Gustav Leutelt
Die Könighäuser
Gustav Leutelt

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3.

Auch für die Augen des kleinen Johannes war der Ascherhof groß und weit und voll von unergründbaren, dunklen Winkeln, über denen seltsames Gebälk zu geheimnisvoll düsterer Höhe emporstieg. Aber das war lange nicht das erste und man kann daher nicht damit anfangen.

Als der kleine Junge endlich sein Dasein zu fühlen begann, erfuhr er zunächst, daß die Selbstverständlichkeiten um ihn eigentlich doch nur recht bedingte seien. Hatte die Mutter nicht da zu sein, wenn er des Morgens erwachte? Nachts empfand er die fürsorgende Nähe und ihr Mangel trieb ihn vorzeitig aus dem Schlummer. Wenn er sich dann überzeugte, daß die Mutter in der Stube war und am Ofen hantierte, gab er sich aber gern zufrieden; denn er war immer ein stilles Kind und machte wenig zu schaffen.

Dann war das Fenster drüben so eine Sache mit seinen dunklen Stäben und dem Licht dahinter, und das Grün stieg darin von unten herauf; aber in den oberen Scheiben war es dunkel und zackig von irgend etwas, und wo im Glase der höchste Zacken stand, war es mitunter wie eine Flamme oder ein breites Licht, das dort emporging. Über den Kamm her strahlte dann die aufgehende Sonne den geheimnisvollen 34 Felsen rötlich an und der kleine Junge in dem Winkel der großen Bettstatt wunderte sich redlich und schaute unverwandt dorthin mit hellen Augen, bis sich die dunkle Gestalt der Mutter über ihn neigte, die endlich gekommen war und ihn herzte und küßte, weil er gar so brav gewesen sei.

Es konnte nicht ausbleiben, daß jenes unverwandte Schauen endlich die Aufmerksamkeit erregte. Beide Schwägerinnen machten denn auch an dem gleichen Morgen die Entdeckung, daß der gespenstige Stein die Augen des Kindes wie durch einen Zauber auf sich ziehe. Mit einemmal war das alte Grauen wieder da und die heiße Sorge um den Liebling, und wie die Beate nach der Schwägerin sah, blickte diese hurtig zur Seite, als hätte auch sie eine Furcht der Seele vor der andern zu verbergen. Wie sinnlos riß die Mutter den Kleinen empor und floh mit ihm in die dunkle Ofenecke. Dort saß sie, bis die Katharine, die hinausgegangen war, wieder zu ihr trat und möglichst gleichgültig meinte, daß der Bernard heute die Bretter zum Trocknen an die Hauswand legen müsse; auf einen Tag komme es ja doch nicht an.

Da war auch schon draußen die gelbe Wand des frischen Holzes vor den Fenstern und die Beate trug aufatmend ihr Kind in das Bett zurück.

Solcher Art waren mitunter die Zustände im Ascherhofe und es offenbarte sich in dem Ineinandergreifen 35 der beiden Geschwister ein Zartgefühl, das man in den Kreisen höherer Stände vergeblich suchen würde.

Am nächsten Morgen waren viele rote und blaue Blumen an den Scheiben, oder sie waren vielmehr auf dem Tuch, das vor dem Fenster hing, und das Wiese und Wald und den lichten Stein verdeckte. Das ging so, bis der Kleine in dem großen Bauernbett seine ersten Entdeckungsreisen unternahm, und als er es einst so weit gebracht hatte, das furchtbar steile Kopfende zu ersteigen, erblickte er wieder ein richtiges, unverhängtes Fenster, durch das man sehen konnte.

Da draußen aber war alles viel weiter, und am weitesten war doch das Haus, in das die Sonne eben durch ein Fenster hineinkriechen wollte. Sie blitzte dabei so gewaltig auf den kleinen Jungen her, daß dieser erschrocken über die Polster herabrutschte und mäuschenstill liegen blieb. Als er sich wieder emporwagte, war die Sonne schon in das Haus gestiegen und nicht mehr zu sehen.

