpräfekt sah sich bereits zur Würde eines Vizekönigs der von der Rebellenhorde befreiten Provinz Kiangsu erhoben! – Wood verlangte, daß man kaiserliche Soldaten zu seiner Verfügung stellen sollte, die er sodann durch seine eigenen Offiziere führen lassen würde. Ferner beanspruchte er Löhnung für die ihm anvertraute Armee, um nicht zu deren Unterhalt ausschließlich auf Raub und Plünderung angewiesen zu sein. – Der Tau-tai gewährte dies, und bald darauf stand Wood an der Spitze eines »gemischten« Korps von ungefähr viertausend Mann, von denen die Mehrzahl der gemeinen Soldaten Chinesen, und die der Unteroffiziere Eingeborene von Manila (Tagals), die Offiziere aber ausschließlich Europäer oder Amerikaner waren.

Die Dienstleistungen dieser auserlesenen Truppe beschränkten sich zunächst darauf, die Umgegend von Schanghai und die wichtigsten Verkehrsstraßen und Kanäle, die dorthin führten, von den Rebellen zu reinigen. Nachdem dies geschehen war, machte Wood sich daran, Städte, die von den Rebellen eingenommen worden waren, zurückzuerobern und dort die Macht des Kaisers von China wiederherzustellen. Für solche Waffentaten verlangte er aber, nachdem er sich nunmehr hinlänglich hatte erproben lassen, daß man ihm große Geldzahlungen im voraus mache. Für die Wiedereroberung von Sung-Kiang, einer Handelsstadt von fünfzigtausend Einwohnern, am Kanal, auf dem Wege von Schanghai nach Sutschau gelegen, wurden ihm, wie man mir von glaubwürdiger Seite mitteilte, hunderttausend Taels, ungefähr eine halbe Million Mark, im voraus bezahlt. Die Einnahme von Sung-Kiang gelang. Aber Wood mußte diesen Erfolg teuer bezahlen. Als er, von seinen besten Leuten gefolgt, zuerst auf den Stadtwall sprang und von dort in eine Straße stürzte, in der eine Rotte verzweifelter Rebellen den Versuch machte, ihr Leben teuer zu verkaufen, verloren seine Getreuen, da der Kampf in der Nacht stattfand, ihren Führer aus den Augen. Sie riefen besorgt nach ihm, aber seine laute, helle Stimme, die ihnen noch vor wenigen Minuten »Come on!« zugerufen hatte, war verstummt. – Man trug Laternen herbei, und nach einigem Suchen fand man Wood in einer Blutlache bewußtlos am Boden liegen. Er hatte zwei tiefe Wunden: eine in der Brust, eine im Schenkel. – Woods »Leibarzt«, ein wunderbarer Heiliger, der an seinem eigenen Körper Studien der Chirurgie gemacht zu haben schien – er hatte nur ein Auge, und sein Gesicht und seine Hände waren mit Narben bedeckt –, legte einfache Verbände an, wie ein Schiffskapitän oder ein Präriejäger es wohl auch zu tun vermocht hätte, und verordnete sodann, Kraft seiner unbestrittenen ärztlichen Autorität, daß der Verwundete sofort nach Schanghai geschafft und dort der Pflege eines ordentlichen Doktors übergeben werde. – Wood wurde darauf in ein Boot getragen, das man mit soviel Ruderern bemannte, als darin Platz finden konnten, und das den schwerverwundeten Mann in kurzer Zeit nach Schanghai brachte.

Während der langen Krankheit, die Woods Verwundung folgte, übernahm dessen erster Leutnant, der General Bourquard, den Befehl des Woodschen Korps.

