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Fünfzehntes Kapitel.
Bittere Wonnen

Ein Sturm von Geschäftigkeit tobte durch das Haus. Vor Oktober ging Ursula nicht zur Hochschule. So arbeitete sie also mit einem ausgesprochenen Gefühl ihrer Verantwortlichkeit, als müsse sie sich grade in diesem Hause zum Ausdruck bringen in Aufstellen und Umstellen, in Aussuchen und Zusammenholen.

Sie verstand die einfachen Werkzeuge ihres Vaters sowohl für Holz wie für Metall zu gebrauchen, und so hämmerte und klempnerte sie demnach lustig drauflos. Ihre Mutter war ganz damit zufrieden, die Sachen in Ordnung gebracht zu sehen. Brangwen selbst verhielt sich teilnehmend. Er glaubte ja nur zu gern an seine Tochter. Er selbst war mit dem Bau einer Werkstatt im Garten beschäftigt.

Schließlich war sie fürs erste fertig. Das Wohnzimmer sah noch sehr groß und leer aus. Der gute Wilton-Teppich lag darin, auf den sie alle so stolz waren, und das große Sofa und die großen Lehnstühle mit den Kattunüberzügen, und das Klavier, ein kleines Bildwerk in Gips, das Brangwen selbst gearbeitet hatte, und weiter nicht viel. Es war zu groß und leer, als daß sie es viel benutzt hätten. Und doch freuten sie sich in dem Gefühl es vorhanden zu wissen, bei all seiner Größe und Leere.

Das eigentliche Heim war das Eßzimmer. Hier hellte die große Schilfmatte den Boden auf, sie erhellte ihre Herzen von unten her; in dem großen, ausbuchtenden Fenster war ein schöner, sonniger Sitzplatz, der Tisch war so mächtig, daß niemand ihn verrücken konnte, und die Stühle waren so schwer, daß man sie umwerfen konnte, ohne sie zu beschädigen. Die von Brangwen selbst gebaute Hausorgel stand an der einen Seite und sah ganz merkwürdig klein aus, die Anrichte hatte grade die richtigen Verhältnisse, um bequem zu sein. Dies war also ihr Hauptaufenthalt.

Ursula hatte eine Kammer für sich. In Wirklichkeit war es ein Dienstbotengelaß, klein und schlicht. Sein Fenster ging über den Hintergarten nach andern Hintergärten hinaus, von denen ein paar sehr alt und hübsch waren, andere dagegen mit alten Kisten vollgestopft, und dann weiter auf die Rückseite der Häuser, in denen vorne die Läden der Hochstraße lagen, oder die hübschen Heimstätten der Grubenbeamten oder Hauptkassierer gegenüber der Kapelle.

Sie hatte noch sechs Wochen bis zur Hochschule. Während dieser Zeit las sie hastig etwas Latein und Pflanzenkunde und arbeitete auch an der nötigen Mathematik. Sie wollte ja doch die Hochschule zu ihrer weiteren Ausbildung als Lehrerin besuchen. Aber da sie schon ihre Reifeprüfung abgelegt hatte, war sie für einen Universitätslehrgang eingeschrieben. Am ersten Jahresschluß wollte sie ihre Vorprüfung ablegen und nach zwei Jahren dann die für das Bakkalaureat. So lag bei ihr der Fall nicht wie bei einer gewöhnlichen Lehrerin. Sie durfte mit den freien Studenten zusammen arbeiten, die lediglich ihrer Erziehung wegen kamen, und brauchte sich nicht ausschließlich auf ihren Beruf vorbereiten. Sie gehörte zu den Erlesenen.

Die nächsten drei Jahre würde sie wieder mehr oder weniger von ihren Eltern abhängen. Ihre Ausbildung war frei. Ihre gesamten Schulgelder wurden von der Regierung bezahlt, und sie bekam außerdem noch jedes Jahr ein paar Pfund. Die würden zur Bezahlung ihrer Fahrkosten und ihrer Kleidung genügen. Demnach würden ihre Eltern sie nur zu ernähren haben. Sie wollte ihnen keine großen Kosten verursachen. Sie würden ja auch nichts übrighaben. Ihr Vater würde nur zweihundert Pfund jährlich bekommen, und ein gut Teil vom Vermögen ihrer Mutter war bei dem Hauskauf draufgegangen. Immerhin hatten sie noch genug, um damit weiter zu kommen.

Gudrun besuchte die Kunstschule in Nottingham. Sie arbeitete besonders in Bildhauerei. Für die besaß sie große Anlagen. Sie machte sehr gern kleine Puppen in Ton, von Kindern oder Tieren. Ein paar von diesen waren schon auf der Schülerausstellung im Schloß gewesen, und Gudrun genoß bereits einen gewissen Ruf. Sie schimpfte auf die Kunstschule und wollte gern nach London. Aber dazu war das nötige Geld nicht da. Ihre Eltern wollten sie auch nicht so weit von sich lassen.

Therese war mit der Töchterschule fertig. Sie war ein großes, stämmiges, keckes Mädel, gleichgültig gegen alle höheren Ansprüche. Sie wollte zu Hause bleiben. Die andern waren alle auf der Schule, mit Ausnahme der Jüngsten. Mit Wiederbeginn der Schule sollten sie alle auf die Lateinschule in Willey Green gehen.

Voller Aufregung wünschte Ursula in Beldover Bekanntschaften zu machen. Diese Aufregung ging rasch vorüber. Sie war zum Tee beim Pfarrer, beim Apotheker, bei dem andern Apotheker, beim Doktor, bei verschiedenen Grubenbeamten, – dann kannte sie tatsächlich jedermann. Sie konnte die Leute nicht sehr ernst nehmen, wenn sie es im Augenblick auch wünschte.

Au Fuß und auf ihrem Rade durchwanderte sie das Land, fand es nach dem Walde hinüber wundervoll, zwischen Mansfield und Southwell und Worksop. Aber das waren ja alles nur Plänkeleien. Ihre wirkliche Forschertätigkeit sollte erst auf der Hochschule beginnen.

Das Halbjahr begann. Alle Tage fuhr sie mit der Bahn in die Stadt. Das klösterliche Schweigen der Hochschule begann sie zu umschließen.

Zuerst war sie durchaus nicht enttäuscht. Das mächtige, steinerne Schulgebäude, das in einer ruhigen Straße lag, mit einer Einfassung von Rasen und Lindenbäumen war so friedlich: sie empfand es als ein fernes, verzaubertes Land. Seine Bauweise war albern, wie sie von ihrem Vater wußte, aber es war doch anders als alle übrigen Gebäude. Seine mancherlei hübschen, wenn auch spielerischen gotischen Formen wiesen beinahe Stil auf für die schmutzige Arbeiterstadt.

Die Halle mit ihrem großen steinernen Kamin und den gotischen Bogen, auf denen oben ein Söller ruhte, hatte sie gern. Gewiß, die Bogen waren häßlich, die Bildhauerei an dem Wappenschmuck über dem steinernen Kamin sah aus wie aus Pappe und machte sich doppelt lächerlich grade gegenüber dem Fahrräderstand und der Warmwasserheizung, während an der gegenüberliegenden Seite das mächtige schwarze Brett mit seinen flatternden Papieren jede Empfindung von Abgeschiedenheit und Geheimnisvollem wegzublasen schien. Aber wenn es auch noch so geschmacklos war, es lag etwas darin, was sie an die wundervollen, klösterlichen Ursprünge des Erziehungswesens erinnerte. Ihre Seele flog unmittelbar ins Mittelalter zurück, wo die Mönche Gottes die Gelehrsamkeit hochhielten und sie den Menschen im Schatten der Gottesfurcht vermittelten. In diesem Geiste zog sie in die Hochschule ein.

Die Einfachheit und Alltäglichkeit der Gänge und Kleiderablagen tat ihr zuerst sehr weh. Warum war denn nicht alles gleich schön? Aber sie durfte ihren Widerspruch doch nicht offen zugeben. Sie stand auf heiligem Boden.

Sie hätte gern gesehen, alle Studenten hätten einen reinen, hohen Sinn mitgebracht, hätte sie gern nur wahre, goldechte Dinge sagen hören, hätte ihre Gesichter gern still und leuchtend wie die der Nonnen und Mönche gesehen.

Ach, und die Mädchen schwatzten und kicherten und waren empfindlich, sie putzten sich und trugen gebrannte Haare, die Männer sahen gewöhnlich und tölpelhaft aus.

Und doch war es so wunderschön, mit seinen Büchern unterm Arm durch die Gänge dahinzuschlendern, die große Glastür aufzustoßen und in den mächtigen Raum einzutreten, in dem ihre erste Vorlesung gehalten werden sollte. Die Fenster waren weit und luftig, die unzähligen braunen Tische der Studenten standen wartend da, die große schwarze Tafel hinter dem Pult war noch leer.

Ursula saß neben einem Fenster, ziemlich weit hinten. Als sie hinuntersah, fiel ihr Blick auf die gelbwerdenden Lindenbäume und einen lautlos die still im Herbstsonnenschein liegende Straße hinuntertrabenden Laufburschen. Da lag die Welt, fern, so fern.

Hier, innerhalb der großen, flüsternden Seemuschel, in der es fortwährend von Erinnerungen an alle Jahrhunderte raunte, verblaßte die Zeit, und der Widerhall der Wissenschaft erfüllte ein zeitloses Schweigen.

Sie hörte zu, kritzelte mit Freuden ihre Bemerkungen nieder, fast in Verzückung, und dachte keinen Augenblick daran, was sie hörte in Zweifel zu ziehen. Der Vorlesende war ein Sprachrohr, ein Priester. Wie er da in seinem schwarzen Gewande vor dem Pulte stand, war es ihr, als würden ein paar Strähne des verworrenen Geflüsters der Wissenschaft, von dem der ganze Platz erfüllt war, von ihm ausgesucht und zusammengeflochten, so daß sie eine Vorlesung bildeten.

Zuerst hielt sie sich jeder zweifelnden Nachprüfung fern. Sie wollte die Lehrer nicht als Menschen auffassen, als gewöhnliche Menschen, die Schinken aßen und sich Stiefel anzogen, bevor sie in die Vorlesung gingen. Sie waren ihr schwarzgewandete Priester der Wissenschaft, auf ewig in einem abgelegenen, stillen Tempel dienend. Sie waren Geweihte, Anfang und Ende des Geheimnisses lagen in ihrer Hut.

Eine merkwürdige Freude hatte sie an den Vorlesungen. Es war ihr eine Freude, über die Grundsätze der Erziehung zu hören, es lag so viel Freiheit und Vergnügen darin, den ganzen Wissensstoff nach Fächern zu ordnen und zu sehen, wie er sich verändert hatte und lebte und ein eigenes Dasein besaß. Wie glücklich Racine sie machte! Warum, wußte sie nicht. Aber als die großen Linien seiner Stücke sich so stetig vor ihr entfalteten, so abgemessen, da kam sie sich vor, als wäre sie nun ins Reich der Wirklichkeit eingedrungen. In Latein arbeitete sie an Livius und Horaz. Der merkwürdige, klatschhafte Plauderton der lateinischen Klassen paßte recht gut zu Horaz. Aber sie machte sich weder aus ihm noch aus Livius viel. Der klatschhaften Klasse fehlte es so vollkommen an jedem Ernst. Sie versuchte krampfhaft, sich ihren früher gewonnenen Halt am römischen Geist zu bewahren. Aber allmählich wurde ihr Latein zu reinem Klatsch und zu etwas Gekünsteltem, einer Frage von Worten und Redensarten.

Ihr ganzer Schrecken war die Mathematikklasse. Der Vortragende ging so rasch weiter, ihr Herz schlug derart, daß ihre Nerven aufs höchste gespannt waren. Und sie kämpfte in häuslichem Unterricht hart, sich den Stoff zu eigen zu machen.

Dann kamen die reizenden, ruhigen Nachmittage im Arbeitsraum für Pflanzenkunde. Nur wenige Studenten waren da. Wie gern saß sie auf ihrem hohen Stuhle vor dem Tische, mit ihren Pflanzenfasern und ihrem Messer und dem anderen Arbeitszeug, sorgfältig ihre Schnitte zurechtmachend, sorgfältig ihr Vergrößerungsglas einstellend, und dann voller Freude ihre Beobachtungen feststellend, und stolz in ihr Buch einzeichnend, wenn der Schnitt gut ausgefallen war.

Bald erwarb sie sich eine Freundin, ein Mädchen, das in Florenz gelebt hatte und das meistens ein wundervolles purpurnes oder gemustertes Halstuch über ihrem einfachen, dunklen Kleide trug. Es war Dorothea Russell, die Tochter eines Rechtsanwalts aus einer der südlichen Grafschaften. Dorothea lebte bei einer unverheirateten Tante in Nottingham und verbrachte ihre freie Zeit damit, sich für die Volks- und Staatswissenschaftliche Frauengesellschaft abzuschinden. Sie war ruhig und fleißig, mit elfenbeinernem Gesicht und dunklem Haar, das sich ihr in schlichten Ringen über die Ohren legte. Ursula hatte sie sehr gern, war aber bange vor ihr. Sie schien so alt und so erbarmungslos gegen sich selbst. Und doch war sie erst zweiundzwanzig. Sie kam Ursula immer wie eine vom Schicksal gezeichnete vor, wie eine Kassandra.

Die beiden Mädchen schlossen eine enge, ernste Freundschaft. Dorothea arbeitete auf allen Gebieten mit der gleichen Leidenschaftlichkeit und schonte sich niemals. Am engsten schloß sie sich an Ursula in der Pflanzenkunde an. Denn sie konnte nicht zeichnen. Ursula führte wundervolle, schöne Zeichnungen nach ihren Schnitten unter dem Glase aus, und Dorothea kam immer zu ihr, um etwas von der Art der Zeichnung zu lernen.

So verlief ihr erstes Jahr in prächtiger Abgeschlossenheit und eifrigem Lernen. Ihr Hochschulleben war anstrengend wie ein Kampf, und dabei doch so ruhevoll wie der Friede.

Morgens ging sie zusammen mit Gudrun nach Nottingham. Wohin sie auch kamen, die beiden Mädchen fielen überall auf, schlanke, starke Mädchengestalten, eifrig und sehr empfindlich. Gudrun war die schönere von beiden mit ihrer schläfrigen, halbmatten Mädchenhaftigkeit, die etwas so Sanftes hatte und dahinter doch so fest im Gleichgewicht war und so bestimmt. Sie trug weiche, weite Kleider, und Hüte, die ganz von selbst eine eigentümliche Anmut anzunehmen schienen.

Ursula war viel sorgfältiger gekleidet, aber sie war selbstbewußt, verfiel beständig in Bewunderung irgend jemandes und suchte sich nach dem betreffenden umzugestalten, und so brachte sie es zu nichts als hoffnungsloser Ungereimtheit. Zog sie sich zur Arbeit an, so sah sie dagegen sehr gut aus. Wenn sie im Winter in ihrem Tweed-Straßenkleid und einem kleinen, über ihr eifriges, aufgeregtes Gesicht heruntergezogenen schwarzen Pelzhütchen ausging, schien sie in einer aus Spannung und aufs höchste gesteigerter Aufnahmefähigkeit zusammengesetzten Bewegung die Straße hinunter zu eilen.

Am Schlusse des ersten Jahres machte Ursula ihre Vorprüfung durch und ließ dann eine Unterbrechung ihrer eifrigen Tätigkeit eintreten. Sie wurde langsamer, ließ endlich ganz und gar nach. Aufgeregt und entflammt durch die Vorbereitungen zu ihrer Prüfung und durch eine Art gehobener Stimmung, die ihr über die Prüfung selbst hinweghalf, verfiel sie nun in eine zitternde Untätigkeit, ihr Wille gab nach.

Sie gingen alle für einen Monat nach Scarborough. Gudrun und ihr Vater waren dort an der Sommerschule für Handfertigkeit tätig, Ursula blieb ein gut Teil mit den Kindern allein. Sobald sie aber konnte, ging sie für sich allein aus.

Sie stand und sah über die schimmernde See. Sie kam ihr so wunderschön vor. Heiße Tränen stiegen ihr aus dem Herzen empor.

Aus dem weiten, weiten Raum trieb langsam ein leidenschaftliches, noch ungeborenes Sehnen in ihr Herz hinüber. »So manche Dämmerung stieg noch nicht empor.« Es schien ihr, als riefen alle noch nicht emporgestiegenen Dämmerungen von dort, von jenseits des Randes der See sie an, alles noch Ungeborene ihrer Seele schrie nach den noch nicht emporgestiegenen Dämmerungen.

Wie sie so über die zarte See mit ihrem entzückenden, raschen Schimmer hinsah, hob ein Seufzer ihre Brust, bis sie plötzlich ihre Lippe mit den Zähnen fassen mußte und die Tränen sich ihr dennoch entrangen. Und mitten in diesem Seufzer mußte sie lachen. Warum weinte sie denn? Sie hatte ja gar nicht weinen wollen. Es war so schön, daß sie lachen mußte. Es war so schön, daß sie weinen mußte.

Argwöhnisch sah sie sich um, in der Hoffnung, niemand habe sie in dieser Verfassung gesehen.

Dann kam eine Zeit, wo die See rauh war. Sie beobachtete das Eindringen des Wassers auf die Küste, sie beobachtete eine große Welle zuerst ganz unbemerkbar herankommen und dann in einer Riesenschaummasse sich gegen einen Felsen brechen, alles mit ihrer weißen Schöne einhüllend, dann wieder verlaufend und den Felsen nackt und schwarz stehend lassend. Ach, wäre die Welle doch nur ganz frei geworden, als sie sich in ihrer weißen Schöne brach!

Zuweilen trieb sie sich ein wenig am Hafen herum und sah sich die braungebrannten Fischer an, die in ihren dicht anliegenden blauen Jumpern auf dem Hafendamm herumbummelten und sie mit unverschämten, vielsagenden Blicken wieder ansahen.

Es bildeten sich gewisse Beziehungen zwischen ihr und ihnen aus. Nie hätte sie zu ihnen gesprochen oder mehr über sie in Erfahrung zu bringen versucht. Und doch, wenn sie vorbeiging, wie sie sich so über die Molenbrüstung lehnten, dann entstanden innere Beziehungen zwischen ihr und ihnen, scharfe, entzückende, schmerzhafte. Am liebsten hatte sie den ganz jungen mit seinem hellen, salzigen Haar, das ihm bis über die Augen fiel. Er war noch so neu und frisch und salzig, noch so gar nicht von dieser Welt.

Von Scarborough aus fuhr sie zu ihrem Ohm Tom. Winifred hatte ein Kleines, das gegen Ende Sommers geboren war. Sie war Ursula fremd geworden, ihr fern gerückt. Zwischen den beiden Frauen bestand eine unnennbare Zurückhaltung. Tom Brangwen war ein sehr aufmerksamer Vater, ein sehr häuslicher Gatte. Aber es lag etwas Unechtes in seiner Häuslichkeit. Ursula mochte ihn nicht mehr. Etwas Häßliches, Lärmendes trat jetzt bei ihm zutage, und zudem suchte er alles von der empfindsamen Seite aus zu betrachten. Ursprünglich grobstofflich in seinem Unglauben, versuchte er nun die Leute durch Hervorkehren tiefsten Menschlichkeitsgefühls hinzureißen, war er ein warmer, aufmerksamer Wirt, ein liebenswürdiger Gatte, ein vorbildlicher Bürger. Und fing es klug genug an, um damit überall Bewunderung zu erregen und seine Frau gleichfalls anzuführen. Sie liebte ihn nicht. Sie war zufrieden, mit ihm in einem Zustande ruhigen Selbstbetrugs zu leben, sie arbeitete ganz, wie es ihm gefiel.

Ursula fühlte sich freier, als sie wieder nach Hause fuhr. Sie hatte noch zwei Jahre voller Frieden vor sich. Auf zwei Jahre hinaus war ihre Zukunft sichergestellt. So ging sie zur Hochschule zurück, um sich für ihre Schlußprüfung vorzubereiten.

Aber schon im ersten dieser Jahre begann die Hochschule ihren Zauberglanz zu verlieren. Die Lehrer waren keine Priester, eingeweiht in die tiefsten Geheimnisse des Lebens und der Wissenschaft. Sie waren am Ende nichts weiter als Mittelsmänner, Händler von Waren, an die sie sich bereits so sehr gewöhnt hatten, daß sie sich nichts mehr aus ihnen machten. Was war schließlich Latein? – Schnittware der Wissenschaft. Was war die Lateinklasse anders als ein minderwertiger Trödelladen, in dem man allen möglichen alten Schund kaufen oder wenigstens seinen Marktwert kennen lernen konnte; höchst langweiligen Schund noch dazu, im ganzen genommen. Sie fühlte sich durch die lateinischen Altertümer genau so gelangweilt wie durch die chinesischen und japanischen draußen in den Läden. »Altertümer« – das Wort allein schon machte ihre Seele flach und tot.

