Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Gleich am folgenden Tage führte Willmar seinen Vetter in das Geschäft ein, und dieser empfand erst ganz die Schwere der Verpflichtungen, welche er einzugehen auf dem Punkte stand, als er sich in dem Comtoir, in den Niederlagen, in den Druckereien umzusehen begann. Jeder der hier Beschäftigten hatte seine Arbeit von Jugend auf als Lebensberuf geübt, Jeder verstand sie mehr oder weniger gut, nur Samuel, der bestimmt war, ihnen Allen vorgesetzt zu werden, der ihnen befehlen, sie einst leiten und zusammenhalten sollte, verstand Nichts von den Beschäftigungen der Einzelnen, Nichts von ihrem Zusammenwirken.

Er sah, daß Aller Augen auf ihn gerichtet waren, er sah die neugierigen Blicke der Lehrlinge, das kalte Lächeln des ersten Gehülfen, er hörte, wie der greise Markthelfer, der schon unter dem alten Willmar gedient, sich spöttisch über den Studirten äußerte, mit dem es nun und niemals gehen werde. Aber so bange ihm selber war, dennoch fühlte Samuel sich entschlossen, daß es gehen solle und gehen müsse. Ihn, der sein Lebenlang von Anderen abgehangen, der in einsamer Stube einsame, dem Leben abgewendete Studien getrieben, ihn reizte wunderbarerweise die allgemeine Thätigkeit, die ihn umgab, und die Neigung, Etwas zu schaffen, die Neigung zu gebieten, bemächtigten sich seiner.

Mit der Beharrlichkeit, welche seine kümmerlichen Verhältnisse ihm anerzogen, machte er sich an sein Werk. Zwei Wege lagen vor ihm. Er konnte seine gänzliche Unkenntniß eingestehen und Belehrung fordern, oder er mußte es durch schweigende Zurückhaltung verbergen, wie fremd ihm Alles war, und durch Beobachtung sich zu unterrichten suchen. Der erste Weg war leichter, aber der zweite sicherte ihm eine größere Autorität. Er wählte diesen letzteren. Seine abgeschlossene Persönlichkeit kam ihm dabei zu Hülfe, und es währte nicht lange, als man ihn bereits für einen Aufseher nahm, wo er sich selber nur noch als einen Lernenden empfand.

Noch ehe drei Monate entschwunden waren, machte Samuel seinem Vetter die Erklärung, wie er bereit sei, sich der Buchhandlung zu widmen, unter der Bedingung, daß Willmar ihm die Mittel gebe, ein Jahr in einem großen Leipziger Geschäfte als Volontair zu arbeiten. Das wurde ihm zugestanden, er verließ das Haus seiner Verwandten und die Stadt, und als er dann wieder in das Willmar'sche Geschäft zurückkehrte geschah es, um fortan sich ausschließlich demselben hinzugeben. Indeß je eifriger er arbeitete, je näher er es kennen lernte, um so deutlicher ward es ihm, in welcher schlimmen Lage es sich befand. Wollte man es erhalten, ihm die Möglichkeit neuen Aufschwunges geben, so mußte man es beschränken.

Die Handlung besaß von des Vaters Zeiten her, neben ihrer Druckerei noch xylographische Anstalten und eine Papierfabrik vor den Thoren der Stadt. Die letztere hatte einst ein Monopol gehabt und damals reiche Zinsen abgeworfen. Jetzt, wo dies Monopol schon lange erloschen war, wo dem Hause die Mittel gebrachen, eine Konkurrenz mit den Fabriken zu versuchen, deren neue Maschinen rund umher viel besser und viel billiger arbeiteten, war die Papierfabrik zu einem fressenden Schaden geworden, und doch konnte Willmar sich nicht entschließen sie aufzugeben. Sein Herz hing an dem kleinen Landhause, das zur Fabrik gehörte. Seine Eltern hatten es beide geliebt, er selber hatte sich dort mit seiner Frau verlobt, es war der liebste Spielplatz seines verstorbenen Sohnes gewesen, und wie oft Wohlmeinende ihm auch gerathen hatten, das Grundstück loszuschlagen, immer hatte er es herauszurechnen gewußt, daß die Fabrik ihm mindestens keinen Nachtheil bringe, und daß er es sich also erlauben dürfe, sie zu behalten.

Auch zwischen Herrn Willmar und Samuel wurde die Papiermühle, noch ehe Samuel zwei Jahre als Theilnehmer in dem Geschäfte arbeitete, ein Gegenstand häufiger Erörterungen. Ausdauernd, wie der Letztere es war, kam er immer auf den Verkauf derselben zurück, und ward es nicht müde, zu wiederholen, daß ein nicht verwerthetes Kapital ein positiver Verlust, und die Handlung nicht im Stande sei, einen solchen zu ertragen. Ohne daß Willmar es wußte, ging Samuel daran, den Grund und Boden und die Gebäude nach ihrem gegenwärtigen Zustande abschätzen zu lassen,. Und ein Inventarium der Utensilien und des Bestandes aufzunehmen. Es war im Herbste und er hatte wieder den ganzen Nachmittag und Abend in der Fabrik gearbeitet, um zum Abschlusse zu kommen, als ein Blick auf die große Wanduhr ihn zur Rückkehr mahnte. Pünktlich in allem seinen Thun, brach er die Berechnungen, die er nun zu Hause beenden konnte, plötzlich ab, die Eßstunde in der Familie nicht zu versäumen. Während er sich eilig von dem Staube reinigte, der in den Fabriklocalen an ihm haften geblieben, bemerkte der Arbeiter, welcher ihm dabei zur Hand ging, daß das Fräulein auch eben erst in die Stadt gegangen wäre.

