Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Die Residenz, das Treiben der Gesellschaft schienen ihm nie anmuthiger, als gerade jetzt. Sein idyllischer Roman in dem kleinen Orte wurde ihm bald so mythisch, daß er sich daran ergötzen konnte, solch jugendlicher Aufwallung noch fähig gewesen zu sein. Er schrieb an Willmar, für die genossene Gastlichkeit zu danken, und legte einen versiegelten Brief an die Tochter ein, der er in phantasiereichen Phrasen von ihren gemeinsamen Erinnerungen sprach, deren Freundschaft er den schönsten Erwerb seiner Dichterlaufbahn nannte. Sie habe ihr Inneres richtig erkannt, sagte er ihr, sie sei zu Schade, im Tretrade der Gewöhnlichkeit als Weib eines sorgenvollen Mannes unterzugehen. Frei müsse sie bleiben, wie er selber, sich selbst entwickelnd, und mit genießend alles Große und Schöne in der Zeit, die ebenbürtige Freundin ihrer besten Geister.

Adele bewahrte und verehrte diese Zeilen wie den Lehrbrief für ihre Zukunft. Mit einer Ausdauer, deren man sie nicht fähig geglaubt, begann sie an ihrer Bildung zu arbeiten, während sie zugleich bemüht war, sich Hellwig in irgend einer Weise dienstbar und nützlich zu machen. Sie schrieb ihm täglich. Ihre Gedanken entwickelten sich an dem Bestreben, ihm Lesenswerthes darzubieten. Hellwig antwortete ihr, aus Mitleid, wie er glaubte; indeß er sah bald ein, daß er an Adele eine Hülfe gewinnen könne. Er sandte ihr die neuen Dichtungen zu lesen, die ihm zugeschickt wurden, verlangte ihr Urtheil darüber, und ließ nicht selten ihre eigenthümlichen Bemerkungen, die eigene Lectüre sparend, mit der nöthigen Aenderung als die seinen drucken. Das schmeichelte Adelen in doppeltem Sinne, und gewöhnte ihren Verstand zur Kritik, während sie sich dabei zugleich die äußeren Umrisse von Hellwig's Styl zu eigen machte. Erst hatte sie nur fremde Werke unter seiner Aufsicht recensirt, dann begann sie die Arbeiten des Geliebten selbständig zu beurtheilen, wozu die Spalten des Litteraturblattes sich ihr willig öffneten. Willmar freute sich dieser Thätigkeit seiner Tochter, die Mutter verließ sich auf den lebhaften Briefwechsel zwischen Adele und ihrem Freunde, und war beruhigt, wenn sie das Mädchen nur zufrieden sah.

Einige Monate hindurch blieb Adele auch heiter. Man tadelte zwar in ihrer Heimath ihr Verhältniß zu Hellwig, ihre litterarische Beschäftigung und Hellwig's Einfluß auf das Journal, indeß sie fühlte sich dadurch nicht beirrt. Von der Stunde an, da sie sich einem Dichter angelobt, hatte sie sich losgesagt von den Schranken ihres bisherigen Daseins, und jede fremde Ansicht, außer der von Hellwig, hatte ihre Bedeutung für sie verloren. Vergebens machten gute, alte Freunde die Eltern aufmerksam darauf, daß Adele auf diesem Wege sich nicht glücklich machen werde. Sie versicherte ihre Zufriedenheit mit den wärmsten Betheuerungen, und fand wie immer Nachgiebigkeit bei ihren Eltern. Aber diese Zufriedenheit war von kurzer Dauer.

Adele war bald unglücklich, wenn Hellwig schwieg, und unglücklich, wenn er ihr schrieb. Das Vertrauen, das er gewährte, machte ihr Qual. Sie zwang sich, es zu ertragen, wenn er ihr im Selbstgenusse von den Eroberungen erzählte, die er machte, wenn er sich die Freude bereitete, sich vor ihr zu idealisiren und ihre Bewunderung zu ernten, und Beide waren stolz auf diese wundervolle Hingebung, an der Adele sich verblutete.

