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II

Wenn Blaugast an seine Jugend zurückdachte, gelangte er unwillkürlich zu Vergleichen, die ein Gefühl neidvoller Abgekehrtheit in ihm bis zum Hasse steigerten. Er war vierzig Jahre alt geworden, bevor ihm allmählich klar wurde, daß die überschwengliche Form seiner Weltverbundenheit einer besonderen Art entsprang, Äußeres in sich zu empfinden. Die erfinderische Manier, mit der die Leute seiner Bekanntschaft sich und die anderen abfanden, hatte er lange für Pose gehalten, für fixe Technik im Innern Bedrückter, die gleich ihm mit der robusten Deutlichkeit der Erscheinung haderten, ohne sie lückenlos einzuverleiben. Im Zwielicht quälerisch verbrachter Kindheit war er zuerst auf Dinge gestoßen, deren gestaltlose Existenz ihn später beherrschte, die er schwermütig als ein Gegebenes hinnahm. Da waren vereinzelt und scheu im Beginn zuerst die Tränen gekommen, wenn Abendschatten sich über die Höfe neigten, stahlblau und rostbraun das Viereck umgrenzten, innerhalb dessen ein Gärtchen wucherte, zwischen Stachelbeersträuchern kümmerlich tragisch ein Pflaumenbaum wuchs. Drehorgel und Mundflöte waren die Musik, die eine Besessenheit in ihm erweckten, wenn Rußflocken in der Vormittagssonne tanzten, Küchendampf schwelte, Straßengezänk den Auftakt eines Lebens bestimmte, das ihn am Rande der Großstadt verworren bedrückte. Vereinsamung, die sich linkisch vor Anbiederung abschloß, Sentimentalität, die er ins Unbewußte verdrängte, waren die Erbschaft, die er als Vorbedeutung empfing. Und mit dem räuberischen Zugriff unverstandener Gewalt, hämisch und abgefeimt, näherte sich ihm aus planlosen Gründen das Untier des Geschlechts.

Da war das Jahr, wo ihn eines Morgens der Aufschrei aus dem Schlafe riß, der zwischen Wänden der Nachbarswohnung verröchelte, marternd sich wiederholte, wie ein Mörder aus seiner Zelle ausbrach, dessen Echo das Haus alarmierte, geschäftige Tritte und Türenschlagen. Bestürzt war er im Hemd aus dem Zimmer geeilt.

»Mutter, was war das?« –

Verlegener Unmut brachte ihn lachend ins Bett zurück.

»Die Zwirnhändlersfrau hat ein Kind bekommen.« Seit diesem Tage hatte ihn Angst überfallen, eine heimtückisch nagende, in unsauberen Leitungsrohren erfrorene Angst, die Gutgläubigkeit und Vertrauen nach verbotenen Ausgängen durchmusterte, in abgestandenen Phantasien die Neugier entfachte. Er sah die aufgetriebenen Leiber der Schwangeren, die im Frühjahr mit seltsam gespannten Gesichtszügen vor den Haustoren faulenzten, und sein Blut floß verräterisch durch die Aderstränge des Halses.

Irgendwie, mit einer brutalen Triebkraft, war plötzlich das Böse in seine Nähe gekommen. Schon als ganz kleinen Knaben, wenn er vor dem Einschlafen die Hände zum Nachtgebet faltete, hatte ihn Wissen vom Teufel gepeinigt, der unterirdisch, hinter dem Lande der Einfalt die Hölle beherrschte. Jetzt waren die Tore entriegelt, Feuerbrand leckte am Gehölz, und der Atem der Satanskinder keuchte. Von Heimsuchungen umtürmt, die er nutzlos begreifen wollte, fand er sich rettungslos von einem Feind umstellt, den die Menschen nicht nannten. Aber seine Gegenwart war unabweisbar und grausam. Sie tat sich in stockenden Dialogen kund, Ausrufen und liederlichen Scherzen, in Türspalten und Flurwinkeln, wo Getuschel verstummte, wenn er erhitzte Gespräche mit Fragen störte. Sie offenbarte sich auf Zeitungsfetzen und Mauerwänden in schamlosem Gekritzel, Zeichnungen und skandalösen Zinken, die er trübe betrachtete, die einen rätselhaften Druck in der Magengrube erzeugten, Aufregungen und kolikartige Übelkeit.

