Gustav Leutelt
Die Könighäuser
Gustav Leutelt

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12.

Die Revolution draußen ist nunmehr gewesen. Man singt zur Zeit noch das Lied von den »Drei Kugeln,« die in der Brigittenau das Leben Robert Blums geendet haben und um den Gefallenen ist die 168 Legende bemüht; aber das fliegt ebenfalls vorüber und die Konstitution geht über Friedrichswald auf und wieder unter, ohne die Köpfe sonderlich zu erwärmen. Weit eher wäre es der neuen Gensdarmerie gelungen, das Volk rebellisch zu machen; denn jedes alte Weiblein, das beim sonntägigen Heuwenden betroffen wurde, geriet in Strafe und wer sich unterstand, nach seinen Tauben zu schießen, der mußte gar vor Gericht, so sehr suchte man jetzt alles einzuengen.

Und nun verschwand die Scheidemünze fast ganz aus dem Verkehr und man zerriß schließlich die Guldenzettel, um mit deren Stücken zu zahlen. Große Zaghaftigkeit und Mißtrauen drang ins Volk, so daß die neumodischen Konstitutions- und Verbrüderungsfeste wenig Zulauf hatten.

Auch Johannes war mit seinem jungen Weibe nicht bei ihnen gewesen. Die beiden hatten noch immer damit zu tun, einander recht kennen zu lernen. Was sie bisher am Gatten gesehen hatten, das blieb fast durchaus bestehen, aber dahinter tauchte dies und das auf, Ungekanntes, Tiefgründiges, und beanspruchte Geltung.

Johannes empfand, daß sein Weib doch nicht so war, wie die verstorbene Mutter und gewann jetzt Verständnis dafür, wie oft er etwas als selbstverständlich hingenommen hatte, was in Wirklichkeit ein Opfer 169 jener blassen Frau gewesen war. Aber diese Erkenntnis drückte ihn nicht nieder; sie erhob ihn vielmehr durch die gesteigerte Achtung, die er der Hingegangenen zollen mußte.

Die Marie war tüchtig, sehr tüchtig. Johannes wußte, daß er ihr früher nicht genug getan hatte; damals hatte er sie nur geliebt, jetzt mußte er sie auch ehren. Er empfand das um so eindringlicher, je mehr das beständige Beisammensein Hüllen von der Seele der jungen Frau hinwegnahm.

Eigenen Willen? Ei freilich, hatte sie den und Johannes verbrannte sich anfangs einigemal. Aber das durfte nichts bedeuten, und in der Folge berücksichtigte der Bauer recht gern auch den Willen seines Weibes.

Brav war die Marie, sehr brav; aber sie war auch nach Weibesart sich ihrer Vorzüge bewußt, während Johannes mehr dazu neigte, seine eigenen Fehler auszuspähen. Dabei fühlte sie recht gut, welchen Schatz ihr das Schicksal an die Seite gestellt hatte und darum erstarkte auch ihre echte Zuneigung in der Ehe, statt im Gewohnheitsleben zu ersticken.

In dem jungen Bauer erwachte erst jetzt das freudige Gefühl des Besitzes. Anfangs hatte er vor der Verantwortung gebangt, die das Erbe ihm auferlegte, und selbst dann, als mit der wachsenden 170 Kraft und Einsicht sich das änderte, zog eher eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Hab und Gut in ihm ein. Nun aber, da er für andre zu sorgen hatte, würdigte er auch das, was da war, und nicht erst erworben zu werden brauchte.

Wenn er so an Sonntagnachmittagen mit Weib und Kind vor dem Hause saß und der Feiertagsfriede lag auf den Wiesen und auf den Bäumen und den Dächern, die zwischen daher sahen, und in der blauen Luft draußen und über den blauen Bergen, dann fühlte er sich wunschlos glücklich. Leis und lind, wie mit Taubenflügeln, flog die Zeit vorüber und nicht zu glauben schien es, wenn der Abend da war und die Dämmerung aus den Winkeln hervortastete.

Es konnte aber auch in diesen Stunden geschehen, daß der Bauer händereibend aufstand und rund um die Felder lief, oder er ging durch die Scheune, in den Stall, oder auf den Heuboden, und einzig und allein deshalb, weil ihm just zur völligen Behaglichkeit der Gang durch sein Besitztum nötig war.

