Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3.

Während der nächsten Tage gingen allerhand Veränderungen im Rawlstonschen Hause vor, mit denen sich die öffentliche Meinung in Schanghai lebhaft beschäftigte. Edith war zu Frau Onslow gezogen. Sie machte und empfing keine Besuche. Man sah sie von Zeit zu Zeit neben ihrer Freundin im Wagen spazieren fahren. Die Männer grüßten sie ehrerbietig, und sie dankte ruhig und vornehm.

Georg Büchner hatte sich im amerikanischen Viertel, am äußersten Ende der fremden Niederlassung, eine kleine Wohnung gemietet, in der er zurückgezogen lebte. Die Meinung der Kolonie über ihn war geteilt. Die Mehrzahl seiner ehemaligen Genossen war der Ansicht, dass er ein ehrlicher Mann sei; aber hier und da wurden die Augenbrauen in die Höhe gezogen, die Köpfe geschüttelt und die Achseln gezuckt. Ob Büchner nun ein ehrlicher Mann oder ein Dieb war – seinen unangefochtenen guten Namen hatte er eingebüßt. Was er darunter litt, konnte niemand sagen, denn er sprach nicht davon; aber wer ihn erblickte, der konnte in dem gramverstörten Gesichte deutlich lesen, daß er einen unglücklichen Menschen vor sich sah.

Büchner hatte sich nicht von der Welt abgeschlossen. Mehrere seiner Freunde pilgerten nach seiner Wohnung hinaus und besuchten ihn und sprachen zu ihm mit einer künstlichen Unbefangenheit, die bei den rauhen Männern etwas Rührendes hatte, »Wollen wir nicht eine Partie Kegel machen? – Oder einen gemütlichen Rubber? – Reiten Sie heute nicht aus?« – Büchner schüttelte auf solche Anfragen stumm das Haupt. Er ging zu niemand, er zeigte sich an keinem öffentlichen Orte. Wer ihn sehen wollte, der mußte ihn aufsuchen. Unter denen, die dies taten, erschien keiner häufiger, als sein ehemaliger Kollege im Hause Rawlston, der Seideninspektor Prati. Büchner hatte gar nicht gewußt, daß er einen so guten Freund an dem kleinen Italiener hatte, und empfand es dankbar, daß dieser sich in der Stunde der Not treu zeigte.

Prati war der einzige, der sich nicht die Mühe gab, die Gedanken zu verhehlen, mit denen alle zu der Zeit über Büchners Schwelle traten. Er sprach offen mit ihm von dem nahe bevorstehenden Prozesse, in dem Büchner der Unterschlagung verdächtig, vor den Schranken des Gerichts erscheinen sollte.

»Nehmen Sie sich doch die Sache nicht so zu Herzen, Büchner! Sie sind unschuldig. Das wissen Sie, das weiß alle Welt. Niemand, um den Sie sich zu kümmern haben, zweifelt an Ihrer Unschuld.«

»Rawlston!« warf Büchner dazwischen.

»Ach was, Rawlston! Der weiß ebenso gut wie ich, daß Sie ein Ehrenmann sind. – Sie haben keine Idee, wie niedergeschlagen er ist; und er hat Grund, verdrießlich zu sein, denn sein Benehmen Ihnen gegenüber ist gar nicht zu rechtfertigen. O, ich habe es ihm gestern wieder gesagt. Ich fürchte mich nicht vor ihm. Und wenn Sie sähen, wie klein er sich macht! Er ist einen Kopf größer als ich, aber wenn ich Ihren Namen ausspreche, dann sinkt er zusammen und reicht mir nicht bis zur Schulter. Sie wissen, daß er unter keinen Umständen als Ihr Ankläger auftreten wollte. Hätte es in seiner Macht gelegen, so wäre die ganze Sache zurückgezogen worden. Aber es ist gut, daß der Staatsanwalt sich veranlaßt gefühlt hat, auf die Anzeige der Polizei hin gegen Sie vorzugehen, denn Sie müssen die Genugtuung haben, vom Gericht für unschuldig erklärt zu werden. Und das wird geschehen! – Und dann, Büchner, dann versprechen Sie mir, wieder ein vernünftiger Mensch zu werden. Wollen Sie, Büchner? Versprechen Sie es mir!« Der lange Holländer lächelte traurig. »Sie sind ein guter Freund,« sagte er.