Frühzeit und erste Schuljahre gingen vorbei, immer vom Zaudern, der unentschiedenen Bangigkeit belastet, die unstete Ahnungen ins Ungemessene vergrößerten. Wenn er im Sommer, wo die Sonne der Julitage die Luft in den Stiegengängen stickhaft erwärmte, die Ferien auf der mit Aschenkübeln bepflanzten Pawlatsche vertat, Seifenblasen über Hofgärten blies, Taubenschwärme über hohen Kaminen mit den Blicken verfolgte, gesellten sich manchmal die Töchter des Greislers zu ihm, der im Geviert eines winzigen Gassenladens ein Geschäft mit Knöpfen, Schmierseife, Salamiwurst und Speisehefe betrieb. Es waren schöne, feingliedrige Kinder, die er heimlich bestaunte, die in der dürftigen Armut seiner Umgebung mit kupfernen Haarzöpfen und dem rosigen Fleischton der Haut wie schmeichlerischer Luxus wirkten. Besonders die jüngere der Schwestern hatte eine leidenschaftliche Art, an seinen Spielen teilzunehmen, verfängliche Situationen mit Wagemut zu ersinnen, die ihn unsicher machte und abstieß. Es kam vor, daß er die fanatische Blässe ihres Gesichts mit Gefühlen belauerte, vor denen er auf der Flucht war.

Zwischen Stiegenhaus und dem Eingang zur Nachbarswohnung war die Türe zum Wäscheboden. An Nachmittagen, wenn die Bruthitze unter den Dachbalken den Regen prophezeite, war er der Mutter auf der morschen Holztreppe gefolgt und hatte in der blauroten Dämmerung des Raumes die Stille belauscht, die hartnäckig und unerträglich über dem Kistenkram schwebte. Der Lärm der Gasse, Leierkastengetön und Geknatter des Windes waren als halblautes, kaum vernehmbares Wispern zurückgeblieben, gedämpftes Echo entfernter Geräusche, als ihr verwunderter Widerhall. Das Geheimnis dieses Verstecks nahm ihn gefangen. Im Schlaf, der ihn jede Nacht wie ein Abenteuer betäubte, mit Blinkschein in seine Landschaft verführte, sah er sich oftmals vor der versperrten Dachstiege stehn und warten. Er wartete mit einer aus Kummer und Widerwillen gemischten Entschlossenheit. Sein Haar, von Schweiß verklebt, troff ihm feucht in die Stirne, und sein Knabenherz schlug. Wenn er dann aufwachte, aus der Umklammerung freikam, saß er mit schreckhaft geöffneten Augen im Bett und suchte sich zu besinnen. Irgendwo scharrte und tappte es, das Haustor krachte, und ein Betrunkener kehrte im unteren Stockwerk in seine Wohnung heim. Das waren die Nächte, wo Blaugast die Warnung zuging, gegen die er sich fassungslos wehrte, die seinen Verstand mit Lustlosigkeit ermüdete, blindwütig befleckte.

Einmal, als seine Eltern in der Stadt ihre Besorgungen machten und ihn allein in der sommerlichen Langeweile des Hauses zurückgelassen hatten, sah er die Bodenkammer offen stehn. Die Luft, die der Tag zu einer schwerflüssigen Masse eindampfte, hatte einen stechenden Glanz bekommen. Eine brandig geränderte Wolke verfinsterte vorübergehend die Sonne, als er die Stufen hinaufstieg und den hellen Rock der Greislertochter hinter der Lattentüre erkannte. Mißtrauisch, mit der ungeklärten Empfindung, Verbotenes zu verüben, schob er sich langsam näher. Als er im Halblicht sich räusperte, riß ihn der Schrei des Mädchens zurück, daß er wortlos erstarrte, mit Bestürzung gewahr wurde, daß seine Knie zitterten.

»Was willst du?« – stotterte sie, und seine Erregung sprang unversehens auf sie über.

Er stammelte nur. Er wandte sich ab, wollte mit schweren Füßen ins Freie. Aber er stolperte über den Wäschekorb, blieb mit hängenden Armen stehen. Eine Minute verging, die eiskalt und siedeheiß drückte. Dann kam ihre Hand, zog ihn tiefer in eine Nische. Auf einem umgestülpten Trog saßen sie dicht nebeneinander. Sie war bloßfüßig. Ihre nackten Beine leuchteten weiß in der Dunkelheit.

