Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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6.

Die nächsten Monate verliefen für Büchner und Edith ohne bemerkenswerte Ereignisse. Erst nach Verlauf längerer Zeit, fast eines Jahres, konnten Prati und Frau Onslow sich Rechenschaft davon ablegen, daß die Lage ihrer Freunde langsam aber stetig immer schlechter geworden war.

Es ließ sich nicht mehr verbergen, daß Büchner trank. Zwar hatte ihn noch keiner seiner Bekannten trunken gesehen, aber an seinem ganzen Aussehen und Wesen erkannten die zahlreichen Sachverständigen der Kolonie, daß Büchner Gewohnheitstrinker der schlimmsten Art, einsamer Trinker sei. Seine geistigen Fähigkeiten nahmen ab, seine Arbeitskraft verringerte sich. Zu verschiedenen Malen schon hatte er als Buchhalter Irrtümer begangen, die Herrn Morrisson zwar keinen wirklichen Schaden zugefügt, wohl aber ihn in seinem kaufmännischen Stolze verletzt hatten.

»In meinen Büchern dürfen keine Fehler gefunden werden,« hatte er eines Tages verdrießlich bemerkt. »Es ist früher niemals vorgekommen und darf auch in Zukunft nicht wieder geschehen. Sie müssen sich mehr in acht nehmen, Herr Büchner.«

Büchner hatte sich so sehr wie möglich in acht genommen – aber ohne Erfolg. Die Fehler häuften sich mehr und mehr – und eines Tages, angesichts eines neuen von ihm begangenen Irrtums, stand er zunächst eine Weile ratlos da, und dann trat er in Herrn Morrissons Arbeitszimmer und erklärte diesem, er sei krank, fühle sich unfähig, den berechtigten Ansprüchen, die man an ihn stelle, zu genügen, und bitte deshalb um seine Entlassung.

Büchner war nicht mehr beliebt in Schanghai. Herr Morrisson, der seine Angestellten gut bezahlte, aber dafür tüchtige Arbeit verlangte, war froh, einen unzuverlässigen Buchhalter loszuwerden, und begnügte sich damit, zu sagen, er hoffe, Herr Büchner werde bald wieder hergestellt sein. Dann würde sich auch vielleicht wieder ein Platz für ihn im Hause finden. Einstweilen stehe es ihm frei, es sofort zu verlassen, um sich zu pflegen. Selbstverständlich werde ihm sein Gehalt noch für die nächsten drei Monate ausgezahlt werden.

Am Abend dieses Tages wartete Edith schon lange Zeit vergeblich auf ihren Mann, der zwischen fünf und halb sechs Uhr nach Hause zu kommen pflegte. Es war sieben Uhr geworden, und noch immer hatte er sich nicht blicken lassen. Man befand sich im Monat November. Die Nacht war längst eingebrochen, und das Wetter stürmisch. Es regnete, und der Himmel war mit finsterem, niedrigem Gewölk dicht bedeckt. Frau Edith wurde unruhig. Sie sandte einen Diener zu Herrn Morrisson und ließ sich erkundigen, ob ihr Mann bald heimkehren werde. Ihr ahnte sofort Schlimmes, als nach Verlauf einer kleinen Stunde Herr Morrisson selbst, den sie seit ihrer Verheiratung nicht wieder gesehen hatte, sich bei ihr anmelden ließ.

»Es ist ein Unglück geschehen!« rief Edith aus, sobald sie Morrisson erblickte.

»Ich hoffe, nein,« sagte dieser, ein wenig zögernd.

»Ach, sprechen Sie schnell!« bat Edith. Morrisson erzählte nun kurz, was zwischen ihm und seinem Buchhalter vorgefallen war, wobei er betonte, daß es seine Absicht sei, Büchner nach seiner Wiederherstellung von neuem zu beschäftigen. Derselbe, setzte er hinzu, habe das Kontor zur gewöhnlichen Stunde, gegen fünf Uhr, verlassen und dabei gesagt, er würde am nächsten Tage wiederkommen, um die Bücher seinem Nachfolger zu übergeben.

»Gott sei mir gnädig!« murmelte Edith. Sie war totenblaß, aber sie wurde nicht ohnmächtig. »Sind sie in einem Wagen gekommen?« fragte sie.

