Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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Die Reisegefährten

Wir befanden uns seit acht Tagen auf dem Meere und sahen noch eine lange Fahrt vor uns, denn wir hatten uns in Yokohama eingeschifft, und das Ziel unserer Reise war San Francisco.

Die Zahl der Passagiere an Bord des »Ajax« betrug nur vier: vier alte »Residents«, wie man im Osten diejenigen nennt, die seit Jahren die Heimat verlassen und sich in Indien, China oder Japan angesiedelt haben. – Der Kapitän des Schiffes, Mac Gregor, war mit uns allen gut bekannt, so daß wir zu fünf ein und denselben kleinen Kreis bildeten, in dem es harmlos, frei und gleichzeitig rücksichtsvoll herging, wie es dies das allgemeine Wohlbefinden während eines längeren Zusammenseins auf engem, beschränktem Raume erheischt.

Lesen und Schreiben ermüden schnell auf dem Meere, selbst bei ruhiger Fahrt. Whist und Schach füllten deshalb einen nicht unbedeutenden Teil des Tages aus, auch wurde viel und schweigsam geraucht und auf dem kurzen Deck auf und ab gegangen; aber die geselligsten Stunden waren die des Zuhörens, wenn einer von uns sich herbeiließ, eine »Geschichte« zum besten zu geben, wobei er stets verständige, aufmerksame und wohlwollende Zuhörer in den andern vieren fand.

Die meisten Schiffskapitäne, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe, waren stille und zurückhaltende Menschen; aber unter diesen viele, die keineswegs als wortkarg bezeichnet werden konnten, wenn sie einmal zu sprechen angefangen hatten. Das, was sie während langer, einsamer Stunden in ihrer nachdenklichen Weise in sich aufgespeichert hatten, kam dann natürlich und leicht zum Vorschein, einem Quell gleich, dem ein neuer Ausfluß eröffnet worden ist. – Ich hatte bei solchen Gelegenheiten immer das Gefühl, als ob ich einem unversiegbaren Wortflusse lauschte; auch die einförmige Redeweise, in der nur wenig interpunktiert und gar nichts unterstrichen wurde, erinnerte an das Murmeln und Rauschen ruhig dahinfließenden Wassers.

Der alte Schiffskapitän von der richtigen Art ist ein besonnener, ernster, schwer zu erregender Mann. Sein Leben hat ihn mit großen Gefahren, plötzlichem Tod und Untergang, seltsamen Ereignissen aller Art vertraut gemacht. Er ist ein nachsichtiger Weltbürger, mit weitem und tiefem Blick und mit kühler Auffassung menschlicher Schwächen, Verbrechen und Tugenden. Ohne Entrüstung läßt er die Urheber einer blutigen Schlägerei in Eisen legen, ohne Erregung auch leitet er die Manöver, die den Mann wieder an Bord bringen sollen, der soeben in das Meer gesprungen ist, um das Leben eines verunglückten, schnell versinkenden Kameraden zu retten. Der Vorfall wird ins Schiffsjournal eingetragen und ist damit vorläufig erledigt. Später bekommt der eine der Beteiligten, wenn er mit einem besonders wohlwollenden Vorgesetzten zu tun hat, vielleicht die Rettungsmedaille. Einstweilen erwartet er keinen großen Dank für seine Heldentat und erntet auch wenig. Der Kapitän wird sich damit begnügt haben, ihm energisch die Hand zu drücken: »Freut mich, Sie wieder an Bord zu sehen!«

Der Umgang mit Matrosen, den unbändigsten Kindern der menschlichen Gesellschaft hat den Kapitän fest und streng, aber doch nur in seltenen Fallen hart oder gar grausam gemacht; jedoch das Eigentümlichste an ihm, nach meinen Erfahrungen, ist die unergründliche Tiefe seines Gemütes. Um ihn einigermaßen zu verstehen und zu würdigen, muß man bei seinem Reden und Tun stets, sozusagen, zwischen den Zeilen lesen. Er heuchelt nicht, dazu ist er zu stolz, zu sehr an Befehlen gewöhnt; aber er gibt sich nie ganz. Er könnte dies nicht, denn sein Mitteilungsvermögen, so groß es auch sein mag, bleibt immer klein im Verhältnis zu der Masse von Empfindungen und Eindrücken, mit denen die stete Betrachtung des Großen, Furchtbaren und Unendlichen: des Meeres und Himmels sein Herz nach und nach gefüllt hat.