Es gab noch genug andres: da waren die braunen Tücher der Äcker in das Grün gelegt oder die gelben Tafeln der Getreidefelder, und der Flachs wurde blau oder die Erdäpfel verfärbten sich. Das alles war dem Kinde freilich nicht mit der Klarheit gegenwärtig, die das Licht der Worte nun einmal verleiht, aber gleichwohl drangen damals in die junge Menschenseele die ersten Wurzeln tiefgegründeter Empfindung. 36

Die Entdeckungsreisen dehnten sich aus, zunächst auf die Stube, und der kleine Junge genoß, je mehr er seine Glieder brauchen lernte, eine desto größere Freiheit in ihr. Nur am Topfbrett durfte er nicht rütteln; das war verboten, und die Uhr hing eben viel zu hoch. Freilich waren gerade diese beiden Stubendinge seiner Sehnsucht Ziele, doch die Aussicht auf das hinter der Türschwelle gelegene ließ eigentliche Betrübnis nicht aufkommen.

Er hatte alle Herrlichkeiten der Hausflur schon von dem Arme der Mutter aus erblickt, aber dort bewundert man doch nur halb; erst wenn man auch mit Händen und Füßen, mit der zerstoßenen Nase, den geritzten Wangen oder der gebeulten Stirn gesehen hat, ist man völlig von dem Dasein der Dinge überzeugt.

Es war gleichwohl eine Tat, als der Kleine sich von der Türschwelle auf den Lehmboden der Flur hinabgleiten ließ; denn es war düster dort und nur die blanken Sensen und die Bleche des Pferdegeschirres glänzten von den Wänden herab. Etwas kühl empfanden obendrein die nackten Beinlein den Estrich, und mit Rücksicht darauf, daß die Stubentür zugefallen und der Rückzug abgeschnitten war, entstand ein Unbehagen. Da, zum Überfluß, scholl von rückwärts her ein fürchterliches Muuuh! und um die Standhaftigkeit des kleinen Forschers war es geschehen. 37 Auf sein Geschrei öffnete sich hurtig die Stalltür, die Mutter trat hervor und der Kleine war für diesmal gerettet.

Der Stall war eine Kleinigkeit. Die Tiere hatte er schon draußen sehen und angreifen dürfen, wenn ihn der Vater emporhob; aber die Bodenstiege, das war etwas ganz andres.

Eines Tages hatte der Knirps sie überwunden und kauerte vergnügt in einer Ausladung des Daches, umgeben von allerlei staubigem Gerümpel, das man dort beiseite gestellt hatte. Das war so ganz anders, als unten in der Stube, und die Balken hingen gar nicht einmal an der Decke, wie dort, sondern schossen von allen Seiten in die Höhe, zum Schwindeln hoch; und hinter den Sparren steckten mancherlei Merkwürdigkeiten, und der Heuduft schmeichelte und die stickende Wärme sog die hellen Tröpflein aus der Kinderstirn.

Man fand ihn schlafend und trug den Schläfer hinab. Das war in der Folge öfter nötig; denn es zog den Kleinen immer wieder nach oben, und selbst dann, als er einst unverhofft rasch und durchaus unfreiwillig mit einer tüchtigen Schramme unten im Hausflur anlangte, konnte dies seiner Vorliebe für den Dachboden nichts anhaben.

Da saß er denn inmitten alten Gerümpels, und goldiger Staub schwamm langsam durch die Lichtgarben, die von den Fensterlein niedergingen. Die Wespen, 38 die ihre graue Papierkugel hoch oben an einen Sparren gehängt hatten, summten leise, wenn sie durch die Schindellücken aus und ein flogen, mitunter strich draußen das Gezweige des Ahornbaumes wie liebkosend über das Dach und drang das Gurren der Tauben herein, oder es huschte ein leichtbeschwingtes Zwitschern vorüber, ein Hauch von irgend etwas, sei es vom Walde, sei es vom Winde, und – dem Kleinen kaum bewußt – verband die innereigene Musik diese Stimmen und Geräusche.

Hinter dem gewaltigen Kaminbau, der durch den Bodenraum aufragte, stand eine besonders große, ovale Holzschachtel, auf der die dicke Staubschicht ungebrauchter Dinge ruhte. Da gab es Arbeit. Wie die kleinen Finger in dem mehlweichen Grau tasteten, entstanden unter ihnen die schönsten, leuchtenden Flecken; denn die Schachtel war bunt bemalt und auf dem Deckel hatte ehedem der schlichte Kunstwerker ein Urteil Salomonis abgebildet, so gut es gehen wollte. Das farbenprächtige Deckelbrett aber war seiner Holzumrahmung auf einer Langseite entschlüpft und klaffte derart, daß der Kleine es emporzuheben vermochte. Schwacher Duft nach Thymian und Salbei drang hervor und wenige Kräutersäcklein, die in einer Ecke morschten, ließen die frühere Verwendung des Behälters erkennen.

