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IX.

Die Stadt lag in stillem, grauem Herbstnebel da. Er wälzte sich vom Meer herein und verschleierte früh am Abend die Gaslaternen, während die Sonne in den wenigen Stunden, die als Tag gelten sollten, fast nur wie eine rote Kugel über den Dächern schwebte.

Der Korpsarzt war zum dritten- und letztenmal draußen in Sollid gewesen und hatte dort alles in Ordnung gebracht und abgesperrt, und das Haus in der Stadt hatte nun nach dem Sommerumzug und der Sommerunruhe auch wieder sein gewohntes Aussehen.

Man hatte in der Wohnstube schon die Lampe angezündet und der Doktor war eben heimgekehrt, als es draußen schellte und Wingaard eintrat. Er strich sich den feuchten Nebel aus dem Haar, während er grüßte.

»Nun also, – willkommen wieder in der Stadt. – Ich erfuhr erst diesen Sonntag, daß Ihr daheim seid und nun schon die vierzehn Tage hier haust, – was?« – wendete er sich fragend an Gunnar. – »Na, in dieser Saison werde ich Sie nicht mit irgendwelcher Musikmacherei im Verein plagen, Frau Grunth, – darüber können Sie beruhigt sein? Dieses undankbare Geschäft hat mich voriges Jahr so mitgenommen ... Man ist zwar so galant und bittet mich, etwas zu stande zu bringen und schmeichelt mir, daß ohne Konsul Wingaard hier in der Stadt nichts zusammengehe. Aber ich bedanke mich, will meine Nerven erhalten. – Man wird sich's eben an den verschiedenen Jugendbällen im Verein genügen lassen. Und mit dem, was möglicherweise an Vorstellungen irgend einer durchreisenden Schauspielertruppe abfallen kann. Von den verschiedenen Bazaren ganz zu schweigen, Frau Grunth!« – scherzte er.

»Ich danke Ihnen, Wingaard ... es wird mir gar nicht unangenehm sein, wenn ich nicht vor einem öffentlichen Auftreten zu zittern brauche,« – antwortete Frau Grunth, die ihren Lehnstuhl in den Schatten des Lampenschirmes gerückt hatte.

Der Großvater saß da und beobachtete und studierte sie, – das Behagen und die aufgeheiterte Stimmung, die sie zu verbergen trachtete. Seine Polizeiaugen wachten und spähten. – Diese ihre längere Abwesenheit jeden Nachmittag ... »Mit Frau Brandt vierhändig gespielt.« – »Droben bei den Ellershus neue Musik durchgenommen.« – Was steckte dahinter? – Was würde nun der Winter bringen? ...

– »Ich dachte eigentlich daran, Dich zu bitten, daß Du mir wegen dieser meiner elenden Nerven einen Rat giebst, Grunth, sie sind gar nichts wert,« – klagte Wingaard.

»Ah, ich weiß das nicht! – Mir, mir scheint, sie halten Unterschiedliches aus. All' diese Gesellschaften, in denen man Löwe ist«.

»Danke. Moralisieren ... Hier in der Stadt hat man seine Interessen, seine schlimme Eitelkeit, vielleicht, – wenn Du willst. Aber das greift doch jedenfalls an, – man ärgert sich, man langweilt sich, man hat ein oder den anderen Einfall, man wird zornig und rast« – –

»Lebt und gedeiht wie die Karausche in ihrem eigenen wohlbekannten Teich,«– rief der Doktor mit einer ganz eigenen Lustigkeit, – »ich bitte Dich, einer Stadt bewegender Geist,« – fügte er hinzu.

»Akkurat das, was ich so in aller Bescheidenheit mir selber sage. – Du hast also nicht irgend eine der hypnotisch-magnetischen Nervenkuren der neuesten Zeit mir zu empfehlen, etwas Willeneingießung oder dergleichen. – Man wird halt einmal an eine Badereise denken müssen ... Früher oder später kommt man ja doch zu dieser Station –

»Doch – ich kam ja eigentlich vor, Euch zu begrüßen,, da ich Licht bei Euch sah und mir dachte. Ihr wäret daheim. Und da bleibe ich gleich sitzen und reguliere Euch mit meinen Schwächen und Miseren« ... Er nahm seine Uhr heraus ... »Ich speise heute Abend bei meinem Bruder, – muß mich beeilen, wie ich sehe.« –

»Hu, wie finster draußen!« – hörte man ihn an der Gangthür zu Gunnar sagen.