»Er steht vor der Tür,« antwortete Herr Morrisson.

»Ach bitte, dann fahren Sie gleich nach der Polizei. Es müssen sofort Nachforschungen angestellt werden.«

»Es war meine erste Sorge, dies zu veranlassen, sobald Ihr Diener bei mir erschien. In diesem Augenblick sind bereits alle verfügbaren Polizeikräfte aufgeboten, um nach Herrn Büchner zu suchen, auch meine eigenen Leute sind sämtlich unterwegs.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Edith flüchtig. Sie trat an das Fenster. Es regnete in Strömen.

Sie kam wieder zurück, die gefalteten Hände auf der Brust, ein Bild des Jammers. »Was kann ich tun?« fragte sie.

»Sie können augenblicklich nichts tun als warten,« erwiderte Morrisson milde. »Beruhigen Sie sich, meine liebe, gnädige Frau: es ist noch kein Grund vorhanden, Schlimmes zu befürchten. Herr Büchner kann sich einfach im Klub verspätet haben.«

»Er geht nie in den Klub.« Sie klingelte und sagte dem Diener, der schnell eintrat: »Eilen Sie zu Herrn Prati, suchen Sie, ihn zu finden, wo er auch sein möge. Ich müßte ihn sofort sprechen!«

Dann ging sie in fieberhafter Aufregung im Zimmer auf und ab. Morrisson folgte ihren Bewegungen mit teilnehmenden Blicken.

»Ich will auf das Polizeiamt fahren,« sagte er endlich. »Sobald dort Nachricht eintrifft, bringe ich sie Ihnen.«

»Vielen Dank, vielen Dank. Bitte, tun Sie das.«

Gleich darauf vernahm sie das Geräusch des davonrollenden Wagens; aber nach wenigen Minuten schon kehrte derselbe zurück. Sie öffnete das Fenster und sah Herrn Morrisson aus dem Wagen springen und durch den kleinen Garten dem Hause zueilen. Noch ehe er die Tür erreicht hatte, trat sie ihm schon entgegen. Er führte sie in das Haus zurück und rief ihr zu:

»Sie können ganz ruhig sein. Alles ist in Ordnung!« Sie atmete tief auf und seufzte leise.

»Aber erschrecken Sie nicht ...«

»Sie täuschen mich!« rief sie, plötzlich wieder auf das äußerste geängstigt. – »Was ist vorgefallen? Ich beschwöre Sie, sagen Sie mir das Schlimmste.« »Es ist nichts Schlimmes vorgefallen, Frau Büchner. Hören Sie?« – Sie war zurückgetaumelt, einer Ohnmacht nahe. – »Frau Büchner, ich gebe Ihnen mein Wort, Ihr Mann lebt, er wird in wenigen Minuten hier sein, und morgen so gesund, wie er Sie heute verlassen hat. Es ist ihm ein kleiner Unfall zugestoßen, aber ohne jede bedenklichen Folgen. Ohne jede! Hören sie? Aber nun seien Sie ruhig, bitte, seien Sie ruhig.« Er nahm sie am Arm und führte sie in das Empfangszimmer, wo sie leise wimmernd auf einem Sessel zusammenbrach.

»Was ist denn geschehen?« fragte Edith nach einer kleinen Weile, noch immer weinend, aber durch die Versicherung, die Morrisson ihr gegeben hatte, augenscheinlich beruhigt.

»Nichts Erschreckliches, liebe Frau Büchner« ... Er lächelte gezwungen und verlegen. »Ich fürchte ... ich fürchte ...« fuhr er fort ... »nun, Sie werden es ja selbst sehen, und es wäre unnütz, es Ihnen verheimlichen zu wollen ... Ich fürchte, Büchner... Büchner hat sich betrunken.«

Sie nickte langsam mit dem Haupte. »Ich will lieber allein sein, wenn er ankommt,« sagte sie nach einer kleinen Pause mit sanfter Stimme. »Ich danke Ihnen, Herr Morrisson.«

Dieser entfernte sich darauf schnell.

Nach einigen Minuten lag Büchner sinnlos betrunken auf dem Bette, wo ihn ein paar grinsende Kulis niedergelegt hatten: die Kleider besudelt, zerrissen, vom Regen durchnäßt, hilflos, die Haare wüst auf der bleichen Stirn, – ein Bild des Ekels und noch mehr des Jammers. Seine Augen waren halb geschlossen und er sah und vernahm nichts von dem, was um ihn her vorging.

