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Erstes Kapitel

Der Buchhändler Willmar war ein sehr geachteter Mann gewesen, sein Verlagsgeschäft eines der bekanntesten und thätigsten. Er selbst, der Sohn eines armen Landgeistlichen, hatte es in einer kleinen deutschen Residenzstadt in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begründet, und es bald zu solchem Ansehen gebracht, daß viele der ausgezeichnetsten Werke der damaligen Litteratur bei ihrem ersten Erscheinen aus seinem Verlage hervorgegangen waren. Er hatte Vermögen gewonnen, durfte die bedeutenden Männer des Vaterlandes zu seinen Bekannten zählen, und selbst Schiller und Goethe waren die Gäste seines Hauses geworden, so oft ihr Weg sie durch seinen Wohnort geführt. Seine Heirath mit einer vornehmen Französin, der Tochter einer emigrirten Familie, hatte seinem Hauswesen einen edlen Anstrich verliehen und ihn mit dem Adel in Verbindung gebracht, in dessen Kreisen Madmoiselle de Lussac vor ihrer Verheirathung gelebt, und wie er selber die Erinnerung an die Heroen unserer Litteratur in seinem Hause heilig hielt, so bewahrte seine Gattin liebevoll das Andenken an die unglückliche Königsfamilie, der ihre Eltern gedient hatten, und an den Hof, in dessen Nähe ihre erste Kindheit verflossen war.

Willmar's einziger Sohn hatte sich mit der Tochter eines angesehenen Beamten verheirathet. Er besaß den empfänglichen Sinn seines Vaters, seine Verehrung vor dem Großen und Schönen, nur die praktische Thätigkeit, das kaufmännische Genie desselben hatten sich nicht auf den Sohn fortgeerbt. So schnell das Willmar'sche Geschäft sich emporgeschwungen, eben so schnell war es nach des alten Willmar's Tode in Stillstand gerathen, da sein Begründer es nicht mehr leitete, und mit dem abnehmenden Verlage hatte natürlich sich auch das Vermögen des Hauses verringert.

Der jüngere Willmar, von seinem Vater an behaglichen Lebensgenuß, an Gastfreiheit gewöhnt, hatte diesen Gewohnheiten nicht entsagen können. Seine Frau war stolz darauf gewesen, der Willmar'schen Familie anzugehören. Sie hatte eine Ehre darein gesetzt, die schöne Geselligkeit des alten Hauses aufrecht zu erhalten, und weil es ihr nicht an Kunstsinn und an seinem Empfinden mangelte, war ihr das nicht schwer gefallen.

Da sie ihrem Manne nur zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, geboren, hatte sie Muße behalten, sich selbst und ihren Neigungen zu leben, die glücklicherweise mit denen ihres Mannes zusammenfielen. Man konnte also kaum eine friedlichere Ehe, eine glücklichere Familie finden, als die Willmar'sche. Selbst als Willmar und seine Frau sich über den bedenklichen Zustand seines Geschäftes nicht mehr täuschen konnten, halfen ihre besonderen Charaktere den Eheleuten über jene Sorgen fort, welche jeder Andere in gleicher Lage empfunden haben würde. Herr Willmar ergab sich mit phlegmatischer Ruhe in das Geschick. Er hielt sich vor, daß Steigen und Fallen in den Lebensverhältnissen, wie in der Natur, ihre bestimmten Gesetze hätten; daß sein Sohn begünstigt sein werde, wie der Großvater es gewesen, und Frau Willmar, eben so sanguinisch als ihr Mann phlegmatisch, lebte stets in so glänzenden Hoffnungen und Plänen, daß augenblickliches Mißgeschick sie nicht leicht niederzudrücken vermochte.

Mit einer gewissen Sparsamkeit konnte es den Eltern nicht schwer fallen, die gewohnte Lebensweise annähernd fortzusetzen, die Kinder gut zu erziehen, und von den glücklichen Anlagen dieser beiden Kinder, erwartete Frau Willmar die Umgestaltung aller Verhältnisse, die sie verbessert zu sehen wünschte. Gab man nicht mehr Mittagsfêten, wie in des alten Willmar's Zeiten, so brauchte man sich die Abendgesellschaften doch nicht zu versagen, bei denen es mehr auf geistige als leibliche Genüsse abgesehen war. Fehlten dem Hause jetzt Gäste wie Goethe und seine Zeitgenossen, so kamen doch noch immer eine Anzahl von Personen um den Theetisch der Frau Willmar zusammen, denen man eine ästhetische Bildung, Theilnahme an Litteratur und Kunst, nicht absprechen konnte, und da Herr Willmar aus der Verlassenschaft des Vaters, eine litterarische Zeitung übernommen und aufrecht erhalten hatte, fanden sich oftmals auch junge Schriftsteller in dem Hause ein, denen für ihre Erstlingsarbeiten an einer Aufnahme oder an einer günstigen Beurtheilung in jenem Blatte gelegen war.