*

Der Großvater und Terna machten einen Spaziergang. Sie wollten Trons' große Gärtnereianlagen und Treibhäuser besehen.

Der Großvater war unterwegs beim Optiker Krogh gewesen und hatte sich eine Reservebrille bestellt; – man mußte jedenfalls die Sicherheit haben, nicht in dem, was man zu sehen brauchte, »bête« zu werden. Nachher waren sie mit zwei Rasiermessern, die er geschliffen haben wollte, in einer Seitengasse gewesen. Und nun hielten sie vor einem Wollwarengeschäft, wo der Großvater stand und sich überlegte, ob er sich einen Stoß Unterkleider kaufen solle, als Paul Höeg über die Straße kam, auf sie beide zu.

»Willkommen zur Heimkehr von Sollid,« – grüßte er. »Ich bin vorübergegangen und habe bei Doktors die Rouleaux hinaufziehen und die Blumen an den Fenstern hervorkommen sehen, habe mich aber nicht hineingewagt, – aus Angst zu stören.«

»Nun, mein Freund, gedenken Sie also den Winter daheim zu verbringen?« – fragte der Großvater.

»Ich gehe hier eigentlich bloß herum, weil ich auf eine Entscheidung warte, – auf eine Entscheidung für das Leben,« – er schaute hastig Terna an – »Bin wie ein Fahrzeug, daß jeden Moment bereit sein muß, die Anker zu lichten und in See zu stechen.«

Terna stand und sah in das Schaufenster. – »Hast Du gehört, Terna, daß mich die Stadt hier in die Reichsacht gethan hat?« – lenkte er ab, mit einem Versuch, sie ins Gespräch zu ziehen.

»Warum? – was?« – fuhr sie auf ... »Na ja, wegen Deiner Chronik eben ...«

»Es ist hier wie ein Wespennest. Es surrt mit Klatsch auf, so oft es verlautet, daß ich an einen Namen auch nur rühre ... Die alten Familien sind heilig, Herr Zollinspektor, – nicht einmal auf ihre Ur- und Ururvater darf man deuten.«

»Man soll in seinem Geschlecht nie zu weit zurück herumspüren, sagt der Schotte, denn zuletzt stößt man wohl auf irgend einen Grenzräuber,« – bemerkte der Großvater.

»Und hier stößt man zuletzt auf Freibeuter, die in Kriegszeiten emporkommen, und auf wunderliche Eid- und Erbgeschichten, ehe die Familien sich rangiert und entschlossen hatten, achtbare Firmen zu werden, wie es sich für wohlhabende Geschlechter ziemt ... Jedoch indiskret und indelikat und boshaft und grabschänderisch ist es von mir, diese Dinge unter die Lupe zu nehmen.«

»Und so gedenken Sie denn zu reisen und den Klatsch Klatsch sein zu lassen,« – fragte der Großvater.

»Deshalb reisen? – Nein, wahrhaftig ... das hätte mir die Arbeit nur gewürzt, wenn – wenn« – kam es unsicher, während Paul da stand und die Pflastersteine ansah. »Aber sehr gemütlich ist es nun auch nicht, daheim ein niedergeschlagenes »Hm – hm – hm!« vom Lehnstuhl des Vaters und ein »Ja – ja« – als Echo vom Sopha her, – ein Stöhnen da und einen schweren Seufzer dort zu hören, – ich komme immer mehr ab von meiner Bestimmung, – klagen sie, still und unglücklich. Sie sind ja sonst ganz vernünftige Leute, abgerechnet die fixe Idee, daß ich durchaus Apotheker werden soll, – und so gewöhnlich sind sie auch nicht ... So kann es schon kommen, daß man sich ein bissel einsam und verlassen fühlt« –

Terna zog den Großvater am Arm:

»Daß es für uns nur nicht zu spät und zu dunkel wird! Wir wollen zum Gärtner Trons hinaus,« – erklärte sie, – »und das Treibhaus ansehen und was sie für den Winter hineinnehmen.«