Kapitän Mac Gregor konnte sehr gut schweigen, Reden war ihm nicht etwa ein Bedürfnis. An Menschen, die ihm gleichgültig waren, ging er still und höflich vorüber; aber mit Bekannten, bei denen er auf wohlwollende Teilnahme rechnen durfte, zeigte er seine geselligen Eigenschaften durch aufmerksames Zuhören, wenn ihm etwas erzählt wurde, und durch große Bereitwilligkeit – so lange der Dienst es gestattete – Mitteilungen aus seinem eigenen Leben zu machen und auf diese Weise zur Unterhaltung beizutragen.

Von meinen drei Reisegefährten waren zwei langjährige, gute Bekannte von mir, Männer in der zweiten Hälfte der Dreißig, über ihre Jahre ernst, zurückhaltend und müde. Sie waren vor fünfzehn oder zwanzig Jahren als junge, unternehmende Männer nach Indien und China gekommen, und hatten dort erreicht, wonach sie gestrebt, denn sie waren zu wohlhabenden Leuten geworden; – aber bei der hitzigen Jagd nach dem Glücke hatten sie sich der eine den Magen, der andere die Leber verdorben; – Brandy, Cock-tail und das Klima von Süd-China hatten ein übriges getan, um sie rasch abzunutzen, und jetzt sahen sie mit ihrer gelblichen Gesichtsfarbe und den weit geöffneten, träge umherschweifenden Augen keineswegs wie Sieger aus, die froh nach erfolgreichem Kampfe die Heimkehr antreten.

Der eine, der mir besonders sympathisch war, trank etwas viel: des Morgens, »um das Zittern in den Händen loszuwerden«, bei Tische, »um die trockenen Speisen hinunterzuspülen«, des Abends, »um besser zu schlafen«. – Wenn er sich ordentlich müde getrunken hatte, so wurde er redselig und konnte seine Reisegefährten dann lange Zeit durch Erzählungen auf dem Verdeck festhalten. – Dann sprach er vorzugsweise von eigenen Erlebnissen, während er in nüchternem Zustande in dieser Beziehung strenge Zurückhaltung beobachtete. – Am nächsten Morgen pflegte er dann zu sagen: »Sie hatten mir gestern Abend meinen Grogk zu stark gemischt.« – Er war dann vierundzwanzig, wohl auch achtundvierzig stunden lang übler Laune und beteiligte sich an keiner Unterhaltung; aber da wir ihn ruhig sich selbst überließen, so trieb ihn die Langeweile endlich kleinlaut in unseren Kreis zurück, wo er freundliche Wiederaufnahme fand, ohne daß ein Wort über den Vorfall geäußert worden wäre, der seinen Mißmut verursacht hatte. – Sein Taufname war Heinrich. Im »Settlement« hieß er »der Stutzer«, the Swell, weil er sich mit großer Sorgfalt zu kleiden pflegte. Aber es war nichts Geckenhaftes in seinem Äußeren und Wesen. – Er war mittlerer Größe, gut gewachsen, hager, hatte schlichtes, dunkles Haar, treue, braune Augen und alles in allem ein sympathisches, trauriges Gesicht, das früher, als es noch frisch und voll – ich hatte es vor zehn Jahren so gekannt – hübsch und freundlich gewesen war. – Ich fragte ihn einmal, als er in mitteilsamer Laune mit mir auf dem Verdeck auf und ab ging, warum er während der letzten Jahre still und traurig geworden sei, er habe doch gute Erfolge erzielt, und sei noch jung genug, um sich derselben freuen zu können. Da sann er eine kleine Weile nach und dann sagte er, weit hinausblickend und in einem Tone, der fernere Unterhaltung über die Frage abschnitt: »Gute Dinge kommen meistens zu spät.« – Ich verlor ihn in San Francisco aus den Augen und habe ihn seitdem nicht wieder gesehen. –

