Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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Der lange Holländer

In seinen guten Tagen habe ich Georg Büchner nicht gekannt: die lagen in den Jahren 1856 bis 1860. Damals war er, wie ich später erfahren habe, ein sehr beliebter Mann in Schanghai, wo er unter dem Namen »Der lange Holländer« ging. Aber er war kein richtiger Holländer. Er war ein Deutscher – aus Bremen, wenn ich nicht irre. – Das tut übrigens nichts zur Sache. – Ich machte seine Bekanntschaft im Jahre 1862 in Japan. Ich führte damals die »Aurora Belisle« und hatte Aussicht, längere Zeit auf der Linie Yokohama-Schanghai-Hongkong zu bleiben. Am Tage vor meiner Abreise von Yokohama, als ich beim Frühstück saß, wurde mir vom Steuermann gemeldet, es sei ein Mann an Bord gekommen, der mich zu sprechen wünsche.

»Was für ein Mann?«

»Sieht aus wie ein Zwischendeckpassagier.«

»Da wird er wenig Platz finden. – Nun, lassen Sie ihn nur herunterkommen.«

Bald darauf hörte ich einen schweren, bedächtigen Tritt, und dann kam ein Mann herein, der sich tief bücken mußte, um durch die Kajütentür treten zu können. An der Schwelle blieb er stehen und sagte höflich: »Guten Morgen, Kapitän«.

»Guten Morgen, mein Herr,« antwortete ich. »Was steht zu Ihren Diensten?«

Es war nämlich etwas in seiner Gesichtsbildung, Stimme und Haltung, was mich nötigte, ihn wie einen Gentleman zu behandeln. Sein Alter war schwer zu bestimmen, konnte aber nicht mehr als etwa fünfunddreißig Jahre betragen. Er war auffallend groß und schwer, trug kurzgeschorenes, blondes Haar und einen ebenfalls kurzgeschnittenen, hellen Vollbart. Seine Gesichtsfarbe war gebräunt. Dazu hatte er eine ganz weiße Stirn. Daß der Mann trank, glaubte ich beim ersten Blick zu erkennen: an dem finsteren Aussehen und an dem schweren Zug um den Mund, der Gewohnheitstrinkern eigen ist. Seine Kleider saßen gut, waren aber etwas abgetragen und zu warm für die heiße Jahreszeit: die Kleider eines heruntergekommenen Mannes. Überhaupt war sein ganzes Wesen das eines Menschen, der bessere Tage gesehen hat; und seine Augen, die wie die eines eingeschüchterten Hundes bittend und traurig an mir vorbei in die Welt hinaussahen, hatten einen Ausdruck, der mich mitleidig stimmte.

– »Nehmen Sie Platz,« sagte ich.

Er setzte sich ganz langsam, wobei er sich mit der Hand auf den Sitz stützte und die Lippen eigentümlich zusammenkniff. »Was steht zu Befehl?« wiederholte ich. »Können Sie mich mit nach Schanghai nehmen?« fragte er.

»Man könnte schon Unterkommen für sie finden; aber eine Kajüte habe ich nicht für Sie. – Wir sind nicht auf Passagiere eingerichtet.«

»Ich mache keine Ansprüche. Geben sie mir irgendeinen Platz, wo ich unterkriechen kann. Mehr brauche ich nicht.«

»Sehr wohl,« sagte ich, »dann können sie heute abend oder morgen früh an Bord kommen, wir segeln mit der Ebbe, um 11 Uhr. – Ich berechne für die Überfahrt vierzig Dollars, die sie gefälligst bei meinen Agenten, Millner u. Co., einzahlen wollen.«

»Das ist nicht teuer,« meinte er, »aber ...« und er stockte.