Das Schicksal ist blind. Es kann gewiß das Endchen des Fadens nicht erspähen, der da am Boden schleift, mitten durch den Staub der Habgier hindurch, und es vermag wohl seinen Knoten nicht an dieses dünne Schlänglein zu knüpfen.

– Diese Nachmittage der Sommersonntage! 171

Der Schatten des Ahorns reicht eben an der Hauswand hin, und aus seinem Bereich blickt es sich so vergnüglich über die Wiesen gegen das Dorf hinab, von wo der Weg bergan steigt, den die zierlichen Blätter des Frauenmantels säumen, und der so reinlich ist und nur etwas wild, weil hie und da die Grasbüschel auf ihm wachsen. Und neben seinem lichten Grau ist der lustige Farbenwettstreit der Bergwiese: Helles Grün und dunkles Grün; Gelb der Hahnenfüße dort, just nicht gern gesehen, des saueren Futters wegen, das Rot der Kleeköpfe hier, das fremdartige Blau des Storchschnabels, und gar drüben das schneeige Weiß mit dem durchleuchtenden Violblau: Johannisblumen und Glockenblumen im Gewirr und in Eintracht.

Diese Blumen nennt man im Ascherhofe so gut, wie irgendwo in den Bergen, aber man hat dort überall andre Namen für sie, als in den Büchern stehen und keine andre Einteilung, als ihren Nutzen oder Schaden. Nur Johannes sieht die Gewächse noch anders an; doch weder das »Wie?« noch das »Warum?« vermag er zu sagen, und weiß nur, daß das immer so war und schon in der Knabenzeit.

Dann sind auch noch da und dort in den Wiesen die grauen Steinbuckel, und der Pfutschhans liegt dem Bauer oft in den Ohren, sie wegspalten zu lassen. Aber dazu kann sich Johannes nicht 172 entschließen. Er sieht dabei auf seinen Jungen hin, den die Arme des Weibes noch behüten, und dann wandert die Erinnerung wieder um die bemoosten Steinhäupter und bindet an mit der Zukunft:

»Ob er auch so mit den Beinen schlenkern mag, wenn er auf der Kante drüben reiten wird? – Oder wenn er am großen Stein in die Hauswurz gerät . . . . und wenn er über den breiten Flaser rutscht.

Hosen wird es schon kosten.«

Aber man kann doch nicht immer an vergangene oder noch zukünftige Knabenstreiche denken. Was dann?

»Der Schnoppschneider hat den halben Schuppen neu gedeckt.«

»Es war auch Zeit; sie konnten schon mit dem Rechenstiel durchs Dach fahren, wenn sie wollten.«

»Hast du schon gesehen, daß der Hübner-Bäcker den Kamin umbaut? Die Nachbarn haben es durchgesetzt wegen der Feuersgefahr.«

»Ist ja noch nie was geschehen.«

»Mag sein, besser ist besser.« . . .

So geht die Zwiesprache her und hin; es gibt immer etwas Neues.

Und die Wetter erst, die stundenlang heranziehen vom Land draußen, und ihre Feuerkünste spielen lassen, oder die gar heimtückisch vom Rücken 173 herschleichen und plötzlich über dem Kamin stehen und gröblich genug losfahren.

Wenn aber der Abend ohne Wolkenzüge und Donnerschläge kommt, und die Berge endlich in die Dämmerung geraten, dann steht ein Licht hinter ihnen, das ahnungsreich macht und sehnsüchtig nach der Weltferne draußen, sich aber doch endlich zufrieden gibt mit einem stillen Gedenken vor der kurzlebigen Sommerlampe, oder mit einem Traumeckchen der Nacht.

Was Johannes und sein junges Weib in der Zeit erlebten, haben viele erlebt; aber was wenigen beschieden ist: sie trugen keine Sorgen.

Und es war vielleicht nicht gut, daß sie nichts zu sorgen hatten. Daher nahm sich ihrer das Schicksal an und schlug seine Schwingen über die Berge. Aus dem Ascherhofe trug es das jüngste Leben fort und drüben bei den Richterleuten zeichnete es den Bauer für späterhin. Da ward der Friedl seiner Glieder unmächtig und seiner Zunge und mußte, gutwillig oder nicht, das Regiment an den Sohn Emilian abtreten.