Der erste unersetzliche Verlust, den die Familie zu erleiden hatte, war der Tod des einzigen Sohnes. Er starb kaum siebenzehnjährig, und mit seiner schönen, schnellkräftigen Jugend, in der wirklich die Natur des Großvaters sich wiederholt zu haben schien, wurden die Hoffnungen zu Grabe getragen, welche man auf ihn für das Wiederaufblühen des Geschäftes gebaut hatte. So wenig Willmar geneigt war, weit in die Zukunft hinauszudenken, machte sich dennoch bei ihm, als die erste Betäubung des Schmerzes vorüber war, die Frage geltend, was einmal nach seinem eigenen Tode aus dem Geschäfte werden sollte. Der Gedanke, es eingehen zu lassen, schmerzte ihn. Er wünschte den Namen, die Schöpfung seines Vaters, nicht untergehen zu lassen. Das Geschäft mit Beibehaltung der Firma vortheilhaft zu verkaufen, war wenig Aussicht; denn der Verlagshandel hatte sich mehr und mehr nach den großen Städten gezogen, und es stand nicht zu erwarten, daß Jemand, der ein Capital in Händen hatte, es in einem kleinen, von den großen Straßen entfernten Orte, anzulegen Neigung haben würde. Auf der anderen Seite besaß die Handlung in einzelnen alten Verlagsartikeln, in einem Kalenderprivilegium, in der Litteraturzeitung, und selbst in ihren Druckereien immer noch Mittel, welche, gehörig benutzt, im Stande waren, die Firma aufrecht zu erhalten. Es kam also darauf an, einen geeigneten Nachfolger zu finden, der mit seinem persönlichen Vortheil auch das Interesse der Willmar'schen Familie vereinigen konnte. Nachdenklich ging man die Reihe der Verwandten durch, und blieb endlich mit jenen Planen auf dem Sohne eines Vetters haften.

Wie sich die Buchhandlung in dem einen Zweige der Willmar'schen Familie fortgeerbt, so war der andere Zweig bei seinen theologischen Studien geblieben. Die Willmar's bekleideten verschiedene geistliche Aemter in dem kleinen Staate, und der Sohn eines Pfarrer Willmar hatte eben, als sein junger Vetter gestorben war, die Erziehung von zwei Knaben beendet, welche zu leiten er nach seinem zurückgelegten Candidaten-Examen übernommen hatte. Seine Jugend war kümmerlich gewesen, seine Universitätszeit voll Entbehrungen, das Leben auf dem Lande, im Vaterhause seiner Zöglinge, ernst und einsam, und es konnten noch Jahre vergehen, ehe Samuel Willmar das ersehnte Pfarramt erreichte. Dennoch war er mehr betroffen als erfreut durch den Vorschlag seines städtischen Verwandten.

Einen selbstgewählten Beruf zu opfern, für den man sich durch lange, ernste Arbeit vorbereitet hat, ist immer ein schwerer Entschluß und eine bedenkliche Sache. Aber es waren Samuel hie und da Zweifel aufgestoßen gegen die Dogmen, die er zu lehren hatte, und von seiner frühesten Kindheit an, waren ihm das Haus und die Verhältnisse der Willmar's in der Residenz, als die glänzenden Mittelpunkte der Familie vorgehalten worden. Ein Besuch, den er selber in seinen Knabenjahren dort gemacht, hatte Eindrücke von Vornehmheit und Wohlstand in ihm zurückgelassen, welche noch bis auf diese Stunde ihren verlockenden Zauber nicht für ihn verloren hatten.

Er wußte sich selber nicht zu rathen. Es kam ihm wie eine Schickung vor, daß Willmar's Wahl gerade auf ihn gefallen, als er, in seinem alten Glauben und Berufe nicht mehr sicher, auf dem Punkte seine Stelle zu verlieren, um ein neues Unterkommen verlegen gewesen war. Indeß bei seiner strengen Gewissenhaftigkeit ängstigte ihn die Vorstellung, den Erwartungen nicht genügen zu können, welche man offenbar von ihm hegen mußte, und er erbot sich erst nach langem Zögern, der Aufforderung zu folgen, und versuchsweise in das Geschäft zu treten.