Alles Leben verlor sich aus ihren Arbeiten, warum, wußte sie nicht. Aber das ganze Ding war ihr so verlogen, so unecht; unecht die gotischen Bogen, unecht der Friede, unecht das Latein, unecht die Würde des Französischen, unecht die Harmlosigkeit bei Chaucer. Es war ein minderwertiger Trödelladen, in dem man sich eine Prüfungsausstattung kaufen konnte. Das Ganze war nichts weiter als eine Nebenvorstellung zu den großen Werkstätten der Stadt. Diese Auffassung stahl sich allmählich in ihr Inneres. Es war keine Zufluchtsstätte der Andacht, keine Klause reiner Wissenschaft. Es war eine kleine Lehre, in der man ein wenig darauf eingedrillt wurde, Geld zu verdienen. Die Hochschule war nur ein schmieriger, kleiner Zurichteraum für die große Werkstätte draußen.

Rauh und häßlich war diese Enttäuschung, die gleiche Dunkelheit, die bittere Finsternis, vor der sie von nun an niemals sicher war, dies Wissen, daß sich unter allem und jedem etwas Häßliches als Grundlage befinde. Wenn sie nachmittags zur Hochschule ging, waren die Rasenflächen ein Schaummeer von Marienblümchen, die Lindenblätter hingen zart und sonnendurchleuchtet und grün da; aber ach, es bereitete ihr solche Qual, diesen tiefen, weißen Schaum der Marienblümchen zu sehen.

Denn drinnen, drinnen in der Hochschule mußte sie wieder in dies verlogene Arbeiten hinein. Die ganze Zeit über war sie nur ein verlogener Laden gewesen, ein verlogenes Warenhaus, mit dem einzigen Hintergründe des Geldgewinnens, aber keiner wirklichen, geistigen Fördertätigkeit. Sie gab sich den Anschein, auf der gläubigen, tugendhaften Seite der Wissenschaft zu beruhen. Aber die gläubige Tugend der Wissenschaft war ja doch zum Bedienten des Gottes rein äußerlichen Erfolges geworden.

Eine Art Trägheit kam über sie. Gedankenlos, rein aus Angewohnheit fuhr sie mit ihren Arbeiten fort. Aber es war beinahe hoffnungslos. Sie konnte kaum noch bei irgend etwas aufmerken. In der Nachmittagsvorlesung über Angelsächsisch saß sie da und sah aus dem Fenster nach unten, sie hörte kein Wort, weder von Beowulf noch von sonst etwas. Unten auf der Straße lief das sonnenüberflutete Pflaster neben einem Zaun her. Eine Frau in einem rosa Rock mit einem scharlachroten Sonnenschirm überschritt den Weg, ein kleiner weißer Hund umtanzte sie wie ein Lichtfleck. Die Frau mit dem scharlachenen Sonnenschirm überquerte die Straße, etwas Hüpfendes in ihrem Gang, ein kleiner Schatten sie bewachend. Ursula war wie bezaubert. Die Frau mit dem scharlachenen Sonnenschirm und dem leuchtenden Terrier war gegangen – und wohin? Woher?

Welche Welt von Wirklichkeit durchschritt diese Frau in dem rosa Kleid? In welches Warenhaus tödlicher Wirklichkeit fand sie selbst sich hier eingepfercht?

Welchen Nutzen schaffte dieser Ort, diese Hochschule? Was nützte einem Angelsächsisch, wenn man es nur so lernte, daß man ein paar Prüfungsfragen beantworten konnte, nur so, daß man für später einen höheren Handelswert bekam? Sie war ganz krank von ihrem langen Dienst vor dem inneren Schrein des Handels. Aber was sonst war denn dies alles? War dies das Leben, und nur dies? überall war alles diesem einen Dienst unterworfen. Alles lief nur darauf hinaus, etwas ganz Gewöhnliches hervorzubringen, das äußere Leben zu belasten.

Französisch warf sie ganz plötzlich über Bord. Sie wollte ihren Grad in Pflanzenkunde erwerben. Das war das einzige Fach für sie, das noch Leben besaß. In das Leben der Pflanze war sie wirklich eingedrungen. Sie war ganz bezaubert von der seltsamen Gesetzlichkeit der Pflanzenwelt. Hier hatte sie einen Blick in etwas tun dürfen, das vollkommen außerhalb der Menschenwelt wirkte.

Unfruchtbar, wohlfeil war die Hochschule, ein dem allergemeinsten, kleinlichsten Handel überantworteter Tempel. War sie nicht gekommen, um den Widerhall des Lernens an den Quellen des Geheimnisses pulsen zu hören? – Quellen des Geheimnisses! Wie unfruchtbar boten die Lehrer in ihren Amtsgewändern ihr käufliches Wissen dar, damit sie es im Prüfungszimmer in gute Münze Umtauschen könnten; fertig zugeschnitten, das Geld nicht wert, das es wieder einbringen sollte; und das wußten alle.

Die ganze Zeit über auf der Hochschule fühlte sie sich, mit Ausnahme ihrer Arbeiten im Arbeitsraum für Pflanzenkunde, wo noch ein Schimmer von Geheimnis vorhanden war, als müsse sie sich zu einem sie erniedrigenden Handel mit ganz verlogenem Krimskrams hergeben.

Verärgert und steif machte sie ihr letztes Halbjahr durch. Lieber wollte sie sich draußen ihren Lebensunterhalt verdienen. Selbst Brinsley-Street und Mr. Harby erschienen ihr wirklich im Vergleich hiermit. Ihr heftiger Haß gegen die Ilkeston-Schule war gar nichts im Vergleich zu der trostlosen Erniedrigung auf der Hochschule. Aber in die Brinsley-Schule zurück wollte sie auch nicht wieder. Sie wollte ihr Bakkalaureat erwerben und dann eine Zeitlang Lehrerin auf irgendeiner Lateinschule werden.

Langsam rollte das letzte Jahr ihrer Hochschulzeit ab. Sie konnte Prüfung und Abgang vor sich liegen sehen. Die Asche der Enttäuschung knirschte ihr zwischen den Zähnen. Würde ihr nächster Schritt auch wieder so zu gar nichts führen? Immer das schimmernde Tor vor sich; und wenn sie dann näher trat, war dies schimmernde Tor nur der Durchgang zu einem neuen, häßlichen Hofe, schmutzig und geschäftig tot. Vor ihr unter dem Himmel leuchtete beständig die Kuppe des Hügels; und dann, vom Gipfel aus nur wieder der Ausblick in ein neues schmutziges Tal formloser, ekelhafter Geschäftigkeit.

Einerlei! Jeder neue Gipfel war doch etwas anderes, jedes neue Tal immerhin neu. Coffethay mit ihrer Kindheit und ihrem Vater; die Marsch und die kleine Kirchschule dicht dabei, ihre Großmutter und ihre Ohme; die Höhere Töchterschule in Nottingham und Anton Skrebensky; Anton Skrebensky und der Tanz im Mondenschein zwischen den Feuern; dann die Zeit, an die sie nicht ohne Abscheu denken konnte, Winifred Inger und die Monate, ehe sie Lehrerin wurde; dann die Schrecken der Brinsley-Schule, die in verhältnismäßigem Frieden ausliefen, Maggie und Maggies Bruder, dessen Einfluß sie noch in ihren Adern verspürte, sobald sie ihn heraufbeschwor; dann die Hochschule und Dorothea Russell, die nun in Frankreich war, und nun wieder der nächste Schritt in die Welt.

Das war schon eine ganze Geschichte. In all ihren verschiedenen Zeitabschnitten war sie eine so ganz andere gewesen. Und doch blieb sie stets Ursula Brangwen. Aber was hieß das, Ursula Brangwen? Sie wußte ja eigentlich gar nicht, wer sie war. Nur daß sie voller Widerwillen, voller Abneigung sei. Fortwährend mußte sie die Asche und den Grus neuer Enttäuschung, neuer Falschheit ausspucken. Sie konnte sich nur in Widerwillen versteifen, in Widerwillen. In ihrem Tun schien immer etwas Verneinendes zu liegen.

Was sie wirklich war, blieb dunkel, unenthüllt, es konnte nicht hervor. Es war wie ein unter trockener Asche begrabenes Samenkorn. Die Welt, in der sie jetzt lebte, war ja nur ein von einer Lampe erleuchteter Kreis. Und diese erleuchtete Fläche, von vollkommenstem, menschlichem Bewußtsein erhellt, hielt sie für die ganze Welt: hier enthülle sich nun alles auf ewig. Und doch war sie sich in der Dunkelheit die ganze Zeit über immer gewisser leuchtender Punkte bewußt geblieben, wie Augen wilder Tiere, schimmernd, durchdringend, wieder verschwindend. Und mit einem tiefen, angstvollen Atemzuge hatte ihre Seele die äußere Finsternis wahrgenommen. Dieser innere Kreis von Helligkeit, in dem sie lebte und sich umherbewegte, wo Eisenbahnzüge dahinjagten und die Werkstätten die Erzeugnisse ihrer Maschinen ablieferten und Pflanzen und Tiere im Lichte der Wissenschaft arbeiteten: wie ein Fleck unter einer Bogenlampe kam er ihr plötzlich vor, auf dem Motten und Kinder in der Sicherheit des blendenden Lichts umherspielten und nicht einmal wissen, es gebe überhaupt Dunkelheit, weil sie immer im Lichte blieben.

Aber grade jenseits ihres Bereichs konnte sie das Schimmern von etwas Dunklem, sich Bewegendem wahrnehmen, sie sah Augen wilder Tiere die Finsternis durchleuchten und die Torheit des Lagerfeuers und seiner Schläfer belauern; sie empfand die seltsame, närrische Eitelkeit dieses Lagers, das sagt: »Außerhalb meines Lichts und meiner Ordnung gibt es nichts weiter«, und dann die Augen fest auf das zusammensinkende Feuer allerleuchtenden Wissens gerichtet hält, das Sonne und Sterne und den Schöpfer umfaßt mit dem ganzen Gebäude von Rechtschaffenheit, die riesige, alles umgebende Dunkelheit jedoch mit ihren am Rande lauernden, halberkennbaren Gestalten völlig außer acht läßt.

Ja, noch mehr, kein Mensch wagte es, einen Feuerbrand in diese Dunkelheit hinauszuschleudern. Denn hätte er es getan, die andern hätten ihn zu Tode gehöhnt mit ihrem Geschrei: »Narr, Volksfeind, Knechtsseele, was schreckst du uns mit deinen Gespenstern? Es gibt keine Finsternis! Wir leben und bewegen uns im Licht, uns ist das ewige Licht des Wissens verliehen, wir erkennen und begreifen den innersten Kern, den innersten Sinn alles Wissens. Narr, Ruchloser, wie kannst du es wagen, uns mit deiner Dunkelheit verkleinern zu wollen?«

Aber bestehen blieb die Dunkelheit deshalb doch rundumher, mit ihren grauen Schattengestalten wilder Tiere, aber auch mit dunklen Schatten von Engeln, die das Licht grade so gut ausschloß wie die besser bekannten Tiere der Finsternis. Und ein paar, die einen Augenblick in die Finsternis hinauszuschauen vermocht hatten, hatten die Borsten der Hyäne und des Wolfes aus ihr hervorstarren sehen; ein paar, die die Eitelkeit des Lichts ausgegeben hatten, in Verblendung gestorben waren, sahen nun den Widerschein in den Augen des Wolfs und der Hyäne und erkannten, daß es die funkelnden Schwerter von Engeln waren, die vor der Eingangstür blitzten, daß die Engel der Finsternis gewaltig und schrecklich waren und sich nicht wegleugnen ließen, wie das Glitzern der Fangzähne.

Es war kurz vor Ostern in ihrem letzten Lehrjahre, als Ursula zweiundzwanzig Jahre alt war, daß sie wieder von Skrebensky hörte. Ein oder zweimal hatte er ihr aus Südafrika geschrieben, während der ersten Zeit seines Dienstes dort unten, und dann hatte er ihr hin und wieder mal eine Postkarte geschickt, in immer größeren Abständen. Er war Oberleutnant geworden und in Südafrika geblieben. Jetzt hatte sie länger als zwei Jahre nichts von ihm gehört.

Ihre Gedanken wanderten oft zu ihm zurück. Wie die schimmernde, gelblich strahlende Dämmerung eines langen, aschigen, grauen Tages erschien er ihr. Das Gedenken war ihr wie die Erinnerung an erste, strahlende Morgenstunden. Und dies hier war das leere, aschige Grau des späteren Tages. Ach, wäre er ihr doch nur treu geblieben, dann hätte auch sie den Sonnenschein kennen lernen können, ohne all diese Mühen und Schmerzen und Erniedrigungen eines verlorenen Tages. Er wäre ihr Engel geworden. Er bewahrte ja die Schlüssel zum Sonnenschein. Er bewahrte sie auch noch. Er konnte ihr die Pforten zur Freiheit und zur Wonne des Erfolges erschließen. Ja, wäre er ihr treu geblieben, er würde ihr zum Tore geworden sein in den grenzenlosen Himmel der Seligkeit hinüber, in die unerschöpflich sich überstürzende Freiheit, das Paradies ihrer Seele. Ach, welche Weiten hätte er ihr erschließen können, welchen endlosen, grenzenlosen Raum zur Verwirklichung ihrer selbst und ewigen Entzückens.

Das Einzige, woran sie noch glaubte, war die Liebe, die sie für ihn empfunden hatte. Glänzend und vollkommen blieb sie bestehen, etwas, dem man immer wieder lauschen mußte. Und so sagte sie, wenn die Gegenwart sie wieder einmal enttäuschte, zu sich selbst:

»Ach, wie habe ich ihn liebgehabt«, als wäre mit ihm die Hauptblüte ihres Lebens dahingestorben.

Nun also hörte sie wieder von ihm. Die Hauptwirkung war Schmerz. Das Vergnügen, die ganz unwillkürliche Freude waren nicht länger vorhanden. Aber ihr Wille jauchzte. Ihr Wille hielt sich an ihn geklammert. Und die alte Aufregung ihrer Träume regte sich wieder und erwachte. Er kam, der Mann mit den wunderbaren Lippen, die ihren Kuß bis ans Ende allen Raumes hinaussenden konnten. Kam er wieder zu ihr? Sie vermochte es nicht zu glauben.

 

»Meine liebe Ursula, ich bin wieder in England für ein paar Monate, ehe ich wieder hinausgehe, diesmal nach Indien. Es soll mich wundern, ob du wohl noch das Andenken an unsre gemeinsamen Zeiten besitzest. Ich habe Dein kleines Bild immer noch. Du mußt Dich seitdem sehr verändert haben, es ist ja sechs Jahre her. Ich bin volle sechs Jahre älter geworden, – habe ein ganzes Leben durchgemacht, seitdem ich Dich zuletzt in Cossethay sah. Ob Du mich wohl Wiedersehen möchtest? Nächste Woche gehe ich nach Derby und könnte Dich in Nottingham aufsuchen, und wir könnten zusammen irgendwo Tee trinken. Willst Du es mich wissen lassen? Ich erwarte Deine Antwort.

Anton Skrebensky.«

 

Diesen Brief hatte Ursula aus dem Briefständer in der Halle genommen und ihn beim Hinübergehen in die Studentinnenabteilung geöffnet. Die Welt um sie her schien zu schwinden, sie stand ganz allein in der hellen Luft.

Wohin, um allein sein zu können? Sie flog nach oben und durch den Nebeneingang in die Bücherei. Ein Buch nehmend, setzte sie sich nieder und beugte sich über ihren Brief. Ihr Herz schlug, ihre Glieder zitterten. Wie im Traum hörte sie eine Glocke schlagen, dann abermals; seltsam. Die erste Vorlesung war vorüber.

Eilig riß sie eines ihrer Hefte hervor und begann zu schreiben.

»Lieber Anton! Ja, den Ring habe ich noch. Ich freue mich sehr darauf, Dich wiederzusehen. Du kannst mich hier aus der Hochschule abholen, oder ich kann Dich auch irgendwo in der Stadt treffen. Willst Du es mich wissen lassen? Deine aufrichtige Freundin – – –«

Zitternd fragte sie den Bücherwart, der ihr guter Freund war, ob er ihr wohl einen Briefumschlag geben könne. Sie versiegelte und beschrieb den Umschlag und ging barhaupt zur Post hinüber. Sowie sie ihn in den Briefkasten geworfen hatte, wurde die Welt um sie her ganz still, ganz blaß, grenzenlos. Sie wanderte in die Hochschule zurück, in ihren blassen Traum wie in das erste, blasse Licht des Tages.

Skrebensky kam eines Nachmittags in der folgenden Woche. Tag auf Tag war sie morgens beim Eintritt in die Hochschule zu dem Briefgestell hinübergeeilt, und ebenso während der Pausen zwischen den Vorlesungen. Ein paarmal hatte sie mit verstohlenen Fingern einen Brief von ihm aus seiner öffentlichen Stellung heruntergeholt und war mit ihm durch die Halle geeilt, ihn fest in den Händen verbergend. Sie las seine Briefe im Arbeitsraum für Pflanzenkunde, wo ihre Ecke ihr immer freigehalten wurde.

Ein paar Briefe noch, und dann kam er. Freitagnachmittag hatte er bestimmt. Mit fieberhaftem Eifer arbeitete sie an ihrem Vergrößerungsglas, unfähig, ihm mehr als ihre halbe Aufmerksamkeit zuzuwenden, und doch angestrengt und rasch. Sie hatte etwas ganz Besonderes, was heute erst von London gekommen war, auf ihrer Platte, und der Lehrer war aufgeregt und kribbelig darüber. Im selben Augenblick, in dem sie ihr Glas einstellte und das Pflanzenwesen schattenhaft in einem Meer von Licht daliegen sah, grübelte sie über eine Unterhaltung nach, die sie ein paar Tage zuvor mit Dr. Frankstone gehabt hatte, einem weiblichen Doktor der Naturwissenschaft an der Hochschule.

»Nein wirklich,« hatte Dr. Frankstone gesagt, »ich kann nicht einsehen, warum wir dem Leben eine besonders geheimnisvolle Stellung zuerkennen sollten – Sie etwa? Wir verstehen es am Ende noch nicht so weit wie die Elektrizität, aber das gibt uns doch kein Recht zu sagen, es sei etwas Besonderes, etwas, was sich nach Art und Wesen von allem andern im Weltall unterscheidet – meinen Sie, es täte das? Kann das Leben nicht am Ende aus einer Zusammenwirkung physikalischer und chemischer Kräfte bestehen, ganz derselben Art, wie wir sie auch sonst in der Wissenschaft schon kennen? Ich sehe wirklich nicht ein, warum wir uns einbilden, es bestehe für das Leben eine ganz besondere Ordnung, und zwar nur für das Leben – – –«

Die Unterhaltung war schließlich ins Unbestimmte verlaufen, unabgeschlossen geblieben, allen möglichen Gedanken Spielraum lassend. Aber der Zweck, was war ihr Zweck gewesen? Die Elektrizität hatte keine Seele, Licht und Wärme besaßen keine Seele. War sie selbst denn eine unpersönliche Kraft, oder eine Verbindung von Kräften wie eins von jenen? Sie blickte immer noch auf den einzelligen Schatten, der da in dem Lichtfelde vor ihr lag, unter ihrem Vergrößerungsglas. Sie sah ihn sich bewegen – sah den flimmernden Nebel seiner Wimpertätigkeit, sie sah den Schimmer seines Kernes über die leuchtende Ebene dahingleiten. Was für einen Willen hatte der? War er nur eine Verbindung von Kräften, physikalischer und chemischer, was hielt diese Kräfte zusammen, und zu welchem Zwecke waren sie zusammengebracht?

Zu welchem Zwecke waren die unberechenbaren physikalischen und chemischen Wirkungen zu diesem schattenhaften, beweglichen Flecken hier unter ihrem Glase zusammengeflochten? Welches war der Wille, der sie verknotete und zu dem Ding machte, das sie hier vor sich sah? Was waren seine Absichten? Es selbst zu sein? War sein Zweck lediglich triebartig und auf es selbst beschränkt?

Es wollte jedenfalls es selbst sein. Aber welches Selbst? Plötzlich glühte vor ihrem Geiste die ganze Welt auf, wie der Kern des Geschöpfes hier unter ihrem Glase, in einem lebhaften Lichte. Ganz plötzlich sah sie sich in ein lebhaft leuchtendes Licht des Wissens entrückt. Sie vermochte nicht zu begreifen, was das alles war. Sie wußte nur, daß es weder beschränkte triebartige Kräfte waren, noch lediglich der Zweck der Selbsterhaltung oder Selbstbestätigung. Es war eine Vollendung, ein unendliches Wesen. Dies Selbstsein war ein höchster, schimmernder Sieg der Unendlichkeit.