Sein verdrießlicher Gefährte, in der fremden Kolonie »der häßliche Thomas« – Ugly Tom – genannt, hatte mit dem Swell gemein, daß er erst mitteilsam wurde, nachdem er mehr als die üblichen drei Gläser »Soda and Brandy« vor dem Schlafengehen zu sich genommen hatte. Am Tage trank er wenig. Er war ein eifriger Sportsman, ein guter Jäger, ein kühner Reiter, ein starker Schwimmer und ein unermüdlicher Spieler. Er wettete auf alles Erdenkliche und entfaltete eine eigentümliche Überredungskunst, um andere zu veranlassen, mit ihm zu wetten. Aber er war dabei in erster Linie nur von seiner Vorliebe zum Spiel geleitet, denn wenn man eine von ihm vorgeschlagene Wette nicht annehmen wollte, so zeigte er sich sofort bereit, für die entgegengesetzte Ansicht einzutreten. Er wettete ebenso bereitwillig, daß es am nächsten Tage Sturm geben, wie daß es ruhig bleiben werde.

Den Spitznamen »der Häßliche« verdiente er nicht mehr als sein Freund den des Stutzers. Er hatte rötliches Haar, Sommersprossen, helle, scharfe Augen, einen breiten Mund und ein breites Kinn. Er sah verwegen und etwas verwildert aus, keineswegs häßlich. Aber irgend jemand hatte ihn einmal »Ugly Tom« genannt, im Gegensatz zu einem jungen Mann, der sein seidenweiches, braunes Haar in der Mitte scheitelte, einen Sammetrock und ein hellbraunes Halstuch mit einer Diamantnadel trug, und unter dem Namen »Tom Beauty« – »Thomas, die Schönheit« bekannt war. – Der Name »Ugly Tom« war unserem Freunde geblieben und er gefiel ihm ganz gut. – Wir trennten uns vor etwa fünfzehn Jahren. Ich habe seitdem in englischen Zeitungen unter der Rubrik »Sport« seinen Namen wiedergefunden und erfahren, daß er, sehr glücklich auf dem »Turf«, ein reicher Mann geworden ist, der noch heute mit derselben Leidenschaft wie vor zwanzig Jahren schießt, reitet, rennen läßt und spielt. – Und ich gönne ihm sein Glück, denn er war merkwürdig frei von all den häßlichen Eigentümlichkeiten, welche viele seiner Genossen kennzeichnen, die den Sport gewerbsmäßig betreiben. – Er war, soweit ich es beurteilen kann, ein vollständig nutzloses Individuum. Aber der »Stutzer« und viele andere, ja die meisten Menschen, die mir im Leben begegnet sind, haben, meines Wissens, auch nicht viel genützt in dieser Welt, und eben nur einen Platz darin ausgefüllt. – Liebenswürdigkeit und Nutzlosigkeit vertragen sich ganz gut, und ich kann nicht umhin, Ugly Tom ein freundliches Andenken zu bewahren. Er wird sich meiner schwerlich noch erinnern, dagegen bin ich fest überzeugt, daß er noch heute mit allen Merkmalen das Pferd bezeichnen könnte, das ich vor sechzehn Jahren in Yokohama ritt.

Mein dritter Reisegefährte hatte wenig mit den beiden andern gemein. – Er war erheblich jünger als diese – er stand etwa in der Mitte der Zwanzig – und er war ein Bild jugendlicher Energie, Kraft und Gesundheit. Er nannte sich Walter Cunningham und hatte sich als »Zivilingenieur« englischer Nationalität auf dem britischen Konsulate eintragen lassen. Er besaß eine bei seinen Landsleuten seltene Eigentümlichkeit: er sprach, außer dem Englischen, verschiedene Sprachen, namentlich auch deutsch und französisch so geläufig und richtig, daß man ihn ebensowohl für einen Deutschen oder Franzosen wie für einen Engländer oder vielmehr Irländer halten konnte. Wie er sich bei seiner großen Jugend diese Kenntnisse erworben hatte, weiß ich nicht. Er machte mit seinem freien, freundlichen Wesen keineswegs den Eindruck eines zurückhaltenden Menschen; aber er war es doch in hohem Maße. Er sprach niemals von sich und seinen Verhältnissen und ging etwaigen Fragen in bezug auf seine Persönlichkeit geschickt aus dem Wege oder wies sie artig und bestimmt zugleich zurück.