»War das Fräulein wieder draußen?« fragte Samuel.

»Ja wohl!« antwortete der Inspector, als verstände sich Adelens Anwesenheit von selbst. Und da er sah, daß Samuel Nichts darauf erwiderte, fügte er in einem Tone, der zur Unterhaltung einladen sollte, die Bemerkung hinzu: »Das Fräulein ist ja seit Jahr und Tag alle Tage dagewesen, früh oder spät, je nachdem. Im Sommer war sie manchmal schon mit Tagesanbruch draußen; so früh wir auch auf den Beinen waren, wir fanden sie schon im Garten, wenn wir Tag machten.«

Samuel schwieg auch darauf, denn er wußte es; aber er schüttelte unwillkürlich den Kopf und der alte Inspector, dadurch ermuthigt, bemerkte: »Wenn's meine Tochter wäre, mir wär's gar nicht recht.«

»Was wäre Ihnen nicht recht?« fragte Samuel kurz, und blickte dem Inspector fest in das Gesicht.

Der Alte zuckte die Schultern. »Ich höre es Ihnen an, Herr Willmar, daß Sie denken, ich hätte das nicht zu sagen gebraucht, ich sei nur Aufseher von den Leuten und nicht von unserem Fräulein. Aber weil Sie doch auch den Kopf darüber schüttelten, so dachte ich – –« Er hielt inne. »Und wenn man so 'ne Familie hat aufwachsen sehen, von Vater auf Kind, da passirt's Einem wohl, daß man sich doch auch einmal fragt, was daraus endlich werden soll!« – fügte er gleichsam begütigend hinzu.

»Also es gefällt Ihnen nicht, daß meine Cousine so viel Zeit hier draußen in der Fabrik zubringt!« entgegnete Samuel in einem Tone, den der Inspector sich nicht zu deuten wußte; indeß er ließ sich durch denselben nicht beirren. Er sah sich vorsichtig um, ob keiner der Arbeiter in der Nebenstube wäre, trat dann nahe an Samuel heran und sagte: »Von dem, was jetzt geschieht, da wollte ich gar Nichts gesagt haben; aber daß sie vor zwei Jahren die halben Nächte draußen blieb, das war zu viel! Der Doctor Hellwig, der hat sie reinweg auf dem Gewissen! Wie der hier war, war's vollends aus. Ich konnte die Herrschaft nicht begreifen, daß ihr das Alles hinging! Es machte sich dazumal hier auch Jeder seine Gedanken darüber.«

»Sie auch, Herr Gruner?« fragte Samuel.

»Ja! du lieber Himmel!« meinte Gruner, »wenn man doch mit ansah, daß ein gut erzogenes, erwachsenes Frauenzimmer so die halben Tage und die halben Nächte in den Feldern mit ihm 'rumstrich, der noch dazu ein Fremder war, und daß sie dann wieder, seit er fort ist, wie nichts Gutes in der Gegend umgeht, da – –«

Der Alte unterbrach sich abermals, weil er den Unwillen in den Zügen seines Vorgesetzten erblickte. »Wirklich, Herr Willmar! es kann Einem manchmal Angst und bange um das Fräulein werden!« sagte er.

Samuel war betroffen durch diese Aeußerungen des Inspectors; aber er faßte sich schnell, denn Neues erfuhr er nicht dadurch.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Gruner! Meine Cousine weiß, was sie thun hat!« sagte er scharf und bestimmt, so daß der Alte verlegen eine Entschuldigung hervorbrachte, während er Samuel hinausbegleitete, der schnell den Rückweg in die Stadt antrat.

Samuel fühlte sich von dumpfem Mißmuth bedrückt. Die Aeußerungen des Inspectors wollten ihm nicht aus dem Sinne, während er an das Inventarium und den Verfall der Fabrik gedachte. Bald rechnete er im Stillen, bald wieder standen ihm Adelens nächtliche Promenaden mit Hellwig vor den Augen, und während er Willmar's Verblendung als Geschäftsmann beklagte, verwünschte er zugleich die Arglosigkeit und Ueberspannung, mit welcher beide Eltern Adele sich selbst und ihren Neigungen überließen. Mit der Unruhe seines Denkens nahm die Schnelle seines Schrittes zu, und seine Vorstellungen schweiften von einem Punkte zu dem anderen, bis sich Alles in dem trüben, wirren Empfinden verlor, daß er sich einem untergehenden Hause, einer Familie verbunden habe, die sich nicht einmal helfen lassen wolle.