Ganz hingerissen saß Ursula vor ihrem Glase, ganz in der Schwebe. Ihre Seele war geschäftig, unendlich geschäftig in dieser neuen Welt. In dieser neuen Welt wartete Anton Skrebensky auf sie – er mußte bereits auf sie warten. Sie konnte noch nicht gehen, ihre Seele war zu sehr gefesselt. Aber bald wollte sie fort.

Eine Stille, wie ein Hinscheiden nahm von ihr Besitz. Weit hinten auf dem Gange hörte sie die Glocke fünf schlagen. Sie mußte gehen. Und doch blieb sie still sitzen.

Die andern Studenten schoben ihre Stühle zurück und packten ihr Arbeitszeug fort. Alles brach in einem Wirrsal auf. Durch das Fenster sah sie wieder andere Studenten hinuntergehen, mit ihren Büchern unter dem Arm, und reden, alle reden.

Ein mächtiges Sehnen fortzugehen kam über sie. Auch sie wünschte sich fort. Sie fürchtete sich vor der greifbaren Welt, vor ihrer eigenen Umgestaltung. Sie wollte Skrebensky entgegenlaufen – dem neuen Leben, der Wirklichkeit entgegen.

Eiligst wischte sie ihre Platten ab und packte sie fort, säuberte ihren Platz am Tische, eilig, eilig, eilig. Laufen wollte sie, um Skrebensky zu treffen, eilen – eilen. Sie wußte nicht, was sie treffen würde. Aber es würde der Anfang von etwas Neuem sein. Sie mußte eilen.

Auf raschen Sohlen eilte sie den Gang hinab, ihr Messer, ihre Hefte und Bleistifte in einer Hand, die Schürze in der andern. Ihr Antlitz war gehoben und gespannt vor Eifer. Er könnte sie am Ende verfehlen.

Sowie sie aus dem Gange trat, sah sie ihn. Sie erkannte ihn sogleich. Und doch war er ihr fremd. Er stand da mit der merkwürdigen, sich selbst in den Schatten stellenden Schüchternheit, die sie bei wohlerzogenen jungen Leuten ihrer Bekanntschaft so oft erschreckt hatte. Er stand da, als wünschte er nicht gesehen zu werden. Er war sehr gut angezogen. Sie wollte es nicht zugeben, aber ein Schauer überkam sie wie Sonnenschein bei Frostwetter. Hier war er, der Schlüssel, der Kern der neuen Welt.

Er sah sie rasch durch die Halle auf sich zukommen, ein schlankes Mädchen in weißer Flanellbluse und dunklem Rock, mit einer gewissen Zerstreutheit und dem Schimmer des Unbekannten auf ihrem Gesicht, und erregt fuhr er empor. Er war ganz aufgeregt. Ein paar andere Studenten schlenderten in der Halle umher.

Sie lachte mit blindem, geblendetem Gesicht, als sie ihm die Hand gab. Er konnte sie ebensowenig erkennen.

Im Augenblick war sie wieder fort, um ihre Straßensachen zu holen. Dann gingen sie wie zu ihrer Schulzeit in die Stadt zum Tee. Und sie suchten dieselbe Teestube wieder auf.

Sie bemerkte eine große Veränderung an ihm. Ihre Seelenverwandtschaft war noch da, die alte Verwandtschaft, aber er gehörte doch einer andern Welt als der ihren an. Es war, als hätten sie einen Waffenstillstand miteinander geschlossen und träfen sich nun während dieses Waffenstillstandes. Undeutlich empfand sie in der ersten Minute, sie wären Feinde, die sich nur während eines Waffenstillstandes getroffen hätten. Jede seiner Bewegungen, jedes seiner Worte waren ihrem Wesen fremd.

Aber den feinen Bau seines Gesichtes, seiner Haut mochte sie doch noch gern. Er war brauner geworden, körperlich kräftiger. Er war jetzt ein Mann. Sie dachte, vielleicht liege das Fremdartige in seiner Männlichkeit. Solange er noch ein Jüngling gewesen war, flüssig, da hatte er ihr näher gestanden. Sie glaubte, ein Mann müsse unvermeidlich in diese seltsame Abgetrenntheit, dies kalte Anderssein verfallen. Er sprach, aber nicht zu ihr. Sie versuchte zu ihm zu sprechen, aber sie erfaßte ihn nicht.

Er erschien ihr so ausgeglichen und sicher, kam ihr so selbstvertrauend vor. Er war ein großer Reiter, so daß er jetzt etwas von der Sicherheit und der gewohnheitsmäßigen Entschlußkraft des Pferdeliebhabers an sich hatte, ebenso aber auch etwas von dessen tierischer Dunkelheit. Und doch war seine Seele nur um so schwankender, unbestimmter geworden. Er schien aus einer Mischung gewohnheitsmäßiger Betätigungen und Entschlüsse zu bestehen. Das verletzliche, veränderliche Leben dieses Mannes hier war ihr unzugänglich. Sie wußte nichts davon. Sie vermochte nichts als die dunkle, schwere Bestimmtheit seiner tierischen Wünsche zu empfinden.

Dieser dumpfe Wunsch hatte ihn ihr wieder zugeführt? Sie fühlte sich gequält, verletzt durch eine gewisse hoffnungslose Bestimmtheit in ihm, die sie durch ein Empfinden kalter Verzweiflung erschreckte. Was wollte er? Seine Wünsche waren unterirdisch. Was wünschte er? Etwas, das keinen Namen haben durfte. Sie schauderte vor Furcht zurück.

Und doch glühte sie vor Aufregung. In seiner dunklen, unterirdischen Mannesseele kniete er vor ihr, stellte sich undeutlich vor ihr bloß. Sie zitterte, eine dunkle Flamme überlief sie. Er wartete zu ihren Füßen. Er war hilflos, ganz in ihrer Hand. Sie konnte ihn annehmen oder zurückweisen. Stieß sie ihn zurück, so mußte etwas in seinem Innern sterben. Für ihn bedeutete es Tod oder Leben. Und doch, alles dieses mußte ganz im dunklen gehalten werden, ihr Bewußtsein durfte nichts davon zugeben.

»Wie lange«, sagte sie, »bleibst du in England?«

»Ich weiß noch nicht ganz sicher – aber nicht länger als Juli, glaube ich.«

Dann schwiegen sie beide wieder. Er war hier in England für sechs Monate. Einen Zeitraum von sechs Monaten hatten sie vor sich. Er wartete. Dieselbe eiserne Starre, als wäre die ganze Welt aus Stahl, nahm wieder von ihr Besitz. Es nützte nichts, sich mit Fleisch und Blut an eine solche aus Erz geschmiedete Maschine zu wenden.

Rasch paßte ihre Einbildungskraft sich der Sachlage an.

»Bist du nach Indien versetzt?« fragte sie.

»Ja – ich habe grade diese sechs Monate Urlaub.«

»Gehst du gern nach draußen?«

»Ich glaube ja – da gibts so viel gesellschaftliches Leben, immer ist was los – Jagden, Polo, – und immer hat man gute Pferde – und viel zu tun, mächtig viel zu tun.«

Immer wieder führte er seine Seele auf ein Nebengleis, immer wieder auf ein Nebengleis. Sie konnte ihn sich so gut dort draußen ausmalen, in Indien – als Mitglied der herrschenden Klasse, die einer alten Gesittung übergeordnet worden war, Herr und Meister über eine schwerfälligere Gesittung als die eigene. Das war seine Wahl. Er würde wieder zum Edelmann werden, angetan mit Herrschaft und Verantwortlichkeit, eine große, hilflose Bevölkerung ihm zu Füßen. Als Mitglied der herrschenden Klasse würde er sein ganzes Wesen an die Erfüllung und Durchsetzung der besseren Auffassung des Staatslebens setzen. Und in Indien würde es sicher viel für ihn zu tun geben. Das Land hatte die Gesittung, wie er sie darstellte, bitter nötig: es brauchte Brücken und Straßen, und die Erleuchtung, von der er ein Bestandteil war. Er würde nach Indien gehen. Aber ihr Weg war das nicht.

Und doch liebte sie ihn, seinen Körper, mochten seine Entschlüsse sein, wie sie wollten. Er wollte offenbar etwas von ihr. Er wartete darauf, sie möge über ihn entscheiden. In ihrem Inneren hatte sie längst entschieden, als er sie zum ersten Male geküßt hatte. Er war ihr Geliebter, jenseits von Gut und Böse. Ihr Wille gab niemals nach, mochten auch ihr Herz und Seele gefangen und zum Schweigen gebracht werden. Er wartete ihrer, und sie nahm ihn an. Denn er war zu ihr zurückgekommen.

In sein Gesicht, in seine feine, glatte Haut trat eine Glut, in seine Augen, seine goldgrauen Augen; in dem alten Vertrauen zu ihr glühten sie auf. Er geriet in Brand, er fing Feuer und wurde prächtig, königlich, tigerähnlich. Sie sog seinen schimmernden, gleißenden Glanz in sich ein. Ihr Herz und ihre Seele lagen tief unten fest verschlossen, verborgen. Sie war frei von ihnen. Sie wollte ihre Befriedigung.

Stolz und schlank reckte sie sich empor, wie eine Blume, die sich zu ihrer ganzen Kraft entfaltet. Seine Wärme flößte ihr neue Kräfte ein. Die Schönheit seiner Gestalt, die so glühend von allen übrigen abstach, machte sie ganz stolz. Sie fühlte sich von Ehrerbietung erfüllt und kam sich vor, als stelle sie ihm gegenüber die Anmut und Blüte alles Menschlichen dar. Sie war nicht nur Ursula Brangwen. Sie war das Weib, sie war alles Weibliche des Menschengeschlechts. Allumfassend, ganz allgemein, wie hätte sie sich auf eine Persönlichkeit beschränken dürfen?

Sie wurde froh, sie wollte ihn nicht verlassen. Ihr Platz war jetzt an seiner Seite. Wer konnte sie von dort vertreiben?

Sie traten aus dem Kaffee.

»Möchtest du irgendwas unternehmen?« sagte er. »Können wir irgendwas anfangen?«

Es war ein dunkler, windiger Märzabend.

»Wir können eigentlich nichts anfangen«, meinte sie.

Das war grade die Antwort, die er haben wollte.

»Dann laß uns spazierengehen – wo wollen wir hin?« fragte er.

»Wollen wir nach dem Flusse?« schlug sie ängstlich vor.

Im Handumdrehen saßen sie in der Elektrischen und fuhren nach der Trentbrücke. Sie war so froh. Der Gedanke an einen Gang durch die dunklen, weitausgedehnten Wasserwiesen an dem hochgeschwollenen Flusse entlang erfüllte sie mit Entzücken. Dunkles, schweigend durch die mächtige, ruhelose Nacht dahinfließendes Wasser machte sie immer ganz wild.

Sie gingen über die Brücke, an der andern Seite wieder hinunter und ließen damit alle Lichter hinter sich. Augenblicklich ergriff er im Dunkeln ihre Hand, und sie gingen in Schweigen dahin; leicht traten ihre Füße in der Dunkelheit auf. Zu ihrer Linken rauchte die Stadt, seltsame Lichter und Geräusche kamen von ihr herüber, der Wind fuhr gegen die Bäume an und unter der Brücke durch. Dicht aneinander gedrängt wanderten sie dahin, in mächtigem Einklang. Er zog sie ganz dicht an sich, hielt sie mit einer feinen, verstohlenen, mächtigen Leidenschaft an sich, als bestünde zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis, das sich am besten in tiefer Dunkelheit bewahrte. Die tiefe Dunkelheit war ihr Weltall.

»Nun ists wieder wie früher«, sagte sie.

Und doch war es ganz und gar nicht wie früher. Trotzdem befand sich sein Herz in völliger Übereinstimmung mit ihr. Sie hatten nur einen Gedanken.

»Ich wußte, ich würde wiederkommen«, sagte er endlich.

Sie erschauerte.

»Hast du mich immer liebgehabt?« fragte sie.

Die Unmittelbarkeit ihrer Frage übermannte ihn, ließ ihn einen Augenblick untersinken. Greifbar zog die Finsternis an ihnen vorüber.

»Ich mußte wieder zu dir zurück«, sagte er wie verzaubert. »Du standest für mich hinter allem und jedem.«

Sie schwieg vor Siegesgefühl, wie das Schicksal.

»Ich habe dich immer geliebt«, sagte sie.

Die dunkle Flamme schoß in ihm empor. Er mußte sich ihr ganz ergeben. Er mußte ihr seine tiefsten Grundfesten überantworten. Ganz dicht zog er sie an sich, und schweigend gingen sie weiter.

Sie fuhr heftig auf, als sie mit einem Male Stimmen hörte. Sie waren dicht an einem Übergang zwischen zwei dunklen Wiesen.

»Bloß ein Liebespaar«, sagte er zu ihr, ganz leise.

Sie versuchte die beiden dunklen, gegen den Zaun gelehnten Gestalten zu erkennen, voller Verwunderung, die Dunkelheit so bevölkert zu finden.

»Bloß Liebespaare kommen hier heute abend her«, sagte er.

Dann begann er ihr mit leiser, zitternder Stimme aus Afrika zu erzählen, der seltsamen Dunkelheit, der seltsamen Furcht des Blutes.

»In England habe ich vor der Dunkelheit keine Angst«, sagte er; »sie kommt mir so weich vor, so ganz natürlich, sie ist für mich grade das Richtige, besonders wenn du bei mir bist. Aber in Afrika kommt sie einem so körperlich vor, so voller Schrecken – nicht Angst vor etwas Besonderem – einfach Angst. Man atmet sie ein wie Blutgeruch. Die Schwarzen wissen drüber Bescheid. Sie beten sie tatsächlich an, die Dunkelheit. Man könnte sich fast in sie verlieben – in die Furcht – sie ist so sinnlich.«

Wieder erschauerte sie. Er kam ihr vor wie eine Stimme aus der Finsternis. Die ganze Zeit über sprach er zu ihr in leisem Tonfall von Afrika und vermittelte ihr etwas Seltsames, Sinnliches: den Neger mit seiner lockeren, weichen Leidenschaftlichkeit, die einen wie ein Bad umfangen konnte. Allmählich übermittelte er ihr jene heiße, fruchtbare Dunkelheit, die sein eigenes Blut erfüllte. Er war merkwürdig zurückhaltend. Die ganze Welt mußte verschwinden. Er machte sie ganz wahnsinnig mit seinen sanften, liebkosenden, bebenden Tönen. Er wünschte, sie möge auf ihn eingehen, ihn verstehen. Die schwellende, sprossende Nacht, schwer von Fruchtbarkeit, in der jedes Stäubchen Stoff zum Wachsen gezwungen wurde, verstohlen nach Befruchtung drängte, schien sie zu überwältigen. Sie erschauerte, gestrafft und zitternd, fast schmerzerfüllt. Und nach und nach hörte er auf von Afrika zu sprechen, es entstand eine Pause, in der sie durch die Dunkelheit an dem schwellenden Flusse entlang gingen. Ihre Glieder waren reich und gespannt, und sie fühlte, sie müßten in leisem, tiefem Beben erzittern. Sie konnte kaum noch gehen. Das tiefe Beben der Dunkelheit war nur zu fühlen, nicht zu hören.

Während sie so dahinschritten, wandte sie sich plötzlich zu ihm um und packte ihn, als wäre sie aus Stahl.

»Liebst du mich?« rief sie wie in Angst.

»Ja«, antwortete er mit einer sonderbar belegten Stimme, ganz anders als seine gewöhnliche. »Ja, ich liebe dich.«

Wie die lebendige Dunkelheit erschien er ihr; sie fühlte sich von mächtiger Dunkelheit umschlungen. Er hielt sie dicht an sich, sanft, unsagbar sanft, und mit der unnachgiebigen Sanftheit des Geschickes, der erbarmungslosen Sanftheit der Fruchtbarkeit. Sie erschauerte, und erschauerte wieder wie etwas Gespanntes, gegen das geschlagen wird. Aber die ganze Zeit über hielt er sie fest, sanft, unendlich, wie die sie umfangende Dunkelheit, allgegenwärtig wie die Nacht. Er küßte sie, und sie erbebte, als würde sie vernichtet, umhergestreut. In ihrer Seele erbebte das lichterfüllte Gefäß und brach, das Licht fiel, kämpfte und verlosch. Nun war sie ganz dunkel, willenlos, nur noch aufnahmebereit.

Er küßte sie mit seinen weichen, umhüllenden Küssen, und sie beantwortete sie vollkommen, ihr Geist, ihre Seele erloschen. Wie Dunkelheit sich an Dunkelheit schmiegt, so schmiegte sie sich an ihn, drängte sie sich in die sanfte Flut seiner Küsse, beugte sich nieder, nieder an die Quelle, an den Kern seiner Küsse, sie selbst ganz bedeckt und umhüllt von der warmen Flut seines Kusses, die sie überrann, so daß sie zu einem Strom wurden, einer dunklen Fruchtbarkeit, und sie sich an seinen Kern anklammerte, während ihre Lippen seine allerinnerste Quelle umfaßt hielten.

So standen sie in einem höchsten, dunkelsten Kusse, der den Sieg über sie beide davontrug, sie unterwarf, zu einem einzigen, fruchttragenden Kern fließender Finsternis verschmolz. Seligkeit war es, diese Kernbildung fruchtbarer Finsternis. Das Gefäß war erbebt, bis es zerspringen mußte, das Licht der Besinnung erloschen; nun herrschte nur Finsternis und unsagbare Befriedigung.

Im höchsten Genuß dieses völlig ungemilderten Kusses standen sie da, ihn immer wieder austauschend, ohne Ende ihm ergeben, und immer noch blieb er unerschöpft. Ihre Adern erbebten, ihr Blut rann zusammen wie ein Strom.

Bis sie allmählich eine Schläfrigkeit, eine Schwerfälligkeit übermannte, eine Starre, und aus dieser Starre erwachte ein Fünkchen von Besinnung. Ursula wurde die Nacht um sie her gewahr, das unmittelbar neben ihr leckende und raunende Wasser, die sausenden, in jedem Windstoß aufheulenden Bäume.

Sie drängte sich an ihn, um in Berührung mit ihm zu bleiben, aber doch kam sie wieder mehr und mehr zu sich. Und nun wußte sie, sie müsse ihren Zug erreichen. Aber sie wollte sich nicht von der Berührung mit ihm losreißen.

Schließlich rissen sie sich empor und kehrten um. Sie lebten nicht länger in der unbefleckten Dunkelheit. Eine Brücke leuchtete vor ihnen auf, Lichter funkelten von drüben über den Strom herüber, mächtig glühte die Stadt vor und rechts von ihnen auf.

Aber immer noch schritten ihre Körper dunkel und weich und unanfechtbar, unberührt vom Licht durch die Dunkelheit, in höchster, anmaßender Dunkelheit.

»Die dummen Lichter«, sagte Ursula bei sich in ihrer dunklen, sinnlichen Anmaßung. »Diese dumme, künstliche, übertriebene Stadt mit ihrem Lichternebel. Sie ist ja in Wirklichkeit gar nicht da. Sie beruht ja nur in der unbeschränkten Dunkelheit, wie der farbige Schimmer von Öl auf Wasser; aber was ist es? nichts, einfach nichts.«

In der Elektrischen, in der Bahn empfand sie ganz ebenso. Die Lichter, die bürgerliche Kleidung waren nichts als ein Kniff, die sich da vor ihr bewegenden oder sitzenden Leute waren nur ausgestellte Puppen. Unter ihrer blassen, hölzernen, scheinbaren Ruhe, ihrem bürgerlichen Zweckbewußtsein konnte sie den dunklen Strom bemerken, in dem sie alle schwammen. Sie waren wie dahinschwimmende Papierschiffchen. In Wirklichkeit war jeder nur eine dunkele, blinde, hastig vorwärtsstrebende Welle, mit demselben dunklen Sehnen wie alle andern. Und all ihr Reden und all ihr Getue war nichts als Lüge, sie waren verkleidete Puppen. Sie mußte an den Schatten denken, der selbst auch ein Stück Dunkelheit war, nur sichtbar durch seine Kleider.

Die ganzen nächsten Wochen ging sie in der gleichen, reichen Dunkelheit umher, ihre Augen weit geöffnet und glänzend wie die eines wilden Tieres, mit einem sonderbaren Halblächeln, das der bürgerlichen Anmaßung des Lebens um sie her zu spotten schien.

»Wer seid ihr denn, ihr blassen Wesen?« schien ihr leuchtendes Gesicht zu sagen. »Ihr armen, unterwürfigen Geschöpfe im Lammskleide, ihr Häufchen Dusternis, die man zu einer Gesellschaftsmaschine verfälscht hat.«

In einem sinnlichen Unterbewußtsein ging sie die ganze Zeit einher und verspottete das im Laden gekaufte, künstliche Tageslicht der andern.