Man ist »draußen« im allgemeinen nicht neugierig, man erblickt in vielen seiner Genossen doch nur Reisegefährten, die man über kurz oder lang wieder aus den Augen verlieren wird und deren Schicksale und Verhältnisse deshalb keine tiefere Teilnahme einflößen. – Cunningham wurde somit auch nicht mehr mit gewissen Fragen behelligt, seitdem es bekannt geworden war, daß er vorzog, sie unbeantwortet zu lassen; aber man nannte ihn »the dark one«. Dies ist ein Ausdruck, mit dem man in der englischen Sportsprache Pferde bezeichnet, die an einem Rennen teilnehmen sollen, und über deren Vergangenheit und Leistungsfähigkeit noch nichts bekannt ist. – Der Beiname »the dark one« – der Dunkle – rührte möglicherweise auch daher, daß Cunningham mit seinem schlichten, schwarzen Haar, dunkeln, dichten, langen Wimpern und seiner bleichen, aber keineswegs kränklichen Gesichtsfarbe vielmehr einem Italiener oder Spanier als einem Engländer glich. Er hatte schöne blaue – wirklich blaue Augen, die von den dichten, schwarzen Wimpern und Brauen seltsam abstachen, und wie ich sie nur einige Male in meinem Leben gesehen habe. Er war mittlerer Größe, schlank, gut gewachsen, mit kleinen Händen und Füßen. – Jedermann an der Küste, von Hongkong in Süd-China bis Hakodate in Nord-Japan kannte ihn. Alte »Residents« erinnerten sich, ihn vor etwa sechs Jahren als blutjungen Burschen kennen gelernt zu haben. Er war damals – im Jahre 1860 – vom Amurlande gekommen, und zwar in Gesellschaft eines wild aussehenden, großen, schweren Mannes, der sich bald nach seiner Ankunft in Yokohama als der russische Revolutionär Bakunin entpuppt hatte. Mit diesem war er auch aus Japan verschwunden, später jedoch wieder allein aufgetaucht. – Man sah ihn im Klub, auf dem Rennplatz und in Gesellschaft von Offizieren des damals in Yokohama stehenden Infanterie-Regiments, das unter seinen Mitgliedern viele Irländer zählte; aber er stand offenkundig mit keinem der Offiziere auf vertrautem Fuße, und es herrschte eigentlich ein allgemeines Mißtrauen in bezug auf ihn, zu dem aber sein Leben keinen Anhalt bot, sondern nur der Umstand, daß man nichts von seiner Vergangenheit wußte. – Er spielte und wettete gern, wenn auch nicht gerade hoch, und zeigte weltmännische Selbstbeherrschung im Verlust sowohl wie im Gewinn. Alles in allem verlor er erheblich mehr als er gewann. Er blieb nie einen Heller schuldig, aber woher er das Geld nahm, mit dem er bezahlte, das wußte man nicht. Einige meinten, er mache Geschäfte mit den Eingeborenen – Chinesen und Japanern. Er selbst ließ darüber nichts verlauten, und seine gelbhäutigen Freunde, die man auszuforschen versucht hatte – nicht etwa aus zweckloser Neugierde, sondern um Geschäftsverbindungen anzuknüpfen – gaben auch keine Aufklärung und antworteten auf die an sie gerichteten bezüglichen Anfragen mit dem verschmitzten, undurchdringlichen Lächeln, das den meisten Asiaten zur Verfügung steht und allen diplomatischen Deutungskünsten zu trotzen vermag. – Cunningham stand mit den Eingeborenen auf besserem Fuße als irgendein anderer Europäer und nahm an ihren nationalen Festlichkeiten in gemütlicher Weise teil. Er spielte die Sampfin (dreisaitige japanische Gitarre) und sang japanische Lieder dazu, trotz der besten Gheko (Sängerin). – Er hatte nirgends einen festen Wohnsitz, sondern tauchte plötzlich in irgendeiner »Niederlassung« auf, um nach wenigen Wochen wieder zu verschwinden. Manchmal blieb er sodann monatelang, einmal sogar ein ganzes Jahr abwesend, verschiedene Male, das hatte man festgestellt, war er in Amerika gewesen. – Er besaß ein eigentümliches Talent: er war ein geradezu hervorragender Künstler auf zwei undankbaren Instrumenten: auf der Ziehharmonika und auf der Gitarre. Er spielte darauf, wie ich es nie wieder gehört habe und sang dazu in anspruchsloser Weise, mit hübscher, reiner Stimme. – Er ging diesmal, als ich mit ihm zusammen reiste, nach Kalifornien, »der Abwechslung halber«, wie er mir sagte.

