Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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5.

Die »Costarica« aus Nagasacki langte rechtzeitig im Hafen von Schanghai an. Prati hatte sich an Bord begeben, um Büchners abzuholen, während Frau Onslow die Heimkehrenden in der neuen Wohnung erwarten wollte. Die Freude des Wiedersehens war jedoch nicht groß. Büchner schien wenig verändert; aber er hatte eben vor seiner Hochzeit schlecht genug ausgesehen, und seine Freunde hatten erwartet, er werde während der Reise sein altes, gutes, offenes Gesicht wieder bekommen, das überall, wo es sich gezeigt, Wohlwollen und Vertrauen erweckt hatte. – Nein. Das alte Gesicht war nicht wiedergekommen. Büchner drückte Prati herzlich die Hand, als dieser ihn bewillkommnete; aber seine Züge blieben ernst und starr, und sein ganzes Aussehen war das eines Mannes, der eine schwere Krankheit überstanden und sich noch lange nicht erholt hat. Noch trauriger fühlten sich Büchners Freunde durch Ediths Anblick berührt. Aus dem heiteren frischen Mädchen mit den lachenden Augen und dem lachenden Munde war eine stille Frau geworden, der die Tränen in die Augen traten, als Frau Onslow sie umarmte und sie »meine liebe Tochter« nannte.

Prati und Frau Onslow sahen sich betroffen an, und die Freude, die sie sich davon versprochen hatten, den Neuvermählten die Einrichtung der Wohnung in allen Einzelheiten zu zeigen, war ihnen gründlich verdorben.

»Was mag geschehen sein?« fragte Prati Frau Onslow.

Die gute Dame zuckte die Achseln, sie stand vor einem Rätsel: zwei junge Leute, die sich aus reiner Liebe geheiratet hatten, und die einen kurzen Monat nach der Hochzeit so gemessen und ernst dreinschauten, wie Georg und Edith! – Es war unerklärlich. Sie beschloß, Edith in die Beichte zu nehmen, und tat dies auch schon am nächsten Tage, als die junge Frau ihrer alten Freundin einen Besuch abstattete. Aber das diplomatische Verhör brachte keine vollkommene Aufklärung.

»Nun, mein Rind, wie war es in Nagasacki?«

»Es ist das lieblichste Land der Erde: die schöne Bai, die freundliche, helle Stadt, die herrliche Umgegend, die artigen Leute! Ich hätte immer dort bleiben mögen.«

»Und wie hat es Georg gefallen?«

»Ausgezeichnet.« »Ich finde, er sieht noch immer etwas niedergeschlagen aus.«

»Ach ja, leider ...«

»Er war doch freundlich gegen dich?«

»Freundlich? – Ein Engel ist er an Herzensgüte, der beste Mann der Welt!«

»Es freut mich und beruhigt mich, dich so sprechen zu hören; denn offen gesagt, ich finde, daß auch du nicht ganz wohl aussiehst.«

Darauf antwortete Edith nicht.

»Fehlt dir etwas, mein Kind?«

»Nein, mir fehlt gar nichts ... nur ... nur ... es macht mich natürlich traurig, Georg noch immer so still und ernst zu sehen. Aber nicht wahr! Das muß sich doch mit der Zeit ändern, und er wird wieder der Alte werden?«

»Natürlich,« beruhigte Frau Onslow. »... Also sicher, meine liebe Edith, du verheimlichst mir nichts? Er ist gut gegen dich? Du bist glücklich?«

»Er ist der beste Mann der Welt.«

Das war soweit ganz befriedigend – aber Frau Onslow hatte doch das Gefühl, daß ihr irgend etwas verschwiegen wurde. Sie tröstete sich damit, daß dies ihrem Scharfsinn nicht lange verborgen bleiben könnte.

Bald nach seiner Rückkehr nach Schanghai hatte Büchner sich um die gutbezahlte Stelle eines Buchhalters in dem Hause des Herrn Francis Morrisson beworben und diese bekommen. Er war infolgedessen täglich von morgens neun bis nachmittags fünf Uhr von seiner jungen Frau getrennt, denn er nahm sein zweites Frühstück in einem kleinen Zimmer ein, das ihm sein neuer Prinzipal in dem geräumigen Geschäftshause zur Verfügung gestellt hatte. Seine Kollegen frühstückten gemeinschaftlich in der »Junior mess« (Tisch für die jüngeren Mitglieder des Hauses) oder gingen in den nahegelegenen Klub, wo sie Freunde und Bekannte antrafen.