»Sie erwerben sich ein eigenes Wesen, wie sie sich einen Anzug kaufen«, sagte sie bei sich, wenn sie in verächtlichem Spott auf die steifen, wesenlosen Menschen sah. »Sie glauben, es sei besser, Schreiber oder Lehrer zu spielen, als dunkle, fruchtbare Wesen zu sein, die nur im allmächtigen Dunkel leben. ›Wofür haltet Ihr Euch eigentlich?‹ fragte ihre Seele den Lehrer, dem sie in ihrer Klasse gegenübersaß. ›Wofür hältst du dich eigentlich mit deinem langen Gewande und deiner Brille? Du bist ein lauerndes, Blut witterndes Geschöpf, deine Augen starren aus dem Dickicht der Dschungel hervor, du witterst nach deinen Lüsten. Das bist du, wenn es auch niemand glauben will, und du wärest der Letzte, der es zugäbe.‹«

Ihre Seele war voller Spott über all diesen falschen Schein. Auch sie, sie selbst verharrte darin. Sie zog sich an und putzte sich auf, sie wohnte ihren Vorlesungen bei und kritzelte Bemerkungen nieder. Aber stets im Gefühle oberflächlicher, spöttischer Leichtherzigkeit. Sie verstand ihre Zwei-mal-zwei-gleich-vier-Kniffe nur zu gut. Sie war genau so klug wie die da. Aber sich kümmern! – kümmerte sie sich denn im geringsten um ihre wissenschaftlichen Affenkniffe oder um Lernen oder bürgerliches Wohlverhalten? Ganz und gar nicht.

Da war Skrebensky, da ihr dunkles, lebendiges Ich. Außerhalb der Hochschule, draußen in der Dunkelheit wartete Skrebensky. Am Rande der Nacht wachte er voller Aufmerksamkeit. Aber kümmerte er sich um irgend etwas?

Frei wie der Leopard war sie, der seinen heiseren Schrei durch die Nacht tönen läßt. Sie besaß den mächtigen, dunklen Strom ihres eigenen Blutes, den schimmernden Kern der Fruchtbarkeit, sie besaß ihren Genossen, ihren Ergänzer, ihren Teilhaber am Genuß. Damit hatte sie alles und jedes.

Skrebensky blieb die ganze Zeit über in Nottingham. Er war ebenfalls frei. Er kannte in der ganzen Stadt niemand, er hatte kein bürgerliches Dasein aufrecht zu erhalten. Er war frei. Ihre Elektrischen und Märkte und Theater und öffentlichen Versammlungen waren für ihn nichts als ein buntes Farbenspiel, er beobachtete sie, wie ein Löwe oder Tiger vielleicht zusammengekniffenen Auges die Leute an seinem Käfig vorübergehen sieht, ein unwirkliches Farbenspiel von Menschen; oder wie ein Leopard blinzelnd die ihm unverständlichen Bewegungen seiner Hüter verfolgt. Er verachtete das alles – es hatte für ihn gar keinen Bestand. Ihre guten Lehrer, ihre guten Geistlichen, ihre guten Staatsredner, ihre guten, ernsten Frauen – fortwährend fühlte er, wie seine Seele grinste, grinste, grinste, sobald sie ihrer gewahr wurde. Ein großes Puppenspiel, ein Haufen Holz und Lumpen, für eine Vorstellung zurechtgemacht.

Er beobachtete den Bürger, die Stütze der Gesellschaft, dies Musterbild, sah seine steifen Bocksbeine, die in dem Wunsche, auch ihren Teil an der Vorstellung recht gut zu machen, beinahe so steif wie Holz geworden waren, er bemerkte, wie sogar ihre Hosen für die Vorstellung zugeschnitten waren; Menschenbeine, aber steif und ungestalt gewordene, häßlich, hölzern.

Er war über sein Alleinsein jetzt merkwürdig glücklich. Fortwährend schimmerte ein Grinsen auf seinem Gesicht. Er sah sich nicht länger gezwungen, irgendwie teilzunehmen an den Schauspielerkniffen der übrigen. Er hatte einen Ausweg gefunden, war aus der Vorstellung ausgebrochen, war wie ein wildes Tier stracks in sein Dschungel zurückgerannt. Er hatte ein Zimmer in einem ruhigen Gasthaus gefunden; nun mietete er ein Pferd und ritt aufs Land hinaus, blieb auch wohl einmal über Nacht in irgendeinem Dorfe und kam erst den nächsten Tag wieder.

Er kam sich reich und ausgefüllt vor. Alles, was er tat, gewährte ihm reinstes Vergnügen – ausreiten oder spazierengehen oder in der Sonne liegen, oder auch einmal ins Wirtshaus gehen. Für Menschen hatte er nichts übrig, für Worte ebensowenig. Er empfand großes Vergnügen an allem, ein stetes Gefühl reicher Wollust über sich selbst und an der Fruchtbarkeit der Nacht, in der er lebte. Die Puppengestalten der Menschen, ihre hölzernen Stimmen blieben ihm unendlich fern.

Denn er traf sich fortwährend mit Ursula. Sehr häufig besuchte sie nachmittags nicht die Hochschule, sondern ging statt dessen mit ihm spazieren. Oder er nahm einen Kraftwagen oder sonst ein kleines Fuhrwerk, und dann fuhren sie aufs Land hinaus, ließen den Wagen stehen und gingen in den Wald hinein. Noch hatte er sie nicht genommen. Mit feinem Sparsamkeitsgefühl kosteten sie jeden Kuß bis ans Ende aus, jede Umarmung, jedes Vergnügen vertrauter Berührung, da sie sich undeutlich bewußt waren, das Letzte stände ihnen noch bevor. Das würde ihren endgültigen Eintritt in die Quelle der Schöpfung bedeuten. Sie nahm ihn mit nach Hause, und er blieb einmal über Wochenende in Beldover bei ihnen. Sie hatte ihn zu gern bei sich zu Hause. Seltsam, wie er sich mit seinem Lachen, seiner anschmiegsamen Anmut dem Dunstkreis ihres Hauses anzupassen verstand. Alle liebten sie ihn, er war ihnen durchaus verwandt. Sein Scherzen, seine warme, sinnlich-neckische Art war Speise und Trank für das Haus Brangwen. Denn das ganze Haus bebte immer in Finsternis, sie legten ihre Puppengewänder ab, sowie sie das Haus betraten, und lagen schläfrig genießend in der Sonne umher.

Es herrschte ein Gefühl von Freiheit unter ihnen, ein Unterstrom von Dunkelheit in ihnen allen. Und doch, hier im Hause mochte Ursula das nicht. Hier fand sie keinen Geschmack daran. Und sie wußte, daß, wenn sie ihre wahren Beziehungen zu Skrebensky kennten, ihre Eltern, ihr Vater ganz besonders vor Wut rasen würden. So gab sie sich schlau den Anschein, als täte sie nichts weiter als jedes andere junge Mädchen, dem ein junger Mann den Hof macht. Und sie war auch wie jedes andere junge Mädchen. Aber der Widerstand ihres Inneren gegen den Betrug des Gesellschaftslebens war zurzeit vollkommen und ausschlaggebend.

Jeden Augenblick des Tages wartete sie nur auf seinen nächsten Kuß. In Scham und Seligkeit gestand sie sich das ein. Fast mit vollem Bewußtsein wartete sie auf ihn. Auch er wartete, aber bis es so weit war, mehr unbewußt. Kam aber die Zeit, wo er sie küssen konnte, dann wurde ihm jedes Hindernis zur Vernichtung. Er fühlte sein Fleisch grau werden, er fühlte sich zu einem unbeweglichen Leichnam erstarren, er war gar nicht mehr da, wenn die Zeit ungenützt verstrich.

In höchster Vollendung kam er endlich zu ihr. Es war sehr dunkel, und wieder eine schwere, windige Nacht. Sie waren den Weg nach Beldover hinabgegangen, das Tal hinunter. Sie waren am Ende ihrer Küsse, und Schweigen lag zwischen ihnen. Sie standen am Rande einer Klippe, die große Finsternis unter sich.

Aus der Straße in die Dunkelheit hinaustretend, der dunkle Raum sich im Winde vor ihnen ausbreitend und die funkelnden Lichter des Bahnhofes unter sich, das entfernte, vom Winde herübergetragene Stoßen eines Zuges in einer Weiche, das leise Klick-klick-klick der Wagen, das von der dunklen Masse des Hügels von Beldover drüben herüberfunkelnde Licht seiner letzten Häuser, die Glut der Hochöfen an der Bahn entlang zu ihrer Rechten: da wurde ihr Schritt wankend. Bald mußten auch sie aus der Finsternis in dies Licht hinein. Das bedeutete Umkehr. Das bedeutete Nichtvollendung. Zwei bebende, unwillige Geschöpfe, zauderten sie am Rande der Dunkelheit und spähten nach den Lichtern und dem Schimmer der Maschinen drüben aus. In die Welt konnten sie sich nicht zurückwenden – sie konnten einfach nicht.

In diesem Zaudern gelangten sie schließlich zu einem gewaltigen Eichbaum am Wege. In der Masse seiner Blattknospen brauste der Wind, und sein Stamm bebte in jeder Fiber, gewaltig, unüberwindlich.

»Hier wollen wir uns hinsetzen«, sagte er. Und hier in dem brausenden Kreise unter dem fast unsichtbaren Baum, der sie doch in seinen mächtigen Schutz aufnahm, lagen sie einen Augenblick und sahen zu den funkelnden Lichtern auf der Dunkelheit drüben hinüber, sahen sie den sausenden Brand eines Zuges am Rande eines nachtdunklen Feldes dahinjagen.

Dann wandte er sich zu ihr und küßte sie, während sie auf ihn wartete. Der Schmerz, den sie empfand, war der ersehnte, die Qual die, nach der sie sich gesehnt hatte. Gefangen, verstrickt wurde sie vom mächtigen Beben der Nacht. Der Mann da, wer war er? – ein dunkles, mächtiges Beben, das sie umfing. Wie von einem dunklen Winde getragen flog sie davon, hinweg, weit hinweg, in die erste Dunkelheit des Paradieses, in die ursprüngliche Unsterblichkeit. Sie betrat das dunkle Gefilde der Unsterblichkeit.

Als sie aufstand, fühlte sie sich seltsam stark, frei. Sie schämte sich nicht, – warum auch? Er ging neben ihr her, der Mann, der bei ihr gewesen war. Sie hatte ihn hingenommen, sie waren zusammen gewesen. Wohin ihr Weg sie geführt hatte, das wußte sie nicht. Aber ihr war, als sei ihr ganzes Wesen verwandelt. Nun gehörte sie dem ewig Unwandelbaren an, in das sie miteinander hineingesprungen waren.

Ihre Seele war sicher und gleichgültig gegen die Meinung der Welt künstlichen Lichtes. Als sie die Stufen zu dem Fußsteig über die Eisenbahn hinaufstiegen und den Fahrgästen eines Zuges begegneten, fühlte sie, wie sie jetzt einer ganz anderen Welt angehöre, unanfechtbar wandelte sie an ihnen vorüber, eine ganze Dunkelheit trennte sie von ihnen. Als sie zu Hause in das erleuchtete Eßzimmer trat, war sie für das Licht ebenso undurchdringlich wie für die Augen ihrer Eltern. Ihr Alltags-Ich war noch das gleiche. Sie hatte nur ein stärkeres, anderes Ich angelegt, das auch die Dunkelheit kannte.

Dies merkwürdige andere Ich, das in der Dunkelheit und dem Stolze der Nacht lebte, wich nie mehr von ihr. Nie war sie so ganz sie selbst gewesen. Daß irgend jemand sonst, selbst der junge Mann aus der Außenwelt, Skrebensky, etwas mit ihrem ewigen Ich zu tun habe, kam ihr nie in den Sinn. Ihr zeitliches, gesellschaftliches Ich mochte für sich selbst Sorge tragen.

Ihre ganze Seele war erfüllt von Skrebensky – nicht dem jungen Manne von Welt, sondern dem ununterscheidbaren Manne, der er war. Sie war sich ihrer völlig sicher, sie war stark, stärker als die ganze Welt. Die Welt war gar nicht stark – sie war stark. Die Welt bestand nur in einem nebensächlichen Sinne: – sie war erhaben über sie.

Sie ging weiter zur Hochschule wie immer, aber lediglich um sie als Deckmantel für ihr dunkles, mächtiges Unter-Leben zu benutzen. Die Tatsache, daß sie selbst und Skrebensky mit ihr in diesem lebte, besaß eine solche innere Stärke, daß sie sich in ihm ausruhen konnte. So ging sie morgens zur Hochschule und besuchte blütengleich den Unterricht.

Sie frühstückte mit ihm in seinem Gasthause; den Abend verbrachten sie entweder in der Stadt in seinem Zimmer oder draußen im Freien. Aber ihrem Unterricht schenkte sie keinerlei Aufmerksamkeit mehr.

Sie waren beide unbedingt und glücklich und ruhig. Die Tatsache ihrer eigenen Vollendung ließ alles übrige so gänzlich untergeordnet erscheinen, daß sie sich völlig frei vorkamen. Das einzige, wonach sie sich sehnten, je mehr die Tage hinliefen, war, daß sie mehr Zeit füreinander haben könnten. Sie sehnten sich danach, völlig Herren ihrer Zeit zu sein.

Die Osterfreizeit kam heran. Sie waren sich sofort darin einig, sie wollten fort. Ob sie wiederkämen oder nicht, war ihnen ganz gleichgültig. Gegen alle Tatsachen waren sie völlig stumpf.

»Ich meine, wir sollten uns heiraten«, sagte er tief nachdenklich. So war es ja so wunderbar frei und die Welt so viel tiefer, so wie es jetzt war. Die Veröffentlichung ihrer Verbindung würde sie in eine Reihe mit alledem stellen, was ihn vernichtete und wovon er sich im Augenblick gänzlich frei vorkam. Sobald er heiratete, mußte er sein gesellschaftliches Dasein bekräftigen. Und der Gedanke hieran machte ihn sogleich mißtrauisch und zerstreut. Würde sie vor der Welt seine Frau und damit ein Teil dieses Wirrsals toter Wirklichkeiten, was hätte dann sein Unter-Leben noch mit ihr zu schaffen? Die gesetzliche Frau war doch nur ein greifbares Wahrzeichen. Nun aber besaß sie für ihn ein viel höheres Leben, als irgend etwas im althergebrachten Leben aufweisen konnte. Sie strafte die Hergebrachtheit des Lebens Lügen, er und sie standen zusammen, dunkel, fließend, unendlich mächtig, ihr Leben strafte ihre ganze tote Umgebung Lügen.

Er beobachtete ihr nachdenkliches, grübelndes Gesicht.

»Ich weiß nicht, ich glaube, ich möchte dich lieber nicht heiraten«, sagte sie mit umwölkten Brauen.

Das tat ihm sehr weh.

»Warum denn nicht?« fragte er.

»Ach, darüber laß uns später nachdenken, nicht?« meinte sie.

Sein Gedanke war durchkreuzt, aber er liebte sie doch so leidenschaftlich.

»Du hast ein museau, gar kein richtiges Gesicht«, sagte er.

»So?« sagte sie, und ihr Gesicht leuchtete auf wie eine Flamme. Sie hatte geglaubt, sie wäre ihm entschlüpft. Aber er kam wieder zurück – er war noch nicht zufrieden.

»Warum nicht?« fragte er; »warum willst du mich nicht heiraten?«

»Ich mag nicht mit andern Leuten zusammensein«, sagte sie. »Ich wollte, es bliebe immer so wie jetzt. Wenn ich dich heiraten möchte, will ich es dir sagen.«

»Schön«, sagte er.

Es war ihm ebenso lieb, die Sache jetzt unentschieden und damit sie die Verantwortung übernehmen zu lassen.

Sie sprachen von der Osterfreizeit. Sie dachte nur an reinstes Vergnügen.

Sie gingen in ein Gasthaus in Piccadilly. Sie galt für seine Frau. Sie kauften sich einen Trauring für einen Schilling, in einem Geschäft irgendwo in einem ärmlichen Viertel.

Die gewöhnliche sterbliche Welt verneinten sie vollkommen. Ihr Vertrauen war wie eine Art Besessenheit. Sie waren besessen. Vollkommen frei und über alles erhaben fühlten sie sich, stolz über alle Begriffe und jenseits aller sterblichen Verhältnisse.

Sie waren vollkommen, also hatte nichts außer ihnen Bestand. Die Welt war nur eine Welt von Dienern, die man höflich übersah. Wohin sie gingen, immer waren sie die weltfreudigen Vornehmen, warm, strahlend, in reinstem Sinnenstolz umherblickend.

Die Wirkung auf andere Leute war außerordentlich. Das junge Paar strahlte seinen Glanz über alle aus, mit denen es in Berührung kam, Kellner oder Zufallsbekanntschaften.

» Oui, monsieur le baron«, pflegte sie ihrem Gatten mit spöttischem Knicks zu erwidern.

Schließlich kam es so weit, daß man sie überall für Angehörige des Adels ansah. Er war Offizier bei den Pionieren, sie waren eben verheiratet und gingen sofort nach Indien.

So wob sich allmählich eine ganze Sage um sie her. Sie selbst glaubte, sie wäre die junge Frau eines adligen Gatten, und ihre Abreise nach Indien stände unmittelbar bevor, diese gesellschaftliche Tatsache war ihr ein köstliches Gaukelspiel. Die lebendige Tatsache war die, daß sie Mann und Frau waren, unbedingt und ohne irgendwelche Einschränkung.

Die Tage liefen hin – drei Wochen hatten sie vor sich – ein vollkommener Erfolg. Die ganze Zeit über waren sie füreinander die reinste Wirklichkeit, die ganze Außenwelt war ihnen zinspflichtig. Um Geld kümmerten sie sich nicht, aber sie waren auch nicht sehr verschwenderisch. Er fühlte sich ziemlich überrascht bei der Entdeckung, er habe in nicht ganz einer Woche zwanzig Pfund ausgegeben, aber es war kaum mehr als der unangenehme Gedanke, nun müsse er zur Bank gehen. Das Sinnlose dieser alten Bräuche hatte etwas Belastendes für ihn, nicht die Bräuche selbst. Geld gab es einfach gar nicht für ihn.

Ebensowenig irgendwelche alten Verpflichtungen. Sie kamen aus dem Theater, aßen zu Abend, zogen sich aus und flitzten dann in ihren Schlafanzügen umher. Sie hatten ganz hoch oben ein großes Schlafzimmer und ein Eckzimmer als Wohnzimmer, sehr ruhig und behaglich. Sie nahmen alle ihre Mahlzeiten im Zimmer ein, wobei ein junger Deutscher namens Hans sie bediente, der sie für etwas ganz Wundervolles hielt und stets sehr diensteifrig antwortete: »Gewiß, Herr Baron – bitte sehr, Frau Baronin.«

Manchmal sahen sie die rosa Dämmerung fern über den Park hinweg. Der Turm von Westminster tauchte auf, die Lampen von Piccadilly zogen ihre Reihen neben den Bäumen des Parkes hin und wurden blaß, mottengleich, der Morgenverkehr klingelte die schattenerfüllte Straße entlang, die dort unten die ganze Nacht wie Metall geglüht hatte, weit in die Nacht hinein sich erstreckend unter den nun in der Dämmerung undeutlich wie im Nebel werdenden Lampen.

Wurde das Rot der Dämmerung dann tiefer, so öffneten sie die Glastüren und traten auf den schwindelnden Söller hinaus, voller Siegesgefühl wie zwei selige Engel, und sahen auf die schlafende Welt hinunter, die nun zu einem pflichterfüllten, rumpelnden, schwerfälligen Gewühl von Unwirklichkeit erwachen sollte.

Aber die Luft war kühl. Sie gingen ins Schlafzimmer und nahmen ein Bad, bevor sie zu Bett gingen, wobei sie die Tür des Badezimmers offen ließen, so daß der Dampf ins Schlafzimmer hinüberdrang und den Spiegel leicht beschlug. Sie war immer zuerst im Bett. Sie sah ihm zu, wie er badete, seinen raschen, unbewußten Bewegungen, den Widerschein des elektrischen Lichts auf seinen nassen Schultern. Dann trat er aus der Badewanne, sein ganzes Haar ihm glatt übers Gesicht gewaschen, und drückte sich das Wasser aus den Augen. Er war schlank und für sie einfach vollkommen, ein reiner, grade gewachsener Jüngling, ohne jedes überflüssige Gramm Gewicht am Leibe. Das braune Haar seines Körpers war so weich, so fein, so anbetungswürdig, sein ganzer Leib war so wundervoll gerötet, wenn er so aufrecht vor der Badewanne stand.