Tag und Nacht wichen die Schreckbilder der Eifersucht nicht von ihr, die Sehnsucht nach Hellwig ließ ihr keine Ruhe. So großmüthig der Selbstbetrug gewesen, zu dem sie sich in der Scheidestunde verleiten lassen, sie hatte ihn nur zu schwer zu büßen. Vergebens hielt sie sich vor, daß verleiten sie Nichts von Hellwig verlangt, daß er ihr Nichts versprochen als seine Freundschaft, und daß er ihr diese treu bewahre. Vergebens tröstete sie sich damit, wie Hellwig ihr oftmals wiederholt, daß er sich nie zu verheirathen gedenke; ihr graute davor, wenn Hellwig sie bald wie ein höheres Wesen, bald wie einen Freund behandelte, wenn er sie seinen guten Genius nannte. Sie fühlte für ihn die ganze Leidenschaft des Weibes, sie hatte bald nur den einen Gedanken, seine Liebe zu gewinnen, sein Weib zu werden. Hellwig wollte das nicht ahnen, nicht verstehen. Mit bitteren Thränen verwünschte sie die Selbstüberhebung, in der sie sich vermessen, mehr sein zu wollen, als ein Weib voll dienstbarer Liebe, mit bitterer Reue dachte sie an ihre erheuchelte Entsagung.

Da plötzlich verbreitete sich die Nachricht, Hellwig habe die Neigung einer reichen Erbin gewonnen, und werde sich verheirathen. Jene alten Freunde, welche den Eltern Vorstellungen über die befremdliche Richtung der Tochter gemacht, trugen die Neuigkeit in das Willmar'sche Haus. Sie erregte Bestürzung bei dem Vater, Unglauben bei der Mutter. Beide konnten nicht denken, daß ihr Gastfreund, daß ein Mann, dem sie nur Güte und Vertrauen erwiesen, diese verrathen könne. Zum ersten Male sprachen die Eltern sich gegen einander über dieses Verhältniß und über Adelens Liebe zu Hellwig aus. Jeder war geneigt, dem Anderen Vorwürfe zu machen, ihn der Kurzsichtigkeit, der Schwäche anzuklagen; aber das wahrscheinliche Unglück ihres Kindes lastete so schwer auf ihnen, daß Beide aus Liebe zu einander schwiegen. Auch Adelen sprachen sie noch nicht davon. Eine solche Erfahrung komme immer noch zu früh, sagte Herr Willmar, und beide Eltern umgaben von der Stunde an, die Tochter mit noch weicherer Zärtlichkeit, mit noch größerer Nachsicht; denn sie hatten ihr den Mangel an Lebensklugheit abzubitten, der das Mädchen Hellwig's Eigenliebe überlassen. Aengstlich suchten sie ihr die Kunde von seiner bevorstehenden Verlobung fern zu halten; man behandelte sie wie eine Kranke, so daß Adele sich davon beängstigt fühlte, und die Ahnung eines Unheils sie ergriff.

Hellwig hatte ihr ungewöhnlich lange nicht geschrieben. Sie sprach gegen die Eltern davon, man wich vor der Antwort zurück, man wollte noch zweifeln und hoffen. Da zerriß ein Brief von Hellwig das Dunkel vor Adelens Augen. Schon der bloße Anblick desselben erschreckte sie.