Die einsamen Mahlzeiten Büchners wurden bald vielfach besprochen. »Er trinkt,« so hieß es. – Man bedauerte seine arme Frau, die natürlich darunter zu leiden haben mußte, und im Verhältnis, wie die Sympathie der Gemeinde für diese wuchs, verminderte sich das Wohlwollen für Büchner. Dazu kam, daß dieser in schroffer Weise gegen die ersten Regeln der Höflichkeit, die in der Kolonie streng beobachtet wurden, verstoßen hatte. – Die verheirateten Frauen und Männer warteten noch immer vergeblich auf den Antrittsbesuch der Neuvermählten. Diese ließen sich nirgends blicken. Frau Onslow, die überall umherkam und sich angelegen sein ließ, freundliche Gesinnungen für das junge Paar zu erwecken, bemühte sich vergebens, den groben Etikettefehler damit zu entschuldigen, daß Büchner noch nicht wohl genug sei, um in Gesellschaft gehen zu können. Man bezeichnete das als eine leere Ausrede. Ein Mann, der täglich seinen Geschäften obliegen könne, sei auch in der Lage, seinen gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen. Er wäre das schon seiner Frau schuldig! Aber es sei klar, daß er sich nicht sonderlich um deren Wohlergehen kümmere. Früher wäre es eine Freude gewesen, sie anzutreffen, alles an ihr hätte damals gelacht und gelebt; jetzt täte es einem weh, wenn man ihr vergrämtes Gesichtchen sähe.

Büchner bekam dies und manches Ähnliche durch Frau Onslow wieder zu hören; denn wenn seine Freundin ihn auch den andern Mitgliedern der Kolonie gegenüber entschuldigte, so teilte sie in ihrem Herzen vollkommen die Ansicht von Büchners Anklägern und bemühte sich, jenen zu veranlassen, das Versäumte nachzuholen.

»Ich begreife nicht,« sagte sie, »daß Sie den Leuten die kleine Genugtuung nicht geben wollen. Setzen sie sich einen Nachmittag in meinen Wagen und machen sie die Runde von Schanghai: in drei Stunden und mit einem oder zwei Dutzend Visitenkarten haben sie alles getan, was man van Ihnen verlangt.«

»Später!« antwortete Büchner kurz.

Frau Onslow besaß die Ausdauer großer Redner. Sie wurde nicht müde, wiederholt auf denselben Gegenstand zurückzukommen, bis Büchner eines Tages ungeduldig wurde.

»Ich weiß nicht, weshalb Sie mich zwingen wollen, zu den Leuten zu gehen, die mich doch nur aus Gnade und Barmherzigkeit empfangen! – Verwünscht sei ihr Mitleiden! – Oder verlangt Edith etwa danach?«

Edith äußerte überhaupt nur noch selten einen Wunsch. Sie war eine zurückhaltende, stille Frau geworden, die über nichts klagte, die auf Frau Onslows Frage über die Ursachen ihrer Traurigkeit ausweichende Antworten gab, aber die schon bei verschiedenen Gelegenheiten von ihrer alten Freundin mit rotgeweinten Augen angetroffen worden war.

»Was fehlt dir?« fragte Frau Onslow. »habe doch Vertrauen und sage mir, was vorgeht. Ich bin eine alte erfahrene Frau, vielleicht kann ich helfen.«

»Es fehlt mir nichts,« antwortete Edith. »Ich bin nur traurig, weil ich glaube, daß Georg kränkelt. Der große Mann ißt nicht mehr als ein kleines Kind; und dann kann er des Abends nie zur Ruhe kommen, und des Morgens, wenn er aufsteht, ist er todmüde und niedergeschlagen. Ich weiß nicht, wie das enden soll. Ich tue ihm zuliebe, was ich ihm von den Augen absehen kann, und er ist so dankbar dafür, so dankbar, liebe Frau Onslow. Aber ich sehe wohl, daß ich ihn nicht glücklich mache. – Ist das nicht Grund genug, um traurig zu sein?«