Immer, wenn Blaugast später als junger Mensch in den Niederungen versank, die eine aus Selbstqual entbundene Sinnlichkeit für ihn bereit hielt, trat dieser Nachmittag in der Dachbodenklause in sein Gedächtnis zurück. Geflüster kroch auf ihn zu, das von der Weisheit der Gasse herkam, die ihre Bekenntnisse verstohlen in den Mörtel der Wände ritzte. Worte verhuschten flink, die mit der Lithurgie des Bösen verkuppelt waren und die Zunge verunreinigten. Unheilige Kinderlippen suchten heiß seinen Mund, ihr Kleid rutschte höher und seine Hände verirrten sich zweifelnd.

Er war damals mit schmerzenden Schläfen ins Taglicht getaumelt, das ein aufziehendes Gewitter mit panisch veränderten Schatten färbte. Das Rätsel der Welt, um das er sich mühte, das wie ein ungeheuerer Angsttraum den armseligen Himmel seiner Knabenzeit besternte, hatte sich nicht entschleiert. Es war zwiespältiger geworden, trübäugiger und unseliger. In geisterhaft überwölbten Bohrlöchern gurgelte Unrat, Aussätzige schlurften verloren in Labyrinthen, bettelten gierig um Freude. Wo war die Hand, die ihre Geschöpfe mit Flammen peinigte? Und wo war die Liebe?

In Büchern, auf fromm illustrierten Blättern zerlesener Romanhefte war manchmal von ihr die Rede. Mütter saßen in blanken Stuben. Ihr Lächeln strahlte, schimmerte fraulich. Schwestern hantierten holdblond im Raum, Bräute winkten von beblumten Balkonen. Aber in süchtig geweiteten Augen flackerte jenes Feuer, das den Erdball verzehrte. Unter trügerischen Gewändern hatten sie nackte, verruchte Schenkel wie das Mädchen am Wäscheboden. Blaugast spähte geblendet nach einem Ausweg.

Das war die kantige Last, die er aus dem Elternhause ins Leben mitnahm. Sie war wie eine Eisenkugel an seinem Schritt geschmiedet, hartnäckig und widerspenstig, plump und verächtlich, schamlos und unwiderruflich. Er vermochte sich nicht von ihr zu befreien. Wenn er in ausschweifenden Begebenheiten der Jünglingsjahre die Gunst leichtfertiger Weiber mit der Ekstase genoß, die sein Verhältnis zum anderen Geschlecht von Anbeginn charakterisierte, war es ein Pakt mit der Unterwelt, eine Hoffnungslosigkeit, die sich im Kreise bewegte, Gewissensfolter und Trauer. Immer wieder, wenn die Küsse der Dirnen ihn überfielen, war das Verlangen in ihm, Gott zu begegnen. Sein Fleisch verkohlte wie Zunder, Atem der Fäulnis wehte ihn an, aber er war von dem Drange verzückt, der dem Ewigen nachging, dessen er glühend bedurfte.

Einmal nur, eine lächerlich kurze Zeit, zwei Sommer und einen Winter, war in der Wildnis eine Lichtung gewesen. Als die barmherzige Frau sich seiner annahm, die irgendwoher, aus belanglosen Hintergründen, sich näherte, den Gealterten in das stille Joch ihrer Zweisamkeit zwängte, Mütterlichkeit über ihn breitete, der er sich glückshungrig überließ. Ihr Tod, der sie niederwarf, als der Spiegel der Welt sich freundlich erhellte, stieß ihn in den Taumel zurück, der ihn von stumpfer Büroarbeit ins Hinterzimmer begleitete. Dort, wo er entseelt die Grimassen verfluchte, die sich betulich an ihm rieben, verlor er die Kraft zur Erneuerung in unfruchtbarem Entsetzen. Und es war kein Wille mehr in dem Weg, den er einschlug, als die Gewitternacht ihn ins Freie lockte, als er im gleißnerischen Licht der Laterne mit Schobotzki zusammentraf, dem er sich überlieferte.


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