Dieser »General«, der seit der Bildung der gemischten Armee dem Oberst Wood bei allen Kämpfen tapfer und treu zur Leite gestanden hatte, war ein würdiger Stellvertreter des Kolonels. Daß er ein Recht habe, sich General nennen zu lassen, das glaubten nur die allereinfältigsten unter seinen Leuten; – aber daß er ein kaltblütiger Soldat sei, der vor keinem Wagnis zurückschrecke, und dem der Oberst vertrauensvoll die Ausführung der gefährlichsten Aufgaben überlassen durfte, daran zweifelte niemand. – Bourquard war ein großer, schwerer Mann von dreißig bis fünfunddreißig Jahren, mit buschigen Augenbrauen, schwarzem Haar und Vollbart, dunklen Augen und stark gerötetem, brutalem Gesicht. Man erzählte von ihm, er habe als Goldgräber in Kalifornien ein großes Vermögen erworben und wieder verloren und sei wegen einer »unangenehmen« Geschichte aus den Staaten geflüchtet. Das Wort »unangenehm« deckte im Munde der Berichterstatter einen weiten Begriff. Die glimpflichste Deutung, die ich dafür finden konnte, war die, daß Bourquard jemand über den Haufen geschossen hatte. Schließlich konnte es jedoch mit den Mitteilungen über Bourquard nur dieselbe Bewandtnis haben wie mit jenen über alle andern »Küchlein«. Es waren eben nur Vermutungen. Etwas Bestimmtes wußte niemand über die Vergangenheit des Generals. Wood, der nichts weniger als neugierig war, versuchte nicht, den Schleier zu lüften, der darüber lag; außer ihm hätte wohl niemand gewagt, Bourquard darüber ausforschen zu wollen.

Der General bewährte sich musterhaft während des ihm anvertrauten Interims, und hielt den guten Namen des Woodschen Korps aufrecht, das unter seinem Befehl ein Schrecken der Provinz blieb. Auch verstand er beinahe noch besser als der Kolonel, seine Leute in Ordnung zu halten; aber man hörte, daß diese über seine Strenge klagten, da er auch bei verhältnismäßig geringen Versehen die Chinesen unbarmherzig peitschen, die Unteroffiziere und Offiziere standrechtlich erschießen ließ. Diese und ähnliche Berichte nahmen aber niemals eine Form an, welche die europäischen Behörden in Schanghai hätte veranlassen können, gegen den gestrengen General einzuschreiten. Bourquard hatte keine Rang- und Quartierliste aufzuweisen, man wußte nicht, wer mit ihm ins Feld zog, man wußte nur, daß seine Genossen schwer zu bändigende, wilde Gesellen seien; und wenn schließlich die chinesische Obrigkeit, in deren Sold Bourquard stand, mit seinen Leistungen zufrieden war, so konnten die europäischen Behörden über sein Gebahren in China ein Auge zudrücken. – »Jeden, den der General erschießt,« sagte man, »den rettet er vom Galgen.«

Als Wood nach seiner Genesung den Oberbefehl wieder übernehmen wollte, zeigte Bourquard sich sofort bereit, auf seinen bescheidenen zweiten Platz zurückzutreten. Aber er verblieb nur wenige Tage darauf. – Wood fiel in einem Nachtgefecht gegen eine kleine Truppe Taiping, die in einer offenen Stadt in der Nähe von Sung-kiang überrascht worden war.

Bourquardt wollte am nächsten Morgen den Kolonel mit allen militärischen Ehrenbezeigungen, die man dem ehemaligen Oberbefehlshaber der Armee schuldete, begraben lassen, aber der »Leibarzt« bestand darauf, daß die Leiche nach Schanghai zurückgeführt werde. Er sagte, er habe der Frau des Kolonels versprochen daß er ihren Gatten lebendig oder tot zurückbringen werde. Die Offiziere waren der Meinung, ein Mann müsse sein Wort halten, und Bourquardt mußte von seinem Vorhaben, dem Kolonel ein prachtvolles Begräbnis zu bereiten, abstehen, da eine kurze Beratung mit den Stabsoffizieren ihm gezeigt, daß er bei diesem Plane seine ganze Umgebung gegen sich hatte. – Die trauernde Armee zog in ihre alten Quartiere in der Nähe von Schanghai zurück, und von dort wurde Woods Leiche in das Haus gebracht, in dem des Obersten Frau lebte. – Diese war jedoch nicht etwa des Kolonels ehelich angetrautes Weib, sondern eine hübsche, junge Chinesin, die Wood ihren Eltern vor sechs Monaten für teures Geld abgekauft hatte. – Sie stieß herzzerreißende Wehklagen aus, als ihr toter Herr ins Haus getragen wurde; aber sobald sie den Leichnam im Beisein der Leichenträger und mit Hilfe des »Leibarztes« entkleidet und die Schußwunde im Rücken des Gefallenen gesehen hatte, wurde sie plötzlich still und bedeutete den Doktor, mit ihr in ein Nebenzimmer zu treten, wo sie sich einige Minuten flüsternd mit dem Freunde des Verstorbenen unterhielt. Dieser entfernte sich gleich darauf und entsandte, als er in seinem Quartier angekommen war, einen Boten an mehrere der Offiziere, die er als die »Getreuen« des Dahingeschiedenen kannte, um sie zu bitten, sich ohne Säumen, behufs einer wichtigen Beratung, bei ihm zu versammeln. Als sich später etwa ein Dutzend Offiziere im Quartier des Doktors eingefunden hatte, teilte dieser ihnen mit, daß der Verdacht auf Bourquard ruhe, Wood meuchlings ermordet zu haben. Des Kolonels letzte Worte, als er seine Frau verlassen habe, seien gewesen: »Wenn man mich mit einer Kugel im Rücken zu dir bringt, so kannst du sicher sein, daß der General mich erschossen hat.«