»Aha, – aha!« er schaute sie entrüstet an, – »die Gärtnereigeschichte hast Du mir auch letzthin erzählt. Das ist so eine von Deinen Grillen und Mucken, und Du verrennst Dich hinein ... Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß Du im Ernst so eine Grünzeug schneidende, Grünzeug verkaufende« –

»Sag Du ihm's, Großvater,« – sprach sie etwas kühl und steif, »daß ich vom Vater die Erlaubnis habe, nächstes Jahr die Gärtnerei zu erlernen.«

»Ja wohl, ja wohl, das hat sie wirklich« –

»Und daß ich bei Dir wohnen will und in Deinem Garten anfangen, wenn Du einmal ein Haus kaufst,« – fuhr sie fort.

Dem Großvater war diese Idee nicht fremd; er hatte davon schon einige Male vorher gehört und war auch darauf eingegangen. Aber das nachgiebige, nachsichtige Lächeln, mit dem er es Paul gegenüber zugestand, hatte allerdings etwas Treuloses, das Paul plötzlich auffing.

»Ungeheuer gute Idee, eigentlich,« – fand er nun und stand und ging ihr nach. – »Ungemein gute Idee. – Unser Apothekergarten« – –

»Ich will mich nie mit etwas abgeben, worüber ich nicht selbst und ganz allein verfügen kann,« – schnitt Terna seinen Gedankengang ab. – »Doch, müssen wir nun nicht weiter, Großvater?« – drängte sie.

»Nein, nein; ich möchte die Gärtnerin nicht aufhalten,« sagte Paul und grüßte.

– – »Hm – hm, – ja – ja,« – der Großvater stieß allerlei Interjektionen aus, während er weiterschritt und Terna nicht ansah – – »Du, weißt Du, – er hatte damit ganz recht, der Paul,« – kam es endlich, – »daß Du Dich gegen ihn benimmst, als wärest Du voll Grillen und Mucken, Er kommt immer so vertrauensvoll und mitteilsam. – Aber Du – bum – bum – so starr und störrisch. Du solltest Dich an etwas mehr Geschmeidigkeit gewöhnen im Verkehr mit – mit ... Es existieren ja nicht bloß Großväter auf der Welt. Und nun fängst Du ja eigentlich an, erwachsen genug zu sein« –

– »daß ich mich nicht auf das einlassen will, was immer nur zu Unglück führt,« – sagte sie gepreßt und dem Weinen nahe.

»Nun, nun, – Du darfst mir glauben, es steht weitaus nicht überall gleich in dem Kapitel,« deutete der Großvater mit Vorsicht an. – »Hm, – schau Dir nur den schönen Kopf an, wenn er so grüßt. Er hat einen von den hohen Schädeln, denen man zutraut, daß sie genau wissen, was sie wollen. Und das Leben, das ihm nur so aus den Augen sprüht!«

Terna antwortete nicht. Sie war niedergeschlagen und nachdenklich, während sie beide stillschweigend hinaus in die Vorstadt wanderten.

– Diese ganze Idee mit der Gärtnerei, – war des Großvaters Gedankengang, – das war bloß etwas, wohinter das Mädel sich verschanzen wollte ... Die Folge, eben die Folge ... eines wurmstichigen Familienlebens ... Ja, die Kinder mußten die Schuld der Eltern bezahlen, wie geschrieben steht. – Zusammenhang – ein Nexus in allem – – – Er selbst ging und starrte eigentlich nur noch auf jene Seite des Lebens hinaus, von der die Menschen am liebsten den Kopf wegwenden, – des Lebens, das, wie Paul Höeg sagte, nun auch bald unter die Aktenschnur kam! – –

– Der Großvater hatte sich auf dem Spaziergang in seine eigenen Betrachtungen versenkt, und als sie in der Dämmerung heimgelangten, ging er gleich hinauf und begann seine Briefschaften und alten Papiere hervorzunehmen und zu ordnen.

