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IX

Es war eine Pause, die minutenlang dröhnte, raumloses Ohrensausen, in dem Verschollenes brandete. Geräusche, die aus der Tiefe kamen, wimmelndes Gewürm, drohende Traurigkeit. Und wieder wie vorher, als aufgescheuchte Verwirrung aus seinem Gestrüpp floh, begann sich der Wald zu bewegen. Füße, die stampften, Finger, die Unbarmherzigkeit ballte, Hälse, die nach dem Niederbruch gierten, Rülpsen, Geschnatter, Hohn und Grimassen. Zügelloser Chor, wuchtendes Echo rief nach dem Richter. Blaugast sah durch geschlossene Lider den Plan, der vor Unruhe tobte. Stichflammenartig fiel ihn Erinnerung an, die ihn erschreckte. Das war lange her, zwanzig Jahre und darüber. Trotz lag zwischen heute und damals, ungutes Gewissen. War es nicht Trotz, der Vergeltung brachte, aus der Tiefe der Zeit, aus der Weite? – – – Blaugast entsann sich. Da war ein Abend, stockfleckig bunt, als er mit Kameraden eine Bordellreise machte. Klar, überdeutlich sah er das Lokal, die beferkelte Diele, die Siphonflasche auf dem Tische. Brüchig vergilbt das Linoleum, mit zerkrümelter Zigarettenasche und Rissen. Der Wirt hatte die Hemdärmel aufgekrempelt, die Uhr mit zersprungenem Zifferblatt knackte. Da war ein Geschöpf, fleischig und muskulös, das sich an ihn drängte. Sie kam aus Erniedrigung, arg und geduckt, roch aufdringlich nach billiger Seife. Ihn ekelte ihre Art, schleimig wie eine Qualle. Weib, was hab ich mit Dir zu schaffen? Aber hartnäckig blieb sie bei ihm, ließ sich nicht fortschieben, drohte mit Küssen. Er hob die Hand, Beifall der Dirnen spornte Hochmut in ihm, die Augen der Qualle glitzerten unstet. – Du wagst es nicht! – Doch! – Triumphierend klatschte die Ohrfeige. Haß brüllte ihn an, zuchtlose Nägel krallten nach seinem Gesicht, das Wasserglas, zornig gezielt, zerbrach an der Schmutzwand. Aber da war schon der Wirt, hielt mit den Armen die Rasende. Gezeter kollerte über sie, Ohnmacht erstarrte ihr Antlitz zur Maske. Das vergesse ich nie, niemals, du Verfluchter! – Immer, wenn Blaugast von Szenen durchliederter Jugend bedrängt wurde, kam diese Stunde im Freudenhaus mit Scham und Betrübnis. Aus Kanälen der Vergangenheit kroch es auf ihn zu, unfrohes Getier, vor dem ihm schauderte. Was war es, das so heillos hinter den Türen klopfte, in Korridoren schlurfte, unterirdisch knisterte? – War es Gott, der ihm nahe war, der mit dem Knöchel an seine Seele pochte und sie bezwang? Hundertmal hatte er ihn bereut, den Schlag ins Gesicht jener Kreatur, die zu züchtigen er sich vermessen. Sein Leben, selbst immer am Rande des Chaos, war nicht dazu angetan, über andere sich zu erheben. In den Spelunken der Stadt, den Uferschänken am Fluß, hatte er nutzlos seither nach dem Weibe gesucht, von der Absicht gequält, sich zu demütigen. Im Halbschlaf, sehnsüchtig heiß, erblickte er manchmal das Bild. Es war eine Nacht, wo Leben an seinen Fesseln riß, Hagel verlassene Straßen peitschte, Mädchen in schwarzen Tornischen unter den Lippen der Männer seufzten. Bei der letzten Laterne, frierend im Lumpenstaat, lehnte sie mit verlottertem Haar, gealtert, geschminkt, die Augen vom Hunger verbrannt. »Ich bin es, der dich vor Jahren schlug, kannst du mich noch erkennen?