Die Kolonie von Schanghai lernte bald, sich ohne Herrn Büchner und seine Frau zu behelfen. Hier und da fiel noch ein unfreundliches Wort über ihn, ein Ausdruck des Bedauerns über sie; aber im allgemeinen hörte man auf, sich um die beiden zu kümmern. Langsam jedoch, einer schleichenden bösen Krankheit gleich, trat der alte Verdacht gegen Büchner wieder hervor. Die Gesellschaft suchte nach einem Grund, um den verschmähen zu können, der sich so wenig aus ihr machte, und so war es wohl zu erklären, daß manchmal eine peinliche Andeutung laut wurde: ob Büchner nicht vielleicht ein schlechtes Gewissen habe, da er sich in der Gesellschaft anständiger Leute nicht mehr wohl fühle. – Es waren die Böswilligen allein, die so sprachen; aber es fand sich auch unter den Gutmütigen niemand, um den Abwesenden zu verteidigen. Er hatte eben nach und nach das Wohlwollen seiner Mitbürger verloren.

Frau Onslow und Prati machten sich deswegen große Sorge und unterhielten sich häufig und lange über das Los ihrer jungen Freunde. Als die beiden eines Abends zusammensaßen und das für sie unerschöpfliche Thema wieder aufgenommen hatten, sagte Frau Onslow nach längerem Nachdenken:

»Wissen Sie, Herr Prati, was Büchner fehlt?«

Dieser blickte die Sprecherin etwas verwundert an, denn seit einer Stunde hatten sich beide den Kopf über dieselbe Frage zerbrochen.

»Ich will es Ihnen sagen,« fuhr Frau Onslow mit großer Bestimmtheit fort: »Es ist mir jetzt klar geworden: Büchner fühlt, daß er in den Augen mancher doch noch nicht wieder so rein dasteht, wie vor dem unglücklichen Diebstahl. Er wird erst wieder ruhig und froh werden, wenn man den Übeltäter entdeckt hat. Leider wird das mit jedem Tage unwahrscheinlicher. Die Polizei hat längst aufgehört, auf ihn zu fahnden, selbst melden wird sich der Elende natürlich nicht, daß ein Zufall die Wahrheit ans Licht bringen sollte, ist in hohem Grade unwahrscheinlich – und so fürchte ich denn, daß Büchner sich hier nie wieder wohl fühlen wird. Wir sollten deshalb darüber beraten, ob es nicht besser wäre, ihn aus einer Umgebung zu schaffen, wo ihn jeder Stein an die dunkle Sache erinnert, und wo er in jedem Gesichte eine stumme Anklage liest. Glauben Sie mir, er traut in dieser Beziehung niemand: weder Ihnen, noch mir, noch meinem Mann; er traut nicht einmal seiner Frau. Erinnern Sie sich, daß er wiederholentlich Anspielungen auf deren Ohnmacht gemacht hat, als sie einen Augenblick fürchtete, er sei verurteilt worden. Er hat einmal mit mir darüber gesprochen – nicht etwa ausführlich – das ist ja überhaupt nicht mehr seine Art. Er warf ein paar bittere Worte hin, die ich aber aufnahm, um sie ihm als eine grausame Ungerechtigkeit gegen seinen Engel von Frau vorzuhalten. Ich sagte ihm, Edith sei an jenem Tage ohnmächtig geworden, weil sie gefürchtet hätte, es sei eine Art Justizmord an ihm begangen worden. An seiner Unschuld hätte sie nie eine Sekunde gezweifelt, und sie würde ihren Glauben an ihn bewahrt haben, auch wenn die Richter ihn zehnmal verurteilt hätten. Er antwortete nicht, aber in seinem Gesicht las ich deutlich die alten Zweifel. Er ist ein halsstarriger Mensch in allem, was er tut und will; aber nirgends ist sein Trotz unglücklicher für ihn und für die arme Edith, als in seinem Unglauben an das Vertrauen der Menschen zu ihm. Das ist seine ganze Krankheit. Glauben Sie mir: an dem Tage, an dem der Dieb entdeckt sein wird – ein Tag, den wir aber wohl leider nicht erleben werden – erst an dem Tage wird Büchner wieder gesunden.«

Prati hatte still zugehört und schwieg. Der berühmte Onslowsche Redefluß ergoß sich breit und ruhig. Der Italiener aber schien nicht mehr darauf zu achten. Er blickte sinnend vor sich hin. Nach einer Weile – Frau Onslow hatte den besonderen Fall Büchner längst verlassen und sprach gerade von der Liebe im allgemeinen, nachdem sie sich in einer Reihe sinnreicher Betrachtungen über den Trotz der Männer und die Milde edler Frauen ergangen hatte – nach einer langen Weile unterbrach Prati sie plötzlich:

»Sie irren sich!«

Frau Onslow hatte soeben mit vielem Gefühle ein schönes Gedicht hergesagt, in dem die Allgewalt der Liebe besungen wird, und der unerwartete Widerspruch des Italieners erfüllte sie mit Entrüstung. Sie hatte für eine gute Sache zu kämpfen und sie kämpfte mit Feuereifer. Ihre leidenschaftlichen Worte, die den kleinen Italiener niederschmettern sollten, erfüllten ihn aber nur mit großem Erstaunen, und diese Verwunderung war auf seinem beweglichen Gesicht so deutlich zu lesen, daß Frau Onslow plötzlich unaufgefordert innehielt.

»Verzeihung,« sagte Prati, die Pause schnell benutzend, »wir verstehen uns nicht mehr. – Ich dachte darüber nach, daß sie gesagt hatten, die Entdeckung des Diebes würde Büchner retten, und da erlaubte ich mir die Bemerkung, Sie irrten vielleicht.«

Frau Onslow war schnell wieder besänftigt. »So,« sagte sie, »das ist in der Tat etwas anderes. Aber wie konnte ich glauben, daß Sie mir auf etwas antworteten, was ich vor einer halben Stunde gesagt hatte.«

»Ihre Worte hatten tiefen Eindruck auf mich gemacht und mich während der ganzen Zeit beschäftigt,« erklärte Prati.

Das schmeichelte Frau Onslow. Sie war vollständig versöhnt, und Prati konnte auf geneigtes Gehör bei ihr rechnen. »Weshalb glauben Sie, daß ich mich irre?« fuhr sie fort. »Ich bin begierig, Ihre Gründe zu hören.« Der kleine Italiener blickte an Frau Onslow vorbei zum Fenster hinaus, wie einer, der seine Gedanken sammeln und gut beisammen halten will, und sagte mit einem Ausdruck tiefen Nachsinnens: »Um diese Frage zu beantworten, muß ich Ihnen eine kleine Geschichte aus meiner eigenen Erfahrung erzählen. Es ist eine alte Geschichte. Sie ereignete sich vor ... vor zwanzig Jahren etwa, als ich noch ein Kind war, und Sie müssen entschuldigen, wenn ich sie vielleicht etwas unklar vortrage. Sie ist mir nicht mehr ganz deutlich im Gedächtnis; aber sie paßt auf den vorliegenden Fall. – Urteilen Sie selbst.«

Prati sprach langsam, wie einer, der in seinem Gedächtnis nach etwas sucht, das jahrelang daraus verschwunden war.

»Es war in Bergamo – ich selbst bin nicht aus Bergamo, ich bin ein Mailänder, aber ich hatte Verwandte in Bergamo, die seitdem gestorben sind und die ich während der Schulferien manchmal besuchte. Was ich Ihnen erzähle, ereignete sich also in Bergamo. –

»Dort lebten zwei Brüder, deren Familiennamen ich vergessen habe. Der älteste hieß Josef, glaube ich, der jüngere Anselm. Diese beiden liebten sich zärtlich und waren immer beisammen. Sonst hatten sie nicht viel Freunde, weil sie sich eben um niemand als um sich selbst kümmerten. Da wurde eines Nachts ein großer Diebstahl verübt in dem Erdgeschoß des Hauses, das die beiden bewohnten. Der Verdacht, das Verbrechen begangen zu haben, lenkte sich auf sie. Weshalb? Das weiß ich nicht mehr genau – aber es war ein schwerer Verdacht. Der ältere Bruder wurde nur wenig behelligt. Er konnte irgend etwas anführen, was seine Unschuld klar bewies – ein Alibi vielleicht – aber das tut nichts zur Sache. Kurz und gut, der jüngere Bruder allein wurde verhaftet und zur Untersuchung gezogen. Dabei stellte es sich nun zwar heraus, daß dieser den Diebstahl wohl hätte verüben können, aber weiter nichts; und da seine Vergangenheit rein war, so wollte man ihn auf einen bloßen Verdacht hin nicht verurteilen und sprach ihn frei. – Die beiden Brüder waren, wie gesagt, nicht eben beliebte, gesellige Menschen, aber es waren angesehene junge Männer. Sie stammten aus guter Familie, sie waren nicht unbemittelt und hatten vornehme und reiche Verwandte. Diese nun waren stolze Leute und fühlten sich so gekränkt dadurch, daß man ihren Namen in den Zeitungen mit einem Diebstahl in Verbindung gebracht hatte, daß sie ihre Beziehungen zu den beiden Brüdern abbrachen. Am meisten litt natürlich der beargwöhnte jüngere Bruder Anselm darunter, dem auch trotz des freisprechenden Urteils persönliche Kränkungen nicht ganz erspart blieben. Er nahm sich das sehr zu Herzen und wurde schwermütig. Da war es denn nun rührend, wie Joseph seinen kranken Bruder pflegte. Er hütete ihn wie eine Mutter ihr Kind und wich Tag und Nacht nicht von seiner Seite. Aber alle Sorgen halfen nichts. Anselm wurde kränker und kränker, und der Arzt, der ihn behandelte, fing an, für den Verstand seines Patienten zu fürchten und sprach dies dem älteren Bruder gegenüber aus.