Er sah ihr dunkles, warmes, hellerleuchtetes Gesicht ihm von ihrem Kissen aus zusehen – und doch sah er sie gar nicht – es war ja immer anwesend, war ihm wie sein eigener Augapfel. Daß sie ein Wesen für sich sei, wurde ihm niemals klar. Sie war ihm wie sein eigener Augapfel und der eigene Herzschlag.

So ging er zu ihr hinüber, um seinen Schlafanzug anzuziehen. Ihr nahe zu kommen, war immer ein wahres Abenteuer. Sie schlang ihre Arme um ihn und beroch seine warme, aufgeweichte Haut.

»Duft«, sagte sie.

»Seife«, antwortete er.

»Seife«, wiederholte sie nun und sah mit strahlenden Augen zu ihm empor. Sie lachten beide fortwährend, lachten immerzu.

Bald lagen sie in tiefem Schlafe, schliefen bis Mittag dicht aneinander gepreßt, schliefen einen einzigen Schlaf. Dann erwachten sie wieder zu der ewig wechselnden Wirklichkeit ihres Daseins. Sie allein bewohnten die Welt der Wirklichkeit. Alles übrige lebte auf niedrigerer Stufe.

Sie taten nur, was ihnen paßte. Sie besuchten ein paar Menschen – Dorothea, deren Gast sie angeblich war, und ein paar Freunde Skrebenskys, junge Oxford-Leute, die sie selbstverständlich Mrs. Skrebensky nannten. Sie behandelten sie in der Tat mit so großer Achtung, daß sie sich völlig wie ein Teil des Weltalls vorzukommen begann, der alten Welt ebensogut wie der neuen. Sie vergaß, daß sie außerhalb der Pfähle der alten Welt stand. Sie glaubte, sie hätte auch sie unter den Bann ihrer eigenen, wirklichen Welt gebracht. Und das hatte sie auch.

So gingen die Wochen in ewig wechselnder Wirklichkeit hin. Die ganze Zeit über waren sie füreinander eine unbekannte Welt. Jede Bewegung, die der eine ausführte, war für den andern eine Wirklichkeit und ein Abenteuer. Anregungen von außerhalb brauchten sie nicht. Sie gingen nur sehr selten ins Theater, sehr oft dagegen waren sie in ihrem Wohnzimmer hoch droben in Piccadilly, die Fenster nach beiden Seiten offen, ebenso wie die Tür zum Söller, der nach dem Green Park hinübersah oder auf das kleinwinzige Getriebe des Straßenverkehrs.

Dann plötzlich, als sie einem schönen Sonnenuntergang zusah, wünschte sie sich weit weg. Sofort mußte sie los. Und zwei Stunden später standen sie auf dem Bahnhof Charing Croß und nahmen den Zug nach Paris. Paris war sein Vorschlag gewesen. Ihr war es ganz einerlei, wo es hinging. Die Hauptfreude war der Aufbruch. Und ein paar Tage war sie glücklich über alles Neue, das Paris ihr bot.

Aus irgendeinem Grunde mußte sie auf dem Rückwege nach London erst noch einmal nach Rouen. Er hatte ein gefühlsmäßiges Mißtrauen gegen ihre Sehnsucht nach diesem Orte. Sie aber wollte ganz widersinnig unbedingt dorthin. Es war, als wolle sie mal die Einwirkung dieses Ortes auf sich versuchen.

In Rouen überkam ihn zum ersten Male ein kaltes Gefühl des Todes; nicht aus Furcht vor einem andern Manne, aber vor ihr. Sie schien ihn zu verlassen. Sie verfolgte hier etwas, das nicht er war. Sie wollte nichts von ihm wissen. Die alten Straßen, der Dom, das Alter und der gewaltige Frieden der Stadt entzogen sie ihm. Sie wandte sich ihnen zu als etwas, was sie vergessen und wonach sie sich sehr gesehnt habe. Nun war dies ihre Wirklichkeit; der große, steinerne Dom mit seiner schlafenden Masse, die nichts von Vergänglichkeit wußte oder von Verneinung. Mächtig war er in seiner Beständigkeit, seiner prachtvollen Unbedingtheit.

Ihre Seele begann für sich zu laufen. Er bemerkte das nicht, aber sie auch nicht. Und doch ergriff hier in Rouen ihn zum ersten Male tödliche Angst, zum ersten Male ein Gefühl des Todes, dem sie entgegenwanderten. Und sie empfand das erste heftige Sehnen, heftig, heftig bis zur Hoffnungslosigkeit, fast wie ein tiefes, unruhiges Versinken in Starre, in Hoffnungslosigkeit.

Sie gingen nach London zurück. Aber sie hatten noch zwei Tage vor sich. Er begann zu zittern, er begann zu fiebern aus Angst vor ihrem Fortgang. Sie besaß eine schicksalhafte Voraussicht in ihrem Innern, die sie ruhig machte. Was kommen mußte, würde kommen.

Er blieb indessen ziemlich ruhig, immer noch in einem Zustande erhöhten Glanzes, bis sie fort war und er sich von St. Pancras wegwandte und mit der Elektrischen über Pimlico nach dem Engel fuhr, nach Moorgate Street, an einem Sonntagabend.

Dann allmählich durchfuhr ihn kalter Schrecken. Er wurde den Schrecken der City Road gewahr, nahm die ganze kalte Schmutzigkeit der Elektrischen in sich auf, in der er saß. Kalte, aschige, gewaltige Unfruchtbarkeit umgab ihn. Wo war die leuchtende, wundervolle Welt geblieben, der anzugehören sein gutes Recht war? Wie kam es, daß er sich hier so auf den Misthaufen geworfen fand?

Er war wie verrückt. Der Schrecken der Backsteinhäuser, der Elektrischen, der aschgrauen Leute auf der Straße machten ihn schwindlig und blind, als wäre er betrunken. Er wurde wahnsinnig. Mit ihr hatte er in einer engen, lebendigen, lebendurchfluteten Welt gelebt, in der alles von reichstem Leben durchströmt war. Nun fand er sich gegen eine aschtrockene, kalte Welt starrer, toter Wände ankämpfend und seelenlosen Verkehr, kriechende, gespenstergleiche Leute. Das Leben war erloschen, was sich hier noch regte und bewegte oder starr dalag, war nur Asche; eine geräuschvolle, schreckliche Geschäftigkeit umgab ihn, ein Rasseln wie vom Fall trockener Schlacke, kalt und unfruchtbar. Es war, als wäre der Sonnenschein vom Himmel ein künstliches Licht, das die gesamte Asche der Stadt aufdeckte, als seien die Lichter des Nachts der trügerische Schimmer der Verwesung.

Ganz wahnsinnig, ganz außer sich ging er in seinen Klub und saß mit einem Glase Whisky bewegungslos da, als wäre er zu Ton geworden. Er kam sich wie ein Leichnam vor, der grade noch so viel Leben in sich hat, um wie alle die übrigen leblosen, gespensterhaften Geschöpfe zu erscheinen, die wir in unserer toten Sprache Menschen nennen. Ihre Abwesenheit war für ihn schlimmer als jeder Schmerz. Sie vernichtete sein Dasein.

Ganz tot ging er nach dem Frühstück zum Tee. Sein Gesicht war die ganze Zeit über steif und starr und farblos, sein Leben war trockene, seelenlose Bewegung. Aber er konnte sich doch noch über das namenlose Elend wundern, das über ihn gekommen war. Wie konnte er nur so aschengleich und erloschen sein?

Er schrieb ihr einen Brief.

»Ich habe mirs überlegt, wir müssen uns binnen kurzem heiraten. Mein Gehalt wird höher sein, wenn ich erst einmal draußen in Indien bin, wir werden schon auskommen. Oder wenn du durchaus nicht nach Indien willst, dann glaube ich, könnte ich es auch erreichen hier zu bleiben. Aber ich glaube, Indien würde dir gefallen. Du könntest reiten und würdest einfach jedermann kennen lernen. Vielleicht, wenn du dich darauf versteifst, erst deine Prüfung durchzumachen, könnten wir ja gleich danach heiraten. Sobald ich von dir höre, werde ich deinem Vater schreiben – – –«

So fuhr er fort, einfach über sie zu verfügen. Könnte er doch nur mit ihr zusammen sein! Sein einziger Wunsch war jetzt, sie zu heiraten, sich ihrer zu vergewissern. Und doch war er die ganze Zeit über hoffnungslos, vollkommen hoffnungslos, kalt, erloschen, ohne Empfindung oder Verbindung.

Er kam sich vor, als wäre sein Leben tot. Seine Seele war erloschen. Sein ganzes Dasein war unfruchtbar geworden, er war nur noch ein vom Leben abgeschiedener Geist. Er besaß keine Rundung, er war nur ein plattes Wesen. Tag für Tag nahm sein Wahnsinn zu. Aller Schrecken des Nicht-Seins kam über ihn.

Er ging hier und dort und überall hin. Aber was er auch unternahm, er wußte, nur sein äußerer Mensch wäre dabei, ohne weiteren Inhalt. Er ging ins Theater; was er hörte und sah, fiel auf eine Oberfläche kalten Bewußtseins, die nun sein ganzes Ich darstellte; es war nichts dahinter, irgendwelche Erfahrungen blieben ihm verschlossen. Ein seelenloses Aneinanderreihen war alles, was in ihm vorging, weiter nichts. Er hatte kein Wesen, keinen Inhalt. Aber die Leute, die er traf, ebensowenig. Sie waren reine Umstellungen bekannter Größen. In der Welt, die er jetzt bewohnte, gab es keine Rundung, keine Fülle, alles war lediglich eine tote, rein begriffliche Zusammenstellung, ohne Leben, ohne Wesenheit.

Viel von seiner Zeit verbrachte er mit seinen Freunden und Waffenbrüdern. Dann vergaß er alles. Ihre Geschäftigkeit war ihm ein Ersatz für seine eigene Verneinung, sie gaben seinem Schrecken vor dem Nichts etwas zu tun.

Glücklich fühlte er sich nur, wenn er trank, und er trank recht gründlich. Dann war er genau das Gegenteil seines früheren Ich. Er wurde zu einer warmen, sich ausbreitenden, glühenden Wolke, in einer warmen, sich ausbreitenden, luftigen Welt. Er war eins mit allem, in einer zerstreuten, formlosen Weise. Alles verschmolz in ihm zu rosiger Glut, und er war die Glut, und alles andere war die Glut, jedermann war die Glut, und es war so nett, so nett. Er fing an Lieder zu singen, so nett war es.

Fest und verschlossen kam Ursula nach Beldover wieder zurück. Sie liebte Skrebensky, darin war sie sich sicher. Mehr wollte sie nicht zugeben.

Sie las seinen langen, wahnsinnigen Brief über ihr Heiraten und Nach-Indien-gehen, ohne besonders darauf einzugehen. Sie schien gar nicht zu verstehen, was er da übers Heiraten sagte. Das ging ihr nicht ein. In dem weitaus größeren Teile seines Briefes schien er ohne besonderes Nachdenken zu reden.

Sie antwortete ihm scherzend und obenhin. Sie schrieb selten lange Briefe.

»Indien klingt so entzückend. Ich kann mich schon auf einem Elefanten durch lange Reihen unterwürfiger Eingeborener dahinschwanken sehen. Aber ich weiß doch nicht, ob Vater mich gehen lassen würde. Wir müssen sehen.

Ich durchlebe immer wieder die köstliche Zeit, die wir hinter uns haben. Aber ich glaube, gegen Ende mochtest du mich nicht mehr so gern wie anfangs, nicht wahr? Als wir von Paris fortgingen, mochtest du mich gar nicht. Warum eigentlich nicht?

Ich liebe dich so sehr. Ich liebe deinen Körper. Er ist so klar und fein. Ich bin sehr froh, daß du nicht nackend herumläufst, denn dann würden sich alle Frauenzimmer in dich verlieben. Ich bin sehr eifersüchtig auf ihn, ich habe ihn so lieb.«

Er war durch diesen Brief mehr oder weniger befriedigt. Aber tagaus, tagein ging er tot umher, nicht mehr anwesend.

Nach Nottingham konnte er vor Ende April nicht wieder kommen. Dann überredete er sie, mit ihm über Sonntag das Haus eines Freundes in der Nähe von Oxford zu besuchen. Jetzt waren sie verlobt. Er hatte an ihren Vater geschrieben, und die Sache war geregelt. Er brachte ihr einen Smaragdring mit, auf den sie sehr stolz war.

Ihre Angehörigen behandelten sie nun mit einer gewissen Fremdheit, als hätte sie sie bereits verlassen. Sie ließen sie sehr viel allein.

Sie ging mit ihm auf drei Tage in das Haus seines Freundes bei Oxford. Hier war es köstlich, und sie fühlte sich sehr glücklich. Aber woran sie sich am liebsten erinnerte, war, wenn er des Morgens nach bei ihr verbrachter Nacht aufgestanden und leise wieder in sein Zimmer gegangen war, wie sie sich dann so reich in ihrer Einsamkeit vorkam und sich völlig der Freude über das Alleinsein in ihrem Zimmer hingeben konnte, wie sie ihre Vorhänge aufzog und die Pflaumenbäume unten im Garten glitzernd und schneeig und entzückend im Sonnenschein dastehen sehen konnte, in voller Blüte unter dem blauen Himmel. Sie breiteten ihre Blüten aus, schleuderten sie zum blauen Himmel empor, die weißesten aller Blüten! Wie sie das erregte.

Sie mußte sich schleunigst anziehen und in den Garten zu den Pflaumenbäumen hinunter, ehe noch jemand dazukommen und mit ihr zu reden anfangen konnte. So schlüpfte sie hinaus und wandelte wie eine Königin durch ihren Lustgarten. Die Blüten hatten einen silbernen Schatten, wenn sie unter dem Baume stehend zu dem blauen Himmel emporsah. Ein feiner Duft wehte herab, ein schwaches Summen der Bienen, der Morgen hatte etwas so wundervoll Lebendiges.

Sie hörte die Frühstücksglocke und ging wieder ins Haus.

»Wo sind Sie denn schon gewesen?« fragten die andern.

»Ich mußte hinunter zu den Pflaumenbäumen«, sagte sie, ihr Gesicht glühend wie eine Blume. »Es war zu entzückend.«

Ein Schatten von Ärger überflog Skrebenskys Seele. Er hatte nicht dabei sein sollen. Er verhärtete seinen Willen.

Nachts hatten sie Mondenschein, und die Blüten glimmerten geistergleich, sie gingen zusammen, um sie sich anzusehen. Sie sah den Mondenschein auf seinem Gesicht, als er wartend neben ihr stand, und seine Gesichtszüge wurden zu Silber, seine überschatteten Augen bekamen bodenlose Tiefe. Sie war sehr verliebt in ihn. Er war sehr ruhig.

Sie gingen wieder hinein und sie tat so, als wäre sie sehr müde. Daher ging sie auch gleich zu Bett.

»Mach, daß du zu mir kommst«, flüsterte sie, während sie ihm anscheinend nur einen Gutenachtkuß gab.

Und gespannt, besessen wartete er auf den Augenblick, wo er zu ihr gehen könnte.

Sie ergötzte sich sehr an ihm und verzog ihn sehr. Sie legte ihren Finger auf die weiche Haut seiner Seite, oder auf seinen weichen Rücken, wobei er die Muskeln darunter anspannen mußte, seine durch das viele Reiten sehr entwickelten Muskeln; und ein mächtiger Schauer von Leidenschaft und Erregung überlief sie bei der Härte seines Körpers, die sich nicht eindrücken ließ, die unter ihrem Finger so weich und glatt erschien und ihr so unbedingt zu Diensten stand.

Sein Körper gehörte ihr, und sie erfreute sich an ihm mit all dem Entzücken und der Sorglosigkeit des Besitzenden. Er aber hatte vor ihrem Körper allnachgerade Angst bekommen. Er wollte sie haben und wollte sie unaufhörlich haben. Aber in sein Sehnen trat eine Spannung ein, ein Zwang, der ihn an dem Genuß der ersehnten Annäherung, der lieblichen Enge ihrer endlosen Umarmungen hinderte. Er wurde bange. Sein Wille war stets gespannt, fest.

»Möchtest du lieber in England leben oder in Indien, wenn wir verheiratet sind?« fragte er.

»O, weit lieber in Indien«, sagte sie mit einem unbekümmerten Mangel an Nachdenken, der ihn ärgerte.

Einmal sagte sie ganz hitzig:

»Ich will so froh sein, wenn ich aus England wegkomme. Alles ist hier so mager und dürftig, es ist so ungeistig – ich hasse jede Demokratie.«

Er wurde böse, wenn er sie derart reden hörte, aber er wußte nicht weshalb. Jedenfalls konnte er es nicht vertragen, wenn sie die bestehenden Verhältnisse derart angriff. Es kam ihm vor, als griffe sie ihn damit an.

»Was meinst du damit?« fragte er feindselig. »Weshalb haßt du jede Demokratie?«

»In der Demokratie kommen nur gierige und eklige Leute in die Höhe,« sagte sie, »weil sie eben die einzigen sind, die vorwärts drängeln. Nur heruntergekommene Völker sind demokratisch.«

»Was möchtest du denn lieber – eine Aristokratie?« fragte er mit heimlicher Rührung. Er hatte immer das Gefühl gehabt, als gehöre er nach Recht und Billigkeit der herrschenden Klasse an. Und doch, wenn er sie so für seine Klasse sprechen hörte, tat ihm das mit einem Beigeschmack frohen Schmerzes weh. Er war sich bewußt, sich mit etwas Gesetzwidrigem einverstanden zu erklären, sich einen unrechtmäßigen, tadelnswerten Vorteil zu sichern.

»Ja, eine Aristokratie möchte ich«, rief sie. »Und weit lieber eine der Geburt als des Geldes. Wer sind denn jetzt eigentlich die Aristokraten – die besten, zum Herrschen auserlesenen? Die, die Geld haben und Sinn fürs Geldmachen. Was sie sonst haben ist einerlei: aber Geldsinn müssen sie haben, – eben weil sie doch nur im Namen des Geldes herrschen.«

»Das Volk wählt sich doch seine Regierung selbst«, sagte er.

»Ich weiß wohl. Aber wer ist denn das Volk? Jedermann bekümmert sich nur um sein Geld. Ich könnte wild werden, daß jeder, der ebensoviel hat wie ich, mir ebenbürtig sein soll. Ich weiß doch, ich bin besser als sie alle zusammen. Ich hasse sie. Sie sind mir nicht ebenbürtig. Ich hasse diese Ebenbürtigkeit auf Grund von Geldbesitz. Das ist eine Ebenbürtigkeit von Dreck.«

Ihre Augen funkelten ihn an, sie kam ihm vor, als wolle sie ihn vernichten. Sie hatte ihn gepackt und versuchte nun, ihn zu zerbrechen. Ärger gegen sie sprang in ihm empor. Jedenfalls wollte er mit ihr um sein Dasein kämpfen. Harter, blinder Widerwille ergriff von ihm Besitz.

»Ich mache mir auch nichts aus Geld,« sagte er, »und habe auch gar keine Lust, mir die Finger zu verbrennen. Die sind zu empfindlich.«

»Was gehen mich deine Finger an!« rief sie leidenschaftlich. »Du mit deinen zarten Fingern, und nach Indien gehst du doch grade nur, weil du dort auch zu denjenigen welchen gehörst. Das ist doch nur eine Ausflucht, daß du nach Indien gehst.«

»Wieso eine Ausflucht?« schrie er, weiß vor Ärger und Furcht.

»Du meinst, die Inder wären einfältiger als wir hier, und darum könntest du ihnen fein beikommen und den Herrn über sie spielen«, sagte sie. »Und dann wirst du dir so rechtschaffen verkommen, wenn du sie zu ihrem eigenen Besten beherrschst. Wie kommst du denn dazu, dich so rechtschaffen zu fühlen? Wieso bist du bei Ausübung deiner Herrschaft rechtschaffen? Deine Herrschaft stinkt. Wozu herrschst du denn in Indien, als um die Verhältnisse dort ebenso tot und gemein zu machen, wie sie hier sind!«

»Ich komme mir nicht im geringsten rechtschaffen vor«, sagte er.

»Na, denn wie du dir sonst vorkommst. Es ist ja alles ganz einerlei, was du fühlst und was du nicht fühlst.«

»Was fühlst du selbst denn?« fragte er. »Kommst du dir selber denn nicht rechtschaffen vor?«

»Jawohl, und das bin ich auch, weil ich eben gegen dich bin und gegen alle deine alten, toten Geschichten«, rief sie.