Jeden Abend um neun Uhr begab sich Büchner zu Frau Onslow, wo er seine Braut antraf und sodann in Gesellschaft der beiden Damen etwa zwei Stunden verblieb. Daß dies geschah, war Frau Onslows Werk. Büchner hatte an demselben Tage, an dem er mit Rawlston gebrochen, einen betrübten, aber keineswegs kläglichen Brief an Edith geschrieben und ihr auseinandergesetzt, weshalb er sich für verpflichtet halte, ihr ihre Freiheit wiederzugeben: als er um sie geworben, habe er geglaubt, sie glücklich machen zu können, wenn sie ihr Schicksal an das seinige knüpfen wolle; nun dürfe er dies nicht mehr hoffen, denn er sei plötzlich ein unglücklicher Mensch geworden. Er sage ihr Lebewohl, und er bitte sie, ihm ein gutes Andenken zu bewahren. – Als Antwort hatte er auf einer offenen Karte den kurzen Bescheid von Frau Onslow erhalten, sie bitte ihn, am Abend um neun Uhr, im engsten Kreise den Tee bei ihr einzunehmen. – Büchner war erschienen und hatte Herrn und Frau Onslow angetroffen, von denen jener nach kurzer, herzlicher Begrüßung wieder verschwunden war, wogegen die Dame des Hauses ihm eine längere Rede gehalten hatte, um ihm klar zu machen, daß in seinem Verhältnis zu Edith nichts geändert werden dürfe.

»Wofür halten Sie denn meine junge Freundin? – Für ein leichtfertiges Geschöpf, das ihr Herz heute gibt und morgen zurücknimmt? Man sieht, daß Sie ein Europäer sind, der nicht ahnt, was ein ordentliches amerikanisches Mädchen wert ist. Edith wird sie nicht verlassen: sie hat sich Ihnen versprochen und sie gehört Ihnen. Ihr Glück liegt da, wo ihr Herz und ihre Pflicht sie hintreiben: bei Ihnen. – Herr Büchner, es gibt eine Art schlecht verstandenen Edelmutes, der in seinen Folgen ebenso traurig ist wie beabsichtigte Bosheit. Wenn Sie Edith jetzt verlassen wollen, nachdem sie Ihretwegen mit James gebrochen hat und mit der ganzen Welt brechen würde, so wäre das eine schlechte Handlung, gleichviel ob Edelsinn oder Feigheit Sie dazu triebe. Seien Sie ein Mann! Sagen Sie nicht: Alles ist verloren. Das soll ein Mann, der das gute Recht auf seiner Seite hat, nicht tun. Kämpfen Sie bis zum Ende um das höchste Gut, das Ihnen auf Erden beschieden ist: um ein reines, treues Frauenherz.«

Es bedurfte nicht so langer Reden, um Büchner zu überzeugen. Er wünschte nichts sehnlicher, als was Frau Onslow ihm aufdrang. Er drückte ihr tief bewegt die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen.«

Darauf erhob sich Frau Onslow triumphierend und kehrte nach wenigen Minuten mit Edith zurück, die blaß und niedergeschlagen aussah, aber deren Wangen sich röteten und deren Augen aufleuchteten, als Büchner ihre kleine Hand nahm, sie sanft streichelte und dazu leise sagte: »Mein ganzes Leben kann ich Ihnen nicht für diese Stunde danken.«

Ja, Edith fühlte sich glücklich. Ihre Liebe zu Büchner hatte, ohne sein Zutun, in wenigen Tagen erstaunliche Fortschritte gemacht. Das unverdiente Unglück, unter dem sie ihn leiden sah, machte ihn in ihren Augen nur noch liebenswerter. Ihr ganzes Streben war darauf gerichtet, ihm sein schweres Los zu erleichtern und es ihn womöglich vergessen zu machen.

»Du bist zu gut, meine Edith,« sagte er. »wie kann ich es dir je vergelten?«

»Warte nur,« antwortete sie lächelnd, »bis du wieder sorglos und heiter bist, dann werde ich dich schon genug quälen. Du sollst mit schweren Zinsen zurückzahlen, was du jetzt empfängst.«

Wenn Büchner am Abend den dunklen Wussongfluß entlang über den verödeten »Bund« nach seiner entfernten Wohnung heimkehrte, dann dachte er darüber nach, was Edith ihm gesagt hatte. – Konnte er je wieder froh werden?