Königssohn hatten den seine Gefährten geheißen, und deren gab es viele daheim und in den Dörfern der Runde. Alle die Raufer, Säufer, Spieler und Schürzenjäger setzten nun ihre Hoffnung auf den jungen Richter-Emilian und meinten, jetzt werde das 174 Freudenleben erst recht angehen; aber sie hatten sich geirrt. Der junge Bauer warf das Geld nicht mehr so mit beiden Händen weg und die gelegentlichen Ausbrüche des Unmutes darüber benutzte er, um sich mehr und mehr von den tollen Kumpanen zurückzuziehen. Er mußte sich eben ein anderes Ziel gesetzt haben.

Mit dem Johannes war er nach der Übernahme des Richterhofes den Grenzrain abgegangen und beide hatten vor den Zeugen erklärt, daß alles in Richtigkeit sei. Es wäre auch nichts zu machen gewesen, denn unten an der Lehne standen die Rainzeichen ja im »lebenden Stein«, und höher hinauf gab die lange, sorgfältig geschichtete Steinrücke den gediegensten Wall zwischen herüben und drüben ab.

Die zwei Besitzer waren auch bei dieser Gelegenheit einander nicht näher gekommen und als man oben am Waldrande auseinander ging, klangen über den Steinwall her und hin bloß kurze Grüße und nur die gegenseitige Zeugenschaft nickte einander bedeutungsvoll zu.

Man nickte auch, als der Emilian die hübsche, reiche Lahmbauerstochter heiratete, und man nickte noch mehr, als die junge Frau schon nach Jahresfrist mit traurigem Gesicht herumging und bei keiner Wallfahrt und bei keinem Bittgange fehlte, wie solche immer tun, denen das Leben irgend eine Hauptsache 175 schuldig geblieben ist. Die Ehe der jungen Richterleute aber blieb kinderlos.

 

Und die Jahre kamen und gingen, und es war ganz gleich, ob sie lang erschienen, oder kurz; es geschah doch alles, was geschehen mußte.

Im Ascherhofe klagten die Gatten nur mehr um den toten Knaben, wenn jedes von ihnen für sich allein war und wendeten alle Mühe darauf, diesen Stachel vor dem Ehegefährten zu verbergen. Ein schönes, starkes Mädchen war da und lief bereits hinter den Schmetterlingen her, was immerhin die Zeit der ersten Gehversuche ausschließt. Die Dinger aber waren nicht zu kriegen und die Kleine suchte und fand Ersatz in den weißen, roten und gelben Blümchen, den bunten Steinlein und zierlichen Schneckenhäusern. Die großen, grauen Steine gingen sie nichts an; eher noch des Vaters Knie, aber sie schlenkerte auch dort nicht mit den Beinen.

Marie hieß die Kleine.

Wenn die Mutter zusah, trieb der Vater gern Possen mit dem Kinde und ruhte nicht, bevor er seiner Frau ein Lächeln abgewonnen hatte. Aber wenn die sich abwendete, dann war um ihre Mundwinkel etwas, das wider diese Fröhlichkeit stritt. Tapfer genug, daß sie es nicht sehen ließ. 176

Ehegatten, wie Johannes einer war, fühlen das aber, wenn sie es auch nicht sehen.

Es schien doch, als wolle sich neuerlicher Ehesegen im Ascherhofe nicht mehr einstellen. Das Mädchen war schon in die Puppenjahre gekommen und noch immer das einzige Kind im Hause. Sein Liesl hielt sich so brav und so steif, als es einem Holzpüppchen nur möglich war, und wurde dafür fast immer gut behandelt. Das wirkliche Liesl aber heimatete unten beim Rösler-Heinrich und hatte ein größeres Schwesterlein, das die Ascherbäuerin durch kleine Geschenke herauflockte zur Spielgefährtin für ihr Kind. Das Klarl hatte auch eine Docke, aber die war krank; denn sie hatte sich die Nase zerschlagen, und da mußte Johannes doch eine Puppenstube bauen, der Gesellschaft wegen, und die fiel prächtig aus.