Er hatte das kleine Format, die engen Zeilen aufgegeben, in denen er ihr sonst zu schreiben pflegte. Das große Quartblatt, die breiten Linien mit den großen, prächtigen Buchstaben sahen triumphirend aus, als sprächen sie aller Beschränkung Hohn und freuten sich ihrer Ungebundenheit. Auch die Anrede war verändert. Niemals zuvor hatte Hellwig Adele seine treue, theure Freundin genannt. Ihre Hände zitterten bei dieser Aufschrift. Mit festen, klaren Worten sagte er ihr, daß er ihr eine Wendung seines Schicksals zu verkünden habe, an der ihr Herz ihm den gewohnten Antheil nicht versagen werde. Er habe ihr bisher von einer Bekanntschaft nicht sprechen mögen, die er vor einigen Monaten gemacht, weil der Eindruck, den er von derselben gehabt, ihm überraschend und verwirrend gewesen sei, und weil er sich nicht habe entschließen können, vor Adelen als ein in sich nicht klarer Mann zu erscheinen. Ferdinande sei nicht jung, nicht schön, aber das eigenartigste, selbständigste Weib, das ihm begegnet. Er könne nicht sagen, daß er sie gesucht habe, er sei vielmehr von ihr gewaltsam angezogen worden. Sie selber habe ihm erst sein eigenes Wesen klar gemacht, und ihm angedeutet, daß er sie nur gemieden, weil sie ihm zu ähnlich sei. Mit dieser Erkenntniß sei die Liebe zu Ferdinande in ihm erwacht, und jetzt bange ihm nicht mehr vor der Ehe, da er sein eigenstes Wesen wiederfinde, wenn er sich verliere in Ferdinande. Dann sprach er Adelen seinen Dank aus für Alles, was sie ihm bisher gewesen, und gedachte des unbegränzten Vertrauens, das er zu ihr hege. Dieses Vertrauen, schrieb er, gebe ihm allein den Muth, ihr eine Schwäche seiner Braut zu bekennen. Ferdinande sei zur Eifersucht geneigt, und würde den Gedanken nicht ertragen können, seinen geistigen Besitz mit einer anderen Frau zu theilen. Er hoffe sie mit der Zeit von dieser kleinen Beschränkung zurückzubringen, für jetzt aber vertraue er dem großen, liebevollen Herzen seiner Adele, daß es in sich selbst zu beruhen wissen werde. Es sei dies der letzte Brief, den die von ihm erhalte; könne doch jeder Mensch die Gegenwart nur erringen, indem seine Vergangenheit ihm untergehe. Er habe Adelens Briefe verbrannt, sie möge das Gleiche mit den seinen thun, wenn sie nicht vorziehe, sie ihm zurückzugeben. Von dieser Stunde an lebe sie, ein verschwiegenes Heiligthum, in seinem Herzen, als der gute Genius, zu dem sie sich ihm angelobt, und als sein guter Genius möge sie für ihn beten, daß die Entscheidung, welche er getroffen, ihm und seinem künftigen Schaffen nun auch zum Heile gereiche.

Der Brief war mit einer knappen Einfachheit geschrieben, wie sie Hellwig sonst nicht eigen war. Es war unmöglich, ihn zu mißverstehen. Jedes Wort bohrte sich schneidend in das Herz Adelens ein, und die Worte waren so kalt, daß ihr das Blut davor erstarrte.

»Hellwig heirathet!« sagte sie ruhig, während das Auge ihrer Mutter angstvoll über ihr wachte. Die Mutter brach in Thränen aus, Adele blieb still und gefaßt. Frau Willmar sah es mit Erstaunen.

»Mädchen! Mädchen!« rief sie, »wie habe ich es verdient, solch eine Tochter zu haben? Wie soll ich Gott danken für Dich, Du Geschöpf voll höchstem Adel?«

»Eine große Liebe ist ja Lebenserfüllung!« antwortete Adele. »Ich beklage mich nicht! Ich habe das Höchste genossen, denn er hat mich geliebt! ja Mutter! er hat mich geliebt.«

Die Worte erleichterten ihr das Herz. Mutter und Tochter weinten zusammen, und von dieser Stunde wurde Frau Willmar Adelens Vertraute. Aber während das Aussprechen ihres Kummers vor derselben Adelen wohl that, legte es ihr zugleich die Pflicht auf, sich auf der klaren Höhe der Entsagung zu erhalten, zu der sie sich im ersten gewaltsamen Schmerz emporgeschwungen.

Täglich tröstete die Mutter Adele damit, daß Niemand für Hellwig werden könne, was sie ihm gewesen, täglich wiederholte Adele sich, daß es nichts Erhabeneres gebe, als der Genius eines solchen Dichters zu sein, und daß ihr ein Lebensloos gefallen, ein Schicksal geworden sei, das sie abtrenne von der Masse der Frauen. Aber Niemand vermag dauernd sich selbst zu täuschen, und vor dem wirklichen Bedürfniß des Herzens zerfließen die erhabensten Truggebilde in ihr Nichts.

