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Neuntes Kapitel.
Die Marsch und die Überschwemmung

Es bestand stets eine geregelte Verbindung zwischen der Marsch und dem Eibenhäuschen, und doch blieben die beiden Haushaltungen getrennt, gesondert.

Nach Annas Hochzeit wurde der Marschenhof das Heim der beiden Jungens, Tom und Fred. Tom war ein ziemlich kleiner, hübscher Junge mit krausem schwarzen Haar, langen schwarzen Wimpern und sanften, dunklen, nachdenklichen Augen. Er besaß eine rasche Auffassungsgabe. Von der Lateinschule aus ging er nach London, um zu studieren. Er hatte die Gabe, Leute von Eigenart und Tatkraft anzuziehen. Er gab diesen anderen völlig Raum in sich, und blieb doch gleichzeitig unabhängig. Er führte kaum ein eigenes Dasein als durch andere Menschen. Sobald er allein war, wurde er unentschlossen. War er aber mit jemand anders zusammen, dann schien er sich dem andern hinzuzufügen, schien den andern überlebensgroß zu machen. Daher hatten ihn einige wenige Leute gern und fühlten eine Art von Erfüllung durch ihn. Er suchte diese wenigen sorgfältig aus.

Er hatte einen feinen, raschen, unterscheidungsfähigen Verstand, eine Auffassung, einer Wage oder einem Maßstab vergleichbar. In alledem lag etwas Weibliches.

In London war er der Lieblingsschüler eines Ingenieurs geworden, eines klugen Menschen, der grade damals, als Tom Brangwen mit seinem Lehrgang fertig war, sehr bekannt wurde. Durch diesen seinen Meister blieb der Junge mit einer Anzahl eigenartiger, hervorragender Leute in steter Berührung. Er war nie aufdringlich. Er schien nur da zu sein, um die übrigen abzuschätzen und selbständig zu machen. Er schien zu denen zu gehören, die nur dazu da sind, uns die eigene Gegenwart fühlbar zu machen. So kam es, daß er noch als sehr junger Mensch doch schon mit einigen der rührigsten Gelehrten und Mathematiker Londons in Verbindung stand. Sie nahmen ihn als Ebenbürtigen auf. Ruhig, empfänglich und unpersönlich, wahrte er sich seine Stellung und lernte andere nach ihrem wirklichen Werte einschätzen. Er war wie ein Gericht. Zudem war er sehr hübsch, mittelgroß, aber in wunderschönen Verhältnissen gewachsen, dunkel, mit feinen Farben, und stets vollkommen gesund.

Sein Vater gewährte ihm einen sehr auskömmlichen Wechsel, und außerdem besaß er noch die Stellung einer Art Hilfskraft bei seinem Vorgesetzten. Dann kam der junge Mann von Zeit zu Zeit in die Marsch, merkwürdig anziehend, gut angezogen, zurückhaltend, mit einem angeborenen feinen, gewandten Benehmen. Und er gab den Ton an in der Marsch.

Fred, der jüngere Bruder, war ein Brangwen, grobknochig, blauäugig, der richtige Engländer. Er war seines Vaters wahrer Sohn; die beiden Männer, Vater und Sohn, kamen wunderbar gut miteinander aus. Fred sollte später den Hof übernehmen.

Zwischen dem älteren und dem jüngeren Bruder bestand eine fast leidenschaftlich zu nennende Liebe. Tom wachte über Fred mit der scharfen Aufmerksamkeit und der selbstlosen Sorgfalt eines Weibes. Fred sah zu Tom wie zu einem Wunderwesen auf, wie zu etwas, was er selbst auch wohl werden möchte, wenn er nur erst groß wäre.

So begann also die Marsch nach Annas Fortgang einen andern Ton anzunehmen. Die Jungens wurden junge Herren; Tom war selten gut beanlagt und bereits hoch emporgekommen. Fred war gemütvoll und las gern, er träumte über Ruskin und dann über den Agnostikern. Wie alle Brangwens war er ein sehr eigenes Kraut, obgleich er die Menschen gern hatte und aus übertriebener Hochachtung vor ihnen nachsichtig gegen sie war.