Die Lampe stand neben ihm auf dem Klapptisch der Chiffonière und leuchtete auf die vergilbten zusammengebundenen Papiere, die der Großvater aus den vielen Schubladen mit Behältern herausholte. Er öffnete die Packete, revidierte sie und legte sie nach einer mehr oder minder hastigen Durchsicht wieder hinein.

In diesem Päckchen mit der verblichenen Seidenschnur lagen die Dokumente und Zeugnisse seiner ganzen Laufbahn, – von den Tauf- und Impfattesten an, ausgestellt vom längst verstorbenen Pastor der hiesigen Stiftskirche, Hans Dane, und dem Staatsphysikus Wriedt, die bezeugten, daß er auf die Welt gekommen war und Kristen Tönder Grunth hieß, – bis zur königlichen gnädigen Bewilligung seines Abschiedes als Zollinspektor, mit der gewöhnlichen Pension.

Da lagen sie in aller Dürre, eines auf dem anderen, wie vertrocknete Blumen. Dachte er an all die Illusion, die sie seinerzeit umduftet hatte, – an die Arbeit, an alles, was er dafür gewagt und für jedes einzelne eingesetzt, so lange diese Papiere noch als Zukunft, als Beförderung und als Gelegenheit, seinen Thatendrang, seine Thatkraft zu beweisen, in einem neuen, weiteren Umkreis ihm vor Augen standen, – solange es seine Phantasie beschäftigt, daß Kristen Grunth in der Marine und im Lande gehört und befragt werden solle; wenn er an all' das dachte und Dokument auf Dokument in ihre alten halbgerissenen Falten zusammenlegte, während Reisen und Bestrebungen und allerhand Pläne und sanguinische Hoffnungen von ehedem an seinem Geist vorüberzogen: – so erfaßte ihn eine Art von resignierter Wehmut, indessen er die Papiere wegthat und in den Kasten stopfte, – gleichsam lauter abgestorbene Teile seines Selbst, Haut um Haut, die er abgestoßen hatte, – bis auf die letzte, als endlich auch der Zollinspektor ging. –

Würde er es anders anfassen, wenn er aufs neue beginnen sollte? – War er etwa dadurch klüger geworden? ... Hatte das Leben ihm kaltes Wasser über den Kopf geschüttet und ihm gesagt, daß er es wie ein Tollhäusler begonnen? – Nicht einmal das fand er – Die Natur, die man besaß ...

Hier hielt er den Beweis in der Hand, daß der Aspirant Kristen Grunth, nachdem er die Prüfung mit dem besten Erfolg bestanden und eine Probefahrt gemacht hatte, in die Seekadetten-Akademie aufgenommen worden war.

Wenn er daran dachte, mit welchem Gefühl er als dreizehnjähriger Junge dieses Papier in der Hand gehalten, – er erinnerte sich heute noch des Tages! ... Er lächelte, – er hatte gelitten wie ein Hund und um sich geschlagen wie ein Mann in den ersten Jahren, als er dort in der Akademie noch um so viel mehr Leute über sich als unter sich gehabt hatte. Und überhaupt, – er hatte Uebergeordnete nie vertragen können. Das war von da an wie ein Faden durch sein ganzes Leben gegangen, so daß daraus immer Opposition entstand ... Es hatte viel Wahrscheinlichkeit für sich, daß es bei ihm eine Art von angeborener Disposition war ...

Tja, – er wog ein großes Packet zusammengelegter Zeitungsartikel in der Hand und that sie dann wieder in ein Fach ... Da liegt nun der Streit mit dem Marinekommando und all dessen Federn, der Streit, in dem der Kapitänlieutenant Grunth ihnen eine volle Ladung gab, sodaß sie ihn schließlich entwaffneten und zum Zollinspektor machten. – Da ist man Lieutenant und da Premierlieutenant und da Kapitän ...

Ja, ja, das war eine Zeit, – eine böse Zeit, – hm – –

Zum Mitglied der Kommission für Küstenbeleuchtung – Ja, da war man noch in Gunst und Gnade, die hoch angesehene Kapazität, die später so traurig verkleinert werden sollte ...

... Der Trauschein, – er öffnete ihn langsam – mit Jungfrau Terna Kirstine Taarvig.

