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Achtunddreißigstes Kapitel

Droben hielt ich es nicht länger aus, bei dem Leichnam und den rauchgeschwärzten Trümmern. Allzusehr verwirrte und verdüsterte der Anblick mein Gemüt. Ich suchte Fassung, Sammlung, Klarheit. Ich stieg hinab und wanderte hinaus, weit hinaus, ins Freie.

Wo heute freundliche Siedlungen liegen und sich wohlbestellte Felder reihen, dort dehnten sich nun wilde Forste, und die breite, glatte Landstraße von heute war ein rauher Karrenweg.

In träge Träumerei versunken, ging ich dahin, des Weges wenig achtend. Dumpfe Schwüle herrschte, es regte sich kein Laut, kein Lüftchen. Bange Erwartung durchzitterte die Stille.

In Nürnberg war der Schwedenkönig Gustav Adolf eingezogen, und vor den Toren der hilfsbereiten Stadt bezog er ein verschanztes Lager. Und fliehende Landleute brachten die Kunde, daß an die Spitze der kaiserlichen Soldateska aufs neue der Wallenstein getreten sei und dem Schwedenkönig in Eilmärschen mit ungeheurer Heeresmacht entgegen ziehe.

Viele Stunden mochte ich schon gewandert sein, da lud eine liebliche Lichtung zur Rast. Waldmeister, Thymian, Lavendel duftete ringsum. Zu meinen Häupten zwitscherte schüchtern eine Meise, der Buntspecht tat geschäftig seine Arbeit, und aus dem Waldesdunkel tönte ferne und geheimnisvoll der Ruf des Kuckucks. Auf einem moosbewachsenen Felsen lagerte ich mich und gab mich weiter meinen Träumen hin.

Wie dies meine Gewohnheit war, zog ich Bleistift und Notizblock hervor, um zu kritzeln. Es war dies ein Taschenkalender des Jahres 1906, ein ledergebundnes Büchlein, außen trug es in goldnen Ziffern die Jahreszahl 1906. Ich legte es neben mich aufs Moos und freute mich am Farbenspiel des dunklen Leders auf smaragdenem Grunde. Und ließ die Sonnenstrahlen auf die Jahresziffer leuchten, die Sonne des Jahres 1632 auf das Jahr 1906, und starrte wie entrückt auf dieses Unding – gleich einem Kinde, das ein buntes Glas vors Auge hält und nun die ganze Welt verzaubert glaubt.

Plötzlich fuhr mir durch den Sinn ein Zahlenspiel. Am 10. Dezember 1878 wurde ich geboren und am 27. April 1906 verschwand ich aus meiner Zeit. Wieviel Tage war ich damals alt? Ich nahm den Stift und rechnete: genau 10000 Tage. – Nun weiter. Den 27. April 1906 hatte ich zuletzt erlebt im 20. Jahrhundert, und den 11. Juli 1632 erblickte ich zuerst im 17. Jahrhundert. Wieviel Tage liegen dazwischen? Genau 100000. Um 100000 Tage war ich zurückversetzt.

Das Resultat der sonderbaren Rechnung: 10000 Tage hatte ich durchlebt, um 100000 Tage rückzumessen.

War da ein tiefrer Sinn, eine noch unenträtselbare Bedeutung? Ich sann dem nach, und wie dies meine Art, halb unbewußt, bedeckte ich das Blatt Papier mit Zeichnungen. Maschinengewehre, Flugzeuge, Haubitzen. Wahrscheinlich, daß der Kriegslärm ringsumher meinem Stifte jene Zeichnungen diktierte.

Plötzlich wurde mir das Büchlein unter meinen Augen weggerissen.

Ich blickte auf. Ein Reiter hielt vor mir, in seiner Hand schwang er das Buch.

Ich fuhr auf, um es dem kecken Störer zu entreißen. Der griff nach seinem Reitstock und ich nach einem Stein.

Da erblickte er die Jahreszahl auf dem Kalender, blickte mir ins Auge. Auf seiner höhnisch-wilden Miene malte sich sekundenlang Betroffenheit. Er ließ die Gerte sinken, legte fast höflich das Büchlein vor mich hin und fragte: »Was rechnet Ihr da hier?«

Von sonderbarem Wohllaut, biegsam und doch hart war diese Stimme. Wie eine Damaszener Klinge. Man hörte es ihr an, daß sie gewohnt war zu befehlen.