So muthig Adele sich vor der Mutter zeigte, so verzagt war sie in ihrem Innern. Mit der Wollust der Verzweiflung nannte sie sich verschmäht, verrathen, nannte sie ihr Schicksal ein unerhörtes, ein nie dagewesenes. Sie begriff nicht, wie es gekommen war, sie tröstete sich damit, daß Hellwig sie nicht hätte verlassen können, hätte er sie ganz verstanden, ganz gekannt, wäre sie selber sich vollkommen klar gewesen.

Tagelang ging sie einsam durch die Gegend, in Betrachtung ihrer selbst versunken, und bemüht, mit sich zu einem inneren Abschluß zu gelangen, den sie nicht zu finden wußte.

Da ihr Verkehr mit Hellwig aufhörte, fand sie sich plötzlich müßig. Sie hatte ihre ganze Zeit auf den Briefwechsel mit ihm, und auf die litterarischen Handleistungen gewendet, zu denen er sie gewöhnt. Im Hauswesen hatte sie sich nie betheiligt, den Umgang mit ihren Altersgenossen hatte sie bei der Besonderheit ihrer Thätigkeit nicht gesucht, und die Jugend hatte auch kein Gefallen gehabt an Adelens Richtung und an ihrem sonderbaren Wesen. Die Einen nannten sie eine Gelehrte, die Anderen eine Kokette. Der hielt sie für prüde, weil sie gleichgültig war gegen die Männer ihres Kreises, Jener dachte an ihr Umherschweifen in der Natur, und schalt ihr Betragen viel zu frei. Alle aber hörten auf, sie zu der Jugend zu zählen. Mit neunzehn Jahren hielt man Adele nicht mehr für ein junges Mädchen, und sie selber sah sich nicht mehr dafür an.

Die Eltern, welche ein Schuldbewußtsein gegen sie hatten, traten ihr niemals entgegen. Die Mutter bewunderte die Stärke, mit der Adele ihr Schicksal trug, sie fand es natürlich, daß man nach einem solchen Dichter keinen gewöhnlichen Mann zu lieben vermöge, und noch begründeter, daß ein Herz, wie ihre Tochter es besaß, ohne Liebe nicht vergeben werden dürfe. Adele betheuerte, daß sie sich niemals verheirathen könne, ohne sich zu erniedrigen, und die Mutter wußte auch Niemand, den sie ihres Kindes würdig glaubte. Sprach Herr Willmar von der Verlassenheit, in welcher Adele sich nach dem Tode ihrer Eltern finden würde, so weinte die Mutter, und Adele wies sie tröstend auf alle die großen Herzen hin, die auch ganz unerkannt und einsam durch das Leben gegangen waren, und wie die beiden Frauen sich sonst dem Kultus des Genius hingegeben, so versanken sie jetzt in den Glauben an die Einsamkeit der großen Frauenherzen.

Dadurch verbreitete sich eine trübe Atmosphäre über das Willmar'sche Haus. Man mied den geselligen Umgang mehr und mehr, es erschienen keine Gäste wie in früheren Tagen, und diese Zurückgezogenheit entsprach im Grunde den beschränkten Mitteln der Familie am allerbesten. Nur dann und wann kamen die ältesten Freunde zu einer Spielpartie, oder Willmar und seine Frau besuchten eine solche; immer aber schloß Adele sich von dieser Geselligkeit aus, und auch den Abend, dessen wir erwähnten, hatte sie zu einem der weiten und langen Spaziergänge benutzt, die sie ihre einzige Erquickung nannte, und die immer mit einem Besuche in der Fabrik beschlossen wurden.

Es verging noch eine halbe Stunde, ehe Adele nach Hause kam. Samuel hatte volle Zeit, sich in dem Zimmer umzusehen. Mit der ihr eigenthümlichen Hast öffnete sie die Thüre. Ihre blonden Locken waren vom Regen geglättet und hingen schlaff an ihren Wangen herab. Sie sah bleich und übermüdet aus.

Als sie Samuel gewahr wurde, blieb sie stehen. »Wie kommen Sie hierher?« fragte sie.

»Es war das einzige helle Zimmer im Hause, und ich wollte Sie gern sprechen!« sagte er.

