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XI

Es waren lauter junge, irgendwie mit der bürgerlichen Moral in Widerstreit geratene Gefährten, die in dem kleinen Wirtshausgarten vor der Stadt gelegentlich zur Kumpanei zusammenkamen. Ärzte, die eben das letzte Rigorosum hinter sich gebracht und mit unverbrauchtem Zynismus ins Leben traten, Maler, die ihren zotigen Humor teils aus der Kneipe, teils aus der Kunstschule bezogen, Schriftsteller und Studenten. Der saure Wein, den sie mit Eifer tranken, glühte in ihrem Blut, führte die Gespräche über unwegsame Betrachtungen immer wieder in den Hafen einer schlüpfrigen Anekdote zurück. Hie und da versuchte einer, sich einen Ausblick zu bahnen, in einer Diskussion gewaltsam die Richtung zu bewahren, aber die Gewohnheit war stärker und tötete das Unterfangen mit einem Witz.

Eines Abends im Hochsommer hatte die Lustbarkeit länger als gewöhnlich gedauert. Es ging schon auf Mitternacht, als Blaugast sich von seinen Kameraden trennte und den Heimweg durch den stockdunklen Baumgarten einschlug. Diese Sommernächte vor zwanzig Jahren waren anders als heute. Krieg und Entsetzen erfüllte noch nicht allen Raum der Seele; man lebte gemächlich, faulenzte, betrank sich, und nach Sonnenuntergang, wenn im Sommer die großen Sterne zum Vorschein kamen, stieg eine wohlige Sinnlichkeit aus den Poren der Erde und beschwerte die Luft mit Dünsten. Blaugast trug den Hut in der Hand. Ein dünner Wind kämmte die Haare an seinen Schläfen, und der Park roch nach fernem Teichwasser und feuchter Rinde. Hinter ihm, wo die Häuser standen, aus denen er eben kam, klangen vereinzelte Geräusche auf, eine Tür fiel ins Schloß, ein Mensch pfiff durch die Finger, und ein Hund bellte. Aber je weiter er schritt, desto träger umfing ihn die Stille, zäumte den Weg mit geheimnisvoll erstarrten Bäumen, ballte niedriges Gesträuch zu kauernden Klumpen; nur der Sand knirschte überlaut unter seinen Füßen, und der Spazierstock stapfte mit dumpfem Aufschlag den Boden. Das waren die Heimgänge, die Blaugast brauchte, um im Gleichmaß der Wochen sein Leben zu fühlen. Dieses Stummsein nach durchzechten Nächten, einsame Heimfahrten, wenn die Droschke durch hallende Straßen klapperte, entschädigten ihn für die Stunden, die er bei Tage verschlief, beim Billardbrett vergeudete.

Heute gelang es ihm nicht, die Gefühle zu erklimmen, die er sonst, von Wein und Gelächter beschwingt, ohne Mühe eroberte. Blaugast hatte zuviel getrunken. Er liebte es, jenen köstlichen Übergang zwischen Nüchternheit und Rausch in sich zu erzeugen, wo die Schwerkraft des Irdischen dem Auftriebe weicht. Im Laufe der Unterhaltung, die mit unkeuschen Scherzen gemünzt war, achtete er nicht auf die Grenze. Nun quoll ihm ein lästiges Unwohlsein, gegen das er vergeblich kämpfte, mit bitterem Speichel in die Kehle. Er schwankte, stieß den Stock in den Kies, blinzelte unsicher durch die Brillengläser. Abseits vom Wege, wo sich die Dunkelheit zu einer Nische erweiterte, erspähte er etwas Weißes. Er hielt darauf zu, tappte gegen die Holzbank, die quer in der Finsternis stand, und faßte ein Weiblein, das sich nur wenig wehrte, mit den Händen.

Es war ein unflügges Ding, kaum siebzehnjährig, das geblendet in die Flamme des Zündhölzchens äugte, mit dem er seinen Fund beleuchtete. Stückweise entlockte er ihr die Beichte. Sie war das Kind eines Briefträgers, tagsüber in einem Hutmachergeschäft tätig. Mit einem Fant, den der Vater nicht mochte, war sie versprochen. Da setzte es Szenen, Vorwürfe, Prügel, denn der Alte war roh und pflegte nicht lange zu fackeln. Als er sie neulich – vorgestern war es – mit dem Galan auf der Straße getroffen, war sie erst gar nicht nach Hause gegangen. Zu feig, seinem Zorn zu begegnen, war sie umhergeirrt, hatte dann hier, auf einer Bank im Gebüsch, genächtigt. Auch im Geschäft war sie seither nicht gewesen, nur immer hier draußen und beim nächsten Bäcker um Semmeln. Nein, hungrig sei sie fast gar nicht, nur müde, sehr müde – –

Blaugast lauschte zerstreut ihrem weinerlichen Bericht. Der Wein, die Gespräche des Abends hatten ihn aufgewühlt; da kam ihm der Zufall gerade zupaß, brachte ihm etwas zum Spielen. Das Mädel schien niedlich zu sein, soviel das Streichholz gezeigt hatte, ihre Zähne blinkten beim Sprechen. Er drückte ihren Arm, der sich mollig rundete, griff unbedenklich nach ihrer Brust, war es zufrieden.