Von der ersten Puppen zur Schulzeit ist nur ein Schritt. Wochenlang vorher war schon das Gerede davon gewesen und an der neuen Schultasche aus buntfarbigem Strohgeflecht hatte die Bäuerin bereits den Henkel flicken müssen, aber als der Morgen kam und Mariechen den ersehnten Gang antreten sollte, dann war merkwürdigerweise das Weinen da. Und nicht einmal beim Händchen konnte der Vater das Kind führen, weil beide kleinen Fäuste doch notwendig gebraucht wurden, um die quellenden Tränen abzuwischen; und die Tasche mußte der Vater auch tragen, 177 was in Hinsicht auf deren Dauer nur vom Vorteil sein konnte.

Johannes verstand die Betrübnis des Kindes nicht recht. Er erinnerte sich noch gut, wie fröhlich er neben seinem Vater den ersten Schulweg so hingehüpft war und zerbrach sich zwischen alle die aufzuwendenden Tröstungen hinein den Kopf, was den Tränenerguß der Kleinen hervorgerufen haben könne.

Dann war schon das Schulhaus da und der Bauer hätte etwas darum gegeben, wenn Schwarzkopf noch gelebt und sie mit Knicksen und Flügelschlagen empfangen hätte. Aber die Krähe war bald nach dem Tode des alten Herrn verschwunden und niemand hatte sie mehr gesehen.

Johannes mußte zu früh gekommen sein. Nur eine arme Witwe ließ schon ihr Töchterlein einschreiben, weil sie weit her hatte und noch in die Tagarbeit gehen wollte. Und dem Bauer und seinem Kinde war es recht, daß ihr kleines Mägdlein zurückblieb und so ruhig da saß, und auch die Marie beruhigte sich neben ihm.

Der neue Lehrer hatte so hübsche, nachdenkliche, braune Augen. Er gefiel dem Johannes und der redete mit dem Manne, bis neue Väter und Mütter und Kinder kamen und die Stube sich allgemach füllte. Johannes empfand eine gewisse Genugtuung darin, das Kind auf eben dem Platze zu sehen, auf 178 dem vor zwanzig Jahren sein jetziges Weib gesessen hatte und er blieb in einer Ecke stehen und nickte nur mitunter dem Mädchen zu.

Erst jetzt fiel ihm auf, wie wurmstichig, eng und unbequem die alten Bänke dahinstanden, und er sah nach der niedrigen Decke und den winzigen Fenstern mit einer Art von Angst, wenn er der Fährlichkeiten dachte, die das junge, blühende Leben hier bedrohten: das unbequeme Sitzen, die schlechte Luft und das geringe Licht. Ein inniges Erbarmen mit seinem Kinde faßte ihn und er vermochte nicht, länger dem rührend hilflosen Blicke desselben stand zu halten. Neues Kommen verhalf ihm dann dazu, unbemerkt aus der Tür treten zu können, aber draußen zog es ihn wieder zurück und er schlich nach den Fenstern der Hofseite, um noch einen Blick auf sein Mädchen zu tun. Da waren jene kleinen Fäuste wieder eifrig dabei, die Wänglein trocken zu reiben und auch dem Lauscher wurden die Augen feucht.

»Es muß sein.«

Da ging er endlich und schalt sich aus, wie man so wehleidig sein könne. Aber die Schelte fruchtete nicht viel und er mußte immer wieder an sein Kind denken, das so frei und glücklich durch Haus und Feld gejubelt war und nun lange Stunden stillsitzen sollte auf einem Plätzlein, das eines kleinen Schrittes Geviert umfaßt. 179

»Es ist wirklich hart, das.«

Die Arbeit war an dem Vormittage nicht groß und der bekümmerte Vater ging seinem Kinde entgegen. Aber die Kleine kam mit glänzenden Augen und atemlos vor Freude und erzählte, daß es in der Schule noch so schön geworden sei. Zuletzt habe der Lehrer einen Jungen auf der Tafel gemacht, der eine Mütze hatte, wie die andern Jungen alle und immer i – i – i – i schreien tat, und dann hätten sie alle das rufen müssen, und es sei eigentlich ein Buchstabe gewesen, den sie schon gelernt, und das müsse sie auch gleich der Mutter erzählen.

Da erkannte Johannes von neuem, daß jedes Ding zwei Seiten hat und gab sich zufrieden. Die heute gewonnene Erfahrung aber war deshalb nicht verloren und trug späterhin schon ihre Frucht.