Zwischen ihm und einem der jungen Hardys auf Shelly-Hall bestand eine etwas unsichere Freundschaft. Die zwei Haushaltungen waren ganz verschieden, und doch trafen sich die beiden jungen Leute in einer scheuen Art von Ebenbürtigkeit.

Der junge Tom Brangwen mit seinen dunklen Wimpern und seinen hübschen Farben war es, mit seiner sanften, unerforschlichen Art, seiner seltsamen Ruhe und seinem anscheinenden Wissen, und dazu noch seiner Stellung in London, der dem überlegenen, fremden Wesen in der Marsch Nachdruck verlieh. Sobald er in seinem tadellosen Anzug erschien, sanft und nachgiebig und doch von allen anderen abrückend, dann brachte er bei allen ein Gefühl von Unsicherheit hervor und schien den Gemütern von Cossethay und Ilkeston einer anderen, entlegeneren Welt vorbehalten.

Er und seine Mutter besaßen eine Art Seelenverwandtschaft. Ihre gegenseitige Zuneigung war stumm, kühl, aber eingewurzelt. Sein Vater fühlte sich gegen den älteren Sohn stets voller Unruhe, voll einer gewissen Ehrerbietung. Tom bildete auch das Verbindungsglied, das die Marsch mit den Skrebenskys tatsächlich in Verbindung hielt, die jetzt in ihrem Bezirk zu Leuten von gewisser Bedeutung geworden waren.

So also kam eine Änderung im Ton über die Marsch. Tom Brangwen, der Vater, schien sich mit dem Älterwerden zu einem Gutsbesitzer auszureifen. Sein Aussehen kam ihm dabei sehr zustatten: untersetzt und hübsch. Sein Gesicht behielt die frische Farbe, und seine blauen Augen bewahrten ihr früheres Licht, sein dichtes Kopf- und Barthaar bekam allmählich Silberweiße. Er lachte sehr viel aus Angewohnheit in seiner geduldig-eigensinnigen Weise. Das Leben hatte ihm viele Rätsel aufgegeben, so daß er sich endlich zu einer leichtherzigen, gutmütigen Auffassung durcharbeitete. Er hielt sich nicht verantwortlich für den Stand der Dinge. Aber vor dem Unbekannten im Leben hatte er immer noch Angst.

Er lebte in ganz gutem Auskommen. Seine Frau war bei ihm, ein von dem seinen gänzlich verschiedenes Wesen und ihm doch zum Leben unbedingt notwendig: – wer war er aber, um das Wie und Wo verstehen zu können? Seine Söhne waren junge Herren. Sie waren ganz andere Leute als er, sie besaßen ihr abgesondertes Dasein, und doch standen sie mit ihm in Verbindung. Das alles war so abenteuerlich und rätselhaft. Im eigenen Dasein stand man sich doch auf die Dauer selbst immer am nächsten, ganz einerlei, was dabei herauskam.

So lachte er, ein hübscher, etwas verlegener Kerl, und hielt sich an sich selbst als das einzige, woran er sich halten konnte. Seine Jugend und sein ewiges Sichwundern blieben sich immer gleich. Er wurde gleichgültig und entwickelte sich zu einem üppigen Faulpelz. Fred besorgte größtenteils die Hofarbeit, der Vater bekümmerte sich mehr um die wichtigeren Unternehmungen. Er hatte einen guten Gaul vor seinem Wagen und ritt zuweilen ein kräftiges kleines Tier. Er trank in den Gast- und Wirtshäusern mit den besser gestellten Bauern und Gutsbesitzern und hatte recht wohlhabende Bekanntschaften. Aber die Gesellschaft der einen gefiel ihm darum nicht besser als die der anderen.