Als wir in San Francisco landeten, trennte er sich von uns. Auch stieg er in keinem der großen Gasthöfe ab, in denen die Reisenden aus Japan und China einzukehren pflegen. Einige Tage später erblickte ich ihn in einem öffentlichen Lokal, das hauptsächlich von Irländern besucht wurde. Er saß dort in Gesellschaft einiger Männer, deren Aussehen nicht gerade vertrauenerweckend war, mit denen er jedoch auf vertraulichem Fuße zu stehen schien. Er nickte mir zu und verschwand bald darauf aus dem Saale, ohne mich noch einmal begrüßt zu haben. Dann hörte und sah ich während langer Zeit nichts von ihm. Ein Bekannter aus Japan, den ich mehrere Jahre später zufällig in Paris antraf, erzählte mir, Cunningham habe mit den aufständischen Daimios (japanischen Prinzen) gefochten, und man wisse nicht, was aus ihm geworden sei, aus China und Japan wäre er verschwunden: wahrscheinlich habe man ihn erschlagen. Dem war jedoch nicht so, denn als ich bald darauf, am Tage des »Grand Prix«, die Champs Elysées hinaufging, erblickte ich ihn plötzlich, und zwar in Gesellschaft von Männern, die mich an seine Genossen in Kalifornien erinnerten. Er saß in einem offenen Wagen, der wohl von den großen Longchamps-Rennen zurückkam. Ich erkannte ihn sofort an seinen Augen. Er sah mich nicht, und der Wagen rollte so schnell vorüber, daß ich ihn nicht begrüßen konnte. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß ein starkknochiger, großer Mann, der neben mir gestanden hatte, und der in seiner Physiognomie, seinem Anzuge und seiner Haltung unverkennbar die Anzeichen trug, die unter dem Kaiserreiche den geheimen Polizisten kennzeichneten, hinter dem Wagen, in dem Cunningham saß, einige Schritte mitlief, bis er eine vorüberfahrende, leere Droschke angetroffen hatte, in die er mit kurzer Weisung einstieg, worauf der Kutscher schnell kehrt machte und mir dann bald mit dem Cunninghamschen Wagen aus den Augen verschwand.

Manches, was mir von Japan her von dem »Dunkeln« bekannt war, fiel mir unwillkürlich ein: seine Ankunft in Yokohama in Gesellschaft des russischen Revolutionärs Bakunin, sein Verschwinden mit demselben, seine häufigen Reisen, die keine Handelszwecke verfolgten und von geheimnisvollen Motiven geleitet erschienen, seine augenscheinliche Vertraulichkeit mit den Irländern, in deren Gesellschaft ich ihn in San Francisco und nun auch in Paris erblickt hatte, namentlich aber der Umstand, daß keine unverfängliche Erklärung dafür zu finden war, weshalb Cunningham in entlegenen Weltteilen umherzuschweifen liebte.

Die Fenier machten seit dem Jahre 1860 – gerade dem Zeitpunkt als Cunningham mit Bakunin in Yokohama eingetroffen war – viel von sich reden. – War nicht Cunningham vielleicht ein geheimer Agent jener Partei? Er eignete sich wohl dazu, mit seinen Sprachkenntnissen, seiner Gesundheit, die alle Strapazen mit Leichtigkeit zu ertragen schien und mit seiner jugendlichen, Wohlwollen erweckenden Liebenswürdigkeit. Und jetzt, da ich mir sein Gesicht vorstellte, mit den eigentümlichen, blauen, tiefen Augen, glaubte ich darin einen Zug van Willenskraft und Fanatismus zu entdecken, der ihn mir plötzlich als unberechenbar erscheinen ließ. »Seinem Aussehen nach ist er jeder Tat fähig,« sagte ich mir.