»Komm mit!« – schlug er vor. – »Ich bringe dich zu Bett, da kannst du schlafen –.«

Fast dankbar war sie bereit. Sie seufzte erleichtert, folgte gehorsam, ließ Einsamkeit, Furcht vor Nachtgespenstern in der dunklen Nische, ohne sich umzuwenden. Vor ihnen, am Ende der schwarzen Allee, begann schon die Straße, führte mit gelben Laternen unvermittelt ins Helle. Blaugast blieb stehen, musterte die Kleine, die sich angstvoll an ihn hängte, und brannte sich eine Zigarette an. Sie lächelte schwach, schüttelte die konfusen Locken, und ihr schmales Gesicht senkte sich ohne Anteilnahme.

Das Hotel, in das er sie brachte, war unbehaglich und unsauber. Eine trübe Lampe verqualmte die Wände, und die rote Nase des Zimmerkellners schob sich zudringlich in ihren Lichtkreis. Blaugast entfernte ihn mit einem Trinkgeld und verschloß die Tür mit dem Schlüssel. Die Trunkenheit, der er draußen im Verlaufe des Abenteuers fast schon entglitten war, erregte ihn neuerdings, legte sich brüchig auf seine Stimme. Er zog die Verschüchterte, die ihm fügsam zu Willen war, auf den schäbigen Diwan, schälte sie langsam aus den Kleidern. Sie duldete es ohne Widerstreben; je lüsterner er sie beraubte, desto hilfloser schien sie zu werden, bis sie in ihrer kindischen Wäsche vor ihm stand. Er hob sie auf und trug sie zu Bett. Noch im Hinsinken entschlief sie an seiner Schulter, aber er rüttelte sie, daß sie mit großen Augen aufsah, ihn mechanisch küßte, verstört seine Liebe empfing. Ein paar Minuten schwieg ihr erschöpfter Atem, dann drückte sie sich enger zur Wand, schlief wieder ein, war nicht mehr zu erwecken.

Ein bißchen ärgerlich betrachtete Blaugast seine schlummernde Beute. Er hatte sich den Abschluß reichhaltiger gedacht, überschlug in Gedanken abwägend Genuß und Kosten. Immerhin war er am Ziel; der Weinrausch, mit dem er sich noch vor einer Weile balgte, beklemmte ihn nicht mehr, nur ein leises Zittern lief noch durch seine Nerven, an das er sich wohlig hingab. Behutsam, in einer Aufwallung des Mitleids, breitete er die Decke über die Schlafende; ihre Stirn, weiß und umwölkt, lag schmerzlich zwischen den Kissen. Unschlüssig strich seine Hand ihren Scheitel, fuhr durch das Lockengewirr, das ihre Augen verhängte. Dann blies er das Licht aus, verließ zögernd das Zimmer.

 

Die Tage, die Blaugast lebte, glichen einer dem andern, von Begehrlichkeit ausgehöhlt, mit Nutzlosigkeit überbürdet. Er hatte niemals mehr seit jenem Abend der kleinen Putzmacherin gedacht, verlor die Begebenheit ganz aus dem Gedächtnis. Wenn manchmal, durch ein Wort, eine Bewegung veranlaßt, ihr sanftes Gesicht in seine Erinnerung tauchte, erkannte er es nicht wieder. Erst jahrelang später kam es zum Greifen deutlich zurück, nahm wieder Besitz von ihm, wollte ihn nicht mehr verlassen. Das war in einer der Nächte, wo ein rätselhafter Schmerz seine Muskeln zerquälte, wo er hoffnungslos, je zu gesunden, die Schuld zu begreifen suchte, die er büßte. Da war es, daß zwischen den Schatten, die vor ihm aufflatterten, dürren Eitelkeiten, hündischen Begierden, zwischen Steinfeldern, die ihm zeigten, wie leer sein Leben gewesen, die entlaufene Briefträgerstochter ins Licht trat, plötzlich, daß er betroffen nachsann und ihm alles gegenwärtig war. Und während der Stachel, von dem er gefoltert wurde, sein Fleisch verheerte, während die Nacht sich erbarmungslos dehnte, zwischen Flüchen und Gebeten nimmer ein Ende nahm, kam das vergessene Antlitz aus ihrer Tiefe, rührte bettelhaft süß sein Gewissen. In dunklem Erschrecken begriff er die Zusammenhänge, die jenes Erlebnis mit seiner Krankheit verketteten. Türen, gräßlich verriegelt, taten sich auf, winkten unbegreiflich mit Ahnungen und Geflüster. Die lustlose Liebe, die seine Jugend verwüstete, bedrängte sein Lager, der geplünderte Schlaf des Mädchens brannte hämisch, wie Tränen, in seinen Augen. Blaugast bäumte sich, spie seinen Ekel in die zusammengekrallten Fäuste, bis ein nervöser Husten ihn niederwarf, bis er zerschunden, zermürbt, ratlos verzweifelte.


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