»Was ist geschehen?« rief sie erschreckend.

»Nichts! Nichts, Cousine! Ist es denn so unbegreiflich, daß ich mir die Freiheit nehme, Sie hier aufzusuchen, um eine Stunde mit Ihnen zu verplaudern?«

»Ach, nein!« entgegnete sie, »aber ich bin nicht glücksgewohnt, darum erschreckt mich alles Unerwartete.«

Sie hatte den kleinen Hut und den leichten, ganz durchnäßten Shawl auf den ersten, besten Stuhl geworfen, und setzte sich ermattet in die Sophaecke nieder. Samuel sah, daß selbst ihre Kleider naß geworden waren, und daß Adele zusammenschauerte. Er machte ihr das freundlich bemerkbar, und bat sie an ihre Gesundheit zu denken. Sie schüttelte den Kopf.

»Sein Sie unbesorgt!« sagte sie. »Wer seelisch recht viel gelitten hat, der ist körperlich gefeit. Ich habe eine eiserne Natur, ich bekomme mich nicht todt!«

»Adele!« rief Samuel, »versündigen Sie sich nicht.«

»Was ist da zu versündigen!« entgegnete sie. »Das Leben ist ja Nichts werth, wenn man es nicht lebenwerth erfindet!«

»Und Sie denken nicht, daß Ihre Eltern schon den einzigen Sohn verloren haben, daß Ihr Vater –«

Adele ließ ihn nicht enden. »Mein Vater,« sagte sie, »würde mit seiner milden Resignation sich bald auch darin finden. Ich habe oft daran gedacht! – Und meine Mutter? – Meine Mutter weiß es, daß ich nicht für das Leben tauge.«

Alles, was sie sprach, mißfiel Samuel, und doch that sie ihm leid; denn es war ihr Ernst mit Allem, was sie sagte. Es war gekommen, ihr Vorstellungen zu machen über ihr auffallendes Betragen; aber wie sollte er ihr empfehlen, die hergebrachte Sitte zu beachten, da sie ihr ganzes Dasein so gering anschlug?

»In Ihrem Alter ist diese Lebensanschauung eine traurige!« sagte er endlich, um doch Etwas zu sagen.

»Das ist auch einer von den banalen Begriffen,« entgegnete sie, »daß man die Jugend für die Zeit des Glückes ansieht. Und wer ist denn jung? wer ist denn alt? – Wenn drei Jahre im Stande sind, ein Leben, eine Welt voll Schmerz und Leiden in sich aufzunehmen, wenn man in Tagen die ganze Kraft eines Menschenherzens erschöpfen kann, wie will man da noch von Alter und von Jugend sprechen? – Ich sage Ihnen, Cousin! wenn wir Viere, die Eltern, Sie und ich, beisammen sitzen, und ich Euch von Planen für ferne Jahre, von Zukunft sprechen höre, kommt Ihr mir so jung vor! ach! so jung! –«

Sie hielt inne, und sagte dann: »Aber in den Stunden fühle ich's auch, daß ich alt bin, älter, viel älter als Ihr, denn ich denke niemals vorwärts. Ich habe und verlange keine Zukunft.«

Es war eine harte und heftige Weise, in der Adele sprach. Sie hatte bei ihren letzten Worten das Gesicht in der aufgestützten Hand verborgen. Als sie wieder emporsah, waren ihre Züge weich geworden, und mit mildem Tone sagte sie: »Nun plaudern wir! Aber wovon? – Sie hätten mich gehen lassen, mich nicht suchen sollen, Samuel! Ich bin ein trauriges Geschöpf, ich meinte es gut mit Ihnen, als ich Ihnen fern blieb!«

Ihre Stimme verrieth, wie sie sich zu beruhigen bestrebt war; Samuel drückte ihr die Hand, sie erwiderte es herzlich.