Im Laufe der Woche erspähte ich ihn eines schönen Tages in Asnières, an der Seine sitzend, angelnd, ein Vergnügen, dem sich fremde Besucher in Paris nicht hinzugeben pflegen. Ich legte meine Hand auf seine Schulter, denn er hatte mein Nahen nicht bemerkt. Er wandte sich schnell um, wie jemand, der einen Schreck bekommen hat; aber sein Gesicht beruhigte sich sogleich wieder, denn er hatte mich in demselben Augenblick erkannt. Er lächelte freundlich und sagte unbefangen, als hätten wir uns gestern zum letzten Male gesehen:

»Sie beißen heute nicht.«

»Wie kommen Sie nach Paris?« fragte ich.

»Mit der ›Mail‹ natürlich!« Aber als er sah, daß ich zu dieser schnippischen Antwort ein etwas verstimmtes Gesicht machte, fuhr er fort: »Der Abwechslung halber! Man kann doch nicht immer draußen bleiben! – Alle Tage Reis und Curry essen, auf dem »Bund« spazieren gehen und die Sonne hinter dem Fusiyama verschwinden sehen, wird auf die Dauer einförmig. – Aber ich muß in der nächsten Woche doch wieder zurück. Haben Sie Aufträge für Schanghai oder Yokohama? Ich stelle mich Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung.«

»Ich habe Sie schon vor einigen Tagen erblickt,« sagte ich darauf. »Sie waren in Gesellschaft, und sie sahen mich nicht.«

»Wo war das?«

»In den Champs Elysées, am Sonntag des »Grand Prix«. Sie schienen von Longchamps zurückzukommen.«

»Ganz richtig,« antwortete er zerstreut.

»Ich kann Ihnen noch etwas sagen, was sie vielleicht interessiert,« fuhr ich fort.

Er blickte mich fragend an, und wandte dann seine Augen wieder der Angel zu.

»Ich glaube – Sie werden überwacht – von der Polizei.«

»So ...« sagte er ganz ruhig; aber ich bemerkte, wie seine Augen langsam ein Kreuz schlugen und die ganze Umgebung beobachteten. – »Wie kommen Sie dazu?«

Ich erzählte, daß ein Polizeiagent seinem Wagen gefolgt sei. – »Ich irre mich vielleicht,« setzte ich hinzu. »Der Mann war möglicherweise kein ›Detektiv‹ und dachte gar nicht daran, Sie zu überwachen. Aber er sah sehr diensteifrig aus, als er hinter Ihnen herlief.«

Da lachte Cunningham kurz und gezwungen und erwiderte: »Ja, Sie irren sich wahrscheinlich.«

Er spielte mit der Angel, aber er war sichtlich nicht mehr mit seinem Geiste bei der Sache.

»Sie bleiben doch noch einige Tage in Paris,« sagte ich. »Ist es Ihnen recht, daß wir einen Abend zusammen verbringen? Wollen Sie mit mir essen?«

»Mit großem Vergnügen. Heute und morgen jedoch bin ich nicht frei. – Übermorgen, wenn es Ihnen paßt.«

»Schön! Wo wollen wir uns treffen? Soll ich Sie abholen? Wo sind Sie abgestiegen?«

»Mich finden Sie doch nie zu Hause. Ich bin von früh bis spät unterwegs. Ich sehe mir Paris diesmal ordentlich an.«

Er angelte in Asnières, wie ein guter Spießbürger der Rue St. Denis! Das zeugte nicht gerade dafür, daß er sich Paris ansähe! Aber ich behielt diese Beobachtung für mich.