Das Hineinkriechen war gar nicht so leicht; denn 39 der Deckel klemmte sehr, aber im Dunkeln liegen, wenn durch den Spalt ein Streiflein weißen Lichtes hereinschimmerte, war gar schön, und die Brummfliege, die ein Ungefähr mit hereingeführt hatte, hell zum Lachen.

Als die Beate heraufstieg und rief, antwortete niemand; denn der Kleine schlief fest in seinem bunten Särglein und erwachte nicht. Wie die Tante kam, der Vater im Heu wühlte und dann hinablief, hastig ins Aschenloch schaute und in den Keller stolperte, in allen Ecken herumschoß und darauf wieder mit drei Sprüngen auf dem Dachboden stand, das entging der Jammernden. Endlich, war es infolge des Staubes oder durch die Brummfliege verursacht, die sich dem Kindchen just auf die Nase gesetzt hatte, erhob sich in der Schachtel ein herzhaftes Niesen und im nächsten Augenblick befand sich der Kleine in weichen Armen und fühlte deutlich, wie ein Herz stürmisch gegen seine Brust klopfte.

Die Wunder des Dachbodens waren noch nicht zu Ende, aber bereits lockte eine neue Welt voll unerhörter Pracht und ließ die dämmerigen, heudurchdufteten Winkel dort oben für einige Zeit in Vergessenheit geraten.

Das Blumenwunder der Wiese mit den schweigsamen, blütengleichen Schmetterlingen, der halmwiegenden Harmonie der Gräser und dem buntfarbigen 40 Gewimmel von fliegenden, springenden und kriechenden Geschöpfchen dazwischen lachte dem empfänglichen Kinde so strahlend heiter entgegen, daß es geraume Zeit nichts andres tun konnte, als schauen. Die Sonne legte sich wangenweich auf seine Händchen und die warme Luft floß durch das Geringel der Löcklein, daß ihr Wehen ein unsäglich lindes Streicheln war. In den Bäumen hinter ihm wirbelten die Zwitschertöne durcheinander, die er schon am Dachboden gehört hatte; nur klangen sie hier weitaus eindringlicher als dort und ab und zu warf das Dorf unten einen Laut gegen die Höhe des Ascherhofes. Wenn die Mutter aus dem Fenster rief, dann jauchzte der Kleine und griff in die blaue Luft, als wolle er die liebe Gestalt an sich ziehen, und auch die Beate freute sich und war beruhigt; denn der böse Stein lag ja doch auf der andern Seite des Hauses.

Die Sonne rückte weiter und weiter. Schattenecken wurden hell und taten sich neu auf im Bereiche der Morgensonne, die Sommerkäferlein flogen, und dann begannen über den Dächern unten die Kamine zu rauchen, sparsam oder reichlich, je nach den Mitteln, und weiter weg am Hange fing schon die Luft zu flimmern an.

So tief hatte der Kleine ins Licht geschaut, daß den Augen des Heimkehrenden die geweißten Wände des Vorraumes rosenrot erschienen, und das 41 Butterfaß strahlte und seine geputzten Messingreifen glühten wie prächtige Purpurfeuerstreifen. Selbst im dunklen Hausflur malten die gereizten Nerven noch rote Ringe und flammende Sonnen ins Auge und erst das Halblicht der Stube schuf hierin Wandel.

Ein Dichter hätte den kleinen Jungen um die Wunderwelt seiner Kinderjahre beneiden können.

 

Wie der Knabe dann älter wird, ist er nicht mehr leicht zu hüten und es entsteht einiges Ungemach, das aber bald vorübergeht. In die Egge ist er so glücklich gefallen, daß die Höslein dabei am schlimmsten weggekommen sind und auch der schwere Sturz auf die Tenne hat einen jetzt wahrnehmbaren, dauernden Schaden nicht herbeigeführt. Die Eggen hängen seither unter dem Vordach der Scheuer, wo bereits die Saatwalze und der Schleifstein Posto gefaßt haben, und der etwas groß geratene Katzenschlupf am Scheunenhoden ist auf das richtige Maß eingeengt worden.