Der Wussong ist ein breiter, tiefer Strom. Inmitten einer baumlosen, sumpfigen Ebene wälzt er seine gelben, schlammigen Wasser dem riesigen Jangtsekiang zu. Zur Zeit der Ebbe, die sich bis weit hinter Schanghai fühlbar macht, verfolgt er in wilder, wütender Hast, gurgelnd und zischend, seinen mächtigen Lauf. Dies Gurgeln und Zischen schien einen eigentümlichen Reiz für den langen Holländer zu haben, denn oftmals blieb er stehen und lauschte dem unheimlichen Getöse. – Konnte er je wieder froh werden? – In seiner Wohnung angelangt, entkleidete er sich langsam und suchte das Lager; aber er fand keine Ruhe. Dann erhob er sich wieder und trat auf die Veranda. Dort hörte er das Rauschen des dunklen Stromes! Über ihm breitete sich der tiefe, mit unzähligen Sternen besäte Nachthimmel. Und sein Blick richtete sich immer und immer wieder auf einen und denselben Stern, der im Zenith, aus unergründlichen Fernen, in kaltem, ruhigem wunderbarem Lichte auf ihn herabstrahlte. Mit welchen Gedanken sich seine Brust dabei füllte, das kann kein Mensch wissen; aber sie mußten bitter und schwer sein, denn er blickte in solchen Augenblicken hilflos, verzweifelt um sich, und dann sank er ganz geknickt zusammen und stöhnte laut. – Wenn er nur Ruhe finden, wenn er nur schlafen könnte! – Er trat in das Zimmer zurück, füllte ein großes Glas mit Brandy und leerte es. Darauf steckte er einen Cheroot an und begann zu rauchen. Die Augen wurden ihm schwer und er schloß sie. – Aber plötzlich fuhr er aufgeschreckt in die Höhe. – Wer hatte ihn gerufen? – Tiefe Stille ringsumher. Das ununterbrochene Gurgeln und Zischen des dahinschießenden Wussong, das deutlich vernehmbar war, gehörte zur Stille der Nacht. – Er trank ein zweites Glas Brandy, und dann warf er sich auf sein Lager, wo er in schweren, unerquicklichen Schlaf versank, aus dem er am Morgen mit einer Last auf dem Herzen und dumpfem Kopfschmerz erwachte. – So lebte er nun seit drei Wochen, und es fiel allen auf, wie sehr er sich in dieser kurzen Zeit verändert hatte, wie sehr er gealtert war.

Auch James Rawlston war nicht mehr der Alte. Freude und Jugend hatten sein Haus mit Edith verlassen. Verdrießlich verbrachte er den Tag in seinem Arbeitszimmer, verdrießlich saß er des Abends einsam bei Tische, von stummen, gleichgültigen Dienern umgeben, und verdrießlich bis spät in die Nacht hinein auf der Veranda, allein mit unerfreulichen Gedanken. Denn Büchners Freunde ließen ihn fühlen, daß sie sein Benehmen diesem gegenüber mißbilligten. Sie vermieden ihn. Er war zu stolz, Annäherungsversuche zu machen, und so blieb er allein, vereinsamt in dem großen Hause, in dem noch vor wenigen Wochen mit und um Edith frisches, junges Leben geherrscht hatte. Von Zeit zu Zeit ließ er Herrn Wallice oder Herrn Prati bitten, mit ihm zu speisen. Herr Wallice erschien mit dem Glockenschlage sieben, in schwarzem Frack und tadelloser, weißer Binde. Er aß und trank guten Appetits und war in dieser Beziehung ein vorzüglicher Tischgenosse; aber er sprach unaufgefordert kein Wort, und er hatte ein eigentümliches Talent, auch verwickelte Unterhaltungsgegenstände durch kurze Antworten zu erschöpfen. Die langen Pausen, die oftmals eintraten, machten Rawlston geradezu verlegen; Herr Wallice schien sie nicht zu bemerken, sondern saß, wenn er nicht mit Essen beschäftigt war, kerzengerade hinter seinem Teller, den Blick sinnend auf die Blumen gerichtet, die in der Mitte des Tisches standen. – Prati war eine redseligere, aber deshalb für Rawlston nicht gerade angenehmere Gesellschaft, denn er schien sich die Aufgabe gestellt zu haben, seinem Vorgesetzten Vorwürfe über dessen Benehmen Büchner gegenüber zu machen, und zwar wußte er dies in so höflicher Form zu tun, daß Rawlston, der an seinem Tische einem Gaste gegenüber artig bleiben wollte, ihn nicht zur Ruhe verweisen und dem Gespräch eine andere Wendung geben konnte.

