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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Als ich zur Ruhe ging, da hatte ich einen seltsamen Traum. Es war nach Mitternacht, zur Stunde, da durch die Pforte aus Horn die Schicksalsträume nahen. Mir träumte, ich schwimme mitten in einem azurnen See. Mühelos trugen mich die leisen Wellen und umfingen mich mit lindem Kosen. Ringsum war alles in ein zauberhaftes, ungewisses Licht getaucht. Es war ein köstlich-hingegebnes Schweben und Versinken. Wenn’s ein Gefühl des Nichtseins gibt, so war es dieses.

Das Ufer jenes märchenhaften Sees lag im Bereiche meines Blickes. Doch wie sehr ich spähte und mich mühte, ich konnte es nicht erkennen, ich konnte nicht gewahren, wo ich mich befand. Spielerisch und schattenhaft und unbegreiflich entzog es sich dem Anblick. Bald schien mir’s völlig fremd, bald seltsam vertraut, wenn auch verschwommen unter nebelhaftem Umriß. Es war ein täuschungsreiches Trugbild, ein Spiel, schalkhaft und neckend; und dennoch lag in dem beharrlichen Versagen etwas wie ränkevoller Ernst, wie düstre Drohung. Und plötzlich überkam mich das Gefühl trostloser Einsamkeit, hilfloser Verlassenheit in einer unbekannten Welt.

Da erschien in steiler Höhe über mir ein Antlitz. Fern wie die Sonne und doch furchtbar groß. Es war vermummt von einer scharlachroten Kapuze – wie das Angesicht des Henkers. Und ich erkannte trotz der Verhüllung, daß es das Haupt des Juden sei. Das schreckensvolle Antlitz senkte sich hernieder und wurde immer größer, wie ein Felsblock, wie ein Dom, bis es die ganze Landschaft überschattet. Und wollte just auf mich darniedersinken.

Mit einem Angstschrei fuhr ich auf. Halb im Erwachen sah ich noch, wie die Landschaft längs des Ufers sich entschleierte, und ich erkannte die Türme und die Bastionen des mittelalterlichen Anspach. Auf den Zinnen standen Agathe und Konradin und winkten mir beschwörend, Abschied nehmend.


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