Seine Frau besaß wie stets keinerlei Bekannte. Ihr Haar war jetzt mit Grau durchzogen, ihr Gesicht wurde älter der Bildung nach, aber ohne seinen Ausdruck zu verändern. Sie schien noch ganz dieselbe als die sie vor fünfundzwanzig Jahren auf die Marsch gekommen war, abgesehen von ihrer hinfälliger werdenden Gesundheit. Es schien viel eher, sie sei ein Geist, der die Marsch heimsuche, als daß sie dort lebte. Sie wurde nie zu einem wahren Bestandteil des Marschenlebens. Das, was sie vorstellte, war dort fremd, sie blieb eine Fremde innerhalb des Tores, in mancher Hinsicht verschlossen und unzugänglich, in anderer wieder von merkwürdig verfeinerndem Einfluß. Sie war die Ursache, daß alle Bewohner der Marsch so für sich standen, solche Eigenmenschen waren, daß der Haushalt so leicht zu zermürben war.

Als der junge Tom Brangwen dreiundzwanzig Jahre alt war, kam es zwischen ihm und seinem Vorgesetzten zu einem nie geklärten Bruch, und er ging zuerst nach Italien, dann nach Amerika. Eine Zeitlang kam er nach Hause, dann ging er nach Deutschland; immer derselbe hübsche, anziehende, gut angezogene junge Mensch, vollkommen gesund, und doch irgendwie stets abseitsstehend. In seinen dunklen Augen lag ein tiefer Kummer, den er aber mit derselben Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit zu tragen schien wie seinen eng anliegenden Anzug.

Für Ursula war er eine märchenhafte, verführerische Gestalt. Er hatte eine merkwürdige Gabe, ihr wunderschöne Geschenke mitzubringen: ein Kästchen sehr teuerer Süßigkeiten, wie Cossethay sie noch nie gesehen hatte; oder er schenkte ihr eine Haarbürste und einen langen, schmalen Spiegel aus Perlmutter, ganz bleich und glitzernd, ausgesucht schön; oder er schickte ihr ein Halsband aus ungeschliffenen Steinen, Amethysten und Opalen und Brillanten und Granaten. Fremde Sprachen sprach er leicht und fließend, alle seine Anlagen waren sonderbar zierlich und einschmeichelnd. Bei alledem war er aber doch als Außenseiter nirgends unterzubringen. Er gehörte nirgends hin, zu keiner Gesellschaftsschicht.

Seit dem Tage ihrer Hochzeit hatte Anna Brangwen das vertraute Verhältnis zu ihrem Vater nicht weiter entwickelt. Mit ihrer Hochzeit wurde es abgebrochen. Sie hatten beide gewisse Grenzen zwischen sich gezogen. Anna ging nun mehr zu ihrer Mutter.

Dann starb der Vater plötzlich.

Es geschah in einem Frühling, als Ursula ungefähr acht Jahre alt war, daß er, Tom Brangwen, eines Sonnabendmorgens zum Markte nach Nottingham fuhr und sagte, er würde erst spät wiederkommen, da eine Sonderausstellung stattfände und er nachher noch an einer Zusammenkunft teilnehmen müsse. Die Seinen merkten, daß er sich einen vergnügten Abend machen wollte.

Die Jahreszeit war regnerisch und trübselig gewesen. Am Abend goß es nur so. Fred Brangwen ging unschlüssig, voller Besorgnis nicht aus, wie es sonst seine Gewohnheit war. Er rauchte und las und bastelte herum, und mußte immer auf das Tröpfeln des Regens draußen horchen. Die feuchte, schwarze Nacht schien ihn abzuschneiden und ihm seinen Halt zu rauben, sie brachte ihn sich selbst zum Bewußtsein, ließ ihn fühlen, daß ihm etwas fehle, daß er kaum wirklich lebe. Sein Leben schien ihm keine Wurzel zu besitzen, nichts, das ihn hätte befriedigen können. Er träumte davon, ins Ausland zu gehen. Aber er fühlte, lösen würde auch das die Frage nicht. Er wollte Wechsel, tiefen, notgedrungenen Wechsel seiner Lebensweise. Und er wußte nicht, wie dazu gelangen.