Und ich – ich weiß nicht, hatte ich, aus meinem Sinnen aufgescheucht, nicht Zeit gefunden, mich zu fassen – wie ein aufgeschreckter Schläfer ein tiefbehütetes Geheimnis preisgibt – oder verlangte die neuerrechnete Entdeckung nach Mitteilung, oder war’s wirklich die Herrscherkraft dieser verführerisch-machtvollen Stimme – ich, dem noch nie ein Mensch seine Entschließung aufgenötigt hatte, ich gehorchte. Ich erzählte diesem fremden Reitersmann, daß ich um hunderttausend Tage zurückverschlagen worden in den Zeiten, ich erzählte ihm mein Wunder.

Kaum war’s gesagt, biß ich mich auf die Lippen voll Unmut. Was hatte ich denn wie ein Schulbub zu gehorchen, was ging denn diesen Fremden mein eigenstes Erlebnis an, und mußte ich nicht ungläubigen Spott erwarten oder gar Verfolgung und Verdacht?

Aber nicht Ungläubigkeit oder Hohn las ich in den Zügen meines Partners, ekstatisches Verstehen entflammte seinem düstern Blick. Wieder nur eine flüchtige Sekunde, und wiederum lag steinerne Beherrschung auf seinem Angesicht, das Unrast und profunde Unzufriedenheit durchwühlte.

In weitem scharlachrotem Mantel, auf dem Reiterhute eine rote Hahnenfeder, wie ein Fürst der Finsternis hielt er vor mir, das fahle Antlitz überstrahlt von feurig-dunkeln Augen, und zügelte den Rappen, der ungeduldig schnaubend weiter wollte.

»Und solch ein Geheimnis verratet Ihr dem ersten besten?«

Unwillkürlich entschlüpfte mir die Gegenfrage: »Seid Ihr der erste beste?«

Dann fragte er nach dem und jenem aus meiner Zeit und wußte seine Fragen überraschend scharfsinnig zu stellen.

Und hörte ernsthaft zu, den einen Arm auf den Fels gestützt, indes er mit dem Reitstock Kreise auf den Boden zeichnete. Gleichmütig, unbewegt, nicht anders, als empfange er einen Gesandten, der ihm von den Indiern Neuspaniens berichtete.

Dann deutete er auf die Flugzeuge und Feldgeschütze, die ich auf das Blatt gezeichnet hatte, fragte, was das sei, und ließ es sich erklären.

»Und sagt, Ihr könnt derlei verfertigen?« Mühsam verhaltne Spannung lag in dieser Frage.

»Gebt mir zweitausend Mann und gebt mir Geld, und in fünf Monaten baue ich Euch fünf Feldgeschütze und fünf Flugzeuge, mit denen Ihr in fünf Minuten ein ganzes Heer zerschmettern könnt.«

»Und das ist Euch ernst, bei Euerm Kopf?«

Staubwolken wurden am Horizonte sichtbar, und von ferne, wie um die Drohung dieser Frage zu verstärken, tönte dumpfes Rollen.

»Glaubt Ihr, ich habe Lust zu scherzen?«

»Ich schlage ein, hier habt Ihr meine Hand. Und ich schwör’s Euch bei den Sternen, ich will Euch zu dem Mächtigsten auf dieser Erde machen. Wir wollen uns dann teilen in der Herrschaft über alle Welt.«

Wie in einem Flammenmeere unbändiger Herrschsucht leuchtete sein Antlitz, er streifte die Stulphandschuhe ab und reichte mir die knochig-kühle Rechte.

Ich bat: »Gönnt mir nur wenig Tage Überlegung.«

Inzwischen war ein kleiner Reitertrupp herangekommen, mit Trompetern und Standarte.

Der Fremde wendete sich hin; da ertönten Kommandorufe, die Reiter blieben stehen wie angewurzelt. In wohlgemeßnem Gleichtakt weit ausholend, lüfteten sie grüßend ihre Hüte, die Degen fuhren präsentierend aus der Scheide, und die Standarte senkte sich.