»So kann es aber nicht mit Ihnen bleiben!« sagte er. »Sie müssen sich ermannen. Ich habe kein Recht, Ihr Vertrauen zu fordern, Ihnen Rath zu geben, aber Sie müssen frei zu werden suchen von Erinnerungen, die Ihre Ruhe stören. Wie kann man sich so untergehen lassen?«

Sie sah ihn nachdenklich und forschend an. Endlich fragte sie: »Was wissen Sie von meinem Schicksal?«

»Sie lieben Hellwig!« sagte er, und ein Gefühl der Scham, das er sich nicht enträthseln konnte, bewältigte ihn, da er es sagte.

Adelens bleiche Wangen färbten sich mit dunklem Roth. »Ja!« sprach sie gepreßt, »und ich werde nicht aufhören, ihn zu lieben. Ich war so jung, mein Herz war noch so offen, als sein Bild sich darin eingrub! Da ist's festgewachsen! Gott weiß es wie fest!«

Sie war leidenschaftlich bewegt, ihre Augen leuchteten. Samuel betrachtete sie mit schmerzlicher Theilnahme.

»Er hat Ihnen Ihre Liebe schlecht vergolten!« sagte er.

»Vergolten?« wiederholte Adele. »Ich habe mich ihm angelobt mit freiem Willen, er hat das Opfer angenommen. Das ist Alles! Da ist Nichts zu vergelten!«

»Welch unglückseeliger Selbstbetrug!« stieß Samuel unwillkürlich hervor.

Adele blickte ihn betroffen an, es entstand eine Pause. Der begeisterte Ausdruck ihre Züge erlosch allmählich, eine neue Gedankenreihe schien sich ihrer bemächtigt zu haben, und mit ganz veränderter Weise sagte sie endlich: »Manchmal freilich frage ich mich wohl selber: wozu das Alles? – Manchmal wehschreit es in mir, daß ich mich meiner schäme! – Es ist ein Zwiespalt, der gar nicht aufzulösen ist. Und wenn sich dann die Schmerzen so brennend festbohrten in meinem Hirn, wenn ich mich nicht zu retten wußte, dann gab's nur einen Ausweg! Ich mußte es lostrennen von mir selber, ich mußte Alles niederschreiben, als wär's nicht mir geschehen.«

»Und das haben Sie gethan?«

»Ja! es war mein einziger Trost!« – Sie erhob sich, ging an ihren Schreibtisch, und nahm einen Stoß Papiere daraus hervor, die sie vor Samuel niederlegte, indem sie das erste Blatt zurückschlug.

»Des Dichters Genius, ein Roman von Adele,« war mit schöner Handschrift darauf geschrieben.

»Den armen Blättern durft' ich Alles sagen! Alles!« sprach Adele. »Sie werden zu ihm gehen und zu ihm reden, von Tagen, die nicht mehr sind, von glücklichen Stunden, die wir getheilt, von bitteren Leiden, deren Kelch ich allein gekostet. Und wenn ich nicht mehr sein werde, dann werden diese armen Blätter noch bei ihm bleiben, und ihn mahnen, sich selbst getreu zu sein, um der heiligen Liebe willen, die er doch einst mit mir getheilt! –«

Sie wendete sich ab, und ging an's Fenster, ihre hervorbrechenden Thränen zu verbergen. Samuel fühlte eine tiefe Erbitterung gegen Hellwig, aber auch Adele machte ihn ungeduldig. Er hätte ihrem ganzen Thun und Treiben wie einem tollen Spuk entgegentreten mögen, und doch ging ihr Schicksal ihm zu Herzen.

»Und den Roman soll Hellwig lesen?« fragte er nach einer Weile.

»Er vor allen Anderen! sobald er fertig ist.«

»Sie haben ihn also noch nicht vollendet?«

»Beendet ist er lange, aber es fehlen noch einige Bogen, noch ist er nicht ganz gedruckt.«

Samuel antwortete nicht darauf.