Tilly, jetzt eine alte Frau, kam herein und sagte, die Tagelöhner, die grade zu Abend gegessen hätten, sagten, der Hof und alles sei eine einzige große Pfütze. Er hörte gleichgültig hin. Aber er haßte diese trübselige, rohe Nässe in der Welt. Er wollte weg von der Marsch.

Seine Mutter war schon im Bett. Schließlich machte er sein Buch zu; sein Gehirn war leer, er ging in einem Rausch niedergedrückter, ärgerlicher Gefühle nach oben und zwang sich in diesem Rausch von Niedergeschlagenheit und Ärger zum Schlafen.

Tilly setzte ein paar Hausschuhe vors Küchenfeuer und ging auch zu Bett, ließ aber ihre Tür unverschlossen. Dann lag der Hof im Regen im Dunklen.

Um elf Uhr regnete es immer noch. Tom Brangwen stand im Hofe des Engels zu Nottingham und knöpfte sich den Rock zu.

»Och ja,« sagte er lustig, »ich habe auch früher schon Regen abgekriegt. Schirr sie ein, Jacki, mein Junge, schirr sie ein – bist 'n putziger, alter Haupthahn, Jacki-Männchen, und dein Bauch zeigt, daß du was Gutes zu trinken kriegst und gutes Futter auch woll. Nu komm, Mädel, wollen heim in die alte Klappe. Och Herze mein, is das 'ne feuchte Nacht! Nu wirds wohl keine feuerspuckigen Berge mehr geben. He, Jacki, du allerliebster kleiner Spucht, wer von uns beiden is nu woll Noah? Da oben sind scheinbar die Wasserwerke übergelaufen. Enten und anderes Wasserviehzeug muß hier ja noch König bei werden – Taube und Ölzweig un so. Na, nu los, Mädel, nu los, wir wollen nich die ganze Nacht hier bleiben, wenn du dirs auch woll so gedacht hast. Ich will des Deubels sein, wenn bei diesem Gepladder schließlich nich jedwederein glaubt, er wäre betrunken. He, Jack, wäscht Regenwasser den Verstand nu rein, oder wäscht es ihn raus?« Und über diesen Spaß mußte er selbst lachen.

Er schämte sich immer, wenn er nach einer Kneiperei fahren mußte, und entschuldigte sich dann bei seinem Gaule. Sein Entschuldigungsbedürfnis machte ihn geschwätzig. Er merkte wohl, daß er nicht imstande war, auf dem Strich zu gehen. Trotz all seiner Bezechtheit blieb sein Wille aber doch straff und aufmerksam.

So juckelte und zuckelte er aus dem Hoftor des Gasthauses. Das Pferd ging gut, er saß fest, und der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Regungslos saß sein schwerer Körper wie schlafend da, die Flamme seiner Aufmerksamkeit brannte gerade so hoch wie nötig, alles übrige war dunkel. Er sammelte den letzten Rest von Aufmerksamkeit in der Tatsache, daß er den ihm so wohlbekannten Weg entlang fahre. Er kannte ihn so gut, und doch paßte er mit einer gewissen Willensanstrengung angespannt auf ihn auf.

Er sprach laut mit sich selber, ganz geistreich in seiner Gespanntheit, als wäre er vollkommen nüchtern, während der Gaul vorwärts sauste und der Regen auf ihn einschlug. Er beobachtete den Regen vor den Wagenlampen, das schwache Leuchten des schattenhaften Pferdekörpers, das Vorbeigleiten der dunklen Hecken.