Er dankte lässig mit zerstreutem Gruß und wendete sich hastig wiederum zu mir. »Was gibt es da noch viel zu deliberieren und zu temporisieren?«

Mit ungestümen Worten drang er auf mich ein, sogleich mit ihm zu kommen. Da ich solch weittragenden Entschluß nicht überstürzen wollte, begegnete ich seinen Bitten, seinem halb drohenden und halb verheißungsvollem Drängen mit dem beharrlichen Ersuchen um eine kurze Überlegungsfrist.

Die Ader schwoll ihm an der Stirn, und zornige Ungeduld rötete sein bleiches Antlitz, jählings wandte er sich ab, zu seinem reglos harrenden Gefolge, und wollte es, mit halb erhobenem Arme auf mich weisend, herbeibefehlen.

Dann maß er mich noch einmal mit einem vollen, prüfend-nachdenklichen Blicke. Und er besann sich, er hielt inne. Er mochte einsehn, daß es klüger sei, zu bitten und zu bieten als zu gebieten.

Er lenkte ein: »Gut denn, überlegt es. Nehmt hier den Ring, er wird Euch jederzeit Zutritt zu mir verschaffen.«

Und leise, als wäre es ein Geheimnis, das uns zwei verbinde: »Merkt Euch’s, auch in unsern Tagen ist gut leben – so man die Macht hat . . .« Und warf mir einen Ring hin mit einem prachtvollen Smaragd.

»Wie finde ich Euch denn?« fragte ich mit unsicherer Stimme.

»Fragt nach dem Oberst-Feldhauptmanne der Armada römisch-kaiserlicher Majestät. Ich heiße Albrecht Waldstein, zu Friedland Herzog und zu Mecklenburg.«

Schon halb abgewendet, beugte er sich wiederum zurück, ganz nah zu mir: »Habt Ihr denn in Euern Zeiten gar nichts von mir vernommen?«

Und lächelte mir zu, fast schalkhaft und voll Hoheit, und gab dem Roß die Sporen und ritt davon in mächtig weiten Sätzen. Ein kurzes Frösteln faßte mich.

Und nun stampfte, trabte, rollte es heran.

Der ganze Heerzug wälzte sich heran.

Bagagewagen, Spießknechte, Schützen, Musketiere und Lanzenreiter, Kürissierer, Harquebusiere, dann wieder Feldschlangen, Falkonen und Kartaunen.

In endlosen Kolonnen marschierten sie daher, scherzend und fluchend und plaudernd und singend:

Gewissen hin, Gewissen her,
Ich acht’ vielmehr zeitliche Ehr’
Dien’ nicht um Glauben, dien’ um Geld,
Wie’s mir auch geh’ in jener Welt.

Und die Troßweiber fielen johlend ein.

Dem Kaiser wöll’ wir eine Schanze bau’n
Und werden dem Schweden sein’ Paß verhaun.

Und wie ich das verschollne Kriegsgerät betrachtete und die Gesichter ansah, die in Staub und Dunst vorüberzogen, die wilden und die frommen, die gierigen und stumpfen, da mußte ich mich der Erzählung des Herodot erinnern von Xerxes, als er bei Abydos Heerschau hielt.

Beim Anblick seiner ungeheuern Heeresmacht, der größten, die man je beisammen sah, vergoß der Perserkönig bittre Tränen. Als ihn sein Oheim Artabanos ehrerbietig fragte, warum er weine, statt sich seiner Macht zu freuen, rief der König: »O Artabanos, was wird von diesem stolzen Heere in hundert Jahren übrig sein?« Worauf sein greiser Ohm erwiderte: »Ach, und so kurz des Menschen Leben sei, hier unter all den Myriaden ist sicherlich kein einziger, der nicht schon oft sehnlich verlangte, von diesem mühbeladnen Leben durch den Tod erlöst zu werden.«

So sah ich sie vorüberziehen, mit Mann und Roß und Wagen, des Wallensteiners mächtige Armada, der Stolz und Schrecken ihrer Zeit – ein Schattenbild, ein Traum, in Staub und Dunst ein Haufen längst vermoderter Gespenster.


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