Die Anwesenden beschlossen, Bourquard zu verhaften und zu verhören. Aber sie wußten, daß der General sich ihnen nicht gutwillig stellen und seiner Verhaftung kräftigen Widerstand entgegensetzen werde. Er trug stets einen guten Revolver bei sich und verstand es wie wenige, damit umzugehen. Man sann deshalb auf eine Kriegslist. Man wollte sein Haus aus einer unverdächtigen Entfernung überwachen und ihn, wenn er auf dem gewöhnlichen Wege nach der Stadt ging, überfallen. Der Plan wurde sofort in Ausführung genommen; aber unter den Offizieren, die ihn gefaßt hatten, war ein Verräter. – Die Verschworenen verharrten während des ganzen Tages auf ihrem Posten. Als die Nacht hereinbrach, näherten sie sich dem Hause, in dem sie den General wähnten. Die oberen, von Bourquard bewohnten Räume blieben dunkel; nur im Erdgeschoß, das von der Dienerschaft eingenommen wurde, steckte man Licht an. – Die Verschworenen warteten noch lange; dann trat einer, von seinen Kameraden abgesandt, in das Haus und sagte, man möge ihn beim General anmelden. Er erhielt den Bescheid, der Gesuchte sei vor mehreren Stunden in den Garten hinter dem Hause gegangen und werde sich von dort nach Schanghai begeben haben, denn er sei nicht zurückgekehrt, auch sei im Garten keine Spur von ihm zu entdecken. – Haus und Hof wurden sorgfältig durchsucht, aber ohne Erfolg. Der General war gewarnt worden – man wußte nicht, von wem, und keiner der Verschworenen wagte es, den andern anzuklagen oder zu verdächtigen – und der Gewarnte war entflohen. Er hatte sich dabei nicht übereilt, denn man fand, daß er vor seiner Flucht verschiedene Papiere verbrannt hatte, und man suchte vergeblich nach einer nicht unbedeutenden Summe in ungeprägtem Golde, die man in seinem Besitze wußte. Er hatte diese also jedenfalls mit sich genommen oder an einem sicheren Orte verborgen.

Seitdem war Bourquard aus Schanghai verschwunden, und niemand konnte sagen, wohin er sich gewandt habe. Zwei Monate später tauchte er in Yokohama auf, wo ihn ein junger englischer Kaufmann, der ihn früher in Schanghai gesehen hatte, wiedererkannte und die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. – Bourquard kümmerte sich nicht darum, daß die Leute auf der Straße stehen blieben, um ihm nachzusehen. Es bestand in Japan kein Gerichtshof, der das Recht gehabt oder beansprucht hätte, ihn als eines Verbrechens verdächtig festzunehmen. Das war für Bourquard die Hauptsache! Wenn man ihn hinter seinem Rücken als Woods Mörder bezeichnete, so erfuhr er dies entweder nicht oder er achtete nicht darauf. – Er war in einem amerikanischen Wirtshause abgestiegen, wo er seine Zeche regelmäßig bezahlte, und trieb sich viel in den japanischen Stadtteilen umher, wo er einige kleine wertvolle Kunstgegenstände einkaufte. Man sah ihn manchmal in Unterhaltung mit sogenannten »herrenlosen« Edelleuten, »Lonin«, die sich derzeit in Yokohama aufhielten und das Leben dort unsicher machten, und man wunderte sich, wie er es anfange, um sich mit diesen Leuten zu verständigen, die sicherlich kein Wort englisch sprachen.