Mit diesen letzten, hart hervorgestoßenen Worten schien sie die von ihm bisher noch hochgehaltene Flagge niederzureißen. Er kam sich vor, als wäre er an den Knien abgehauen, kampfunfähig gemacht. Ein schreckliches Gefühl von Kranksein packte ihn, als wären ihm die Beine wirklich abgehackt und er könne sich nicht bewegen, müsse ein verkrüppelter Rumpf bleiben, abhängig, wertlos. Dies gräßliche Gefühl von Hilflosigkeit, als wäre er zu einer bloßen, gar nicht mehr wirklich lebenden Puppe geworden, machte ihn ganz wahnsinnig; ganz außer sich war er. Selbst jetzt, wo er mit ihr zusammen war, kam dieses Todesgefühl über ihn, in dem er umherging wie ein Leib, den alles selbständige Leben bereits verlassen hat. In diesem Zustand hörte er nicht mehr, noch sah oder fühlte er etwas, nur das Triebwerk seines Lebens ging noch weiter.

Er haßte sie, soweit ihm das in diesem Zustande möglich war. Seine Schlauheit zeigte ihm allerlei Wege, auf die er ihr wieder Achtung vor sich beibringen könnte. Denn sie besaß keine Achtung vor ihm. Er verließ sie und schrieb ihr nicht. Er machte andern Mädchen den Hof, wie zum Beispiel Gudrun.

Das machte sie ganz wild. Sie war noch immer furchtbar eifersüchtig auf seinen Leib. In leidenschaftlichem Ärger verspottete sie ihn, er wäre nicht Manns genug, um ein Weib zu befriedigen, und deshalb finge er an, hinter andern herzulaufen.

»Befriedige ich dich vielleicht nicht?« fragte er sie und wurde wieder weiß bis an die Kehle.

»Nein«, antwortete sie. »Du hast mich nie mehr befriedigt seit unserer ersten Woche in London. Jetzt befriedigst du mich nie.

Was liegt mir denn daran, daß du mich nimmst–––––-«

Sie zuckte die Achseln und wandte ihr Gesicht in kalter, gleichgültiger Geringschätzung zur Seite. Er hätte sie am liebsten umgebracht.

Hatte sie ihn so vollständig wahnsinnig gemacht, sah sie, wie seine Augen vor Leid ganz dunkel und wahnsinnig wurden, dann überkam ein großer Schmerz ihre Seele, ein großes, unüberwindliches Leid. Und dann hatte sie ihn lieb. Denn ach, sie wollte ihn ja so gern liebhaben. Stärker als Leben oder Tod war ihre Sehnsucht danach, imstande zu sein, ihn zu lieben.

Und in diesen Augenblicken, wo er ganz irrsinnig darüber war, daß sie ihn vernichten wolle, wenn seine ganze Liebenswürdigkeit in die Brüche gegangen war, sein ganzes Alltags-Ich zerbrochen dalag und nur der nackte, kümmerliche Urmensch noch übrig war, von Sinnen vor Qual, dann wurde ihre Leidenschaft, ihn lieb zu haben, wirkliche Liebe, dann nahm sie ihn wieder in Besitz, dann kamen sie in überströmender Leidenschaft zusammen, von der er wußte, daß er sie dann befriedigte.

Aber unter alledem entwickelte sich doch der Keim des Todes. Nach jeder neuen Berührung wurde ihre ängstliche Sucht nach ihm oder nach dem, was er ihr nie gewähren konnte, immer stärker, wurde ihre Liebe immer hoffnungsloser. Nach jeder Berührung wurde seine Abhängigkeit von ihr tiefer, wurde seine Hoffnung, ihr stark gegenüber zu stehen und sie aus eigener Kraft hinzunehmen, schwächer. Er fühlte, er war lediglich ihr Anhängsel.

Pfingsten kam, grade vor ihrer Prüfung. Sie sollte sich ein paar Tage ausruhen. Dorothea hatte ihre Erbschaft angetreten und ein Häuschen in Sussex gemietet. Sie lud sie ein, zu ihr zu kommen.

Sie fuhren hinunter zu Dorotheas nettem, niedrigem Häuschen grade am Fuße der Downs. Hier konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Ursula brannte immer darauf, oben auf die Downs zu gehen. Ein weißer Pfad wand sich zu ihrem Gipfel empor. Und dort mußte sie hinauf.

Von dort oben konnte sie den nur ein paar Kilometer entfernten Kanal sehen, die See hoch, glitzernd gegen den Himmel erhoben, die Insel Wight als schattenhafte Erhebung in der Ferne, den Fluß hell durch die wie gemusterte Ebene zur See hinablaufend, Arundel Castle ein Nebelberg in der Ferne, und dann die Wellen der hohen, glatten Downs, ein hohes, glattes Stück Land unter dem Himmel darstellend, und nur den Himmel in ihrer großen, sonnenglühenden Kraft anerkennend, nur ein paar Büschen gestattend, sich zwischen ihren mächtigen, nicht unterzukriegenden Leib und den wechselvollen Himmel einzuschieben.

Drunten sah sie die Dörfer und Wälder des Weald, sah sie einen Zug mutig dahinjagen, ein tapferes kleines Ding, mit der ganzen Wichtigkeit der Welt über die Wasserwiesen dahin und in einen Einschnitt der Downs hinein, fortwährend seine weiße Dampffahne schwenkend, und doch so kleinwinzig. So kleinwinzig, und doch reichte sein Mut von einem Ende der Welt zum andern, bis es keinen Ort mehr gab, wo er nicht mehr hingekommen wäre.

Aber wären die Downs in ihrer gleichmütigen Pracht, wie sie Leib und Glieder der Sonne darboten, Sonnenschein tranken und den Seewind und die seefeuchten Wolken mit ihrer goldenen Haut einsaugten, in ihrer großartigen Ruhe und Stille nicht noch viel wundervoller? Der blinde, gewichtige, unternehmungslustige Mut des winzigen Zuges, der so tapfer durch die gemusterte Ebene auf die dunstverhüllte See zu dampfte, so rasch und so zielbewußt, machte sie weinen. Wo fuhr er hin? Nirgendwo, er fuhr nur ins Weite. So blind, so ohne Ziel oder Zweck, und doch so rasch! Sie saß auf einem alten, vorgeschichtlichen Erdwerk und weinte, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Der Zug hatte sich blind und häßlich in die Erde eingebohrt.

Mit dem Gesicht am Boden lag sie dort oben auf den Downs, den so starken, die nur mit dem ewigen Himmel Zwiesprache halten, und wünschte sich, auch sie könne zu einem starken, glatten Erdhügel unter dem Himmel werden, Busen und Gliedmaßen offen Winden und Wolken und dem Sonnenschein darbietend.

Aber sie mußte doch wieder aufstehen und von ihrer Sonnenburg niederblicken, auf und über das gemusterte, flache Land herniederblicken, mit seinen Dörfern und seinem Rauch und seiner Geschäftigkeit. So kurzsichtig kam der Zug ihr vor, wie er dort in die Ferne hinausraste, so erschreckend klein die Dörfer mit ihrer lächerlich-winzigen Geschäftigkeit.

Skrebensky wanderte ganz betäubt neben ihr hin, er wußte nicht, wo er war, noch was er mit ihr anfangen sollte. Ihre ganze Leidenschaft schien in diesen Wanderungen zu den Downs hinauf zu bestehen, und wenn sie wieder zur Erde zurück mußte, fühlte sie sich so schwer. Dort oben war sie fröhlich und frei. Im Hause wollte sie ihn nicht mehr liebhaben. Sie sagte, sie hasse die Häuser, und ganz besonders Betten. Es ging ihr gegen den Geschmack, daß er zu ihr ins Bett kam.

Sie blieb die Nächte dort oben auf den Downs, und er mit ihr. Es war Mittsommer, die Tage waren von strahlender Länge. Um halb elf ungefähr, wenn endlich eine schwarzblaue Dunkelheit herabsank, nahmen sie sich ein paar Decken und klommen den steilen Pfad zum Gipfel der Downs empor, er und sie.

Dort oben waren die Sterne so groß und die Erde in Finsternis versunken. Hier oben war sie frei bei den Sternen. Weit dort draußen sahen sie kleine gelbe Lichtpünktchen – aber sie waren sehr weit fort, auf See oder am Lande. Hier bei den Sternen war sie frei.

Sie legte ihre Kleider ab und ließ ihn sich auch ausziehen, und dann liefen sie über den glatten, mondlosen Rasen dahin, weit weg, fast zwei Kilometer von dort, wo sie ihre Kleider hatten liegen lassen, liefen vollkommen nackend durch den dunklen, weichen Wind, nackt wie die Downs selber. Ihr loses Haar flog ihr um die Schultern, sie lief rasch, wobei sie Sandalen trug, die sie anlegte, ehe sie zu ihrem Dauerlauf zum Tauteiche ansetzte.

Ungestört spiegelten sich die Sterne in dem runden Tauteiche. Vorsichtig wagte sie sich ins Wasser hinein und griff mit der Hand nach den Sternen.

Und dann plötzlich fuhr sie auf und lief ebenso rasch zurück. Er blieb dabei immer neben ihr, aber doch bloß als ein Geduldeter. Er war ihr ein Schutzschild für ihre Furcht. Sie brauchte ihn. Sie nahm ihn, packte ihn und hielt ihn fest, aber ihre Augen blickten zu den Sternen empor, es war, als lägen die Sterne bei ihr und drängen in die unergründliche Dunkelheit ihres Schoßes, um sie schließlich doch zu ergründen. Er war das nicht.

Die Dämmerung kam. Sie standen miteinander auf einem hochgelegenen Platze, einem alten Erdwerk der Steinzeitmenschen, und beobachteten das kommende Licht, über dem Lande kam es herauf. Aber das Land war dunkel. Sie sah, wie der Rand des Himmels erblaßte, weit weg über dem dunkelnden Lande. Die Dunkelheit wurde immer blauer. Ein schwacher Wind sprang auf von der See her, hinter ihnen. Er schien auf den blassen Rand der Dämmerung zuzulaufen. Und er und sie standen dunkel auf Vorposten für die Dunkelheit da und hielten Ausschau nach der Dämmerung.

Stärker wurde das Licht, es fuhr gegen die dunklen Saphire der durchscheinenden Nacht empor. Das Licht wurde stärker, weißer, dann wie von einer rosigen Flut übergossen. Eine rosige Flut, und dann eine gelbe, blasse, ein neu erschaffenes Gelb, das Ganze bebend und schwebend über der Quelle am Rande des Himmels.

Das Rosa zauderte und bebte, brannte, glühte in Flammen auf, zu durchsichtigem Rot, während das Gelb in mächtiger Welle hervorquoll, von der immer zunehmenden Quelle emporgetrieben, riesige Wellen von Gelb quollen zum Himmel empor, zersprühten über der blauer und blauer, blasser werdenden Dunkelheit, bis diese endlich selbst ein Strahlenmeer bildete, sie, die eben noch die Dunkelheit gewesen war.

Die Sonne kam. Es entstand ein Beben, ein mächtiges, erschreckendes Schwimmen geschmolzenen Lichtes. Dann strömte die zerschmolzene Quelle selbst hervor, alles mit Licht übergießend. Die Sonne stand am Himmel, zu gewaltig, als daß man sie hätte ansehen können.

Und die Erde lag unter ihr so still, so friedevoll. Nur hier und da krähte ein Hahn. Sonst war alles von den gelben Hügeln bis zu den Fichtenwäldern am Fuße der Downs neugebadet ins Leben getreten, in eine Flut neuer, goldener Schöpfung.

Es war so unsagbar still, verhieß solche Vollkommenheit, dies goldlichtüberflutete, klare Land, daß Ursulas Seele anfing zu beben und zu weinen. Plötzlich sah er sie an. Die Tränen rannen ihr über die Backen, ihr Mund arbeitete seltsam.

»Was ist denn los?« fragte er.

Nachdem sie einen Augenblick mit ihrer Stimme gekämpft hatte, sagte sie:

»Es ist so schön«, mit einem Blick auf das glühende, schöne Land. Es war so schön, so vollendet, so unbefleckt.

Auch ihm wurde es klar, was England in ein paar Stunden sein würde: blinde, schmutzige, angestrengteste Geschäftigkeit, und alles um nichts, qualmend in schmutzigem Rauche und sausenden Zügen und um nichts und wieder nichts die Eingeweide der Erde durchwühlend. Ein furchtbarer Schrecken kam über ihn.

Er blickte auf Ursula. Ihr Gesicht war feucht von Tränen, sehr hell, wie verklärt von dem strahlenden Lichte. Sein war nicht die Hand, die diese brennenden, hellen Tränen wegwischen durfte. Er stand abseits, übermannt von dem grausamen Gefühl seiner Unbrauchbarkeit.

Allmählich stieg in ihm ein mächtiger, hilfloser Kummer auf. Aber noch kämpfte er gegen ihn an, kämpfte er um sein eigenes Leben. Er wurde sehr ruhig, die Dinge um ihn her verschwanden für ihn, während er auf sein Urteil wartete.

Sie fuhren nach Nottingham zurück, die Zeit ihrer Prüfung nahte heran. Sie mußte nach London gehen. Aber sie wollte nicht mit ihm in einem Gasthaus leben. Sie wollte in ein ruhiges, kleines Fremdenheim in der Nähe des Britischen Museums gehen.

Diese ruhigen, abgeschlossenen Wohnbezirke Londons brachten einen mächtigen Eindruck auf ihr Gemüt hervor. Sie waren so vollkommen. Aber ihr Gemüt kam sich in ihrer Abgelegenheit wie im Gefängnis vor. Wer würde sie befreien?

Abends, nachdem ihre Prüfung teilweise erledigt war, ging er mit ihr zum Essen in eins der Speisehäuser unten am Flusse, nahe bei Richmond. Es war golden und prachtvoll, das Wasser weiß und gelb und die Zeltdecken scharlachgestreift und blaue Schatten unter den Bäumen.

»Wann soll unsre Hochzeit sein?« fragte er ruhig, schlicht, als handle es sich lediglich um eine Frage ihrer Bequemlichkeit.

Sie beobachtete das Hin und Her des Vergnügungsverkehrs auf dem Flusse. Er sah auf ihr goldiges, rätselhaftes museau. Ein Knoten begann ihm die Kehle zuzuschnüren.

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

Ein heißer Schmerz packte ihn an der Kehle.

»Warum nicht – willst du mich denn überhaupt nicht heiraten?« fragte er sie.

Langsam wandte sich ihr Gesicht, verwirrt wie das eines Knaben, ausdruckslos in dem Versuch nachzudenken, und blickte ihm grade in die Augen. Sie sah ihn gar nicht, sie war viel zu sehr mit sich beschäftigt. Sie wußte nicht ganz klar, was sie ihm sagen sollte.

»Ich glaube, ich möchte am liebsten gar nicht heiraten«, sagte sie und ließ ihre kindlichen, verwirrten, gedankendurchwühlten Augen einen Augenblick auf den seinen ruhen; dann wanderten sie wieder fort, voller Gedanken.

»Meinst du, überhaupt nie, oder nur jetzt nicht?« fragte er. Der Knoten in seiner Kehle wurde immer härter, sein Gesicht verzog sich, als würde er erdrosselt.

»Ich glaube, überhaupt nicht«, sagte sie, als spräche ihr fernes Ich für sie von weither.

Sein verzerrtes, erdrosseltes Gesicht beobachtete sie einen Augenblick ohne jeden Ausdruck, dann kam ein seltsamer Ton aus seiner Kehle. Sie fuhr auf, kam wieder zu sich und sah ihn voller Entsetzen an. Sein Kopf machte eine seltsame Bewegung, das Kinn fuhr ihm gegen die Kehle zurück, wieder ertönte dieser sonderbare, halb krähende, schluckende Laut, sein Gesicht verzog sich wie das eines Irrsinnigen, und er brach in Tränen aus, blind und verzerrt weinte er, als wäre in seinem Innern etwas zerbrochen, was ihn bisher im Zaume gehalten hatte.

»Toni – nicht!« rief sie auffahrend.

Es zerriß ihr die Nerven, ihn so zu sehen. Er griff blind umher, wie um aus seinem Stuhle aufzustehen. Aber er weinte ohne jede Selbstbeherrschung, lautlos, sein Gesicht wie eine Maske verzerrt, verzogen und die Tränen die merkwürdigen Furchen seines Gesichtes herablaufend. Blindlings suchte er, sein Gesicht immer noch dieselbe schrecklich arbeitende Larve, nach seinem Hute, nach seinem Weg durch den Vorgarten. Es war acht Uhr, aber noch sehr hell. Die Leute starrten ihn an. In höchster Aufregung, teilweise aus ihrer Verzweiflung herrührend, blieb sie zurück, bezahlte den Kellner mit einem Goldstück, nahm ihren gelbseidenen Mantel und folgte Skrebensky dann.

Mit gebrochenen, blinden Schritten sah sie ihn den Pfad neben dem Flusse hergehen. Aus der seltsamen Steifheit und Gebrochenheit seiner Haltung konnte sie entnehmen, daß er immer noch weinte. Eilig hinter ihm herlaufend, ergriff sie endlich seinen Arm.

»Toni!« rief sie, »nicht doch! Was soll denn das? Wozu benimmst du dich denn so? Nicht doch. Das ist doch nicht notwendig.«

Er hörte sie und empfand die grausame, kalte Entstellung seiner Mannhaftigkeit. Und doch nützte es nichts. Er konnte die Herrschaft über sein Gesicht noch nicht wiedergewinnen. Sein Gesicht, seine Brust weinten zu heftig, ganz von selbst. Sein Wille, sein Bewußtsein hatten nichts damit zu tun. Er konnte einfach nicht aufhören.

Seinen Arm haltend, in schweigender Verzweiflung und schmerzlichster Verlegenheit ging sie neben ihm her. Seine Schritte waren unsicher wie die eines Blinden, da sein Geist blind vor Weinen war.

»Wollen wir nach Hause gehen? wollen wir ein Auto nehmen?« sagte sie.

Er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Sehr verlegen und erregt, noch unschlüssig gab sie einem Kraftwagenführer ein Zeichen, der langsam an ihnen vorbeifuhr. Der Führer grüßte und fuhr heran. Sie öffnete den Schlag, schob Skrebensky hinein und nahm dann ihren Platz ein. Ihr Gesicht war erhoben, ihr Mund fest verschlossen, hart und kalt und doch beschämt sah sie gradeaus. Sie krümmte sich unter des Fahrers dunkelrotem Gesicht, als es sich ihr zuwandte, ein vollblütiges, tierisches Gesicht mit schwarzen Augenbrauen und einem dicken, kurzgeschnittenen Schnurrbart.

»Wohin, meine Dame?« sagte er und zeigte seine weißen Zähne. Wieder geriet sie einen Augenblick in Verlegenheit.

»Rutland Square vierzig«, sagte sie.

Er faßte an die Mütze und setzte den Wagen ruhig in Bewegung. Er schien sich mit ihr dahin verbündet zu haben, Skrebenöky vollkommen zu übersehen.

Dieser saß da, als wäre er in dem Wagen in eine Falle geraten, sein Gesicht arbeitete immer noch, während sein Kopf gelegentlich eine kleine Bewegung ausführte, um die Tränen abzuschütteln. Die Hände rührte er nicht. Sie konnte seinen Anblick nicht ertragen. Mit erhobenem, dem Fenster zugewandtem Gesicht saß sie da.

Schließlich, als sie die Herrschaft über sich einigermaßen wiedergewonnen hatte, wandte sie sich ihm zu. Er war jetzt viel ruhiger. Sein Gesicht war feucht und zuckte hin und wieder zusammen, seine Hände lagen immer noch regungslos da. Aber seine Augen waren ganz still, wie ein reingewaschener Himmel nach einem Regenschauer, von einem blassen Lichte erfüllt und ganz gefestigt, fast gespenstisch.

In ihrem Schoße flammte Schmerz um ihn auf.

»Ich wollte dir ja nicht wehtun«, sagte sie und legte ihre Hand ganz leicht, wie zu einem Versuch, auf seinen Arm. »Die Worte entfuhren mir so, ohne daß ich es merkte. Sie hatten gar keinen Sinn, wirklich nicht.«

Ganz still sitzen bleibend, hörte er zu, aber ganz verwaschen und empfindungslos. Sie sah ihn an und wartete, als wäre er ein sonderbares, ihr unverständliches Geschöpf.

»Du weinst doch nicht wieder, nicht, Toni?«

Scham und Bitterkeit gegen sie brannten ihn bei dieser Frage. Sie bemerkte, wie sein Schnurrbart ganz von Tränen durchfeuchtet war. Ihr Taschentuch hervorziehend, trocknete sie ihm das Gesicht ab. Des Fahrers schwerer, einfältiger Rücken blieb ihnen dauernd zugekehrt, als wüßte er wohl Bescheid, mache sich aber nichts daraus. Skrebensky saß ganz still, während Ursula ihm das Gesicht abtrocknete, sanft, sorgfältig, und doch ungeschickt, nicht so gut als er selbst es gekonnt hätte.