Frau Edith schien kein Auge zu haben für das Abschreckende des Anblicks vor ihr, sondern nur zu sehen, wie jammervoll derselbe war: in ihrem stillen Antlitz zeigte sich kein Zug von Verachtung oder Abscheu, nur Erbarmen und Traurigkeit waren darin zu lesen, und diese Traurigkeit hatte etwas eigentümlich Ruhiges, Entschlossenes. Wie sie in dem matt erleuchteten Zimmer geräuschlos hin und her ging, in sachverständiger Weise für den bewußtlosen Mann sorgend, zu dessen Pflege sie keine fremde Hilfe hatte zulassen wollen, da glich sie einer jener frommen Dulderinnen, die sich in selbstloser Barmherzigkeit für die Leiden der kranken Menschheit aufopfern. Nach einer halben Stunde mühevollen Schaffens der armen kleinen Frau war Büchners Anblick ein ganz anderer geworden. Sein bleiches Haupt ruhte auf weichen, weißen Kissen und glich in seiner kalten Unbeweglichkeit dem eines Mannes, der nach schweren Leiden endlich Ruhe gefunden hat. Edith schien sich in seinen Anblick ganz zu vertiefen. Ihre Züge, die in Schmerz erstarrt gewesen waren, wurden weicher, bis sich zuletzt ein Ausdruck kindlicher, herzzerreißender, hilfloser Traurigkeit darüber lagerte und sie leise weinend neben dem Bette niedersank. Sie hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde und Prati in das Gemach trat. Er blieb eine kleine Weile am Eingang stehen, näherte sich dann vorsichtig der weinenden Frau, die, als sie seine Nähe fühlte, zunächst erschrocken auffuhr, aber dann mit einer stummen Geberde der Verzweiflung, die zitternde Handfläche nach oben, auf den Unglücklichen deutete und nun in lautes, bitteres Weinen ausbrach.

»Was ist geschehen?« fragte Prati. Sie antwortete nicht. »Soll ich einen Arzt rufen?« Sie schüttelte verneinend den Kopf.

Eine lange Pause trat ein. Dann trocknete Edith sich die Augen, und Prati die Hand reichend, sagte sie milde: »Ich danke Ihnen, Sie lieber, treuer Freund.«

Etwas Kläglicheres als der Gesichtsausdruck des Italieners bei diesen herzlichen Worten läßt sich kaum denken.

Am nächsten Tage war der Unfall, der Büchner betroffen hatte, Stadtgespräch. Die von Morrisson ausgesandten Schutzleute hatten ihn im Matrosenviertel, in der Nähe einer elenden Schenke, wo Schwefelsäure mit Wasser vermischt als Branntwein verkauft wurde, auf der Straße liegend gefunden und ihn von dort nach seiner Wohnung geschafft. Die Entrüstung in der Kolonie war allgemein. Wenn ein Junggeselle sich betrank, so war das schon schlimm genug – man konnte es jedoch zur Not noch hingehen lassen; aber daß ein verheirateter Mann, der eine Frau wie Edith Rawlston besaß, sich zum Tier herabwürdigte, das war unverzeihlich. Kein Wort schien zu stark, um die sittliche Empörung der Kolonie und Büchners Benehmen zu kennzeichnen. Nur vier Personen stimmten nicht ein in den Entrüstungschorus – eigentlich sogar nur drei: Prati, Morrisson und Frau Onslow. Herr Onslow sagte zwar auch nichts gegen Büchner, aber dies geschah ausschließlich aus Furcht vor seiner Frau. Hätte er den Mut gehabt, seine Meinung zu äußern, so würde er auf Seiten der Ankläger Büchners gestanden haben. – Ein sonderbarer Heiliger der Gemeinde kam auf den Gedanken, es sei die Pflicht der anständigen Amerikaner von Schanghai, für Frau Büchner zu sorgen; und da er bei einigen seiner Landsleute Zustimmung fand, so redete er sich ein, er habe eine Mission zu erfüllen, und begab sich mit einer nicht geschriebenen Vollmacht, die er sich selbst ausgestellt hatte, zu Frau Büchner, um ihr zu verkünden, daß, falls sie sich von ihrem Gatten trennen wollte, sie die Sympathien der ganzen Kolonie zu einem solchen Schritt für sich habe, und daß diese sie sicherlich auch tatsächlich unterstützen werde. – Der Empfang, der ihm zuteil wurde, übertraf die kühnsten Erwartungen derjenigen, die vorsichtig genug gewesen waren, von einem Einmischen in die häuslichen Angelegenheiten des Büchnerschen Ehepaares abzuraten. Frau Edith wies dem unberufenen Beschützer, sobald sie dessen Absichten erkannt hatte, in so energischer Weise die Tür, daß jener, ein eitler und würdevoller Mann, der Dank und Ehre zu ernten gehofft hatte, mehrere Tage lang ganz verwirrt blieb und – wenn man von seinem Abenteuer sprach – nur die Hände zusammenschlagen und verzweifelnd gen Himmel blicken konnte. Die erste Äußerung über Frau Büchner, die man von ihm vernahm, war: »Eine furchtbare Frau – schlimmer als ihr Mann!« Aber er hatte damit keinen Erfolg und wurde nur hinter seinem Rücken ausgelacht. Die verheirateten Männer sagten von Frau Edith mit aufrichtiger Bewunderung: »Eine mutige kleine Frau, die das Herz auf dem rechten Flecke hat.«