»Was verlangen Sie eigentlich von mir?« fragte Rawlston eines Abends, nachdem Prati sich wieder in der ihm eigenen pathetischen Weise über das unverdiente Unglück des armen Büchner ausgesprochen hatte. »Können wir denn über niemand und nichts anderes in der Welt sprechen als über Herrn Büchner und seine traurige Lage? Fast hat es den Anschein, als liege es in Ihrer Absicht, mich zu verstimmen.«

»Das können sie bei meiner Ihnen bekannten Verehrung für Sie unmöglich glauben; aber da Sie mich dazu auffordern, so erlaube ich mir, ganz offen mit Ihnen zu sprechen. – Ja, ich wünschte, daß Sie etwas für Büchner täten, nachdem Sie ihn unglücklich gemacht haben.«

»Ich bin mir nicht bewußt, ihn unglücklich gemacht zu haben.«

»Sie haben das gegen Ihre Absicht und ohne Ihr Wissen, aber Sie haben es doch wirklich getan: Hätten Sie Ihren Verdacht nicht so bestimmt geäußert, so wäre Herr Büchner heute noch in derselben Lage wie Herr Wallice zum Beispiel, dessen Stellung und Ruf durch den bei Ihnen verübten Diebstahl in keiner Weise berührt worden sind. Dadurch allein, daß Sie dem Brautpaar gegenüber eine zwecklos feindliche Haltung eingenommen haben – denn verhindern können Sie die Verbindung zwischen den beiden schließlich ja doch nicht, da Fräulein Rawlston Ihrer Vormundschaft entwachsen ist, – dadurch haben Sie meinen Freund aus Ihrem Hause getrieben und ihn in die schreckliche Lage versetzt, in der er sich jetzt befindet. Denken Sie an sein Los, Herr Rawlston! Malen Sie sich aus, was der Unglückliche zu erdulden hat – und zwar unverschuldet – und auf Ihre Veranlassung! Und sagen Sie selbst, die Hand aufs Herz: halten Sie Büchner einer Unterschlagung für fähig?«

Vor drei Wochen hätte Rawlston darauf unbedingt mit »Ja« geantwortet; aber seitdem war seine Zuversicht geschwunden. Auch der Polizeiinspektor, mit dem Rawlston noch verschiedene Unterredungen gehabt, war seiner Sache durchaus nicht mehr ganz sicher. Büchner hatte nämlich einen Schritt getan, auf den die beiden nicht vorbereitet gewesen waren: an demselben Tage, an dem er seine Stelle aufgegeben, hatte er an Rawlston eine Bankanweisung für den ganzen abhanden gekommenen Betrag mit einem kurzen Schreiben eingesandt, in dem gesagt war, er betrachte sich für die von ihm geführte Kasse verantwortlich und überweise deshalb den Betrag, der daran fehle. Rawlston hatte die Anweisung zurückgesandt: es sei in China nicht Gebrauch, daß ein Kassierer die Verantwortlichkeit dafür übernehme, daß seine Kasse nicht ausgeplündert werde. Aber Büchner hatte das Geld nicht zurücknehmen wollen, sondern es auf dem amerikanischen Konsulat niedergelegt: »zur freien Verfügung der Herren Rawlston u. Co. bis zu dem Tage, an dem die jüngst abhanden gekommene Summe von zehntausend Dollars wieder in deren Besitz gelangt sein würde.« Büchners Guthaben bei Rawlston u. Co. hatte nur achttausend Dollars betragen, die fehlende Summe war ihm geliehen worden und zwar, wie man später erfuhr, von seinem Kollegen und Freunde Prati, der sich im Besitz eines Vermögens von etwa zwanzigtausend Dollars befand, die er während der letzten glücklichen Jahre als Seideninspektor verdient hatte.

Als der Polizeibeamte erfahren hatte, die zehntausend Dollars seien bei Rawlston wieder eingezahlt worden, hatte er zunächst gesagt: »Ich gratuliere Ihnen, da sind Sie ja wieder zu Ihrem Gelde gekommen!« Aber gleich darauf war er nachdenklich geworden, hatte sich das Kinn gestrichen und hinzugesetzt: »Das ist eigentümlich. Ein ordentlicher Dieb hätte das Geld nicht so leicht wieder herausgegeben; der hätte es verscharrt oder irgendwo in Sicherheit gebracht, um später die Hand wieder darauf legen zu können.« – Mit der Zeit war der Beamte immer unsicherer geworden, er hatte noch einmal die genauesten Erkundigungen über alle Bewohner des Hauses eingezogen und schließlich gesagt: »Mein Latein ist zu Ende, vielleicht ist der Mensch so unschuldig wie Sie und ich.« – »Der Mensch« war Büchner, und es wurde Herrn James Rawlston recht unbehaglich zumute, wenn er daran dachte, daß er »diesen Menschen« ins Unglück gestürzt und sich seinetwegen mit Edith überworfen hatte. – Als Prati ihn deshalb fragte: »Halten Sie Büchner einer Unterschlagung für fähig?« und ihn dabei mit seinen klugen Augen scharf ansah, zerrte Rawlston eine Weile an seinem Schnurrbart und antwortete endlich langsam: »Sie können recht haben.«