Ich sah alsbald, was kommen würde. – »wie ist Ihr werter Name?« fragte ich. »Ich werde mit Herrn Millner sprechen, wenn der nichts dagegen einwendet, so können sie meinetwegen freie Passage haben.«

Er wurde dunkelrot, blickte zur Erde und antwortete verlegen: »Ach nein, Kapitän, sie irren sich. Ich möchte sie nur bitten, mir bis Schanghai Kredit zu geben. Ich hatte meine Ausgaben falsch berechnet und besitze hier nicht genug bares Geld, um die Überfahrt zu bezahlen. Gleich nach meiner Ankunft in Schanghai werde ich alles berichtigen.« Und dabei schlug er die Augen in die Höhe und sah mich zum ersten Male gerade an: jammervoll und elend, aber mit einem Blicke, der mir volles Vertrauen zu dem Manne einflößte. – Ich war in China und Japan niemals mit einem anständigen Menschen zusammengetroffen, der sich wegen vierzig Dollars in Verlegenheit befunden hätte; aber weshalb sollte das in Yokohama nicht gerade so gut vorkommen, wie in London und Liverpool? – Und dann: es gefiel mir, dem Mann einen kleinen Dienst zu erweisen, sein Blick hatte es mir angetan, ein Blick so traurig und nachdenklich, wie ich ihn nie gesehen hatte.

»Nun gut,« sagte ich, »wir werden uns schon verständigen, Herr ... wie nannten Sie sich?«

»Büchner, Georg Büchner ist mein Name,« antwortete er so leise, daß ich ihn kaum verstehen konnte. Darauf wartete er eine kleine Weile, und dann setzte er augenscheinlich erleichtert hinzu: »Gestatten Sie, daß ich heute abend an Bord komme?«

»Nach Ihrem Belieben, Herr Büchner,« erwiderte ich und reichte ihm die Hand, die er aber kaum berührte.

»Vielen Dank, Kapitän,« sagte er und entfernte sich langsam und schwerfällig, wie er gekommen war.

»Ein kurioser Passagier!« sagte ich mir, und da ich während des Gesprächs das Frühstück beendet hatte, ließ ich mein Boot klar machen und fuhr ans Land, um mit Millner u. Co. eine letzte Rücksprache zu nehmen. Nachdem das Geschäftliche in Ordnung gebracht war, fragte ich James Millner, ob er einen Georg Büchner kenne.

»Den langen Holländer?«

»Lang genug ist er, um den Namen zu verdienen.«

»Ja, den kenne ich ... was ist mit ihm los?«

»Das möchte ich eben wissen.«

»Das ist eine endlose Geschichte. Mich wundert nur, daß Sie sie nicht kennen. Es ist doch genug davon gesprochen worden.«

»Wann war das?«

»Vor zwei Jahren.«

»Das erklärt, weshalb ich nichts davon gehört habe. – Vor zwei Jahren war ich in London.«

»Richtig! – Nun, Büchner hat vor Gericht gestanden – des Diebstahls angeklagt; aber man konnte ihm nichts beweisen.«

»Hallo!« sagte ich, »das müssen Sie mir erzählen.« – Denn der Gedanke, mit jemand zu fahren, der nur aus Mangel an Beweisen eines von ihm begangenen Diebstahls nicht hatte überführt werden können, war mir doch etwas unbehaglich.

James Millner hatte gerade viel zu tun. Er vertröstete mich auf den Abend. Ich speiste bei ihm, und als wir nach dem Essen auf der Veranda saßen, und die jungen Leute sich entfernt hatten, kam ich wieder auf die Geschichte zurück. Millner erzählte sie mir mit vielen Einzelheiten, die mir im Gedächtnis geblieben sind, weil ich von dem Tage an den »langen Holländer« nie mehr ganz aus den Augen verloren habe. Mit der Zeit habe ich denn auch alle Lücken in Millners Erzählung ausfüllen können, teils aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, teils aus den Mitteilungen anderer über Büchners Schicksale. Das alles hat sich nach und nach in meinem Geiste zu einer einzigen, vollständigen Geschichte verschmolzen, – und die will ich Ihnen nun erzählen.


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