»Ich werde Sie abholen,« fuhr er fort. »Geben sie mir Ihre Adresse.« – Er las die Karte, die ich ihm reichte. – »Übermorgen um sechs Uhr bin ich bei Ihnen. Um sechs Uhr. Pünktlich auf die Minute!«

Ich hörte Schritte hinter uns und wandte mich um. Da kamen dieselben drei Personen, die ich mit Cunningham im Wagen in den Champs Elysées bemerkt hatte. Sie musterten mich scharf und gingen vorüber, ohne Cunningham begrüßt zu haben. Dieser täuschte sich wohl nicht darüber, daß ich seine Genossen wiedererkannt hatte, aber er blickte anscheinend unbefangen vor sich hin und sagte nichts. – Es war nicht mein Recht und es war nicht meine Aufgabe, der Natur der Beziehungen zwischen Cunningham und den Unbekannten nachzuforschen. Ich sagte nicht, daß ich die drei wiedererkannt hätte, aber ich empfand ein gewisses Unbehagen in dem Gefühle, Cunningham wohl ungelegen gekommen zu sein, und nachdem ich noch einige gleichgültige Worte mit ihm gewechselt hatte, ging ich meiner Wege. – Ich drehte mich absichtlich nicht nach ihm um. Die Landstraße machte bald darauf einen Bogen und führte über eine Brücke. Von der andern Seite der Seine sah ich sodann die Stelle wieder, wo ich mit Cunningham zusammengetroffen war. Sie war leer. Auch von den drei Unbekannten war am jenseitigen Ufer, das ich auf eine weite Strecke übersehen konnte, nichts mehr zu erblicken.

An dem bestimmten Tage, als ich Cunningham erwartete, empfing ich, kurz vor sechs Uhr, einen Brief, den mir ein Dienstmann brachte. Cunningham schrieb darin, er sei durch dringende Geschäfte verhindert, den Abend mit mir zu verbringen, ich möchte ihn entschuldigen, hoffentlich würde er noch Zeit finden, mich vor seiner Abreise aufzusuchen, andernfalls sage er mir hiermit auf Wiedersehen: in Japan oder Kalifornien, oder in London oder Paris, irgendwo würden sich unsere Wege ja schon wieder einmal kreuzen, bis dahin bäte er mich, ihm ein gutes Andenken zu bewahren.

Ich war durch diese kühle Absage etwas verstimmt, aber sie kam mir nicht ganz unerwartet. Ich hatte längst gemerkt, daß Cunnmgham in seinen Bewegungen nicht so frei war, wie er es scheinen wollte, und daß man sich nicht unbedingt auf ihn verlassen konnte. Er hatte mir immer ganz gut gefallen, aber das Geheimnisvolle in seinem Wesen hatte mich von ihm ferngehalten und ich war nicht so vertraut mit ihm geworden, wie mit vielen andern, die ich »draußen« kennen gelernt hatte. Der »häßliche« pflegte ihn »einen eigentümlichen Fisch« zu nennen, »und nicht ohne Gräten«. – »Ein eigentümlicher Fisch« – sagte ich mir, – und damit schlug ich mir den »Dunkeln« aus dem Sinn, und bald dachte ich nicht mehr an ihn. Einige Zeit darauf, als ich mir eines Tages im Klub die neuesten illustrierten Wochenschriften ansah, fiel mir in einem englischen Blatte ein Porträt auf, das gleich auf der ersten Seite, als das Hauptbild der Nummer, prangte. Es stellte einen jungen Mann dar, beinahe noch ein Kind, mit weitgeöffneten, großen Augen, die erstaunt und furchtlos blickten, schmalen, bartlosen Lippen, festgeschlossenem Munde und breitem, festem Kinn. – Das Gesicht schien mir bekannt. Ich blickte nach der Unterschrift und las: »James Geoghegan, der Fenier, nach einer älteren Photographie. Siehe den Artikel: Der neueste Fenier-Putsch.«

Ich fand den bezeichneten Artikel und las ihn. Es war darin von einer jener ruchlosen Gewalttätigkeiten die Rede, welche die Fenier-Unternehmen zu einer traurigen Berühmtheit gebracht haben. Man hatte in einer großen englischen Stadt ein öffentliches Gebäude in die Luft sprengen wollen. Es war nicht geglückt; der mißlungene Versuch hatte jedoch einigen Personen das Leben gekostet, und viele andere waren dabei grausam verwundet worden. Die Polizei hatte die Mehrzahl der Übeltäter ergriffen; aber dem eigentlichen Urheber des Verbrechens war man noch nicht auf der Spur. Man hoffte, seiner habhaft zu werden, denn der Telegraph hatte eine genaue Beschreibung seiner Person nach den Häfen des vereinigten Königreichs getragen, und es wurde allerorten scharf auf ihn gefahndet. Ein hoher Preis war auf seine Festnahme ausgesetzt.