Es war im Sommer des Jahres achtzehnhundertdreißig, als Samuel das Haus seiner Anverwandten wieder sah, das, von außen betrachtet, noch immer einen stattlichen Anblick gewährte. Der Vorbau mit den vier Sandsteinsäulen, die Reliefs auf dem Frontispiz, die mächtigen Pappeln und Linden des Gartens, die das Haus überragten, und die daneben gelegenen Baulichkeiten der Druckerei, bildeten ein ansehnliches Ganze, obschon unverkennbare Zeichen es darthaten, seit wie langer Zeit Nichts für die Erhaltung der Gebäude geschehen war. Hier war ein Stück Tünche abgefallen, dort fehlte ein Blatt in dem Aufsatze der Säulen, oder ein Fuß an den tanzenden Horen des Giebelfeldes; aber Samuel kümmerte das in diesem Augenblicke wenig. Er dachte seiner Eltern, mit denen er einst hier gewesen und von denen die Mutter schon gestorben war, er dachte jener ersten fröhlichen Reise, und diese Erinnerungen wurden so mächtig in ihm, daß sie Alles niederhielten, was sein Wohlgefallen an dem Hause hätte stören können.

Herr Willmar und die Seinen waren vor das Thor gegangen, denn man hatte Samuel erst am folgenden Tage erwartet, und er gewann also Zeit, sich in den unvergessenen Räumen umzusehen. Da standen sie noch die Büsten von Plato und Sokrates, von Shakespeare und Voltaire, von Goethe und Schiller, die ihm einst einen so göttlichen Eindruck gemacht! Da waren noch die lackirten Möbel mit den hohen Lehnen und den wunderlichen Blumen auf den Ueberzügen; aber die Farben der Möbel waren erloschen, die Büsten grau geworden, und er selber kam sich in dieser alten, heilig gehaltenen Einrichtung eben so befremdlich vor, als die einzelnen Stücke von modernerem Hausrath, welche die jüngere Frau Willmar bei ihrer Verheirathung in das Haus ihres Schwiegervaters mitgebracht, der damals hochbetagt noch am Leben gewesen war.

Langsam schritt Samuel von Stube zu Stube. Es war kühl in den hohen Räumen und nicht mehr hell, denn der Abend begann zu sinken. Nur in den nach Westen gelegenen Zimmern hatte man noch volles Licht, und plötzlich befand sich der Einsame in einem Saale, der nach dem Garten hinausführte. Oben an der Decke schwebte auf verblichenem Delphine eine Galathea durch die Meeresfluthen, an den Wänden tanzten auf bröckelndem, schwarzem Grunde pompejanische Nymphengestalten, und der Thür gegenüber, an der Hauptwand, leuchtend in den letzten Sonnenstrahlen, hingen die lebensgroßen Brustbilder von Goethe und Jean Paul, neben dem wohlgetroffenen Portrait des alten Willmar, des Begründers seines Hauses.

Samuel blieb lange in dem Saale stehen, es war ein historischer Boden für ihn. Hier also sollte er wirken, hier seine Zukunft begründen, dieses Haus stützen und erhalten helfen! Denn Willmar hatte ihm seine Lage nicht verborgen, er hatte es ausgesprochen, daß er auf seines Vetters Kenntnisse und Thätigkeit vertraue, da eine schwache Gesundheit ihn selber hindere, sich mit der nöthigen Kraft dem Geschäfte hinzugeben.

Hier also! dachte der Candidat, und mit einem Male wurde der Verfall alles Vorhandenen ihm sichtbar. Er trat aus dem Saale auf den Balcon. Das Haus stand auf einer Höhe, hinter demselben dachte das Terrain sich merklich ab. Zwölf Stufen führten in den Garten hinunter, auch in diesen Stufen war der Sandstein zersprungen, und aus dem grünblühenden Gartenteiche stiegen feuchte Dämpfe empor. Frösche quackten ihr trübes Abendlied, eine Unke ließ ihre melancholischen Töne hören, als er, in dem tempelförmigen Gartenhause sitzend, die alterthümliche, ebenfalls schadhafte Bildsäule der Freundschaft betrachtete, die ihm einst als ein vollendetes Kunstwerk erschienen war.

