Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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2.

Als James Rawlston in den Salon trat, nickte ihm Frau Onslow finster zu und bedeutete ihm durch eine stumme Gebärde, auf einem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen.

Rawlston wußte genau, was ihm bevorstand, und ließ sich ergeben auf den ihm angewiesenen Platz nieder. Darauf trat eine Pause ein, während der Frau Onslow ihren Wirt unter majestätischem Heben und Senken des belockten Hauptes vom Kopf bis zu den Füßen und von den Füßen bis zum Scheitel musterte. Rawlston ertrug diese Untersuchung mit anscheinender Ruhe, öffnete und schloß langsam die Augen, zerrte an seinem Schnurrbart und begann endlich, um seine Unbefangenheit ganz klar zu machen, mit den Fingern beider Hände einen Marsch auf den Lehnen seines Sessels zu trommeln.

»Verhalten Sie sich ruhig!« brach Frau Onslow zornig hervor.

Rawlston sah seinen Besuch mit einem Blick von unten an. Er hatte einen stark ausgeprägten Sinn für Humor, und Frau Onslow fing an, ihn trotz seiner üblen Laune zu erheitern. Unwillkürlich zuckte es ihm um Augen und Mund, und er war sich bewußt, zu lächeln.

»Lachen Sie nicht, höhnen sie nicht, Sie ... Mann!«

Das Onslowsche Wörterbuch war reichlich versehen mit wohltönenden, salbungsvollen Worten, aber zur Äußerung ihres Unwillens fehlten der Frau kräftige Ausdrücke. – »Mann« war alles, was sie zur Niederschmetterung ihres Gegners finden konnte. Das Wort verfehlte die beabsichtigte Wirkung. Rawlstons Mund wurde im Gegenteil breiter, die Augen kleiner, und bald konnte kein Zweifel mehr darüber obwalten, daß er lachte – daß er es wagte, Frau Onslow auszulachen. Das war der guten Dame, ihres Wissens wenigstens, noch niemals vorgekommen. Sie wurde dunkelrot.

»Es gibt hier nichts zu lachen, Herr! Es handelt sich um das Glück eines edlen Wesens, welches das Unglück hat, Ihre Schwester zu sein! Lachen sie nicht! Hören Sie! – schämen sollten sie sich!«

Das wirkte ganz anders, Rawlstons Gesicht wurde sofort ernst und er sagte verdrießlich:

»Meine liebe Frau Onslow, es ist nun das dritte oder vierte Mal, daß ich heute hören muß, ich sollte mich schämen. Das gefällt mir nicht! Mit aller Achtung, die ich einer Dame schuldig bin und Ihnen bereitwillig zolle, gestatte ich mir die Bemerkung, daß ich ganz den Wunsch hege, es möge ausschließlich meinem Ermessen überlassen bleiben, ob und worüber ich mich zu schämen habe. Bestehen Sie darauf, darüber Betrachtungen anzustellen, so bitte ich um die Erlaubnis, mich entfernen zu dürfen. Mein Haus ist das Ihrige; – aber ich mag mich auch bei Ihnen nicht schlecht behandeln lassen. – Sie entschuldigen gütigst ...«

Er erhob sich, aber er hatte nicht die Absicht, zu gehen, denn es lag ihm am Herzen, von seiner Schwester zu hören, und um die Unterredung nicht abzubrechen, beging er die Unvorsichtigkeit, sie durch eine Frage fortzusetzen:

»Worüber sollte ich mich denn schämen?«

Dies öffnete endlich die verschlossenen, zum Überfluten gefüllten Schleusen der verheerenden Onslowschen Beredsamkeit. Rawlston verstand zunächst kaum, was ihm gesagt wurde: so überwältigend drang der Wortschwall auf ihn ein. Er blickte hilflos von rechts nach links und vom Fußboden nach der Zimmerdecke, dann sank er in den Sessel zurück, kreuzte die Arme, stützte das Kinn auf eine Hand und versuchte, den Inhalt des ihn umwogenden Wortgetöses zu erfassen. Es gelang ihm endlich, den Faden zu finden, und nun kam Klarheit in seine verwirrten Sinne. – »Worüber er sich schämen sollte?« – Frau Onslow nahm nicht Anstand, es ihm klar und deutlich zu sagen, war nicht Edith ein edles Wesen von vollkommener Herzensgüte, hellem Verstande, makelloser Reinheit? War sie nicht jung, schön, reich, klug, gut – alles in sich vereinigend, was ein Mädchen liebenswürdig machen kann? War sie nicht seine, James Rawlstons, leibliche Schwester? Hatte sie je in ihren Pflichten dem Bruder gegenüber gefehlt? War sie nicht ganz auf ihn angewiesen, und hatte er dies nicht böswillig verkannt, indem er sie, die alleinstehende Jungfrau, in rauher Weise aus ihrem Heim, seinem Hause verstoßen hatte?