Ihr Taschentuch war zu klein. Es war sehr bald ganz naß. Sie suchte in seiner Tasche nach dem seinen. Und dann fuhr sie mit dessen weiter reichender Fläche fort ihn abzutrocknen. Er blieb die ganze Zeit über still sitzen. Dann zog sie seine Wange an die ihre und küßte ihn. Sein Gesicht war kalt. Ihr tat das Herz weh. Sie sah, wie ihm sofort wieder die Tränen in die Augen stiegen. Als wäre er ein Kind, wischte sie ihm die Tränen weg. Allnachgrade war sie selbst dem Weinen nahe. Ihre Unterlippe hielt sie zwischen den Zähnen eingeklemmt.

So saß sie ganz still aus Furcht vor ihren eigenen Tränen und hielt seine Hand warm und fest und liebevoll. Währenddessen lief der Wagen weiter, und die weiche Mittsommerdämmerung begann sich herniederzusenken. Eine ganze Zeitlang saßen sie regungslos. Nur hin und wieder schloß ihre Hand sich etwas fester, liebender über der seinen und ließ dann langsam wieder nach.

Die Dämmerung sank tiefer. Ein oder zwei Lichter tauchten auf. Der Fahrer hielt, um seine Lampen anzuzünden. Skrebensky bewegte sich zum ersten Male, um den Fahrer zu beobachten. Sein Gesicht bewahrte denselben stillen, verklärten, beinahe kindlichen Ausdruck, ganz unpersönlich.

Sie sahen, wie des Fahrers seltsames, dunkles, volles Gesicht mit zusammengezogenen Brauen in die Lampe spähte. Ursula schauderte zusammen. Das Gesicht war fast das eines Tieres, aber eines starken, raschen, schlauen Tieres, das ganz genau über sie Bescheid wußte, sie fast in seiner Gewalt hatte. Sie schmiegte sich dichter an Skrebensky.

»Mein Lieb?« sagte sie in fragendem Tone zu ihm, als der Wagen wieder in voller Geschwindigkeit dahinsauste.

Er bewegte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Er überließ ihr seine Hand, er ließ sie sich vorbeugen und bei der zunehmenden Finsternis seine stille Wange küssen. Sein Weinen war vorüber – er wollte nicht mehr weinen. Er war wieder ganz der Alte.

»Mein Lieb«, sagte sie wieder und versuchte, sich ihm bemerkbar zu machen. Aber vorerst vermochte er das noch nicht.

Er beobachtete den Weg. Sie fuhren jetzt am Kensington Garten entlang. Zum ersten Male öffnete er die Lippen.

»Wollen wir aussteigen und in den Park gehen?« fragte er.

»Gern«, sagte sie ruhig, aber ungewiß, was nun kommen würde.

Einen Augenblick später nahm er das Sprachrohr vom Haken. Sie sah, wie der dicke, starke, selbstbewußte Fahrer den Kopf zur Seite neigte.

»Halten Sie an der Hyde Park-Ecke.«

Der dunkle Kopf nickte, der Wagen lief gleichwohl weiter.

Da aber hielt er. Skrebensky bezahlte den Fahrer. Ursula hielt sich im Hintergründe. Sie sah, wie der Fahrer beim Empfang seines Trinkgelds grüßte und dann, bevor er seinen Wagen wieder in Bewegung setzte, sich umwandte und sie mit seinen raschen, starken, tierischen Augen ansah, die er ganz klein zusammenkniff, wobei das Weiße stark glänzte. Dann verschwand er in der Menge. Er hatte sie laufen lassen. Sie hatte Angst gehabt.

Skrebensky wandte sich mit ihr in den Park. Eine Musikbande spielte noch, und der Platz war voller Menschen. Sie lauschten auf die abebbenden Weisen und schritten dann auf einen dunklen Sitz zu, wo sie dicht beieinander, Hand in Hand, sitzen blieben.

Dann endlich nach langem Schweigen sagte sie zu ihm wie verwundert:

»Womit habe ich dir eigentlich so weh getan?«

Sie wußte es in diesem Augenblick wirklich nicht.

»Weil du sagtest, du wolltest mich überhaupt nicht heiraten«, sagte er mit kindlicher Schlichtheit.

»Aber wieso konnte dir denn das so weh tun?« sagte sie. »Du mußt nicht alles so furchtbar ernst nehmen.«

»Ich weiß nicht – ich wollte es auch gar nicht«, sagte er demütig, beschämt.

Sie drückte ihm warm die Hand. Sie saßen dicht beieinander und beobachteten die mit ihren Schätzchen vorübergehenden Soldaten, die unzähligen Lichter, die sich über die am Park vorbeiführenden großen Zufahrtsstraßen hinzogen.

»Ich dachte nicht, daß du dir so viel daraus machen würdest«, sagte sie ebenso demütig.

»Das wollte ich auch gar nicht«, sagte er. »Ich war vollständig überrumpelt, – aber ich tue es doch – mehr als aus der ganzen Welt.«

Seine Stimme war so ruhig und farblos, daß es ihr Herz vor Furcht erbleichen machte.

»Mein Lieb!« sagte sie und drängte sich näher an ihn. Aber sie sprach aus Furcht, nicht aus Liebe.

»Mehr als aus der ganzen Welt – aus allem andern mache ich mir nichts, weder im Leben noch im Tode«, sagte er in derselben stetigen, farblosen Stimme unbedingter Wahrhaftigkeit.

»Als aus was?« murmelte sie düster.

»Als aus dir – aus deinem Bei-mir-sein.«

Und wieder wurde sie bange. Sollte sie sich hierdurch erobern lassen? Sie schmiegte sich dicht an ihn, ganz dicht. Sie saßen vollkommen still und lauschten auf das mächtige, schwere, stampfende Getöse der großen Stadt, auf das Geflüster der Verliebten, die an ihnen vorübergingen, die Tritte der Soldaten.

Sie zitterte plötzlich an seiner Seite.

»Ist dir kalt?« fragte er.

»Ein wenig.«

»Komm, wir wollen zu Abend essen.«

Er war jetzt wieder ganz ruhig und entschlossen und einsam, sehr schön. Er schien eine seltsame, kalte Macht über sie zu besitzen.

Sie gingen in ein Speisehaus und tranken Chianti. Aber sein blasser, leerer Gesichtsausdruck verlor sich nicht.

»Laß mich heute nacht nicht allein«, sagte er schließlich und sah sie flehend an. Er war so seltsam und unpersönlich, daß sie Angst bekam.

»Aber die Leute bei mir im Hause«, sagte sie bebend.

»Denen will ich das schon auseinandersetzen – sie wissen ja, daß wir verlobt sind.«

Sie saß blaß und stumm da. Er wartete.

»Wollen wir gehen?« sagte er endlich.

»Wohin denn?«

»In ein Gasthaus.«

Ihr Herz war hart geworden. Ohne zu antworten, stand sie auf und gab ihm damit ihre Zustimmung zu erkennen. Aber nun war sie kalt und unwirklich. Und doch konnte sie es ihm nicht abschlagen. Es war ihr wie eine Schicksalsfügung, aber eine, die sie nicht ersehnt hatte.

Sie gingen irgendwo in ein italienisches Gasthaus und bekamen ein düsteres Schlafzimmer mit einem großen, sauberen Bett, aber so düster. Die Decke war mit einem Blumenstück aus Rosensträußen bemalt, grade über dem Bett. Das fand sie sehr hübsch.

Er kam zu ihr und schmiegte sich ganz dicht an sie, wie Stahl umschloß und umklammerte er sie. Auch ihre Leidenschaft erwachte, aber sie war wild und kalt. Wild war sie, und aufs höchste gesteigert, und gut, ihre Leidenschaft dieser Nacht. Er schlief, sie fest in den Armen haltend. Die ganze Nacht hielt er sie dicht an sich gepreßt. Sie ließ es geschehen, sie gab ihm nach. Aber ihr Schlaf war weder sehr tief noch wirklich.

Sie wachte morgens durch das Plätschern von Wasser im Hofe auf und sah den Sonnenschein durch die Fensterladen strömen. Sie glaubte in fremdem Lande zu sein. Und Skrebensky lag über sie hingestreckt.

Nachdenkend lag sie ganz still, seine Arme sie umschlungen haltend, sein Kopf gegen ihre Schultern gesunken, sein Leib vom Rücken her gegen den ihren angepreßt. Er schlief noch.

Sie beobachtete den in Streifen durch die Läden brechenden Sonnenschein, und ihre unmittelbare Umgebung schmolz dahin.

Sie war in einem andern Lande, in einer andern Welt, wo jeder alte Zwang gelöst und verschwunden war, wo man sich frei bewegen konnte ohne Furcht vor der Meinung der lieben Nächsten, auch nicht so vorsichtig, stets auf Verteidigung bedacht sein mußte, sondern ganz ruhig, gleichgültig, wie es einem grade paßte, leben konnte. Undeutlich, in einer Art silbernen Lichtes wanderte sie in wohlige Weiten. Die Bande der Welt hatte sie zerbrochen. Die Welt Englands war verschwunden. Sie hörte unten im Hofe eine Stimme:

»O Giovann' – O' – O' – O' – Giovann' – – –«

Und nun wußte sie, sie war in einem andern Lande, in einem neuen Leben. Es war köstlich, so still zu liegen und seine Seele frei und schlicht durch das Silberlicht einer andern, einfacheren, feineren, natürlicheren Welt wandern zu lassen.

Aber immer wartete irgendein Vorzeichen ihrer, um sie gefügig zu machen. Sie begann Skrebensky deutlicher gewahr zu werden. Sie merkte, er wache auf. Sie mußte ihrer Seele Zügel anlegen, von ihrer fernen Welt Abschied nehmen, seinetwegen.

Sie wußte, nun wäre er wach. Noch lag er still, in einer greifbaren Stille, nicht als schliefe er. Dann umschloß sein Arm sie beinahe krampfhaft, und er sagte halb ängstlich:

»Hast du gut geschlafen?«

»Sehr gut.«

»Ich auch.«

Dann trat eine Pause ein.

»Und hast du mich lieb?« fragte er.

Sie wandte sich um und sah ihn forschend an. Er schien ihr fremd.

»Ja«, sagte sie.

Aber sie sagte es nur, um ihm gefällig zu sein und in dem Wunsche, nicht weiter von ihm gequält zu werden. Ein merkwürdiges Schweigen trat zwischen sie, das ihm Furcht machte.

Sie blieben sehr lange liegen, dann klingelte er nach Frühstück. Sie wollte gern, sobald sie aufgestanden wären, gleich hinunter und weggehen können. Hier in diesem Zimmer war sie glücklich, aber der Gedanke an die Öffentlichkeit der Halle drunten beunruhigte sie.

Ein junger Italiener, ein Sizilianer, dunkel und etwas pockennarbig, erschien in einer Art zugeknöpfter grauer Tunika mit ihrem Teebrett. Sein Gesicht war von fast afrikanischer Unerschütterlichkeit, unfaßlich gleichmütig.

»Man kommt sich hier wirklich wie in Italien vor«, sagte Skrebensky freundlich zu ihm. Ein leerer Blick, fast wie voll Furcht stahl sich über das Gesicht des Burschen. Er begriff nicht.

»Hier ists wie in Italien«, versuchte Skrebensky ihm zu erklären.

Über das Gesicht des Italieners blitzte ein verständnisloses Lächeln, er setzte die Frühstückssachen zurecht und war wieder fort. Er verstand sie nicht: er wollte sie auch gar nicht verstehen; er verschwand durch die Tür wie ein halb ans Haus gewöhntes Wild. Das ließ Ursula leicht zusammenschauern, die rasche, scharfsichtige, gespannte Tierheit des Mannes.

Skrebensky kam ihr heute morgen wunderschön vor mit seinem weicher gewordenen, von Leid und Liebe durchleuchteten Gesicht und seinen ruhigen, vornehmen Bewegungen. Sie fand ihn wunderschön, aber sie war von ihm durch kühle Fernen geschieden. Es schien ihr, als befände sie sich in unausgesetztem Widerstand gegen die Fernen, die sie trennten. Er aber merkte nichts. Heute morgen war er so durchleuchtet und schön. Sie bewunderte seine Bewegungen, die Art, in der er sich Honig aufs Brot strich oder Kaffee einschenkte.

Als das Frühstück vorüber war, lag sie wieder ganz still in ihren Kissen, während er sich anzog. Sie sah ihm zu, wie er sich wusch und rasch mit dem Handtuch abtrocknete. Sein Leib war wundervoll, seine Bewegungen so rasch und sicher, sie bewunderte ihn und erkannte seinen Wert rückhaltlos an. Nun erschien er ihr ganz vollkommen. Er erregte keine Gedanken der Fruchtbarkeit mehr in ihr. Er schien vollkommen, fertig. Sie kannte ihn nun durch und durch, nirgend konnte er sie mehr ins Unbekannte hinausführen. Scharfe, beinahe leidenschaftliche Hochachtung empfand sie für ihn, aber nichts mehr von der furchterfüllten Verwunderung, nichts mehr von jener reichen Furcht, der Verbindung mit dem Unbekannten, oder der Verehrung der Liebe. Er aber nahm von alle diesem heute morgen nichts gewahr. Sein Leib war ruhig und vollkommen, seine Adern ruhten befriedigt aus, er war glücklich, vollendet.

Und sie fuhr nach Hause. Diesmal aber ging er mit ihr. Er wollte bei ihr bleiben. Er wollte, sie solle ihn heiraten. Es war schon Juli. Anfang September mußte er nach Indien hinaus. Er konnte den Gedanken, allein hinauszufahren, nicht ertragen. Sie mußte mit ihm kommen. Aufgeregt klammerte er sich an sie.

Ihre Prüfung war beendet, ihre Hochschulzeit vorbei. Nun blieb ihr nichts übrig als zu heiraten oder wieder anzufangen zu arbeiten. Sie bewarb sich um keine Stellung. Es stand fest, sie würde heiraten. Indien bildete eine große Versuchung für sie – das seltsame, seltsame Land. Aber bei dem Gedanken an Kalkutta oder Bombay oder Simla und an die europäische Bevölkerung dort besaß Indien für sie nicht mehr Anziehungskraft als Nottingham.

In ihrer Prüfung hatte sie versagt: sie war durchgefallen; sie hatte die akademischen Würden nicht errungen. Das war ein harter Schlag für sie. Er verhärtete ihre Seele.

»Ist ja ganz einerlei«, sagte er. »Was macht das denn aus, ob du Bakkalaureus der Londoner Universität bist oder nicht? Was du weißt, weißt du, und wenn du erst Mrs. Skrebensky bist, hat der Titel nichts mehr zu bedeuten.«

Anstatt daß ihr dies ein Trost war, machte es sie nur um so härter und unbarmherziger. Sie lehnte sich jetzt gegen ihr Schicksal auf. Ihr stand die Wahl frei zwischen einem Dasein als Mrs. Skrebensky, sogar Baronin Skrebensky, Frau eines Leutnants im königlichen Pionierkorps, den Sappeuren, wie er sie nannte, verbracht unter der europäischen Bevölkerung Indiens – oder als Ursula Brangwen, alte Jungfer, Schulmamsell. Die Befähigung dazu hatte sie durch ihre Vorprüfung erworben. Wahrscheinlich würde sie jetzt sehr leicht eine Stelle als Hilfslehrerin an einer höheren Schule bekommen, vielleicht selbst an der Willey Green-Schule. Was sollte sie wählen?

Am meisten von allem haßte sie den Gedanken an den Wiederbeginn der Knechtschaft als Lehrerin. Die haßte sie von ganzem Herzen. Aber bei dem Gedanken an ihre Hochzeit und das Zusammenleben mit Skrebensky unter der europäischen Bevölkerung Indiens verschloß sich ihre Seele und rührte sich nicht mehr. Er erregte kaum irgendwelches Empfinden in ihr, ihre Seele stand einfach still.

Skrebensky wartete, sie wartete, alles wartete auf ihre Entschließung. Wenn Anton mit ihr redete und sich ihr ein wenig hinterlistig als Gatten in Vorschlag zu bringen schien, dann merkte sie sofort, wie gänzlich ausgeschlossen er war. Besuchte sie auf der andern Seite Dorothea und besprach die Sache mit der, dann fühlte sie, sie möchte ihn sofort heiraten, nur um dadurch ihre Mißbilligung von Dorotheas Ansichten auszudrücken.

Die Lage wurde fast lächerlich.

»Aber hast du ihn denn überhaupt lieb?« fragte Dorothea.

»Ob ich ihn lieb habe, das kommt ja gar nicht in Frage«, sagte Ursula. »Ich habe ihn sogar sehr lieb – sicher lieber als irgend jemand anders in der Welt. Und ich werde auch nie wieder jemand so lieb haben. Wir haben unser beider Blume genossen. Aber ich mache mir nichts aus Liebe. Sie hat für mich keinen Wert. Ich mache mir nichts draus, ob ich liebe oder nicht, ob ich geliebt werde oder nicht. Was macht mir das aus?«

Und dann zuckte sie die Achseln in wilder, ärgerlicher Verachtung.

Dorothea grübelte nach, recht ärgerlich und besorgt.

»Woraus machst du dir denn eigentlich etwas?« fragte sie verzweifelt.

»Ich weiß nicht«, sagte Ursula. »Aber jedenfalls aus etwas Unpersönlichem. Liebe – Liebe – Liebe – was bedeutet denn das – worauf läuft denn das eigentlich hinaus? Doch höchstens auf eine gewisse persönliche Befriedigung. Das führt zu gar nichts.«

»Soll es denn überhaupt irgendwohin führen?« sagte Dorothea voller sanften Spottes. »Ich glaubte, sie wäre das Einzige, was sich zum Selbstzweck habe.«

»Ja, aber was liegt mir daran?« rief Ursula. »Als Selbstzweck, dann könnte ich hundert Männer lieben, einen nach dem andern. Warum sollte ich denn grade mit einem Skrebensky aufhören? Warum sollte ich nicht weiterlieben, alle Sorten, die mir Spaß machen, wenn Liebe ein Selbstzweck ist? Es gibt doch haufenweise Männer, die kein Anton sind und die ich nun mal lieben könnte – die ich auch gern lieben möchte.«

»Dann liebst du ihn also nicht«, sagte Dorothea.

»Ich sage dir doch: ja, ich liebe ihn; – genau so sehr und vielleicht sogar noch viel mehr, als ich irgend jemand sonst lieben könnte. Nur gibts so manches, was Anton nicht hat und was ich in andern Männern lieben könnte.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Ach, ganz einerlei was. Aber bei manchen Männern so eine Art starken Verstandes, und dann eine Würde, eine Unmittelbarkeit, etwas so ganz Fragloses, wie man es bei Arbeitern trifft, und dann eine fröhliche, unbedachte Leidenschaftlichkeit, siehst du – ein Mann, der sich wirklich gehen lassen könnte – – –«

Dorothea konnte herausfühlen, Ursula gierte bereits nach etwas, was dieser Mann ihr nicht zu bieten vermochte.

»Die Frage ist aber doch die: was willst du denn eigentlich?« Dorothea hieb wieder in die alte Kerbe. »Ist es denn bloß ein anderer?«

Ursula wurde still. Das war ja grade ihre Furcht. Neigte sie denn wohl wirklich zur Zügellosigkeit?

»Denn wenn das der Fall ist,« fuhr Dorothea fort, »dann heiratest du am besten Anton sofort. Die Sache mit dem andern kann nur zu einem bösen Ende führen.«

So sollte Ursula also lediglich aus Furcht vor sich selbst Skrebensky heiraten.

Er war jetzt sehr mit seinen Vorbereitungen für die Ausreise nach Indien beschäftigt. Er mußte Verwandte besuchen und geschäftliche Abmachungen treffen. Er war Ursulas jetzt beinahe ganz sicher. Sie schien nachgegeben zu haben. Und er schien wieder ein selbstbewußter, gewichtiger Mann zu werden.

Es war Ende August und er nahm an einer großen Gesellschaft in einem Sommerhause an der Küste von Lincolnshire teil. Es war eine Gesellschaft für Tennis, Golf, Motorbootfahren usw., die seine Großtante gab, eine Dame von großer gesellschaftlicher Stellung. Ursula wurde eingeladen, eine Woche in dieser Gesellschaft zu verbringen.

Ziemlich widerwillig ging sie hin. Ihre Hochzeit war mehr oder weniger bestimmt auf den achtundzwanzigsten des Monats festgesetzt. Am fünften September sollten sie nach Indien absegeln. Eins wußte sie in ihrem Unterbewußtsein, und das war, sie würde niemals nach Indien gehen.

Sie und Anton, Gäste von Bedeutung wegen ihrer bevorstehenden Hochzeit, hatten beide Zimmer in dem großen Hause. Es war eine mächtige Anlage mit einer riesigen Mittelhalle, zwei kleineren Schreibzimmern und dann zwei Gängen, auf die hinaus sich acht oder neun Schlafzimmer öffneten. Skrebensky wurde auf dem einen Gange untergebracht und Ursula auf dem andern. Sie kamen sich in der Menge ganz verloren vor.