Eine Schwermuth, wie er sie selten empfunden, bemächtigte sich seiner. Er dachte an das schmucklose Haus, an den lustigen Garten des Gutsbesitzers, in denen er seither gelebt. Er verglich die einfache, tüchtige Nüchternheit jener Einrichtung mit der Wohnung seiner Verwandten, und sein scharfer Verstand konnte sich ihr Bild und ein Bild ihrer Lage entwerfen, aus der Umgebung, in der er sie fand. Er selbst, mittellos und ohne Aussicht, fühlte Bedauern für sie, und ohne daß er sie noch gesehen hatte, regte sich in ihm der Wunsch, hier nützen, hier herstellen und aufbauen zu können.

Mitten in diesen Gedanken tönte eine helle Mädchenstimme an sein Ohr. Eine kleine, schlanke Gestalt eilte die Gartentreppe hinunter ihm entgegen, blieb vor ihm stehen, sah ihn prüfend an, und sagte darauf plötzlich: »Sie sind also der Vetter?

Ich bin Adele! und da wir uns hier im Freundschaftstempel finden, so wollen wir auch gute Freunde werden.«

Samuel war verwundert über des Mädchens rasche Art und Weise. Er verneigte sich etwas förmlich, sagte, daß er sich freue, die Cousine zu sehen, und fragte sodann nach ihrem Vater. Adele zeigte nach dem Perron hinauf, Herr Willmar trat eben in die Thür und der Neuangekommene ging, sich dem Vater vorzustellen. Während des herzlichen Empfanges, der ihm von den Eltern zu Theil wurde, hatte Adele Zeit, den Vetter zu betrachten.

Er war groß und mager, seine Haltung steif, seine Bewegungen eckig. Man konnte seinen Kopf nicht unschön nennen, aber die Formen waren scharf und Samuel's Magerkeit ließ sie noch schärfer erscheinen. Seine Lippen waren schmal, sein schwarzes Harr glatt und dünn, seine Kleidung einfach und sogar altmodisch zu nennen. Nur seine Stimme war einnehmend und der Ausdruck seiner Augen eben so klug als gut.

Willmar fand sich augenblicklich zu ihm hingezogen, und als man Abends am Theetische beisammen war, als von beiden Seiten Familienerinnerungen lebendig wurden, hatte Willmar die Ueberzeugung, sich in seiner Wahl nicht getäuscht zu haben, sofern sie das Geschäft betraf, wie Samuel den Vorsatz hegte, wenn es ihm irgend möglich sei, dem Zutrauen dieses Mannes zu entsprechen. Frau Willmar, stets geneigt, sich den Ansichten ihres Mannes anzupassen, bemerkte schnell das Wohlgefallen, das dieser an dem Vetter hatte, und da er bestimmt war, mit ihnen zu leben, da ihre Zukunft zum Theil von seinen Fähigkeiten und von seinem guten Willen abhing, war sie bemüht, ihm ihr Haus gleich am ersten Abende gefällig und vertraut erscheinen zu lassen.

Freilich kam er ihr in seinen Ansichten etwas schwerfällig und trocken, in seinen Manieren pedantisch vor, indeß sie tröstete sich damit, daß grade diese Eigenschaften dem angehenden Kaufmann von Nutzen sein konnten, und Alles in Allem genommen, gefiel ihr der Vetter doch wirklich. Nur Adele konnte sich in ihn nicht finden. Er war fast dreißig Jahre, und sie hatte ihn jünger erwartet. Er war ernst, sie hatte sich Vorstellungen von einem heiteren, jungen Manne gemacht, und seine Gewohnheit, erziehend mit jüngeren Personen zu verkehren, bewirkte, daß auch sein Benehmen gegen das junge Mädchen etwas Förmliches, Belehrendes gewann.

Hatte er sie im ersten Augenblicke mit Verwunderung betrachtet, so sah sie ihn jetzt mit wachsender Befremdung an, bis die Reihefolge ihrer Gedanken sich plötzlich in dem lachenden Ausrufe kund gab: »Der kann aber auch grade nur Samuel heißen!«

Der Vater warf ihr einen tadelnden Blick zu, Samuel fragte mit sichtlicher Empfindlichkeit, was sie damit meine, die Mutter aber legte sich in's Mittel. »Sie müssen nicht darauf achten, lieber Vetter!« sagte sie, »Adele ist ein Naturkind! Sie spricht, was ihr gerade in den Sinn kommt, und was kommt solch phantastischem Kinderköpfchen nicht Alles in den Sinn!«

Damit glaubte sie die Sache abgethan zu haben; indeß der Vetter war anderer Meinung. »Mit sechszehn, siebenzehn Jahren, und so alt scheint die Cousine doch zu sein,« bemerkte er nachdrücklich, »kann man seine Gedanken schon zusammenhalten, und muß man wissen, was man zu sprechen, was man zu verschweigen hat.«

Es entstand eine unangenehme Verlegenheit. »Nehmen Sie die Sache nicht so ernsthaft, Vetter!« bat Herr Willmar.

