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Neuntes Kapitel

»Ich setzte hohe Belohnungen aus für jeden, der mir Kunde von ihm brächte, lebend oder tot. Und die dreißig Goldmünzen, die ich auf seinem Schreibtisch gefunden hatte – es waren an 3000 Mark in Gold –, die wanderten bis auf den letzten Pfennig in die Hände von Detektiven, von Agenten und von Schwindlern aller Art, die mir erzählten, sie hätten Erasmus da oder dort gesehen, gesprochen, die mir Geld für weitere Nachforschungen abnahmen, bis der Betrug sich selbst entlarvte.

Ja, ich schäme mich nicht, es zu gestehen, daß ich auch Kartenlegerinnen, Wahrsager und Astrologen um Rat fragte. Was versucht man nicht alles in seiner Verzweiflung?

Was mir die Kartenlegerinnen und Wahrsager weismachen wollten, ist nicht wert, erzählt zu werden – obwohl die meisten darin übereinstimmten, das Erasmus noch lebe.

Merkwürdig ist der Bescheid, den mir die Astrologen gaben. Ich hatte mich zu gleicher Zeit an zwei gewendet, um so die Glaubhaftigkeit ihrer Auskunft wenigstens einigermaßen überprüfen zu können. Beide hatten einen sehr guten Ruf als ehrenhafte Menschen und galten als wahre Leuchten ihrer vorgeblichen Wissenschaft.

Nachdem ich ihnen, auf ihr Verlangen, Geburtsort und -datum meines Sohnes, sogar Stunde und Minute der Geburt, ferner das Datum seines Verschwindens, auch dies bis auf die Stunde genau, mitgeteilt hatte, gaben sie mir folgende Auskunft:

Ein solches Horoskop hätten sie kaum je gesehen. Es deute auf einen geheimnisvollen Menschen mit ungeheuren Geistesgaben, der aber zufolge dieser einzigartigen Begabung tragischem Geschick verfällt. Am Tage seines Verschwindens stand der Uranus im Sternbild der Waage, im achten Hause – sie nennen es die Stätte der Geheimnisse – mit Jupiter in Konjunktion; Neptunus, das Prinzip des Schleierhaften, des Verborgenen, steht im vierten Haus, dem Ort der Tiefe. Und in diesem Hause sind Jupiter und Saturn in Konjunktion. Auch stehen sie im Trigon zur Sonne und zum Monde. Eine solche Konstellation, die doppelte Konjunktion Uranus, Jupiter, Saturn, zählt zu den ungeheuerlichsten Seltenheiten, sie tritt kaum alle dreihundert Jahre ein, und sie bedeutet: Außerordentliches und Unaufgeklärtes.

Die Astrologen taten noch ein übriges. Sie beriefen sich auf seltsame, unerklärliche Ereignisse, die am selben Tage, womöglich zur Stunde, da mein Sohn verschwand, statthatten.

Der eine erzählt: Die beiden Vulkane Peschan und Hotscheu in der Gebirgskette des Tian-shan – sie sollen ein ganz abnormes Phänomen darstellen, denn sie sind die einzigen noch tätigen Vulkane im tiefen Binnenland und sind gleich weit vom nördlichen Eismeer und vom indischen Ozean entfernt – diese beiden Vulkane brachen nach fast dreihundert Jahren Ruhe furchtbar aus und überfluteten den Umkreis auf viele Meilen weit mit ihren Lavaströmen.

Der andere Astrolog berichtet: Den Bewohnern des mexikanischen Hochlands ist die Erscheinung des »Donners von Guanaxuato« in dunkler und erschreckender Erinnerung. Sie nennen es bramidos y truenos subterraneos, Gebrüll und unterirdisches Gedonner. Es ist, als ob im Innern der Erde mächtige Massen von Gewitterwolken dahinzögen, die sich bald mit fernhin rollendem Getöse, bald mit einzelnen furchtbaren Donnerschlägen entladen. Im Jahre 1784 hatte sich die Erscheinung zum letztenmal gezeigt. Humboldt hat sie beschrieben. Und am Tage, da Erasmus verschwand, brach sie aufs neue los. So ungeheuer, so entsetzenvoll, daß die blühende Bergstadt Guanaxuato in wenigen Stunden verödet dalag.

Beide Astrologen, übereinstimmend, gaben an: Am 25. April 1906, dem Tage, da Erasmus verschwand, gegen drei Uhr nachmittags, wurde in verschiedenen Teilen Dalekarliens am Rande des Horizontes eine mächtige Feuerkugel gesehen, welche in steilem Bogen und mit zunehmendem Glanze den Himmel hinabschwebte, bis sie nach einer Dauer von etwa zehn Minuten unter ungeheurem Getöse in Flammen und Rauch aufging. Merkwürdigerweise wurde diese furchtbare Erscheinung sonst nirgend auf der ganzen Erde, auch von keiner Sternwarte, beobachtet, obwohl sie zufolge ihrer Größe auf der ganzen nördlichen Hemisphäre hätte wahrgenommen werden müssen – so daß man sie mit einer Massensuggestion der sonst so nüchternen Bevölkerung Dalekarliens erklärte.

Die Astrologen schlossen – und auch darin herrschte Übereinstimmung: Sie glaubten nicht, daß Erasmus am Tage seines Verschwindens gestorben sei. Irgendwie sei er verschollen, entrückt – auf eine unfaßbare, ungeheuerliche, tief geheimnisvolle Art.

Dies der Bescheid der Astrologen – von denen der eine in Stuttgart, der andere in Königsberg wohnte. Merkwürdig, daß er in allen wesentlichen Punkten, bisweilen beinahe wörtlich übereinstimmte.

Nun wissen Sie, welcher Kummer mir das Herz verzehrt. Das furchtbare Rätsel, vor dem ich stehe.

Und ich kann nicht sterben, eh’ ich dieses Rätsels Lösung erfahre.

Ich bin bald siebzig Jahre alt und habe auf Erden nichts mehr zu vollbringen. Ich werde keine Lücke hinterlassen, denn ich steh’ allein. Das Leben bietet mir nicht Freude oder Hoffnung; denn meine einzige Freude und Hoffnung war mein Kind.

Und dennoch will ich nicht sterben. Ich will nicht sterben, eh’ ich nicht von meinem Kinde Nachricht habe.

Und ich weiß, er wird mir Nachricht geben. Mit allen Kräften meines müden Herzens glaube ich daran, daß er mir Kunde geben wird.

Vielleicht aus einem fernen Weltteil, vielleicht von einem fremden Stern – ja, wenn es Gott nicht anders will, aus einem anderen Jahrhundert. Ich warte drauf. Dann will ich gerne sterben.

Und eine Ahnung sagt mir, daß Sie es sind, den Gott dazu erkoren hat, mir diese Kunde zu vermitteln. Schon darum allein bin ich Ihnen so von Herzen gut.«


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