Als Verlobten wurde ihnen jedoch gestattet, viel zusammen draußen spazieren zu gehen, so viel sie nur wollten. Und doch kam sie sich ganz merkwürdig vor unter dieser Menge fremder Leute, unbehaglich, als könne sie nie für sich sein. Sie war an derart gleichmäßig zusammengesetzte Gesellschaften nicht gewöhnt. Sie hatte Angst.

Sie kam sich so anders vor als alle die andern mit ihrer harten, leichten, oberflächlichen Vertraulichkeit, die sie so wenig zu kosten schien. Sie kam sich nicht ausgesprochen genug vor. Es lag so gar nichts Althergebrachtes in ihrer Umgebung, jeder schien nur auf Behauptung seines Standpunktes bedacht. Das gefiel ihr nicht. In großen Massen, in Versammlungen vieler Menschen liebte sie eine gewisse Förmlichkeit. Sie fühlte, sie konnte sich nicht recht zur Wirkung bringen. Sie war nicht wirkungsvoll: sie war nicht schön; sie war gar nichts. Selbst Skrebensky gegenüber kam sie sich unbedeutend vor, fast sogar untergeordnet. Er kam mit den übrigen sehr gut vorwärts.

Er und sie gingen in die Nacht hinaus. Der Mond stand hinter Wolken und verbreitete ein zerstreutes Licht, wenn er hin und wieder durch perlmutterschimmernde Dünste hervor leuchtete. So schritten sie nebeneinander her über den nassen Sand an der See, sie hörten die langen, schweren Wogen heranlaufen, die gespenstisch-weiß aufleuchteten und flüsterten.

Er war seiner selbst gewiß. Während sie so dahinschritt, flog die weiche Seide ihres Kleides – sie trug blaue Schantungseide mit sehr vollen Röcken – von der See weg und schmiegte sich ihr flatternd um die Beine. Sie hatte das ungern. Alles schien sie zu verraten, und sie selbst konnte sich vor Verwirrung zu keiner Ableugnung aufraffen.

Er führte sie abseits in ein kleines Dünental, wo es sehr heimlich war zwischen den grauen Dornbüschen und dem grauen, glasigen Strandhafer. Er preßte sie eng an sich, er fühlte den ganzen, festen, unsagbar süßen Bau ihres Leibes durch das feine Feuer der Seide, die um ihre Glieder rauschte. Die wie Feuer über die verborgenen und doch enthüllten Rundungen und Festigkeiten ihrer Hüften dahinrieselnde Seide schien ihn wie ein Feuerstrom zu durchfluten, sein Gehirn wie Schwefel zu verbrennen. Das gefiel ihr, dies elektrische Feuer der Seide unter seinen Händen auf ihren Gliedmaßen, das Feuer überflog auch sie, als er der Entdeckung näher und näher kam. Sie erzitterte in Erwiderung wie ein Strahl elektrisch geladener Flüssigkeit. Und doch kam sie sich nicht schön vor. Die ganze Zeit über wußte sie, er fand sie nicht schön, nur aufregend. Sie ließ ihn sich hinnehmen, und er schien ganz verrückt zu sein vor leidenschaftlicher Erregung. Als sie aber nachher auf dem kalten feuchten Sande lag und zu dem fleckigen, schwachleuchtenden Himmel emporblickte, da fühlte sie, wie sie genau so kalt war wie vorher. Er aber schien schweratmend ganz wild vor Befriedigung. Er schien gerächt.

Ein schwacher Wind spielte mit dem Strandhafer und fuhr ihr übers Gesicht; wo blieb die höchste Vollendung, deren sie sich nie erfreuen sollte? Warum war sie so kalt, so gar nicht erhoben, so gleichgültig?

Als sie heimwärts gingen und sie die vielen, ihr so verhaßten Lichter des Landhauses aufblitzen sah, der verschiedenen in einer Gruppe zusammenstehenden Landhäuser, da sagte er leise:

»Schließ deine Tür nicht ab.«

»Lieber doch, hier«, sagte sie.

»Ach nein. Wir gehören uns doch an. Das dürfen wir nicht verleugnen.«

Sie antwortete nicht. Er nahm ihr Schweigen für Zustimmung.

Er schlief mit einem andern Herrn zusammen.

»Ich denke doch,« sagte er, »es wird das Haus ja wohl nicht grade in Aufruhr bringen, wenn ich noch mal etwas in glücklichere Gefilde hinüber wandere.«

»Solange Sie nicht zu viel Lärm dabei machen und es nicht mit der verkehrten Türe versuchen«, sagte der andere und drehte sich um, um zu schlafen.

Skrebensky in seinem breitgestreiften Schlafanzug zog ab. Er durchkreuzte die große Speisehalle, in der es beim schwachen Schein des Kaminfeuers nach Zigarren und Whisky und Kaffee roch, trat in den andern Gang hinüber und fand richtig Ursulas Zimmer. Sie lag wach, mit weiten Augen, leidend. Sie war froh, als er kam, wenn sie ihn auch nur als Tröster ansah. Es war ihr ein solcher Trost, im Arme gehalten zu werden, seinen Leib gegen den ihren zu fühlen. Und doch, wie fremd waren ihr sein Leib und seine Arme. Aber doch nicht so furchtbar fremd und feindselig, wie ihr der Rest des Hauses vorkam.

Sie wußte selbst nicht, wie sehr sie eigentlich in diesem Hause litt. Sie war gesund und voller Teilnahme an allem. Also spielte sie Tennis und lernte Golf, sie ruderte und schwamm in der tiefen See, und fand bei ihrem Eifer an dem allem viel Vergnügen. Und doch fühlte sie sich die ganze Zeit über unter all diesen andern zurückgestoßen und niedergedrückt, als wäre ihre überempfindsame Blöße vor allen offen zur Schau gestellt für den harten, rohen, nur aufs Stoffliche gerichteten Stoß der übrigen.

Die Tage gingen hin, ohne besondere Unterscheidungsmerkmale, in der vollen, eifrigen Freude an körperlichen Übungen. Skrebensky war stets mitten unter den übrigen, bis der Abend kam und er sie für sich mit Beschlag belegte. Sie genoß größte Freiheit und wurde als junges Mädchen am Vorabend ihrer Hochzeit und der Abreise in ferne Lande mit größter Hochachtung behandelt.

Am Abend begann dann die Unruhe. Dann überkam sie ein Sehnen nach etwas Unbekanntem, eine Leidenschaft für – was, wußte sie nicht. Sobald es dämmrig wurde, ging sie allein den Vorstrand auf und nieder, wartend, immer auf etwas wartend, als wäre sie zu einem Stelldichein gekommen. Die salzige, bittere Leidenschaft der See, ihre Gleichgültigkeit gegen die Erde, ihre schwingende, genau abgegrenzte Bewegung, ihre Stärke, ihre Angriffsfähigkeit und ihr salziges Brennen schienen sie zu höchstem Wahnsinn zu reizen, sie mit Verheißungen von Vollendung zu quälen. Und als Verkörperung der See kam dann Skrebensky, Skrebensky, den sie so gut kannte, den sie so gern hatte, der so anziehend war, dessen Seele aber sie nicht in Wogen der Stärke umfangen konnte, dessen Brust es nicht vermochte, sie in salziger, brennender Leidenschaft zu bezwingen.

Eines Abends gingen sie nach dem Abendessen über die Golfwiesen nach den Dünen und der See. Der Himmel wies kleine, schwache Sterne auf, alles war still und ziemlich dunkel. In Schweigen wunderten sie zusammen dahin und pflügten mühsam durch den schweren, losen Sand in der Lücke zwischen den Dünen. In Schweigen wanderten sie durch die schwache, gleichmäßige Dämmerung in den dunkleren Schatten der Dünen hinüber. Oben auf dem sandigen, schwierigen Übergang hob Ursula plötzlich den Kopf und schauderte in einer augenblicklichen Anwandlung von Furcht zusammen. Etwas mächtiges Weißes stand vor ihr, der Mond glühte wie eine riesige runde Ofentür, aus der sich eine ungeheure Flut von Mondenlicht über die seewärts liegende Hälfte der Welt ergoß, ein blendendes, erschreckendes Glasten weißen Lichtes. Auf einen Augenblick fuhr sie in den Schatten zurück und stieß einen Schrei aus. Er fühlte seine Brust bloßgelegt, in der er ein schweres Geheimnis barg. Er fühlte sich zu nichts verschmelzen wie eine Perle, die in einer weißglühenden Flamme unaufhaltsam verschwindet.

»Wie wundervoll!« rief Ursula in leisem, rufendem Tone. »Wie wundervoll!«

Und dann stürzte sie vorwärts in das Licht. Er folgte ihr. Auch sie schien in dem Glast zu zerschmelzen.

Der Sand war wie gemahlenes Silber, die See hob sich in körperlicher Helle auf sie zu, und sie lief dem blitzenden, sich hebenden Wassern entgegen. Sie bot dem Monde ihre Brust, ihren Leib dem blitzenden, atmenden Wasser. Er stand völlig gefangen hinter ihr, ein sich auflösender Schatten.

Sie machte am Rande des Wassers halt, am Rande des greifbaren, blitzenden Leibes der See, und die Wellen rieselten ihr über die Füße.

»Da möchte ich hin«, rief sie mit starker Herrscherkraft in der Stimme. »Da möchte ich hinein!«

Er sah das Mondlicht auf ihrem Gesicht, das in ihm etwas Metallenes bekam, und hörte ihre klingende, metallische Stimme, die ihm wie die einer Harpyie vorkam.

Wie eine Besessene irrte sie am Rande des Wassers entlang, er ihr auf Schritt und Tritt folgend. Er sah den Schaum der Wellen, gefolgt von dem harten, glänzenden Wasserwirbel, ihr über Füße und Enkel laufen, sie mußte die Arme ausbreiten, um sich im Gleichgewicht zu halten, und jeden Augenblick erwartete er sie in die See hinauslaufen zu sehen, völlig angezogen wie sie war, und schwimmend fortgerissen zu werden.

Aber sie wandte sich und kam auf ihn zu.

»Da möchte ich hin«, rief sie wieder mit ihrer hohen, harten Stimme, dem Möwenschrei ähnlich.

»Wohin?« fragte er.

»Ich weiß nicht.«

Und sie packte seinen Arm, hielt ihn fest, als hätte sie ihn gefangen genommen, und ging mit ihm so eine kurze Strecke am Saume des blendenden, betäubenden Wassers entlang.

Dann hier in der mächtigen Flut von Licht umschlang sie ihn plötzlich hart, als wäre die Kraft der Vernichtung über sie gekommen, sie schlang ihre Arme um ihn und preßte ihn in ihren Fesseln zusammen, während ihr Mund den seinen in einem harten, herzzerreißenden, fortwährend an Kraft zunehmenden Kusse suchte, bis sein Leib kraftlos in ihrer Umschlingung ruhte, sein Herz in Furcht vor dem wilden, scharfen Harpyienkusse dahinschmolz. Wieder wusch das Wasser über ihre Füße, aber sie machte sich nichts daraus. Sie schien es gar nicht zu bemerken, sie schien ihm nur ihren geschnäbelten Mund aufdrücken zu wollen, bis sie sein Herz gefunden hätte. Dann endlich ließ sie ihn fahren und sah ihn an – sah ihn an. Er wußte, was sie wollte. Er faßte sie bei der Hand und führte sie über den Vorstrand nach den Sandhügeln zurück. Sie ging in Schweigen. Er hatte eine Empfindung, als handelte es sich jetzt um ein Gottesgericht auf Leben oder Tod. Er brachte sie in eine dunkle Senkung.

»Nein, hier«, sagte sie und trat wieder an den Abhang hinaus in den vollen Mondenschein. Sie lag bewegungslos da und sah mit weit offenen Augen in den Mond. Er kam ohne irgendwelche weiteren Vorbereitungen zu ihr. Sie hielt ihn wie angenagelt an ihrer Brust fest, schrecklich. Der Kampf, das Ringen nach Vollendung war furchtbar. Er dauerte an, bis seine Seele sich in Todesqual wand, bis er wie tot nachließ und sein Gesicht zum Teil in ihrem Haar, zum Teil im Sande vergraben dalag, regungslos, als wolle er so ohne jede Regung für immer liegenbleiben, verborgen im Dunkel, vergraben, nur begraben, nur begraben zu sein wünschte er sich in dieser gütigen Finsternis, nur das und sonst nichts.

Er schien ohnmächtig. Es dauerte lange, bis er wieder zu sich kam. Er bemerkte eine ungewöhnliche Bewegung ihrer Brust. Er sah auf. Wie ein Steinbild lag ihr Antlitz im Mondenschein, die Augen weit offen, starr. Aber aus diesen Augen rollte langsam eine Träne hervor, im Mondlicht glitzernd, während sie ihr die Wange herabsickerte.

Er hatte ein Gefühl, als würde ihm in seinen bereits erstorbenen Leib ein Messer gejagt. Den Kopf angestrengt zurückbiegend, sah er sie aufmerksam an, gespannt, ein paar Minuten lang beobachtete er das im Mondenschein unwandelbare, wie Metall starre Gesicht, die stieren, nichts sehenden Augen, in denen sich langsam das Wasser sammelte und im Mondlicht glitzernd bebte; dann, wenn es zu hoch gestiegen war, lief es über und rann tröpfelnd, eine Träne mit Mondenschein beladen, in die Dunkelheit hinab und fiel in den Sand.

Er bog sich langsam zurück, als würde er bange, bog sich weiter zurück – sie regte sich nicht. Er sah auf sie nieder – sie lag noch ebenso da. Wenn er doch nur fort könnte! Er wandte sich, sah den offenen Vorstrand klar vor sich liegen und stürzte weg, weiter und immer weiter, nur fort von der schrecklichen Gestalt, die da im Mondenschein auf dem Sande ausgestreckt lag mit den glitzernden Tränen, die sich sammelten und über das regungslose, ewige Antlitz hinabrollten.

Ihm war, als müßten seine Gebeine zerbrechen, sein Leib, auf ewig zermalmt, vernichtet werden, wenn er sie je wiedersähe. Und er hing doch an seinem lebenden Leibe mit Liebe. Eine lange, lange Strecke zauderte er so hin, bis sein Hirn sich umdunkelte und er vor Müdigkeit besinnungslos wurde. Dann kauerte er sich in dem tiefsten Dunkel, das er finden konnte, unter dem Strandhafer zusammen und blieb dort ohne Bewußtsein liegen. Sie erholte sich allmählich von ihrem todesähnlichen Krampf, obwohl jede Bewegung ihren Schmerzen ein neuer Sporn wurde. Ganz allmählich hob sie ihren toten Leib vom Sande empor und stand schließlich auf. Für sie gab es jetzt keinen Mond mehr, keine See. Alles war verschwunden. Sie schleppte ihren toten Leib nach Hause in ihr Zimmer, wo sie stumpf, unfähig sich zu bewegen, liegen blieb.

Der Morgen brachte ihr eine gewisse Wiederbelebung ihrer äußeren Kräfte. Aber in ihr war alles tot, kalt, stumpf. Skrebensky erschien beim Frühstück. Er war weiß und wie ausgewischt. Sie sahen sich einander nicht an und sprachen auch nicht zusammen. Abgesehen von den gewöhnlichen, gleichgültigen Redensarten wohlerzogener Leute waren sie voneinander geschieden und sprachen nicht weiter über das, was für die ihnen noch verbleibenden zwei Tage ihres Aufenthaltes zwischen ihnen lag. Sie waren wie zwei Tote, die sich nicht wiederzuerkennen, sich nicht anzusehen wagen.

Dann packte sie ihre Tasche und zog sich an. Mehrere andere Gäste reisten gleichfalls mit demselben Zuge ab. So würde er keine Gelegenheit mehr finden, mit ihr zu sprechen.

Im letzten Augenblick klopfte er an ihre Kammertür. Sie stand mit ihrem Schirm in der Hand da. Er schloß die Tür. Er wußte nicht, was zu sagen.

»Bist du mit mir fertig?« fragte er endlich, den Kopf erhebend.

»Ich bin nicht fertig«, sagte sie. »Du bist mit mir fertig – wir sinds miteinander.«

Er sah sie an, ihr verschlossenes Gesicht, das ihm so grausam vorkam. Und dann wußte er, er könne sie nie wieder berühren. Sein Wille war gebrochen, er war zu tief versehrt, wenn er sich auch noch an sein leibliches Leben anklammerte.

»Ja, was habe ich denn getan?« fragte er mit recht kläglicher Stimme.

»Ich weiß nicht«, sagte sie mit derselben stumpfen, gefühllosen Stimme. »Es ist aus. Es war ein Versehen.«

Er war stumm. Die Worte brannten ihm in den Eingeweiden.

»War es meine Schuld?« sagte er endlich aufsehend, um den Gnadenstreich flehend.

»Du warft nicht imstande – – –« begann sie. Aber dann brach sie nieder.

Vor Furcht, mehr hören zu müssen, wandte er sich ab. Sie begann ihre Handtasche, ihr Taschentuch, ihren Schirm zusammenzusuchen. Sie mußte fort. Er wartete, bis sie weg wäre.

Schließlich kam der Wagen, und sie fuhr mit den übrigen ab. Sobald sie außer Sicht war, kam eine große Erlösung über ihn, eine angenehme Wurstigkeit. Im Handumdrehen war alles vergessen. Den ganzen Tag über war er kindlich liebenswürdig und umgänglich. Er war ganz erstaunt, daß das Leben so nett sein könne. Es war viel schöner als vorher. Wie einfach das gewesen war, sie los zu werden. Wie freundlich und einfach ihm nun alles vorkam. Welche Täuschung hatte sie ihm bloß aufzwingen wollen?

Aber nachts wagte er nicht allein zu bleiben. Sein Zimmergenosse war abgereist, und die Stunden der Dunkelheit wurden ihm zur Todesqual. In Leiden und Angst beobachtete er sein Fenster. Wann würde nur diese furchtbare Finsternis von ihm genommen werden? Sich aufs äußerste zusammennehmend, hielt er endlich durch. Mit der Dämmerung fiel er in Schlaf.

Er dachte ihrer nicht mehr. Nur seine Angst vor den Nachtstunden nahm zu und lastete auf ihm wie Besessenheit. Krämpfe durchflochten seinen Schlaf, und fortwährend wachte er vor Angst auf. Furcht zernagte ihm das Mark.

Planmäßig blieb er abends jetzt sehr lange auf: um mit andern zusammen bis eins oder halb zwei des Morgens zu trinken; dann bekäme er noch drei Stunden Schlaf, Vergessenheit. Gegen fünf Uhr wurde es wieder hell. Aber er wurde beinahe wahnsinnig vor Angst, wenn er im Dunkeln die Augen öffnete.

Tagsüber war er sehr vergnügt, stets mit der Aufgabe des Augenblicks beschäftigt, sich an die gleichgültige Gegenwart anklammernd, die ihm reich und befriedigend vorkam. Ganz einerlei, wie nichtig und unwürdig seine Beschäftigung war, er überließ sich ihr vollständig und fühlte sich gesund und vollkommen dabei. Er war immer tätig, fröhlich, guter Laune, bezaubernd, nichtig. Nur fürchtete er sich vor der Dunkelheit und dem Schweigen seines Schlafzimmers, sobald die Finsternis seine Seele in die Schranken forderte. Das konnte er nicht ertragen, ebensowenig wie den Gedanken an Ursula. Er hatte keine Seele, keinen Hintergrund mehr. Er dachte niemals mehr an Ursula. Nicht ein einziges Mal, sandte ihr kein Lebenszeichen. Sie war die Dunkelheit, die Herausforderung, der Schrecken. Er wandte sich der Unmittelbarkeit zu. Er wollte möglichst rasch heiraten, um sich vor der Dunkelheit zu schirmen, vor der Herausforderung seiner Seele. Er wollte die Tochter seines Obersten heiraten. Rasch, ohne langes Zögern, besessen von einem wahnsinnigen Tätigkeilsfieber, schrieb er dem Mädchen und erzählte ihr von dem Abbruch seiner Verlobung – es sei eine zeitweilige Verstrickung gewesen, die ihm jetzt unbegreiflicher erschiene als jedem anderen – und ob er seine liebste Freundin wohl bald Wiedersehen dürfe. Ehe ihre Antwort käme, würde er sich nicht glücklich fühlen können.

Er bekam von dem Mädchen eine etwas überraschte Antwort, aber sie würde sich doch freuen, ihn wiederzusehen. Sie lebte augenblicklich bei einer Tante. Sofort fuhr er dorthin und hielt am ersten Abend gleich um sie an. Er fand Erhörung. Die Hochzeit fand in aller Stille innerhalb vierzehn Tagen statt. Ursula wurde von dem Vorgänge nicht in Kenntnis gesetzt. Nach abermals einer Woche segelte Skrebensky mit seiner jungen Frau nach Indien.


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