Er blieb sitzen und starrte darauf. Vor seinen Augen stieg eine zarte schlanke Mädchengestalt auf, mit tiefen blauen Augen, weiß bis zu den Schuhen hinab, den Brautschleier beiseite geschlagen, als sie in die Kirche trat ... Der Händedruck bei den Worten des Pastors: – »So erkläre ich euch hiermit für richtige Eheleute,« – die ganze Feierlichkeit ...

Die Gedanken machten einen Sprung, und er verweilte bei dem Moment ihres Abschieds von diesem Leben, – einem Ausruf, einem Wort, für das er nie einen rechten Grund gefunden, an das er oft gedacht. –

»Ich vergebe Dir. Vergiß nicht, ich vergebe Dir, – vergebe Dir alles, Kirsten!«

Er legte plötzlich den Trauschein zusammen, zog eine der unteren Schubladen heraus und suchte die nachgelassenen Briefe seiner Frau. Sie lagen da in zwei von ihm selbst versiegelten und zugebundenen Päckchen.

Er besah sie und überlegte, ehe er das Siegel des größeren brach. Es waren darin seine eigenen zahlreichen Briefe an sie, von vielerlei Orten und aus vielerlei Landen, die sie ganz unten in der Kommodeschublade in einem alten Kindernähkasten aus Nußbaum verwahrt hatte, – alle, von den ersten an, mit Blumen und Kleeblättern dazwischen ...

Er las die Briefe aus der Bräutigamszeit, einen um den anderen.

Es schlug ein Hauch von Andacht ihm daraus entgegen, – heilig, wie sie diese Briefe gehalten, – und er saß überwältigt da, tief und innig zurückversunken in seiner Jugend goldene Zeit.

Während er Brief um Brief durchging, hielt er bei einem inne, dessen Ausdrücke ihm etwas zu geschwollen poetisch waren. Er zog eine Grimasse, in der sich milde Nachsicht und eine unangenehme Empfindung mischten, – und nahm einen neuen vor, – Der war aus London, als sie mit ihrem Aeltesten in der Hoffnung war, – dem kleinen Jon, den sie verloren.

Ja, das war jene Zeit, – und der aus Barcelona.

Er begann oberflächlicher durchzusehen und beiseite zu legen. – Und von La Valette, während er als Drittkommandierender mit dem »Adler« kreuzte und –

»Ich soll Dich bitten, zum Abendessen herab zu kommen, Großvater,« sagte Kirstine von der Thür her.

Der Großvater blieb sitzen und drehte und wendete und starrte die zur Hälfte beschriebene Rückseite einer seiner Episteln an.

Es schien der Entwurf zu etwas wie einem Brief zu sein, den seine Frau an ihn begonnen, – wohl während er auf einem Kauffahrteischiffe fuhr, – ein Konzept, das sie liegen gelassen und vergessen hatte ... Das Datum? – er drehte und wendete das Blatt von neuem, kein Datum –

»Theuerer Kristen!« – las er, – und darin folgte mehreres Ausgestrichene oder Verwischte. –

»Als wir einander Lebewohl sagten, merktest Du wohl« – begann es zweimal und war wieder durchgestrichen. –

»Könnte ich Dir sagen, wie ich die Nachte hindurch da gelegen und gebrütet habe und mit Dir geredet und geredet« – – Auch dieser Anfang war durch eine schwach gezogene Tintenlinie beseitigt.

Etwas wie: – »Wenn Du mir antworten wolltest, Kristen, als stünden wir vor –« war mit dicken Querstrichen unleserlich gemacht.

Dann kam unausgestrichen:

»Wenn wir gegen einander nicht offen sind, – ganz bis auf den Grund, – fühle ich, daß ich das Leben nicht aushalten kann.«

Es mußte etwas gewesen sein, das sie sich sehr zu Herzen genommen hatte. Es glich ihr gar nicht, – diese Art von Herzenserguß, – irgend etwas, das sie gekränkt hatte, – tief –

Er begriff gar nicht, ... stand auf, setzte die Lampe weg und ging hinab, während er noch in seinem Gedächtnis suchte und tastete – –

Unten saßen sie beim Abendtisch und warteten auf ihn. Terna versah ihn mit Thee und der Korpsarzt machte ihn lächelnd auf etwas kalten Aufschnitt aufmerksam, den der Großvater zerstreut wollte an sich vorübergehen lassen.