Es gibt um den Ascherhof noch immer unglaublich viel zu sehen. Die Bienen zwar werden nach Gebühr noch nicht gewürdigt, denn die »bösen Fliegen« sind in der Abwehr einer jeden Neugier allzu eifrig, aber die Stachelbeerbüsche daneben und dann der Hühnerhahn und die Tauben und die Forelle im Wassertrog sind wahrhaft erstaunlich. 42

Der Fang von Grashüpfern wird eine Zeitlang eifrig betrieben. Wenn er ein solches Zappelding auf den Wasserspiegel des Troges legt und hinreichend zurücktritt, dann schnellt der geschmeidige, dunkle Körper unter dem Stein hervor. Ein Aufblitzen der lichten Unterseite, ein Schwappen im Trog, und der Kleine ist für die aufgewendete Mühe reichlich belohnt. Die Mutter freilich sieht das Treiben nicht gern; der Trog liegt auf der Bergseite. Aber sie ist in solchen Dingen bereits machtlos und kränkt sich im stillen darüber.

Der Wassertrog hat überhaupt seine eigene Geschichte. Abgesehen davon, daß man wahre Indianerschliche finden muß, um der in den Morgenstunden sich sonnenden Forelle ungesehen auf den Leib rücken zu können, ist er auch sonst merkwürdig. Die kunstreiche Wasserleitung von dort nach dem alten Vogelbeerbusch kostet Nachdenken und einige Geduld, aber endlich ist sie aus ineinandergeschobenen Maiblumenstengeln gefügt und leistet so bedeutendes, daß die Hühner ausquartieren, die im staubigen Erdreich unter den Hangästen ihren Badeplatz haben. Die Gewächse zu den Stengeln wechseln nach den Jahreszeiten, aber das Spiel bleibt anziehend und besteht.

Der eintönige Singsang des Wasserstrahles, der in den Trog gleitet, gehört zu den Selbstverständlichkeiten, die weiter nicht auffallen, aber es ist ebenso 43 selbstverständlich, nach dem Woher des beständigen Zuflusses zu forschen.

Eine Holzrinne ist da, die aus dem Berge hervorkommt. Weiterhin liegt sie an der Oberfläche und ist mit alten, moosbewachsenen Brettern zugedeckt, die wie ein dunkles, grünes Band sich in den helleren Wiesengewächsen aufwärts ziehen. Aber an einer Stelle ist eine Lücke und die Kräuter stehen dort höher und üppiger, weil die aus der Rinne geschleuderten Tropfen sie beständig netzen.

Es unterhält ihn, dem abwärtsschießenden Kristall zuzusehen. Blumen wirft er in das Glitzergeriesel und freut sich königlich, wenn sie unten im Trog wieder auftauchen, weiß und gelb und blau, und ein wenig Rot darunter.

Die alte Rinne zieht ihn täglich weiter empor; aber noch ist er ängstlich und dünkt sich bald so furchtbar weit weg, daß es nur der rufenden Stimme der Mutter bedarf, um ihn augenblicklich in deren Arme zurückzuführen.

Die Gewöhnung ändert auch das. Er steht schließlich am Quell, und er ist bis an die Steinrücke gelangt und überhört die rufende Stimme. Er hört sie wirklich nicht, so eifrig ist er dabei, seine Schatzkammer in einer Höhlung zwischen den Blöcken einzurichten.

Und das ist notwendig. Auch die Hosentaschen eines 44 Jungen haben nur ein begrenztes Fassungsvermögen und es gilt zeitweilige Musterung unter den angesammelten Schätzen zu halten. Gegenstände, wie Messer und Bindfaden, gehören unbedingt in den Hosensack, aber der messingne Regenschirmgriff, sowie die alte, stählerne Riemenschnalle kann zeitweise entbehrt werden. Und die farbigen Gläser? Sieht man durch das rote, so sinken Gluten vom Himmel und die Gebüsche dringen gleich Feuerflammen aus der Erde, aber das blaue Glas macht alles überirdisch und feierlich. So muß es im Himmel aussehen.

Die Wahl ist wirklich schwer. Dann und wann hat er ein Stück der Schatzkammer so nötig, daß es wieder für eine Zeit in die Tasche zurückwandert; Entbehrliches wird dafür hinterlegt und neue Seltenheiten werden hinzugefügt. Es gibt soviel glänzendes Gerümpel in der Welt.

Auch andres ist dort oben: Da sind die vielen, grauen Schüsselein der Flechten und die gelben oder silberfarbenen Überzüge der Steine, und die schöngebänderten oder geschnirkelten Schneckenhäuser sind eine Freude für den kleinen Sammler. Und er sammelt immer, ja es ist ein ausgesprochener Trieb dazu in ihm, der fast beängstigend wirkt.

Er sieht auch gelegentlich nach den blauen Fernbergen draußen, aber er weiß mit ihnen nichts anzufangen. Er ist für die Ferne noch nicht reif. 45

 


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