Rawlston schlug laut die Hände zusammen und blickte gen Himmel, als erwarte er eine höhere Einmischung, die ihn gegen diese böse und falsche Anklage schützen sollte.

»Ich Edith verstoßen! – Aber Frau Onslow, Frau Onslow! Edith war es ja, die gegen meinen Willen davonlief, die mir drohte, aus dem Fenster zu springen, wenn ich sie daran verhindern wollte.«

»Sehr richtig, ganz richtig!«

Frau Onslow wäre nicht die stets siegreiche Wortkämpferin gewesen, wenn ein bißchen erbärmlicher Logik sie erschüttert hätte.

»Sie erwarteten wahrscheinlich, daß Edith ruhig mit anhören sollte, wie sie ihren künftigen Gemahl beschimpften.«

Rawlston war Frau Onslow nicht gewachsen, er folgte gehorsam, wohin sie ihn führte.

»Frau Onslow, gestatten sie mir zwei Worte.«

»Ich höre Sie seit einer Stunde an, ohne sie zu unterbrechen.«

»Liebe Frau Onslow, es ist unmöglich, daß meine Schwester sich mit einem Manne verlobe, der unter dem Verdacht steht, eine Veruntreuung begangen zu haben.«

»Wer verdächtigt ihn? – Sie! Das ist ja eben das Schändliche.«

»Sie irren sich: der Polizeiinspektor hat den Verdacht ausgesprochen.«

»Und Sie haben sich diesen Verdacht sofort angeeignet. Es ist empörend!«

»Aber, gnädige Frau!«

»Wie lange kennen sie Herrn Büchner?«

»Seit sechs Jahren.«

»Haben Sie jemals Ursache gehabt, an seiner Ehrlichkeit zu zweifeln?«

»Nein.«

»Und ein Polizeimensch, der die Welt nur von der schwärzesten Seite kennt, der überall Diebe und Mörder wittert, der Herrn Büchner nie gekannt hat und der plötzlich, Gott weiß, weshalb! Ihr Vertrauensmann geworden ist, Ihr intimer Freund sozusagen – der verdient mehr Glauben als Ihre eigene, durch lange Jahre befestigte persönliche Erfahrung von der Ehrenhaftigkeit eines unbescholtenen Mannes? – O, Herr Rawlston! Ist das edel? Ist das christlich? Ist das gerecht? Ist das nicht im Gegenteil abscheulich ungerecht? – Einen Menschen des Diebstahls zu zeihen, einfach weil keine materielle Unmöglichkeit vorliegt, daß er den Diebstahl begangen habe! – Was spricht denn gegen Herrn Büchner? – Daß er in Ihrem Hause wohnt, daß er den Kassenschlüssel besitzt. Wohnen Sie nicht auch hier, besitzen Sie nicht ebenfalls einen Schlüssel zur Kasse? Weshalb richtet sich des Polizisten Verdacht nicht auf Sie?«

»Das wäre Unsinn!«

»Ja, das wäre Unsinn, in der Tat! Das andere aber, die Verdächtigung eines unbescholtenen Mannes, wissen Sie, was das ist? – Eine Schlechtigkeit!«

»Gnädige Frau, ich fürchte, wir werden uns auf diese Weise nicht verständigen.«

»Daran habe ich vom ersten Augenblick an gezweifelt. Auch bin ich deswegen nicht gekommen, sondern nur, um einen Auftrag meiner jungen Freundin auszuführen.«

»Und der wäre?«

»Ihre Schwester wünscht, daß unter meiner Leitung gewisse Sachen zusammengepackt werden, deren sie bedarf, um sich bei mir häuslich einrichten zu können.«

Rawlston dachte einen Augenblick nach. An eine sofortige Versöhnung mit seiner Schwester war nicht zu denken, ihr Charakter und seine Gefühle für sie schlossen den Gedanken aus, sie zwingen zu wollen, gegen ihren Willen in seinem Hause zu bleiben. Edith würde bei Frau Onslow, in der sie eine mütterliche Freundin erblickte, wohl aufgehoben sein. Die Sache würde zu mancherlei Gerede Veranlassung geben; aber daran war nun einmal nichts zu ändern.