»Is ja 'ne Nacht, in der man keinen Hund rausjagen möchte«, sagte er laut zu sich. »Höchste Zeit, daß es mal 'n bißchen aufklart, oder ich will verdammt sein. Hat auch grade viel genutzt, die zehn Wagen voll Schlacke hier auf 'n Weg. Werden ja in die Ewigkeit gespült, wenn das nicht anners wird. Na, is ja unsern Fred seine Sache, dafür aufzupassen. Er is ja erster Mann an de Sprütt, hierbei. Seh gar nich ein, weshalb ich mich drum quälen soll. Meinetwegen können sie in die Ewigkeit rein- und wieder rausgespült werden. Vermutlich würden sie eines Tags doch wieder reingespült. Ja, so gehts. Da pladdert der Regen nu runter, bloß um wieder in die Wolken raufzusteigen. So sagt man. Is nich mehr Wasser auf Erden nu, als im Jahre Null. So ist die Geschichte, mein Junge, wenn du se begreifen kannst. Heute is nich mehr da als vor tausend Jahren – un weniger auch nich. Wasser kannst du nich aufbrauchen. Ne, mein Junge: das rutscht dir unten durch. Versuchs mal, sofort is's wieder Dampf und macht dir 'ne lange Nase. Es wird wieder zu 'ner Wolke und fällt als Regen auf Gerechte und Ungerechte. Soll mich doch mal wundern, ob ich woll 'n Gerechter oder 'n Ungerechter bin.«

Durch einen Stoß wurde er völlig wach, als der Wagen tief in ein Loch sauste. Und nun wachte er auch zum Bewußtsein seines Reisezieles auf. Er war eine ganze Strecke weit gefahren, seit er zuletzt bei Bewußtsein gewesen war.

Schließlich aber erreichte er seine Tür und stolperte schwerfällig herunter, taumelnd, und klammerte sich am Wagentritt fest. Beim Heruntertreten geriet er in ein paar Zoll Wasser.

»Verdammt noch mal!« sagte er ärgerlich. »Verdammte, elende Schweinerei!«

Und watend führte er das Pferd durch die Gittertür. Jetzt war er vollständig betrunken und bewegte sich nur blind, gewohnheitsmäßig. Überall stand ihm das Wasser unter den Füßen.

Der etwas höher liegende Pfad zum Hause und über den Hof war jedoch noch trocken. Aber es tönte ein sonderbares Brausen durch die Nacht, das aus der Dunkelheit seiner eigenen Trunkenheit herzustammen schien. Taumelnd, blind, fast bewußtlos trug er seine Packen und die Decke mit den Kissen ins Haus, ließ sie hinfallen und ging wieder nach draußen, um das Pferd auszuspannen.

Nun er zu Hause war, ging er wie ein Nachtwandler und wartete nur darauf, daß, was er noch zu tun habe, zu Ende sei. Ganz überlegt und sorgfältig führte er das Pferd die Böschung hinunter zum Pferdestall. Es scheute und stemmte sich zurück.

»Nanu, was is denn los?« stieß er schluckend hervor und stapfte ruhig weiter. Und wieder stand er in einem Wassertümpel, das Pferd platschte bei jedem Tritt durch Wasser. Es war stickdunkel, ausgenommen vor den Wagenlampen, und sie schienen auf eine rieselnde Wasserfläche.

»Das is doch den Dalschlag«, sagte er, als er zum Wagenschuppen kam und hier durch sechs Zoll Wasser waten mußte. Aber das alles schien ihm nur Spaß zu machen. Er mußte bei dem Gedanken lachen, daß im Wagenschuppen sechs Zoll Wasser ständen.

Er schob das Pferd rückwärts hinein. Es war störrisch. Er lachte vor Vergnügen, daß er sein Pferd mit so 'nem Haufen Wasser um die Beine abschirren mußte. Er lachte, weil es die Stute unruhig machte. »Was is denn los, was is denn los, so 'n Tropfen Wasser schadet dir doch wohl nich!« Sobald er die Stränge abgeschnallt hatte, ging sie rasch weg.

Er hing die Schere auf und nahm die Wagenlampen. Als er aus dem ihm so vertrauten Wirrwarr von Rädern und Scheren wieder aus dem Schuppen heraustrat, wusch ihm das Wasser in kleinen Wellen um die Beine. Er stolperte und wäre beinahe hingefallen.

»Was den Deubel noch mal!« sagte er und stierte auf das in der schwarzen, feuchten Nacht rund um ihn her flutende Wasser.

Er schritt gegen die strömende Flut an und sank tiefer und immer tiefer. Seine Seele füllte sich mit einer großen Verwunderung. Er mußte vorwärts und nachsehen, woher es käme, obwohl der Grund ihm unter den Füßen schwand. So ging er weiter auf den Teich zu, heftig schwankend. Es machte ihm geradezu Spaß. Knietief stand er drin, und das Wasser zog ihn mächtig. Er stolperte und schwankte, daß ihm ganz übel wurde.