« Sie erkannte ihn nicht; bettelhaft stumpf ging ihr Blick über ihn, haftete ratlos an seinen Tränen. Und die Süßigkeit seines Verlangens überwältigte ihn; er beugte den Mund bis zum Saum ihres Ärmels. Barmherzigkeit, daß er sie doch gefunden, schüttelte seinen Körper, warf ihn zu ihren Knien. – Blaugast bohrte entzündete Augen in Dunkelheit, wo grollender Urwald brauste. Wieder war das Gefühl in ihm, an das er sich zitternd hängte, daß alles nur Trug war, gehässig, lemurenhaft, Herzdruck und würgender Atem. Er verstand dieses Leben nicht, das mit Schiebetüren und Fallen im Unwegsamen mündete. Er sah sich als junger Mensch im Ordinationszimmer des Arztes. Die Miene war ernst, das Achselzucken heischte Entschuldigung. »Wie wird es ausgehen, Doktor, sprechen Sie, – bös? –« »In zwanzig bis dreißig Jahren stellen sich manchmal Nervenleiden ein. Aber es muß nicht sein. Es ist wie ein Eisenbahnunfall, der einen trifft, verstehen Sie? – Natürlich ist es besser, man fährt nicht mit der Eisenbahn! –« Das war vorsichtig, rücksichtsvoll, orakelhaft listig. Aber es ließ Luftspalten offen, in denen die Nachtbrut nistete. Was war geschehen? – Die Lokomotive, die ihn trug, die mit roten Lichtern ins Ungewisse fuhr, war sie im Abgrund gelandet? – Warum hörte er plötzlich den Notschrei der Welt so furchtbar, warum gellte der Gram der Menschheit in seinen Ohren, Sirenen der Wahnsinnigen, Mütter, die ihre Kinder riefen, Verdammte, die sich bekreuzten? – Das vergesse ich nie, niemals, du Verfluchter! – Schuld, Schuld, Schuld war das Leben, Schuld, die sich bäumte, in Krämpfen delirierte, gemartert niederbrach. Wie kam es, daß viele in Festigkeit wuchsen, Examina machten, Heiraten eingingen, getröstet bei Gräbern weinten? Da waren Städte mit Brücken, Häuser mit hundert Zimmern. Durch papierdünne Wand voneinander getrennt wohnten Menschen nebeneinander. Begehrlichkeiten schlichen argwürdig durch die Fugen, in der Luft, überladen mit Dünsten, löschten Kronleuchter aus. Knaben, die mit den Jahreszeiten der Seele rangen, schliefen schwermütig neben Verfemten, Herrische neben Knechten. Lärm stieg sinnlos aus Schächten und verhallte. Blaugast konnte es nicht begreifen. Er sah die Kindesmörderin, die wie eine Gekreuzigte mit gebreiteten Armen am Balken der Finsternis hing. Und ein Wind, der gebieterisch die Ebene spaltete, riß eine Gasse in den Urwald. Im Getümmel, das flutend vor ihm zurückwich, kam ein Mann auf die Reglose zu, in flatterndem Mantel, der ein Gesicht wie ein Schauspieler hatte. Er neigte den stolzen Kopf und befahl ihr: Weine! – Und als sie schwieg, den Mund von Verachtung gekrümmt, mit schäumender Fratze, rührte er sie mit Händen an: Du sollst weinen, Schwester, du sollst weinen! – Da war es ein Unbegreifliches, das sie hochhob, mit der Stirn ihm zu Füßen drückte. Stöhnen, überirdische Not folterten ihren Körper. Es war ein Bach, der an Trümmern zerschellte, ein Strom, der ihr Leben nahm und ins Unbekannte entführte. Da schwammen Nächte, die sie gefürchtet hatte, kleinmütige Angst, Dirnenlieder und Tänze. Zorn, der mit bröckelnden Zähnen knirschte, Träume der Mörderin, Gefängnisgitter, Gelächter. Schnaps, der abgestanden in Gläsern faulte, Gesang zur Ziehharmonika, unzüchtige Griffe, Kuß der Betrunkenen. Und als sie weinte, als ihre Tränen kamen, jahrelang vergessen, jahrelang begraben, als sie Staub und Entheiligung wimmernd im Fieber auf den Boden erbrach, tönte die Stimme des Boten, eine unendlich ruhige, unendlich zärtliche Stimme: Laß die Erde den andern, Schwester! – Nur für Menschen wie Dich hat Gott sein Paradies bereitet. – Sie hob den Kopf, sah seinen Mund, und die Bitterkeit, die sie verströmte, wurde lieblich. Und während er weitersprach, sanftmütig tröstete, vom Söhnlein daheim, das aufs Mütterchen wartet, vom kleinen Walter, ihrem Kinde, während im Herzen groß, unwiderstehlich der Himmel aufstieg, während das Feld sich wandelte, der Urwald versank, die Sonne über den Fluren strahlte, erwachte Blaugast aus seinem Traum. Fernher, mit Frühglockenläuten, das langsam entschwand, vernahm er noch lauschend das Wort, das die Gerichtete leise, vom Wunder verstört, mit der schweren Zunge der Betenden in gefaltete Hände stammelte: Du bist voll der Gnaden. Der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern.


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