»Wie meine Schwester wünscht und Sie befehlen,« sagte Rawlston ruhig. »Aber eine Bedingung muß ich stellen: Edith darf mit Herrn Büchner nicht zusammentreffen. Ich verbiete es ausdrücklich!«

»Das verbieten sie, Herr Rawlston? Und mit welchem Rechte, wenn ich fragen darf? – Sind Sie Ediths Vormund? Sie ist einundzwanzig Jahre alt, soviel ich weiß, und ihre eigene Herrin. Sie haben jedes Recht über das arme Kind verloren; ich aber lasse mir keine Vorschriften von Ihnen machen und übernehme allein die Verantwortlichkeit für das, was Edith in meinem Hause tun und lassen wird.«

»Sie wollen also einen Bruch zwischen zwei Geschwistern herbeiführen, die stets in Frieden und Eintracht zusammen gelebt haben. Es ist nicht christlich, was Sie da tun.«

»Über meine Christenpflichten brauche ich mich von Ihnen, Herr Rawlston, nicht belehren zu lassen, darüber werde ich mich mit meinem Gewissen verständigen!«

Die Erbitterung auf beiden Seiten hatte nun ihren Höhepunkt erreicht.

»Ihr gehorsamster Diener!« sagte Rawlston und verließ das Zimmer mit einer Verbeugung. Er war Amerikaner, und seine Erziehung machte es ihm verhältnismäßig leicht, der älteren Dame gegenüber die gesellschaftlichen Formen unter allen Umständen zu wahren. – Frau Onslow fand dies ganz in Ordnung und wußte dem höflichen Mann keinen Dank für seine Mäßigung. Bitterböse entfernte sie sich, um Ediths Auszug aus dem »ungastlichen« Hause so schnell wie möglich zu bewerkstelligen.

Während sie damit beschäftigt war, setzte Rawlston, in einem Zustande großer Aufregung, ein kurzes Schreiben an Herrn Büchner auf. Dem unglücklichen Kassierer wurde darin in dürren Worten gesagt, die Herren Rawlston u. Co. verzichteten für die Zukunft auf seine Dienste. Er werde deshalb ersucht, die von ihm geführten Bücher und den Kassenbestand im Laufe des Tages an Herrn Wallice abzugeben.

Nachdem Rawlston diesen Brief geschrieben hatte, schloß er ihn in sein Pult ein. Er wußte, daß damit die Ächtung Büchners unterzeichnet war, und er zauderte, das Schriftstück abzusenden. Er saß eine Weile grübelnd da. – Büchner war ihm sechs Jahre lang als ein treuer, zuverlässiger Diener seines Hauses erschienen. Vor einer Woche noch hatte er ihn, wenn auch nicht mit Freuden, denn er wollte für seine Schwester höher hinaus, so doch artig und höflich als seinen zukünftigen Schwager begrüßen wollen; und nun wies er ihm die Tür wie einem Unwürdigen. – Frau Onslows Worte fielen ihm ein: sollten die sechs Jahre persönlicher Erfahrung von Büchners Charakter nicht schwerer wiegen als das Urteil des Polizeibeamten? – Er wurde immer nachdenklicher. Alles, was in seiner Natur vornehm war, sträubte sich dagegen, einen Schritt zu tun, der Büchner zu einem Unglücklichen machen mußte. Er nahm den Brief wieder hervor und las ihn noch einmal durch. Sinnend sah er sodann zum Fenster hinaus. Da erblickte er den langen Holländer, der schnellen, entschlossenen Schrittes über den Hof ging und sich dem Arbeitszimmer näherte, in dem Rawlston soeben sein Schicksal erwog. Gleich darauf wurde heftig angeklopft.

»Herein!«

Die Tür öffnete sich und Büchner trat hastig in das Zimmer und an den Tisch, an dem der überraschte Kaufmann saß.