Furcht kam über ihn. Die Wagenlampe fest packend, schwankte er weiter und sah um sich her. Das Wasser zog ihm die Füße weg, er wurde schwindlig. Er wußte nicht mehr, wohin sich wenden. Das Wasser wirbelte, wirbelte, die ganze dunkle Nacht war voll flutender Wirbel. Voll Ungewißheit über den Mittelpunkt des ganzen Angriffs schwankte er taumelnd, bestürzt weiter. In seiner Seele wußte er, er würde fallen.

Beim Vorwärtsstolpern schlug etwas im Wasser ihn gegen die Beine und er fiel hin. Sofort kam die Todesqual des Erstickens über ihn. Er focht gegen den schwarzen Schrecken des Erstickens an, kämpfend, ringend, aber immer tiefer zog es ihn hin, unvermeidlich tiefer. Trotzdem kämpfte er noch in der unsagbaren Qual des Erstickens und rang, um sich zu befreien, aber er fiel nur immer tiefer. Ein Gegenstand schlug ihn gegen den Kopf, eine große ängstliche Verwunderung kam über ihn, dann hüllte ihn die Dunkelheit vollständig ein.

In tiefster Finsternis wurde der bewußtlose, ertrinkende Körper weitergerollt, und die Wasser brachen, spülten vollkommen über den ganzen Platz herein. Das Vieh wachte auf und kam hoch, der Hund begann wimmernd zu heulen. Und der bewußtlose, ertrinkende Körper wurde in der schwarzen, wirbelnden Finsternis widerstandslos dahingetragen, weitergespült.

Mrs. Brangwen erwachte und horchte auf. Mit übernatürlich scharfen Sinnen hörte sie, wie alles sich in der wirbelnden Finsternis draußen bewegte. Einen Augenblick lag sie still. Dann trat sie zum Fenster. Sie hörte den scharfen Regen und das Laufen tiefen Wassers. Sie wußte, ihr Mann wäre draußen.

»Fred!« rief sie. »Fred!«

Von weitem tönte draußen das heisere, rohgewaltige Rauschen einer großen, abwärtsfließenden Wassermasse.

Sie ging nach unten. Sie konnte das überall herdringende Geräusch strömenden Wassers nicht verstehen. Als sie die eine Stufe in die Küche hinuntertrat, geriet ihr Fuß in Wasser. Die Küche war überflutet. Wo mochte das nur herkommen? Das konnte sie nicht verstehen.

Das Wasser lief durch die Aufwaschküche herein. Barfuß watete sie hindurch, um nachzusehen. Wild quoll das Wasser unter der äußeren Tür hindurch. Sie wurde bange. Dann wurde etwas gegen sie angespült, es bog sich etwas unter ihrem Fuß. Es war die Peitsche. Auf dem Tische lagen die Decke und das Kissen und die Packen aus dem Wagen.

Er war also nach Hause gekommen.

»Tom!« rief sie, voller Angst vor ihrer eigenen Stimme.

Sie öffnete die Tür. Mit einem schrecklichen Geräusch strömte das Wasser herein, überall nur fließendes Wasser, das Geräusch von Wassern.

»Tom!« schrie sie, in ihrem Nachtkleid mit der Kerze in der Hand dastehend, und rief in die Finsternis und die Flut dort draußen hinaus.

»Tom! Tom!«

Und dann horchte sie wieder. Fred erschien hinter ihr, in Hemd und Hose.

»Wo ist er?« fragte er.

Er blickte auf die Flut und sah dann seine Mutter an. Sie kam ihm klein und unheimlich vor, wie eine Elfe, in ihrem Nachtkleid.

»Geh nur nach oben,« sagte er, »er wird wohl im Stalle sein.«

»To-om! To-om!« rief die alternde Frau mit langem, unnatürlichem, durchdringendem Ton, der ihren Sohn bis ins Mark frieren machte. Rasch zog er Rock und Stiefel an.