So ging die Kleine fleißig zur Schule, aber sie mußte fast immer allein gehen; denn das Klarl, des wirklichen Liesels Schwesterlein und Spielgenossin vom Ascherhof war noch nicht schulreif. Im nächsten Jahre aber bestand auch das Hindernis nicht mehr, und wenn die Marie den Wiesenweg herabhüpfte, so hatte sie gewöhnlich mit beiden Armen voraus zu telegraphieren, weil unten das Rösler-Mädl schon auf sie wartete.

Dann waren die kleinen Erlebnisse der beiden: das Maiblumenketteln in jenen strahlenden, 180 duftgesegneten Mittagsstunden und das folgende, böse Zuspätkommen in der Schule; der entsetzliche Hund des neuen Waldhegers, der so grauenhaft viele Zähne in seinem Maul hatte und die Kinder beinahe mit seiner langen, roten Zunge gestochen hätte; dann war einmal das Kreuz von seinem Postamente rein weg und die Kinder wunderten sich einige Tage lang, bis sie mühsam genug eines um das andre auf den verwitterten Sockel hinaufkrochen und sich die Welt von ihm aus besahen. Zuletzt war aber das Kreuz wieder da und glänzte schön goldig und die Buchstaben in dem Stein glänzten auch, und die Leute sagten, das habe die Richterbäuerin eben machen lassen.

Es gab auch da immer wieder etwas Neues. Heute aber ist es rein zum wundern. Da steht das Weib, die Mutter des Klarl, am Wege, hat die Marie bei der Hand genommen und sagt:

»Du sollst heute noch nicht heimkommen und bei uns bleiben. Abends werden sie dich schon holen.«

So ist die Marie im Röslerhäusl mit zur Jause gesessen und das Weib hat immer von der Ascherbäuerin geredet, was das für ein herzgutes Frauenzimmer sei, und der Herr Jesus Christus möge sie behüten. Das trieb sie solange, bis der Mann mit einemmal scharf auf sie hinschaute und dann war sie still geworden, oder hatte vielmehr ihr Seufzen und Murmeln hinter den Ofen getragen. Der Mann 181 aber, der sonst so böse aussah, langte die Geige von der Wand herunter und spielte den Kindern eins auf, und dann wurde es dunkel.

Der Bauer holte endlich sein Kind. Halblaut redete er noch einiges mit den Röslerleuten, ehe er die Kleine über die Schwelle zog. Sie konnte dann nicht Schritt halten mit der Ungeduld des Mannes, und der nahm sie empor und hielt sie so fest, daß sie sein stürmisches Herzklopfen fühlen konnte.

Nachher hat das Kind in der Kammer schlafen müssen und der Bauer hatte ihm zuvor noch ein Butterbrot gebracht, das war viel dicker gestrichen, als es die Mutter oder gar die Tante Katharine getan hätten. Die Kleine begriff das alles nicht und warum man sie allein ließ, und warum die Mutter nicht zu ihr kam.

Morgens, als die Sonne längst den Tau von den Scheiben der Kammerluke gesogen hatte, erwachte die Kleine. Sie hatte das dunkle Gefühl, daß die Schulgehzeit bereits da sein müsse, aber weil niemand kam, sie zu holen, so ließ sie sich das Dämmern in den weichen Betten gern gefallen und blinzelte nur manchmal aus den halbgeöffneten Augen nach dem Sonnenstreifen hin, der immer tiefer an dem Kleiderschrank der Tante herabkroch. Die kleinen Dachgeräusche: das Knacken und Zerren der Schindeln, das Hüpfen und Picken eines Vogels draußen halfen 182 wenig, das Kind vollends zu ermuntern. Zuletzt aber überwog das Bewußtsein, daß sich niemand um sie kümmere, doch das Behagen und die Kleine raffte die Kleider zusammen und lief in ihrem Hemdlein über den Bodengang und die Holztreppe hinunter.

Es war ganz still in der Stube. Die Mutter lag im Bett und rührte sich nicht und der Vater griff über sie hin und hatte den Kopf in die Kissen gedrückt. Neben dem Tische kniete die Tante Katharine und betete, und die Fenster auf der Morgenseite standen alle auf und die Töne des Vogelgesanges kamen durch sie herein wie ein inbrünstiges Schluchzen.