Der Tag war schon nicht hell gewesen, jetzt am Abende hatte der Himmel sich dicht und schwer bewölkt. Der Nebel hing tief in der Luft und tröpfelte kalt hernieder. Die welken Blätter lösten sich von den noch grünen Bäumen und trieben, vom Winde gejagt, wirbelnd in der Luft umher, bis sie auf den nassen Boden niederfielen, um sich nicht wieder zu erheben. Dies Bild verstimmte ihn vollends, und sorgenvoll und niedergeschlagen langte er zu Hause an.

Das Wohnzimmer war nicht erleuchtet, die Eltern waren zu einer Spielpartie geladen.

Nur oben in Adelens Stube hatte Samuel die Lampe brennen sehen, und obschon das Mädchen ihm sagte, das Fräulein sei noch nicht zu Hause, ging er hinauf, die Cousine zu erwarten.

Er hatte das Zimmer nie zuvor gesehen, denn sein Verkehr mit Adelen war immer nur ein oberflächlicher geblieben, und sie hielt darauf, daß Niemand unaufgefordert ihr kleines Gemach betrat. Es war ein behagliches Erkerstübchen. Das weit hinausgebaute Fenster bildete eine Nische, in der Adelens Schreibtisch stand. Das Fenster war ganz mit Epheugerank überzogen, und volle Epheuzweige umgaben auch das Bild, das über dem Schreibtisch hing. Samuel trat heran, es zu betrachten: es war ein Originalportrait von Hellwig, unter das er selbst ein Paar Verse zum Angedenken geschrieben hatte.

Die Zeichnung ließ Nichts zu wünschen übrig, ein geschickter Künstler hatte sie ausgeführt, und doch hätte Samuel jedes andere Bild lieber an dieser Stelle gesehen; denn er kannte den Charakter Hellwig's und wußte, welch nachtheiligen Einfluß er auf Adele ausgeübt hatte.

Hellwig war einer der rührigsten Schriftsteller jener Zeit. Die kecke, polemische Weise, mit der er, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, gegen die letzten, noch lebenden Heroen der classischen Epoche aufgetreten, und die vorübergehende Verfolgung, welche seine Werke in einigen deutschen Staaten erlitten, hatten ihm schnell einen Namen gemacht, den seine damaligen Leistungen kaum zu erklären vermochten. Später, als er reifer geworden, Bedeutendes in der Kritik zu leisten fähig gewesen wäre, hatte er sich der Dichtkunst zugewendet, und damit den Boden verlasse, auf dem allein er sich mit Vortheil zu bewegen vermochte. Unfähig, Gestalten zu erzeugen, an deren zwingender Bestimmtheit jede Willkür des Dichters erlahmt, stand er schon während des Schaffens seinen eigenen Arbeiten kritisch gegenüber, und immer getheilt zwischen den unklaren Aufwallungen seiner Phantasie und der Schärfe seines zergliedernden Verstandes, schuf und lebte er in einem unlösbaren Zwiespalt. Ohne daß er's wollte, verlor er jede Originalität, weil jede neue Richtung ihn ergriff, jeder fremde Erfolg ihn antrieb, auf gleichem Felde gleiche Lorbeeren zu suchen. Bald ein Verfechter aller und jeder Emancipation, bald ein Verehrer des Bestehenden, Althergebrachten, konnte er heute allem Glauben Hohn sprechen, und morgen für die gläubige Romantik in die Schranken treten. Seine innere Rastlosigkeit und die Angriffe, die er von beiden Seiten zu erdulden hatte, steigerten sich dadurch. Immerdar angefochten, immer genöthigt sich zu vertheidigen und erlittene Niederlagen zu verschmerzen, oder sie Andere vergessen zu machen, hatten Mißtrauen, Neid und Bitterkeit sich seiner in hohem Grade bemächtigt. Er, der einst einen Goethe getadelt, weil er seinen Nachruhm der Nachwelt anvertraut, und Byron verdammt, weil er sich außer den Kreis seiner Zeitgenossen gestellt, er war dahin gekommen, jene Menschenverachtung und jenen Weltschmerz zu empfinden, hinter denen die Charakterlosigkeit sich so leicht und gern verbirgt. Hellwig glaubte und nannte sich einen verkannten Genius. Er schrieb und lebte, sich die ihm gebührende Anerkennung zu erzwingen. Wer sie ihm darbrachte, wie er sie erlangte, das galt ihm gleich. Die Jünglinge, die er bei einem Gelage durch ein keckes Wort geblendet, die Frauen, deren Phantasie seine leidenschaftlichen Schilderungen erregt, die Mädchen, welche seine persönliche Erscheinung bestochen, sie Alle wußte er für seine Zwecke auszubeuten. Sie verkündeten sein Lob in der Journalistik, sie machten Propaganda für ihn in der Gesellschaft, und bahnten ihm die Wege für das Wanderleben, das er führte. So geschah es, daß er viel genannt, daß er gelesen wurde, daß eine Partei sich für ihn bildete, obschon das Urtheil der Verständigen und die ernste Kritik sich unwillig und verdammend gegen ihn erklärten.


 << zurück weiter >>