»Herr Rawlston,« sagte Büchner – seine Stimme zitterte und hatte einen heiseren, fremden Klang. – »Herr Rawlston, Sie glauben, ich hätte Ihnen das Geld gestohlen? ... Ich? ... Herr Rawlston, das ist eine Niedertracht!«

Der Amerikaner war ein Mann aus guter Familie, der bei seinen Mitbürgern in hohem Ansehen stand und an schlechte Behandlung nicht gewöhnt war. Er gehörte nicht zu denen, die sich leicht einschüchtern lassen, und er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten Beweise persönlichen Mutes gegeben. Wenn er trotzdem bei dem neuen Schimpf nicht in die Höhe fuhr, oder nach kalifornischen Sitten, die ihm keineswegs fremd waren, – denn er hatte eine Zeitlang in Nevada gelebt – nach dem Revolver griff, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, so erklärte sich dies dadurch, daß sein Vertrauen zu der Ansicht des Polizeiinspektors im Laufe des Tages erschüttert worden war und er sich kurz vorher gefragt hatte, ob es nicht unrecht von ihm gewesen sei, seinen Verdacht so bestimmt auszusprechen, wie er es getan. Aber er war nicht der Mann, der eine Beleidigung, selbst wenn er sie eingestandenermaßen hervorgerufen haben mochte, ruhig hinnahm. Er erhob sich. Er war nicht so lang wie der Holländer; aber er war von stattlicher Gestalt, und wie er sich emporreckte und den Kopf zurückwarf, erschien er ebenso groß wie der gebeugte Mann vor ihm.

»Es ist nicht meine Schuld,« sagte er ruhig, »wenn ein schwerer Verdacht auf Ihnen haftet. Möglicherweise ist es auch nicht die Ihrige. Dann ist es Ihr Unglück. Aber das werden Sie durch Schimpfen nicht besser machen.«

»Wie dürfen Sie sich unterstehen,« fuhr Büchner auf, »anderen gegenüber einen unbegründeten Verdacht zu äußern, der mich entehrt!«

»Ich habe nur mit meiner Schwester gesprochen; das war mein Recht und meine Pflicht.«

»Sie haben auch mit anderen gesprochen, leugnen Sie nicht!«

»Ich leugne nichts. Ich habe in der Tat auch mit Frau Onslow gesprochen, aber gegen meinen Willen. Sie war von meiner Schwester zu mir gesandt, um mit mir zu sprechen. – Sie sind augenblicklich sehr erregt, und ich begreife das; aber wenn Sie fähig sind, eine Minute ruhig nachzudenken, so werden Sie sich sagen müssen, dass ich unter den obwaltenden Umständen meiner Schwester mitteilen musste, ich könne meine Zustimmung zu ihrer Verlobung mit Ihnen augenblicklich nicht geben. – Ich verzeihe Ihnen das Wort, das Sie gegen mich gebraucht haben, denn ich kann heute keine Rechenschaft dafür von Ihnen fordern. Und damit sei die Sache nunmehr abgetan!«

»Sehr wohl,« sagte Büchner ingrimmig, »die Sache sei abgetan – aber nur vorläufig! Der Tag wird kommen, da ich Rechenschaft von Ihnen fordern werde. Ich verlasse das Haus heute abend. – Wem soll ich die Kasse übergeben?«

»Bedenken Sie wohl, was Sie tun, Herr Büchner. Es ist vielleicht in Ihrem Interesse besser, wenn Sie ruhig im Hause bleiben, so dass alle Welt sieht, ich habe Ihnen mein Vertrauen nicht entzogen.«

»Wie können Sie es wagen, so zu sprechen!« stieß Büchner zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor, »haben Sie nicht bereits gesprochen? Ist Ihr Verdacht nicht in diesem Augenblick Stadtgespräch?«

»Ich habe mit niemand gesprochen, als mit meiner Schwester. Wenn diese und Frau Onslow reinen Mund halten wollen, so ist nach außen hin an Ihrer Stellung nichts geändert.« »Nein,« sagte Büchner, »ich darf nicht wieder mit Ihnen zusammentreffen: es wäre gefährlich für Sie – lebensgefährlich.« Er ballte die mächtigen Fäuste und schüttelte sie, und dabei nahm sein Gesicht einen furchtbaren Ausdruck an, und sein ganzer Körper bebte. – »Wem soll ich die Kasse übergeben?«

»Herrn Wallice. Aber es ist Ihr Wille; Sie verlassen mich.«

Darauf antwortete Büchner nicht mehr, sondern machte kurz Kehrt und verließ das Zimmer.


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