Als ich die Beschreibung James Geoghegans las, erkannte ich sofort Walter Cunningham; auch war dieser letztere Name mit einem halben Dutzend anderer angeführt, deren »der Dunkle« sich an verschiedenen Orten zu bedienen pflegte. Nach dem Zeitungsberichte war Cunningham, trotz seiner Jugend, eines der gefährlichsten Mitglieder der internationalen Umsturzpartei. Er stammte aus guter und reicher Familie, war Irländer von Geburt, in Genf erzogen worden und hatte sich, kaum den Knabenjahren entwachsen, der Revolution in die Arme geworfen. Seit geraumer Zeit widmete er sich in erster Linie fenischen Zwecken; aber er unterhielt Beziehungen mit den politischen Verschwörern aller Länder, und man wollte sein gemeingefährliches Treiben nicht nur in England, sondern auch in Spanien, Italien und Frankreich beobachtet haben. Eine Zeitlang schien sein Bestreben hauptsächlich darauf gerichtet gewesen zu sein, die englischen Regimenter, die in den Kolonien dienten, zu demoralisieren. Dies war, wie die Zeitung berichtete, an dem vortrefflichen Geiste der britischen Armee gescheitert, und Cunningham hielt sich deshalb, seit zwei Jahren etwa, wieder in Europa auf. Die Polizei kannte ihn genau; es war ihr jedoch bisher nicht gelungen, Beweise für seine verbrecherische Tätigkeit zu finden, die genügt haben würden, seine Verurteilung zu rechtfertigen. Man hatte deshalb von seiner Verhaftung Abstand genommen und sich damit begnügt, ihn scharf zu überwachen, seine Beteiligung an dem letzten Fenierputsch konnte nun, dank den Aussagen eines Kronzeugen, klar und deutlich nachgewiesen werden; aber er hatte sich der Festnahme durch die Flucht zu entziehen gewußt und war vorläufig noch spurlos verschwunden.

Soweit berichtete die Illustrierte Zeitung. – Ich verfolgte von jenem Tage ab den bewußten Fenier-Prozeß mit großer Aufmerksamkeit. Es war darin vielfach von James Geoghegan alias Walter Cunningham die Rede; – aber der Genannte selbst blieb unsichtbar. – Seine Genossen wurden zu schweren Strafen verurteilt. Von ihm habe ich nie wieder gehört. In Japan und China ist er auch nicht wieder aufgetaucht, vielleicht ist er gestorben, oder er lebt in Amerika unter einem falschen Namen; daß er sich nach Europa zurückgewagt haben sollte, bezweifle ich, denn dort hätte er mit seinen eigentümlichen Augen nicht lange verborgen bleiben können.

Wir fünf: der Kapitän, meine drei Reisegefährten und ich, pflegten uns des Abends bei gutem Wetter hinter dem Mann am Steuer an einem ruhigen Platze zu versammeln, wo es für die Mannschaft nur selten etwas zu tun gab. Wir hatten dort unsere großen Bambussessel aufgestellt, und verblieben darauf oft bis tief in die Nacht hinein: über uns den unergründlich tiefen, wolkenlosen Himmel, mit großen leuchtenden und funkelnden Sternen dicht bedeckt, unter und neben uns das geheimnisvolle, dunkle, stille Meer, dessen lange, regelmäßige, mächtige Wogen das Schiff langsam und sanft wie eine Wiege hoben und senkten, hinter uns einen schmalen, langen, im Sternenlicht zauberhaft glitzernden Silberstreifen, die Furche des geräuschlos dahingleitenden Fahrzeuges, um uns wunderbar weiche, laue, reine Luft, die die Brust wie Balsam einsog und in der gerade genug Bewegung herrschte, um die weitaufgespannten, geisterhaft schimmernden, weißen Segel des scharfen Klipperschiffs sanft zu füllen. – Lange Jahre sind seit jener schönen Fahrt vergangen; – aber sie ist mir unvergeßlich geblieben, und einige der Geschichten, die ich damals gehört habe, will ich nun erzählen.


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