Stefanie hatte am Nachmittag ein neues Klavier probiert, das in Anthonisens Musikgeschäft angekommen war, berichtete sie, und nachher war sie bei den Schwestern Jensen gewesen, – wegen ihres Kleides, dem eine Art von Façon zu geben nun endlich geglückt war, so daß es ganz spät und dunkel geworden sei, ehe sie heimkam – –

»Hier auf dem Teller steht noch etwas Kalbfleisch mit Aspik; nimm es Dir, Gunnar,« bot sie an, indem sie es ihm hinschob ... »Du siehst müde aus; bist Du weit gewesen?«

»Nein, gewiß nicht, – bloß meine gewöhnliche Nachmittagsrunde.«

»Bei Deiner Freundin, Frau Jordan, gesessen und geschwatzt?« scherzte sie, »Oder auf der anderen Seite, jenseits der Brücke, bei Deinen Patienten gewesen?« – es schoß ein forschender Blick zu ihm hin.

»Nein, hör' einmal,« lachte er, – »wirst Du jetzt auch eine solche Doktorsfrau, die Rapporte haben will? – Ich bin durch die kleinen Gassen auf dem Schanzenhügel herumgetrottet, – und es ist gut, heimzukommen, wenn ich nur den Abend in Frieden verbringen kann.«

Frau Stefanie begann auf einmal ruhig und gemächlich ihr Butterbrot tüchtig mit Fleisch zu belegen.

Der Großvater war mit sich fertig; er that nicht länger mit. Kirstines Erzählung, daß Frau Direktor Brunnick zu Besuch gewesen und keinen daheim getroffen und Ingwalds Aufzählung der Bücher, die er kaufen müsse, wenn er auf die technische Schule komme, all das glitt nur halb gehört an dem Ohr des Großvaters vorbei.

Er saß geistesabwesend, in die Vergangenheit entrückt da, während der aufgestörte Gedanke ohne Resultat suchte und suchte. Die niedergeschriebenen Fragmente standen ihm wechselnd vor Augen ... »Wenn wir gegen einander nicht offen sind« – »Wenn Du mir antworten wolltest, als stündest Du vor«. – –

Als sie sich vom Tisch erhoben, begab er sich gleich hinauf und überhörte die verwunderte Frage des Doktors:

»Aber Vater, willst Du nicht bleiben und Deine gewöhnliche Abendpfeife rauchen?«

Als der Großvater die Lampe vom Tisch nahm und wieder auf das Klappbrett der Chiffonière stellte, bemerkte er auf dem Fußboden drunten ein zusammengelegtes Papier. Er hob es auf und hielt es unter das Licht.

Es war, dem Anschein nach, der Entwurf zu einem geplanten ganzen Brief, – verbessert und ausgestrichen und schließlich ganz aufgegeben:

»Theurer Kristen«.

»Ich vermag an nichts anderes zu denken und von nichts anderem zu schreiben, ehe Du mir geantwortet hast, – bloß mir das erklärt, was mir so schwer, schwer auf dem Herzen liegt. Es ist mir so dunkel. Ich will nicht, daß Du mich »beruhigest«, – sondern mir es sagst, wie es ist, Kristen, so daß alles rein und klar zwischen uns ist vor Gott und Menschen, so wie Eheleute und alle, die einander lieben, es haben müssen, wenn es nicht sein soll, als stiere man in sein eigenes Grab und wünsche sich tot und fort. Antworte mir, hörst Du, aufrichtig, was ich glauben soll, Du geliebter Mann, zu dem ich aus so weiter Ferne spreche.