Büchner erwachte erst nach vierundzwanzig Stunden aus der schweren Betäubung, in der er gelegen hatte, und war noch mehrere Tage lang krank. Nicht ein Wort wurde zwischen ihm und seiner Frau über das, was vorgefallen war, gewechselt. Aber er würdigte diese Schonung in seiner Weise. Er nahm ihre kleine Hand und streichelte sie leise, wie es seine Art war, und blickte sie dabei stumm mit dankbaren Augen an. – Und Edith? – Sie sagte: »Mein armer, guter Georg!« – Das war seine ganze Strafe. Aber die Geschichte war ihm doch sehr nahe gegangen. – Er zog sich von jedem Umgang zurück. Selbst vor Frau Onslow versteckte er sich, wenn sie in das Haus kam. Nur mit Edith verkehrte er noch und mit Prati, der, so oft seine Geschäfte es erlaubten, mit Büchner zusammen war und diesem wie ein treuer Hund folgte, der schon dafür dankbar ist, wenn er nur in der Nähe seines geliebten Herrn geduldet wird. Edith und Büchner fanden dies ganz natürlich – Prati gehörte zum Hause.

Acht Tage etwa nach seiner Genesung empfing Büchner einen Brief von Herrn Morrisson mit einem Check für das Gehalt, das Büchner noch für die nächsten drei Monate zu erhalten hatte. Der Brief schloß mit den Worten: »Ich hoffe, daß Ihr Gesundheitszustand Ihnen bald gestatten wird, Ihre Dienste meinem Hause wieder zu widmen, in dem ich Ihre alte Stellung bis auf weiteres für Sie offen halte.«

Büchner zeigte diesen Brief zuerst Edith und sagte dazu: »Morrisson ist ein guter Mensch.«

»Ja, in der Tat,« antwortete Edith darauf.

Am Abend sprach Büchner sodann mit Prati über Morrissons Anerbieten. Auch der Italiener erkannte die wohlwollende Gesinnung des Engländers bereitwillig an; aber er hatte seinem Freunde ein anderes Anerbieten zu machen. – Das Geschäft ging sehr gut. Prati hatte während des letzten Jahres sein Kapital mehr als verdoppelt, er wollte seine Beziehungen jetzt noch mehr ausdehnen und schlug Büchner vor, sich zu dem Zweck mit ihm zu verbinden.