»Ich denke in drei, vier Wochen soll das Buch erscheinen!« sagte Adele mit einer Verlegenheit, die durch des Vetters Schweigen nur gesteigert ward. »Niemand weiß davon, selbst meine Mutter nicht, der ich sonst Nichts doch verberge! Und auch Sie hätten es niemals erfahren, hätte Ihre Theilnahme mir das Geheimniß nicht entlockt.«

Auch jetzt noch schwieg er. Adele befand sich in der peinlichen Lage eines Menschen, dem vor Zeugen ein großes Experiment mißlingt. Bewußt oder unbewußt hatte sie gehofft, mit dem Geständniß, daß sie einen Roman geschrieben, dem Vetter die rechte Würdigung ihrer persönlichen Bedeutung und ihres Verhältnisses zu Hellwig zu eröffnen. Jetzt, da er so still und ohne Zeichen der Billigung vor ihr saß, überfiel sie selbst ein Mißbehagen, eine Scheu vor der Oeffentlichkeit. Sie hatte nicht aus jenem freien, unbefangenen Schöpferdrange gedichtet, der eben weil er unbefangen, auch mittheilsam und arglos ist. Ihre Dichtung war das Resultat eines persönlichen Schmerzes, dessen Darlegung auch wieder nur einem einzigen Menschen gegolten hatte. Nur an sich und an ihn hatte sie gedacht, als sie, ihrer maßlosen Leidenschaft folgend, das Bild ihres unklaren, verworrenen Verhältnisses zu Hellwig auf das Papier geworfen. »Was wird Er sagen?« das war der Gedanke gewesen, der sie bei jeder Zeile erfüllte. Jetzt fragte sie sich zum ersten Male: »Was werden die Leser dazu sagen?« und eine herzbeklemmende Angst kam über sie.

Hätte Samuel nur gesprochen, so wäre Alles besser gewesen; aber daß er so lautlos da saß, er, in dessen ernstem, scharfem Ausdruck sich der mitleidlose Ernst all ihrer Leser, des Publikums und der Kritik, personificirte, das raubte ihr alle Fassung. Befangen wie ein der Strafe sicheres Schulkind, stand sie mit ihrem Manuscripte da, nicht wissend, ob sie es forttragen, ob sie es Samuel zum Lesen bieten solle.

»Also Schriftstellerin!« sagte Samuel endlich, indem er sich erhob, und seine Weste fest herunterzog.

»Sie sprechen das so mißbilligend!« rief Adele, »daß es mir weh thun muß. Können Sie es tadeln, daß ich suchte, mich zu erretten, frei zu werden – –«

»Gott bewahre!« entgegnete er. »Mich dünkt nur, strenge Selbstbeherrschung und ernste Arbeit hätten den Zweck befriedigender erreicht. Sie haben sicher kein Talent, Cousine!«

»Hellwig meinte doch – –« sagte Adele mit wachsender Empfindlichkeit.

»Hellwig hat selbst kein dichterisches Talent!« unterbrach Samuel sie. »Er und Sie, Cousine! sind viel zu subjectiv. Wer immer nur mit sich und seinem Empfinden beschäftigt ist wie Sie, wer wie Hellwig nicht loskommen kann von seinen Zwecken und Ansichten und Erfolgen, der ist kein Dichter, der wird auch nun und nimmermehr ein Dichter, und wenn er das Ach! Und O! der Begeisterung und des Schmerzes noch so täuschend nachzuahmen weiß. Er hätte bei der Kritik, Sie hätten ruhig bei Ihren Versen bleiben sollen, und sie drucken lassen mögen, so lange das unglückliche Litteraturblatt noch vegetirt. Aber jetzt! – aber so! Herauszutreten mit solch kläglicher Geschichte, über die hier jeder Mensch gesprochen, über die selbst die Arbeiter in der Fabrik ihre Glossen gemacht – – – denn deshalb eben bin ich heute hier! –«

Er war im Laufe dieser Rede so heftig aufgeregt geworden, daß er ohne Folge sprach, und die Sätze nicht vollendete. Adele war blaß geworden und ihre Hände rollten zwecklos die Schnur zusammen, die das Manuscript gehalten hatte.