So sehr bange wurde der Kleinen mit einemmal, daß auch sie aufschluchzte. Vater und Mutter hörten sie nicht, aber die Tante Katharine kam und trug das Kind hinaus in den Vorraum und kleidete es dort an. Dann sagte sie mit zitternder Stimme, während sie das weinende Mädchen an sich zog und ihm die Wangen streichelte:

»Deine gute Mutter ist gerade gestorben und zum lieben Gott in den Himmel gegangen.«

 

Die Kleine war betrübt, wie die andern und stand solange in den Ecken herum mit ihren ängstlichen, ratlosen Kinderaugen, bis man sie zu den Röslerleuten hinunterschaffte. Nachts durfte sie schon in der Kammer 183 schlafen bei der Tante Katharine; der Vater nächtigte unten in der Stube, wo sein totes Weib und das Neugeborene aufgebahrt lagen. Sie hörten durch die Decke hindurch ihn schreien und jammern.

Aber wie die Näherin das neue, schwarze Kleidchen brachte, vergaß die Kleine doch auf ein Stündchen ihr Herzeleid; und das Kopftüchlein, das rauschte gar von Seide.

Im Ascherhofe war es noch nicht Sitte, die Fenster der Totenstube schwarz zu verblenden und das helle Sonnenlicht überstrahlte die flackernden Kerzen, wie der Geruch des brennenden Wachses und des frischen Lackes den Duft der vielen Blumen übertäubte, mit denen die Frauen des Dorfes den Sarg der abgeschiedenen Wöchnerin fast zugedeckt hatten. Es war alles wie durch einen Schleier zu sehen, einen Tränenschleier: die vielen Leute an den Wänden, die Lichter, die Blumen, und zwischen ihnen das bleiche Gesicht, das nun so fremd geworden war.

Der Bauer ersparte seinem Kinde das schlimmste und als die Musiker mit ihren Liedern anhoben, tauchte er die Finger der Kleinen in die Weihwasserschale und hob die Schluchzende über den Sarg empor, auf daß sie ihrer Mutter die letzte Ehre erweisen konnte. Aber das geängstete Kind mußte unverwandt nach dem winzigen Kindlein sehen, das in dem Arme der Toten lag, und dessen Gesichtchen 184 wie gelbes Wachs zwischen den Blumen hervorsah. Der Vater mußte endlich die Hand der Kleinen zu dem Kreuzeszeichen führen und dann trug man die halb Betäubte hinaus und sie kam erst in der Stube des Röslerhäusels wieder recht zur Besinnung. Den weiten Weg nach dem Kirchhofe in Johannesberg konnte sie ja noch nicht gehen. –

Miserere . . .

Der Leichenzug kam den Wiesenweg herab und die Musiker stimmten diese erschütternde Tonfolge an. Die Frau war wieder gegangen und hatte das tränenüberströmte Kind bei dem Manne allein gelassen; vom Liesl und dem Klarl war auch nichts zu sehen.

Miserere mei Deus . . .

Und der Mann sah so böse aus, wie noch nie, und mit einem hatte er die Geige von der Wand herabgerissen und strich das misericordiam mit schneidenden Tönen. Aber dann spann er die Klänge fort und schlang allerlei Schnörkelwerk dazwischen, daß es sich anhörte, als zwitschere eine Lerche in den Gesang andächtiger Wallfahrer hinein.

Wie die Töne draußen ferner und ferner klangen, erhob sich sein Streichen lauter, und dann war es auf einmal das Liedchen, das die Mutter so oft gesungen hatte: 185

»Schlaf, Kindlein, schlaf!
Im Garten steht ein Schaf,
Das hat vier weiße Füße,
Das gibt die Milch so süße . . .«

Und:

»Schlaf, Herzenskindchen, mein Liebling bist du . . .«

Woher wußte er sie nur alle, die Lieder? Immer leiser und heimlicher klangen die Töne und dann war das müde Kind richtig eingeschlafen.

Da legte der Geiger sein Instrument behutsam auf den Tisch und es war, als müsse er etwas aus seinen Augenwinkeln wegwischen.

So hatte der böse Mann das Kind aus seinem Kummer hinübergegeigt in die Traumgefilde, wo es die Mutter am ehesten heil und gesund wiedersehen konnte.

 


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