»Rawlston, dem ich geschrieben habe,« sagte er, »ist damit einverstanden, daß ich, unbeschadet meiner Stellung in seinem Hause, für eigene Rechnung Geschäfte mache. Er stellt nur die Bedingung, daß ich mich seines Hauses als Agenten bediene. Das paßt mir ganz und gar. Aber ich brauche jemand zur Buchführung und Korrespondenz. Ich möchte mich auch mit einem zuverlässigen Tea-taster (Einkäufer von Tee) in Verbindung setzen. Früher verstanden Sie sich, wie ich mich sehr wohl erinnere, vortrefflich auf diesen Artikel, und wenn Sie Ihre Zunge schonen, wenig rauchen und keinerlei scharfe Sachen trinken wollen, so werden sie bald in der Lage sein, allen Ansprüchen zu genügen, die ich an Sie für das Teegeschäft stellen würde. Ich habe mich schon lange nach einem Partner umgesehen, und da Sie jetzt frei sind, so frage ich, ob Sie Ihr Glück mit mir versuchen wollen. Wir sind beide vorsichtige und sachverständige Leute, und ich kann mir nicht denken, daß Sie als mein Sozius nicht ebensoviel verdienen sollten wie als Morrissons Buchhalter.«

Büchner erbat sich Bedenkzeit. Er wollte mit seiner Frau sprechen. Diese besaß für Geschäftsfragen wenig Verständnis und zog nur in Erwägung, daß, wenn Georg sein eigener Herr würde, er nicht wieder Vorwürfe, wie die ihm einmal von Francis Morrisson gemachten, zu fürchten habe. Das war eine beruhigende Aussicht. »Ich würde Pratis Vorschlag annehmen,« sagte sie – und damit war die Sache abgemacht.

Ein Zimmer in der Büchnerschen Villa wurde als Kontor eingerichtet. Dort verbrachte Büchner fortan den größten Teil seines Tages in ruhiger, wenig anstrengender Beschäftigung, der er vollständig gewachsen war und der er sich mit Interesse für die Sache hingab. Die Einkäufe und Verkäufe, sowie die Verschiffung von Tee und Seide besorgte Prati durch Vermittlung von Rawlston u. Co. Büchner hatte nur mit der Korrespondenz und Buchführung und mit dem »Kosten« und der Abschätzung der zu versendenden Tees zu tun. Das Teegeschäft gewann schnell an Umfang und gab Büchner viel zu schaffen.

Eines Tages, während Büchner im Kontor beschäftigt war, stattete Prati Frau Edith einen kurzen Besuch ab, um sich mit ihr, wie dies bei solchen Gelegenheiten fast immer der Fall war, über Büchners Gesundheitszustand zu unterhalten.

»Ich kann Ihnen niemals genug danken, Herr Prati,« sagte Edith. »Sie haben ihn gerettet. Ein Bruder hätte nicht mehr für ihn tun können. Sie sind sein guter Engel. Sein Gesundheitszustand wird täglich besser, und seine Entmutigung, die eine vollständige geworden war, beginnt zu schwinden. Gestern machte er Zukunftspläne! Ich dankte Gott im Herzen dafür und ich danke Ihnen, lieber Freund. – Wissen Sie, daß er das Rauchen ganz aufgegeben hat, und ... und –« sie stockte etwas – »und das andere auch. Wenn das nur dauern wollte! Ach, wenn ich meinen alten Georg wieder wie früher vor mir sehen könnte!«

Büchners Gesundheit besserte sich in der Tat augenscheinlich, aber doch nur langsam. Auch war er noch immer außerordentlich schweigsam und nachdenklich, und seine Menschenscheu hatte seit seiner Besserung womöglich noch zugenommen. Namentlich schien er vor Morrisson und Frau Onslow Furcht zu haben und vermied es ängstlich, mit ihnen zusammenzutreffen.

Prati, der ohne Büchners Wissen über dessen Zustand mit einem Arzte gesprochen hatte und mit diesem in regelmäßiger Verbindung geblieben war, erhielt von ihm gegen Ende des Frühjahrs den Rat, Büchner zum Sommer eine längere Reise machen zu lassen. Es würde seinem Gemüte wohltun, sagte der Doktor, andere Menschen und ein hübscheres Land als Schanghai zu sehen. Nagasacki sei zu heiß im Sommer, er solle nach Yokohama oder Hakodate gehen, man könnte dort schon irgend jemand zu seiner Überwachung finden. Doktor Jenkins in Yokohama zum Beispiel würde eine geeignete Persönlichkeit dazu sein, Wenn Prati es wünsche, so wolle er, der Doktor, seinem Kollegen schreiben und ihm alle nötigen Anleitungen bezüglich Büchners Behandlung geben.

»Wäre es gut, wenn seine Frau mit ihm ginge?« fragte Prati.