»Was kann ich tun?« fragte Josef. – »Würden Sie eine Luftveränderung anempfehlen?«

»Das würde sicherlich nichts schaden, aber ob es viel helfen würde, das bezweifle ich. In dem Zustande, in dem sich Ihr Bruder augenblicklich befindet, wird er sein Leiden überall mit sich schleppen. Es stellen sich schon Wahnvorstellungen bei ihm ein: er glaubt sich wegen des Diebstahls verfolgt. Er bedarf der sorgfältigsten Behandlung, und seine Genesung wird auch unter den günstigsten Umständen eine sehr langsame sein, es sei denn, daß der Dieb entdeckt und Ihr Bruder dadurch vollständig zu Ehren gebracht werde.«

»Sie meinen, das würde ihn retten?«

»Ich bin fest davon überzeugt.«

»Darauf ereignete sich nun folgendes. Am Abend nach dem Essen, als die beiden Brüder wie gewöhnlich allein beisammen waren, begann Josef eine lange und verwickelte Geschichte, die mit dem Bekenntnis endete, er habe den Einbruch verübt und sei bereit, dies öffentlich zu bekennen, so daß Anselm von jedem Verdacht frei sein würde.«

»Ist es möglich?« unterbrach Frau Onslow.

»Und wissen sie, was Anselm darauf tat?« fuhr Prati fort. Er fiel dem andern um den Hals und brach in Tränen aus und rief: ›Mein armer Josef, was mußt du gelitten haben!‹ – ›Das sei Gott geklagt,‹ antwortete Josef; ›aber was bleibt zu tun?‹ – Da waren sie beide ratlos. Endlich beschlossen sie, das gestohlene Geld heimlich zurückzuerstatten und sodann auszuwandern. Das erstere taten sie auch, zum andern kam es nicht, wenigstens nicht für beide. – Anselm hatte nicht zugeben wollen, daß sein Bruder sich öffentlich als Schuldigen bekenne. – Was ihn gekränkt hatte, sagte er, könne doch nicht wieder gut gemacht werden; – bemerken Sie dies wohl, Frau Onslow. Daß er kein überführter Verbrecher sei, dafür zeuge seine Freisprechung, aber daß man ihn unter seinen nächsten Verwandten eines Diebstahls für fähig gehalten, das habe seine Ruhe für alle Zeiten zerstört. Morgen werde er vielleicht eines Mordes angeklagt werden. Warum nicht? Mit demselben Rechte könnte man es jedenfalls tun, mit dem man ihn des Diebstahls verdächtigt hatte. Seine Furcht, man werde ihn eines Tages unschuldiger Weise einer Missetat zeihen, wuchs immer mehr, und zuletzt wurde er geisteskrank und mußte in ein Irrenhaus gebracht werden, wo er bald darauf seinen Leiden erlag. – Josef, der sein kleines Vermögen der Pflege seines Bruders geopfert, und den die Aufregung jener bösen Zeit arbeitsunfähig gemacht hatte, verarmte. Er wanderte nach dem Tode seines Bruders aus – und seitdem hat man nichts wieder von ihm gehört.«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte,« sagte Frau Onslow nachdenklich. »Aber wie ist es bekannt geworden, daß der ältere Bruder der Dieb war, wenn Anselm das Geheimnis mit sich ins Grab genommen hatte?«