»O, ich habe gedacht und gegrübelt. Oft merke ich selbst, daß es für mich zu groß wird. Schon seit dem Sommer, als ich daheim war, wie Du weißt, und nach dem Vater sah, der krank war, – und ich einen Brief von Dir aus Lissabon erhielt, – ich danke Dir dafür, – habe ich keine Nacht ruhig geschlafen, – bin da gelegen und habe an dies häßliche Wesen gedacht und Dir ins Antlitz geschaut und den Namen ausgesprochen: »Malta Sannem«, um zu sehen, ob Du bleich wurdest und unsicher, oder ob Du, Gott segne Dich, so furchtbar schön den Mund zum Spott verzogst, wie nur Du, nur Du es kannst, und lachend mich verhöhntest. Und so lang treibe ich's in der Nacht und sag's und schau' und hab' Angst und bitte, bis der spöttische Zug kommt; früher schlafe ich nicht ein.

»Dies Geschöpf kam eines Tags schmutzig und zerlumpt, obwohl sie gewiß einmal schön gewesen war, in des Vaters Küche und verlangte mit Frau Grunth zu reden – unter vier Augen. – Und da kam heraus, sie sei verheiratet und nun in großer Not und Armut; der Mann habe sie verlassen, und sie misse niemand, an den sie sich wenden solle als mich, da sie gehört, ich sei des Kapitän Grunths Frau. Denn mit ihm sei sie einen ganzen Sommer als Aufwärterin gereist, – und wäre er jetzt hier gewesen, er hätte ihr geholfen; das könne sie mir so bestimmt sagen, »als sie auf dem Flecke stände«. Das war der Ausdruck, – und ich erinnere mich, wie noch sie dabei mit dem Fuß auf den Boden stieß. Aber als sie merkte, daß ich beabsichtige, sie kurz abzuweisen, blickte sie mir keck in die Augen und sagte ganz wunderlich spöttisch und so, als ob sie zu drohen vermeinte, »Denn er, er war eben auch ein Mannsbild liebe Frau!« – Diese Worte vergesse ich nie, Kristen! Ich gab ihr eilig, was ich konnte, zwei Zwanzigkronenstücke, und hoffe sie nie mehr zu sehen.

»Aber seither – seither – – Ich getraue mich nicht, es ins Auge zu fassen.« – –

Hier war das Schreiben abgebrochen.

Weiter unten stand, wie eine Bemerkung für sich selbst:

»Wenn etwas daran war, weshalb sollte nicht auch viel mehr noch existiert haben.« –

»Es wird förmlich eine Lawine für mich. Ich wage nicht –, nein, niemals wage ich ihn zu fragen.« –

Der Großvater saß da, das verschollene Blatt in der Hand. –

Also das hatte sie so viele Jahre mit sich herumgetragen – – Das war die Ursache des Scheuen, Unbeherrschbaren, Plötzlichen, wenn sie so auf einmal ihn wegstieß, oft gerade in der Stunde der Heimkehr, wo sie einander am wärmsten und innigsten hätten nahe sein können ... Hier, – hier war die Erklärung.

Malla Sannem, – ja, so hieß sie, – es war nun wohl an die dreißig Jahre her ...

Er hatte gewissermaßen selbst dafür gesorgt, den Namen und die verdammt unglückliche Geschichte zu vergessen – –

Berauscht, nach einem Trinkgelage im Norden von Beja – – Es war stets sein Prinzip gewesen, daß jemand, der vorwärts wollte, die Weste rein haben mußte für ein steckenloses Familienleben. Er schaffte sie auch sofort aus dem Schiff – und aus der Erinnerung heraus, mit ein bischen anderem Schmutz, den man von seinem Verdeck hinwegspült.

Er starrte vor sich, sah zurück in die wechselnden Begebenheiten, in den Gang seines Ehelebens durch all die Jahre: – der Bruch in ihrem Verhältnis, der Riß, welcher hier hindurchgegangen war, – all die Zweifel, über die ihre tiefe Natur die Liebe vorwärts geschleppt, – die bebende Unruhe und Angst, wenn er so stürmisch froh von einer Expedition oder einer Reise heimkehrte, – die geheimen Fragen ihrer Augen ...

Wie er so versunken da saß, war es ihm, als kreiste der Vogel um ihn, mit der Wunde in der Brust und dem klagenden Laut –

»Vergiß es nicht, daß ich Dir alles vergebe, – alles«, – murmelte er mit bebenden Lippen und brach in Thränen aus – –

Er, der alte Mann, hatte nicht vor diesem Augenblick gewußt, was ein solches Verhältnis, – was Liebe war!


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