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Elftes Kapitel

Bei einem dieser Spaziergänge, Mitte Dezember war’s, wurde ich mitten auf freiem Felde von einem heftigen Schneesturm überrascht. Mit schwerer Mühe rettete ich mich in ein einsames Gehöft.

Ich fand freundliche Aufnahme, und als es Essenszeit war, nötigte man mich, an dem Abendmahl teilzunehmen. Geldvergütung, die ich anbot, wurde entschieden abgelehnt, dagegen ein paar Zigarren, die ich bei mir hatte, mit freudigem Danke angenommen. Nun war das freundschaftliche Einvernehmen erst recht hergestellt, und wenngleich es mit der gegenseitigen Verständigung nicht ganz glatt ging, so war doch bald ein gemütliches Gespräch im Gange. Das Gefühl der Geborgenheit, hier in der warmen Stube, indes draußen der Schneesturm heulte, die urwüchsige Ausdrucksweise meiner Partner und ihre freundlich-klugen Bemerkungen – dies alles versetzte mich in behaglichste Stimmung.

Meine Wirte fanden es selbstverständlich, daß ich hier übernachte, und bereiteten mir in der guten Stube eine prächtige Liegestatt.

Es ist eine alte, vielleicht üble Gewohnheit von mir, allabends im Bette zu lesen, ja, ich kann nicht einschlafen, ohne zuvor etwas gelesen zu haben.

Da ich keine Lektüre bei mir hatte, suchte ich in der Stube ob ich nicht etwas zu lesen fände. Die Auswahl war recht gering: Ein zerlesenes Gesangbuch, ein paar Jahrgänge des Volkskalenders und ein altes, schön eingebundenes Gebetbuch. Ich griff nach dem Gebetbuch.

Es war gedruckt im Jahre 1604. Als ich es durchblätterte, fiel mir auf, daß einzelne Seiten am Rande mit Zeichnungen geschmückt waren. Es waren köstliche Federzeichnungen, bald Heilige, bald Tiergestalten, hier dämonisch-abenteuerliche Fratzen, dort wieder liebliches Blumengewinde, das in sorglos-verschwenderischer Fülle und doch meisterlich beherrscht dem ehrwürdigen Texte zu entsprießen schien und ihn liebkosend-spielerisch umrankte.

Unter jeder Zeichnung war mit säuberlichen Ziffern ein Datum eingetragen, offenbar das Datum ihrer Fertigstellung. Sie waren alle in den Jahren 1631 und 1632 angefertigt worden.

Ich erinnerte mich, in der königlichen Bibliothek zu München das berühmte Gebetbuch des Kaisers Maximilian gesehen zu haben, welches Albrecht Dürer im Jahre 1515 mit Handzeichnungen geschmückt hatte. Dies hier war eine ebenbürtige Nachbildung des Dürerschen Werks, um ein Jahrhundert später von einem unbekannten Meister kunstreich und liebevoll verfertigt.

Auf der letzten Seite – gleichsam als ex libris – da befand sich eine meisterliche Kopie des Holzschnittes mit den drei apokalyptischen Reitern. Man kennt das weltberühmte Bild: auf hagern Rossen durch die Lüfte reitend, treiben die drei gespensterhaften Reiter alles Volk vernichtend vor sich her. Unübertrefflich scheint mir auf diesem Bilde das Problem gelöst, auf eng begrenztem Raume eine unbegrenzte Menge darzustellen.

Man erinnert sich vielleicht der einzelnen Figur hart am unteren rechten Rand des Bildes. Es ist einer aus der vergeblich fliehenden Menge. Während die anderen auf dem Boden liegen, steht er aufrecht, mit rückwärts gewendetem Gesichte.

Als ich nun das Bild betrachtete, da mußte ich mir buchstäblich die Augen reiben, denn ich glaubte das Opfer einer Sinnestäuschung zu sein. Dieser Mann, den Dürer selbstverständlich in der Tracht seiner eigenen Zeit dargestellt hatte, dieser Mann trug hier auf diesem Bilde ein Augenglas und war bekleidet mit Sakko, mit langen Hosen, Stehumlegkragen und Krawatte! Unter dem Bilde stand als Datum: 20. Juli 1632.

Mein nächster Gedanke war, daß sich irgend jemand in weit späterer Zeit – aber ein Künstler muß es gewesen sein! – einen grotesken Scherz geleistet hatte und die Figur, wie nun ersichtlich, mit der Tracht des zwanzigsten Jahrhunderts zeichnerisch bekleidete. Ich betrachtete die Zeichnung durch die Lupe – die ich stets, zur leichteren Entzifferung der Handschriften, bei mir trug. Es war kein Zweifel möglich: von einer Überzeichnung keine Spur; jene Figur war unbedingt zur selben Zeit gezeichnet worden wie alle anderen auf dem Bildwerk.

Diese Entdeckung erregte mich so tief, daß ich die ganze Nacht schlaflos zur Decke starrte und erst, als draußen schon der Morgen graute, in einen kurzen, wirren Schlummer fiel.

Ehe ich Abschied nahm, gelang es mir, das merkwürdige Gebetbuch zu erstehen. Ich hätte gerne auch das Zehnfache des Preises bezahlt, den mein Wirt von mir begehrte.

Als ich am Abend Frau Büttgemeister meinen gewohnten Besuch abstattete – sie war über mein Ausbleiben nicht wenig besorgt gewesen –, da fragte ich sie unauffällig und ganz nebenbei, ob Erasmus ein Augenglas getragen hätte. Was sie bejahte.


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