Eines Tages war Bourquard aus Yokohama verschwunden. Nach kurzer Abwesenheit erschien er jedoch wieder. Man nahm an, ohne es beweisen zu können, daß er den Versuch gemacht habe, bei einem der aufständischen Daimios eine Anstellung zu finden. – Sein zweiter Aufenthalt in Yokohama war von kurzer Dauer. Er schiffte sich an Bord einer holländischen Bark ein, die nach Hongkong segelte, um von dort eine Ladung chinesischer Produkte nach Japan zurückzubringen. Kapitän Voß, der die Bark auf der Hin- und Rückfahrt geführt hatte, erzählte, als er wieder in Yokohama war, der General habe sich während der ganzen Fahrt »sehr ordentlich« benommen, wennschon er etwas viel getrunken habe. Übrigens sei er, Voß, der Meinung, daß Bourquard ein gelernter Seemann sei, denn als sie in der Höhe von Swatau schlechtes Wetter bekommen hätten, sei Bourquard auf Deck gekommen und habe in so sachverständiger Weise zugefaßt, daß die Matrosen sofort einen der ihrigen in ihm erkannt hätten. Der General sei nicht in Hongkong ans Land gegangen, sondern habe sich mit dem chinesischen Lotsen verständigt und mit diesem die Bark verlassen.

Niemand dachte daran, weitere Erkundigungen über den General einzuziehen. Die Fremden in Yokohama hatten damals an vieles zu denken, was ihnen näher lag als die Schicksale eines vaterlandslosen Abenteurers. – Nach langer Zeit, nach einem halben Jahre vielleicht, las ich zufällig in einer in Hongkong erscheinenden englischen Zeitung, der »berüchtigte General Bourquard«, der sich in der Nähe van Amoy an die Spitze eines starken Rebellenhaufens gestellt und eine Zeitlang Schrecken bei den Kaiserlichen verbreitet habe, sei schließlich von diesen gefangen genommen und hingerichtet worden. Man sagte, sie hätten ihn gekreuzigt, und er sei eines qualvollen Todes gestorben.

Es ist nicht ermittelt worden, was diese Nachricht an Wahrheit enthielt. Bourquard war auf keinem der fremden Konsulate in China amtlich bekannt. Seiner Aussprache des Englischen nach war er ein Amerikaner; er selbst hatte sich jedoch nie über seinen Ursprung geäußert. Einige Leute wollten wissen, er sei ein Deutscher gewesen, andere, ein Irländer – er führte einen französischen Namen. Eines stand fest: er war verschwunden. Auch durfte man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß er von den Kaiserlichen getötet worden sei. Man konnte diese nicht verhindern, mit Rebellenführern, die mit den Waffen in der Hand auf chinesischem Grund und Boden ergriffen wurden, nach chinesischem Gesetz zu verfahren. General Bourquard wurde vergessen, wie man Kolonel Wood vergessen hatte, und heute sind die Namen der beiden Männer nur noch den wenigen Fremden bekannt, die sich in den Jahren 1861 und 1862 in China oder Japan aufgehalten haben und den Bewegungen der Taipingrebellion mit einiger Aufmerksamkeit gefolgt sind.

Nachdem Wood und Bourquard beseitigt waren, wurden die einträglichen Stellungen, die sie bekleidet hatten, von verschiedenen anderen Abenteurern eingenommen. Keiner von ihnen zeigte hervorragende militärische Begabung. Es war ihnen allen, dem Anscheine nach, nur daran gelegen, an der Spitze gemischter Korps gewissermaßen eine Befugnis zum Mordbrennen und Plündern zu haben. Sie wurden in schneller Reihenfolge ihrer Stellungen enthoben und nach und nach durch bessere, zuletzt durch tüchtige und gute französische und englische Offiziere ersetzt, die sich gewissenhaft die Aufgabe stellten, China von der Rebellion zu befreien, und denen dies nach vielem Blutvergießen schließlich auch gelang. – Einige von ihnen stehen noch heute in chinesischen Diensten, wennschon nicht mehr in der Eigenschaft als Heerführer, und haben sich schwererkaufte, große Vermögen erworben. – Der hervorragendste unter ihnen, Kolonel Gordon, der sich übrigens in China nicht bereichert hatte, ist einige zwanzig Jahre später im Kampfe gegen den Madhi gefallen.


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