»Besser nicht,« meinte der Doktor. »Sie würde ihn zu sehr verhätscheln und er mit niemand verkehren wollen als mit ihr. Er muß wieder mit fremden Menschen umgehen lernen, und dazu ist es am besten, daß er allein in Yokohama ankommt.« »Aber fürchten Sie nicht, daß er von neuem anfängt zu trinken, wenn er sich nicht mehr so streng beobachtet fühlt, wie hier?«

»Es ist möglich, aber ich fürchte es nicht. In dem Falle würde übrigens mein Kollege einschreiten und mit einem Bericht nach Schanghai drohen. Büchner hat den Entschluß gefaßt, sich zu bessern, und die Energie, mit der er ihn nun seit sechs Monaten durchführt, läßt mich hoffen, seine Heilung sei bereits soweit vorgeschritten, daß wir ihn sich selbst überlassen können. – Sie behaupten, er trinke jetzt nur noch Tee und Rotwein und Wasser. Sagen Sie ihm, er müsse dabei beharren, und ...« fügte der Doktor lächelnd hinzu – »lassen Sie sich wöchentlich einen Teebericht von ihm geben und verlangen Sie von ihm die Einsendung von Mustern und Gutachten. Sendet er keine Berichte oder erfahren wir, daß er wieder angefangen hat zu trinken, nun, so lassen wir ihn schleunigst zurückkommen. Aber wir müssen einmal den Versuch machen, ob man ihn sich selbst überlassen kann, und nach meinem Gefühl ist der richtige Zeitpunkt dazu gekommen.«

Es kostete nicht geringe Mühe, Frau Edith zu bewegen, sich auf mehrere Monate von ihrem Mann zu trennen. Schließlich siegte jedoch die vereinigte Onslowsche und Pratische Beredsamkeit. Kein Opfer war der kleinen Frau zu groß, wenn es dem Wohle ihres Mannes gebracht werden sollte, und nachdem sie einmal überzeugt worden war, es sei zur vollständigen Wiederherstellung Büchners notwendig, daß er Schanghai eine Zeitlang allein verlasse, wurde sie Pratis Verbündete, um dahin zu wirken, daß Büchner im Monat Mai nach Japan gehe. Den Vorwand zur Reise gaben kaufmännische Unternehmungen, die Büchner in Yokohama gründlich studieren sollte, und von deren Ausführung Prati sich, wie er seinem Sozius mit ernstem Gesicht versicherte, großartige Erfolge versprach.

»Lassen Sie nur niemand merken, was Sie vorhaben,« sagte er geheimnisvoll. »Sagen Sie, Sie kämen als Leidender, um Ihre Gesundheit herzustellen. Geben Sie sich viel mit Doktor Jenkins ab, der übrigens ein liebenswürdiger Mensch sein soll. Ich werde Ihnen eine Einführung bei ihm verschaffen. Unter der Hand ziehen Sie dann genaue Erkundigungen über die Seidenkultur im Innern ein und studieren Sie den Teemarkt. Rawlston u. Co. – dies ganz vertraulich – machen in San Francisco und in Neuyork ein großartiges Geschäft mit Japan-Tees. Schreiben Sie mir regelmäßig und ausführlich; ich werde Ihnen von hier aus weitere Anweisungen geben, je nachdem Sie mir die Lage des Marktes darstellen.«

Büchner nickte bedeutungsvoll. »Ich habe wohl verstanden,« sagte er, »verlassen Sie sich auf mich.«

»Wie auf mich selbst.«

»Das können Sie.«

»Büchner, noch ein Wort ... nehmen Sie es mir nicht übel.« Der lange Holländer sah seinen Freund fragend und ängstlich an. »Sie müssen da drüben leben wie hier, in jeder Beziehung: nicht rauchen und ...«

Er hielt inne. Büchner wurde rot und sah verlegen zu Boden.

»Ich darf mich auf Sie verlassen?«

Eine kurze Pause. Dann sagte Büchner mit leiser Stimme, aber entschlossen: »Sie können sich auf mich verlassen.«

»Das ist recht,« versetzte Prati und drückte herzhaft die ihm dargereichte Hand.

Und so kam der lange Holländer in geheimer Sendung nach Japan, im Mai 1862, vier Monate, ehe ich an Bord der »Aurora Belisle« seine Bekanntschaft machte und ihm freie Überfahrt nach Schanghai anbot.


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