»Jeder Mensch wird Sie als die Verfasserin erkennen,« fuhr er fort, »Sie werden sich dem allgemeinen Tadel aussetzen, daß Sie sich in solcher Weise preisgegeben haben, Sie werden sich den Aufenthalt hier ganz unmöglich machen! – Und Hellwig wird Ihnen am wenigsten danken für das ganze Unternehmen.«

Er ging mit schnellem, ungleichem Schritte vom Sopha zum Fenster, vom Fenster zum Sopha. Plötzlich blieb er vor Adele stehen. Groß, wie er war, sah er eine Weile auf die kleine Gestalt herab, legte dann kopfschüttelnd seine Hände auf ihre Schultern und sagte mit dem weichsten Tone: »Adele, wie war Ihnen das nur möglich?«

»Wie war es Ihnen möglich,« entgegnete sie, »zu sagen, was Sie mir eben gesagt? Wie war es Ihnen möglich, einen Menschen in seinem ganzen Sein, in seinen Heiligsten Empfindungen so zu zerreißen? Alles! Alles haben Sie in mir mißhandelt!« rief sie, in bittere Thränen ausbrechend. »Ehre, Würde, Scham, den Glauben an mich selbst, den Glauben an den Mann, der mir höher steht als das Alles, den haben Sie vernichten wollen! – Was habe ich Ihnen denn gethan?«

Er hatte sie losgelassen, die Arme sanken ihm herab, und mit gefalteten Händen blickte er sie wortlos an. Das gab ihr wieder eine Art von Muth.

»Was habe ich Ihnen denn gethan, Samuel?« wiederholte sie. »Es ist wahr, wir sind einander fremd geblieben, ich habe Sie nicht lieb gehabt bis heute, aber – –«

»O!« rief er, »und ich liebe Sie, Adele!«

Beide erschraken, Beide verstummten, da das Wort gesprochen war. Einen kurzen Moment blieben sie vor einander stehen und sahen sich Aug' in Auge. Adele legte mit unwillkürlicher Bewegung den Roman auf die Seite.

»Lassen Sie doch!« sagte Samuel, zog wieder die Weste zurecht, räusperte sich, wollte wieder umhergehen, und meinte dann: »Es ist wohl besser, ich lasse Sie allein!«

Damit entfernte er sich. In der Thür wendete er sich noch einmal um.

»Denken Sie nicht daran!« sagte er, »und – und – gute Nacht, Cousine! Gute Nacht!«

Sie hörte, wie er die Treppe hinabging, wie er die Laden zumachte in dem Zimmer, das er neben dem Comtoir bewohnte; dann war Alles still, und sie hatte Mühe, für wahr zu halten, was sie eben erlebt. Sie nahm den Roman wieder zur Hand, und blätterte zerstreut darin umher, bald hier, bald dort eine Stelle lesend, und Alles kam ihr fremd vor. Sie erschrak über die Leidenschaftlichkeit des Ausdrucks, es war ihr lieb, daß Samuel es nicht gelesen hatte. Aber Samuel? was war er ihr? was konnte er ihr sein, dieser trockene, pedantische Mensch, der es für eine Erniedrigung zu halten schien, wenn eine Frau den in ihr wohnenden dichterischen Beruf erfüllte? Sie hatte niemals auf sein Urtheil irgend ein Gewichtgelegt, und was änderte es, daß er sie liebte? – Sie hatte diese Liebe nicht gesucht, sie durfte sich mit gutem Gewissen sagen, daß sie nicht das Geringste gethan, sie zu erwecken, denn sie hatte sich nie um den Cousin gekümmert. Auch in diesem Augenblicke flößte sein Geständnis ihr keine andere Empfindung ein, als die des Bedauerns für ihn. Sie war zu gutmüthig, Freude über Etwas zu empfinden, was einen Anderen schmerzte.

Dazu war Samuel auch keine Eroberung, auf die man stolz sein konnte, wenn man einst Hellwig's Liebe besessen, und fast wollte es ihr komisch vorkommen, wenn sie sich den trockenen, pedantischen Samuel neben Hellwig, wenn sie sich den Cousin als Liebhaber oder gar als ihren Gatten vorstellte.

»Ein neues Erlebniß!« sagte sie sich, als sie sich niederlegte. Und in dem Gedanken an das Schicksal ihres Romans, an ihren Erfolg als Schriftstellerin, an alle Möglichkeiten, welche ein solcher vor ihrer Phantasie eröffnete, schlief sie ein, um von Hellwig und einer goldenen Zukunft zu träumen.


 << zurück weiter >>