»Doch!« entgegnete dieser. »Ich habe an meinen Schülern die Erfahrung gemacht, daß die ersten Beziehungen – –«

»Ich bin nicht Ihre Schülerin, Cousin!« unterbrach ihn Adele mit einem Tone des Selbstbewußtseins, der sehr abstach gegen ihren ersten, unbedachten Ausruf.

»Das weiß ich, Cousine!« antwortete Samuel, »da wir aber möglicherweise bestimmt sind, neben einander zu leben, so ist es gut, wenn Sie erfahren, woran Sie mit mir sind. Ich bin zu alt zum Tändeln und ertrage von Niemand, von Niemand etwas Unpassendes, auch von Kindern nicht!«

»Ich danke für die Lection!« rief Adele, stand auf und verließ das Zimmer, schon unter der Thüre in Thränen ausbrechend. Die Mutter folgte ihr, die beiden Männer blieben allein zurück.

Samuel war sehr ruhig, Willmar verstimmt und mißbehaglich geworden durch den Vorgang. Er klopfte in rhythmischer Wiederholung mit den Fingern auf den Tisch, wollte sprechen, unterließ es dann, und erhob sich endlich, um eine Flasche Wein zu bestellen.

Als man sie gebracht hatte und die beiden Männer vor den vollen Gläsern saßen, sagte Willmar: »Sie haben das Kind heute, lieber Vetter, in seiner natürlichen Ungebundenheit gesehen, und ich gebe Ihnen gern zu, daß Adele nicht nach den Regeln einer strengen Erziehung behandelt worden ist. Indeß grade Sie, der Sie selbst Erzieher waren, werden bald einsehen, daß auf diese Natur allgemeine Grundsätze nicht passen. Sie ist eine besondere Individualität, sie ist wirklich originell und voll der glänzendsten Anlagen. Dazu kommt, daß sie mit ihrem armen, verstorbenen Bruder aufgewachsen ist. Sie hat dadurch bei aller ihrer Herzenstiefe eine gewisse Keckheit angenommen, aber freilich auch viel körperliche Gewandtheit. Es ist ihr kein Baum zu hoch, sie lebt und webt im Freien.«

Er unterbrach sich, da er irgend eine Zustimmung erwartete. Samuel entgegnete aber nur ein trockenes: »So!« – und nöthigte den Vater dadurch, im Lobe seiner Tochter fortzufahren. Das that Herr Willmar denn auch mit großer Wärme. Er pries ihr glänzendes Gedächtniß, ihre rücksichtslose Güte, und schloß endlich mit der Bemerkung, daß er wohl fühle, Adele habe dem Vetter heute keinen guten Eindruck gemacht, daß er aber zuversichtlich wisse, Samuel werde die Cousine bald anders kennen und anders beurtheilen lernen. Samuel gab diese Möglichkeit ohne Weiteres zu, indeß er bekannte unumwunden, daß er eine Abneigung habe gegen alle Excentricität.

»Das ist leicht ausgesprochen, aber was wollen Sie machen, lieber Vetter?« fragte Willmar. »Das Mädchen war so phantastisch und excentrisch von ihrer ersten Kindheit an, und – damit ich es ihnen gestehe – Adele ist wirklich genial. Sie zeichnet vortrefflich, sie hat einen tiefen musikalischen Zug; vor Allem jedoch hat sie ein entschiedenes Talent zur Poesie. Die hübschen, lyrischen Sachen, die ich im Litteraturblatte drucken lasse, sind von dem Kinde!«

»So!« entgegnete der Vetter wieder und benutzte die Erwähnung des Litteraturblattes, auf das Gedeihen, die Abonnentenzahl und die kritische Wirksamkeit desselben überzugehen. Er fragte um die anonymen Mitarbeiter, tadelte es, daß die Recensenten ihre Namen nicht voll unterzeichneten, und Alles, was er in dieser Beziehung vorbrachte, war so durchdacht und angemessen, daß Willmar bald die Störung vergaß, welche Samuel's Verhalten gegen seine Tochter in dem kleinen Kreise hervorgerufen hatte.


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