»In diesem Falle habe ich sicherlich recht,« entgegnete Prati mit großer Bestimmtheit. »Unter den anständigen Menschen in Schanghai herrscht darüber nur eine Meinung. – Was die andern sagen und denken, ist von keinem Wert und kümmert Sie nicht.«

»Das Geschwätz der Leute kümmert mich überhaupt nicht. Aber es ist in der Tat meine Sorge, das zu tun, was recht ist.«

»Nun wohl, Herr Rawlston, dann machen Sie Ihr Unrecht wieder gut: schreiben Sie an Ihre Schwester oder an Herrn Büchner und geben Sie Ihre Zustimmung zu deren Vermählung.«

»Nein, heute kann ich das nicht tun. Zunächst muß ich den Ausgang des Prozesses abwarten, in den Büchner verwickelt ist.«

»Das halte ich für falsch; denn einmal dürfte Ihre Haltung in der Sache auf die Richter, so unbefangen sie auch sein mögen, von großem Einfluß sein, und sodann werden weder Büchner noch Fräulein Rawlston in Ihrer Zustimmung, wenn dieselbe nach Büchners unzweifelhafter Freisprechung erfolgt, eine Genugtuung für das ihm von Ihnen zugefügte Unrecht erblicken.«

»Es würde mir sehr leid tun, wenn ich mich für immer mit meiner Schwester entzweien sollte; aber ich muß mich auch darüber hinwegsetzen, wenn es sich darum handelt, eine Pflicht zu erfüllen, und ich halte es für meine Pflicht, der Verlobung meiner Schwester mit einem Manne, der noch unter dem Verdacht eines Verbrechens steht, meine Einwilligung zu verweigern. – Weit wichtiger für meine Entschließungen ist Ihre erste Betrachtung. Ich möchte die Richter in keiner Weise beeinflussen, am wenigsten zu Ungunsten Büchners. Aber nach dem, was nun einmal geschehen ist, weiß ich nicht, was ich in der Sache tun könnte.«

Prati sann einen Augenblick nach und dann sagte er: »Sie könnten vielleicht dem Untersuchungsrichter ein Wort schreiben. Sie brauchten in dem Briefe nur zu wiederholen, was Sie eben gesagt haben, nämlich: daß Sie Ihre Zustimmung zur Vermählung Ihrer Schwester einfach deshalb noch nicht gegeben hätten, weil Herr Büchner durch ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände in den Verdacht geraten sei, eine unehrliche Handlung begangen zu haben, sie selbst wären der Ansicht, daß der Verdacht ein unbegründeter sei, und nähmen an, daß auch der Gerichtshof sich in diesem Sinne aussprechen würde. Jedenfalls wollten Sie den Herrn Untersuchungsrichter darauf aufmerksam machen, daß Ihre augenblickliche Haltung Herrn Büchner gegenüber keineswegs einen Verdacht gegen diesen in sich schließe, und Sie im Gegenteil hofften, ihn bald als Ihren Schwager begrüßen zu können.«

»Den Brief will ich schreiben,« sagte Rawlston, augenscheinlich befriedigt, irgend etwas zur Beruhigung seines Gewissens tun zu können. »Und um Ihnen zu zeigen, daß ich bereit bin, ganz in Ihrem Sinne zu handeln, bitte ich Sie, das Schriftstück aufzusetzen und mir morgen früh zur Unterschrift vorzulegen. – Sind Sie nun zufrieden mit mir? Sehen Sie nun ein, daß mein Benehmen durch keinerlei Feindseligkeit gegen Büchner, nur durch berechtigte Fürsorge für meine Schwester beeinflußt ist?«

»Sie handeln wie ein Ehrenmann, Herr Rawlston, und ich hatte nichts anderes von Ihnen erwartet. Ich werde Ihnen den Brief morgen früh auf Ihr Zimmer senden, denn es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Die Verhandlungen sind, wie ich erfahre, auf übermorgen angesetzt.«


 << zurück weiter >>