»Das weiß ich nicht mehr genau,« antwortete Prati. Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: »Ich glaube, Josef hatte von einem fernen Weltteile her an einen seiner Verwandten geschrieben und den Sachverhalt aufgeklärt. Sein Gewissen trieb ihn, das Andenken seines verstorbenen Bruders von jedem Makel zu befreien. Sie sehen, er war kein schlechter Mensch.«

»Erlauben Sie!« sagte Frau Onslow, deren unverfälschte Moral nicht leicht Zugeständnisse machte. »Er mag seinem Bruder gegenüber treu gewesen sein – aber er war ein Dieb. Und ein Dieb ist und bleibt ein schlechter Mensch.«

»Sie haben ganz recht, Frau Onslow. Aber nicht wahr, dem reuigen Sünder gegenüber soll man Barmherzigkeit üben. – Und Josef hatte sein Verbrechen bitter bereut und es zu sühnen versucht. Er hatte das gestohlene Gut wieder herausgegeben, und schließlich war niemand geschädigt als er selbst.«

»Und sein armer, unschuldiger Bruder,« unterbrach Frau Onslow.

»Ja, das ist wahr,« sagte Prati mit einem Ton tiefer Entmutigung. »Aber das war Josefs Unglück, nicht seine Schuld. Hätte er geahnt, sein Bruder könnte für das von ihm begangene Verbrechen verantwortlich gemacht werden, so wäre es unterblieben. – Sie werden mich vielleicht leichtfertig finden, wenn ich bekenne, daß ich eine gewisse Sympathie für den älteren Bruder fühle. Ich denke mir so, daß er kein schlechtes Herz hatte. Er war vermutlich leichtsinnig, seine moralischen Grundsätze waren nicht von den festesten, und dann trat eine große Versuchung an ihn heran und er unterlag ihr: er strauchelte und fiel. – Liebe Frau Onslow! Fallen ist traurig, ist jammervoll – aber es ist verzeihlich. Liegen bleiben ist schlimm! Und wenn Josef sich nicht wieder ganz erheben konnte, so möchte ich ihn beinahe bemitleiden, denn er machte verzweifelte Anstrengungen, sich wieder aufzurichten.«

Pratis sanfte Stimme war noch weicher als gewöhnlich geworden, und seine dunklen Augen schimmerten in feuchtem Glanze. Er nahm augenscheinlich lebhaften Anteil an dem Schicksale seines Josef.

»Kannten Sie den Menschen,« fragte Frau Onslow, »da Sie ihn so warm verteidigen.«

»Ich verteidige ihn nicht, ich versuche es, ihn zu erklären,« antwortete Prati. »Ich habe ihn niemals gesehen, ich war ein Kind, als die Geschichte sich ereignete. Aber ich erinnere mich noch, daß man ihn als einen wohltätigen, freundlichen Mann darstellte. Wenn ich vorher sagte, man solle einen gefallenen Menschen nicht unwiderruflich verurteilen, so sprach ich im allgemeinen.«

»Nun,« meinte Frau Onslow, »was mich angeht, so würde ich dem Schuldigen wohl verzeihen können; aber näher treten möchte ich ihm nicht. Es gibt ehrliche Menschen, die unglücklich sind, und die stehen meinem Herzen doch näher als unglückliche Diebe. – Ein Dieb ist ein Dieb – etwas Häßliches. Davon halte ich mich lieber fern.«

Prati und Frau Onslow unterhielten sich fast täglich über Büchners Schicksal, und es wurden bei der Gelegenheit oftmals entfernte Gegenstände berührt. Auf manche dieser Themata kamen die beiden gelegentlich zurück, und so sprachen sie auch noch verschiedene Male von den beiden Helden der Pratischen Erzählung, Anselm und Josef. Aber Prati hatte seine Freundin nicht überzeugen können, daß die Entdeckung des Diebes nichts an Büchners Gemütszustand ändern würde. Sie blieb bei ihrer entgegengesetzten Meinung, und Prati gab es schließlich auf, sie zu der seinigen zu bekehren.

»Wir wollen nicht mehr darüber sprechen,« sagte er; »ich sehe, wir können uns doch nicht verständigen.«

»Ich möchte nur, daß wir den Dieb hätten,« bemerkte dazu Frau Onslow; »dann wollte ich Ihnen tatsächlich beweisen, daß ich recht habe.«

Darauf antwortete Prati nicht und kam auch später nicht wieder auf die Sache zurück.


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