»Geh nach oben, Mutter«, sagte er. »Ich will hingehen und nachsehen, wo er ist.«

»To-o-om! To-o-om!« tönte der schrille, unirdische Ruf der kleinen Frau. Nur das Geräusch des Wassers und das Stöhnen des geängstigten Viehs tönte herüber, und das langgezogene Heulen des Hundes, der in der Finsternis jammerte.

Mit einer Laterne platschte Fred Brangwen in die Flut hinaus. Seine Mutter stand auf einem Stuhle in der Tür und sah zu, wie er losging. Alles war Wasser, Wasser, fließend und blitzend unter der Laterne.

»Tom! Tom! To-o-om!« drang ihr langer, unnatürlicher Ruf schallend durch die Nacht. Er machte ihren Sohn in tiefster Seele gefrieren.

Und der bewußtlose ertrinkende Körper des Vaters rollte am Hause vorüber; das schwarze Wasser trieb ihn nach der Landstraße zu.

Tilly erschien, in einem Unterrock über ihrem Nachthemd. Sie sah ihre Herrin auf einem Stuhle stehend sich in der offenen Tür festklammern, und eine brennende Kerze auf dem Tische.

»Um Gottes willen!« schrie die alte Magd. »De Damm is broken. De Böschung kummt 'runner. Was schall wi blot moken!«

Mrs. Brangwen sah zu, wie ihr Sohn mit der Laterne den hochgelegenen Pfad nach dem Stalle entlang ging. Dann bemerkte sie die dunkle Gestalt eines Pferdes: nun hing ihr Sohn die Laterne im Stalle auf, und ihr Licht schien gedämpft auf ihn nieder, während er die Stute losmachte. Die Mutter sah, wie der schwachbeleuchtete Kopf des Pferdes sich in die Stalltür schob. Die Ställe lagen noch höher als die Flut. Aber ins Haus floß das Wasser jetzt kräftig hinein.

»Et stiggt noch«, sagte Tilly. »Is uns' Herr noch nich da?«

Mrs. Brangwen hörte sie nicht.

»Ist er da nicht?« rief sie mit ihrer weitschallenden, schreckenerregenden Stimme.

»Nein«, tönte die kurze Antwort aus der Nacht zurück.

»Geh und su-uch ihn.«

Seiner Mutter Stimme machte den Jungen fast wahnsinnig.

Er legte dem Gaul ein Halfter an und schloß die Stalltür. Dann kam er platschend durchs Wasser zurück, die Laterne hin und herbaumelnd.

Der bewußtlose ertrinkende Körper wurde an seinem Hause vorbei in die tiefste Strömung mit fortgerissen. Fred Brangwen trat wieder zu seiner Mutter.

»Ich will nach dem Wagenschuppen«, sagte er.

»Tom! To-o-om!« tönte wieder der starke, unmenschliche Schrei. Fred Brangwens Blut gefror, sein Herz war furchtbar verärgert. Voller Wut faßte er sich an die Schläfen. Was schrie sie denn so? Er konnte ihren Anblick nicht länger ertragen, wie sie da oben auf dem Stuhle in ihrem weißen Nachtkleid in der offenen Tür stand, elfisch und schrecklich.

»Er hat den Gaul abgeschirrt, also ist er wohl gut aufgehoben«, sagte er grollend und tat so, als wäre er ganz ruhig.

Aber als er zum Wagenschuppen hinunterkam, sank er in fußtiefes Wasser. Er hörte das Rauschen in der Ferne und wußte nun, der Damm war gebrochen. Das Wasser wurde immer tiefer. Der Wagen stand da ganz in Ordnung, aber von seinem Vater kein Anzeichen. Der junge Mann watete zum Teich hinunter. Das Wasser stieg ihm bis über die Knie, seine Wirbel bedrängten ihn. Er zog sich zurück.

»Ist er da-a-a?« tönte der wahnsinnig machende Ruf seiner Mutter.

»Nein«, war die scharfe Antwort.

»To-om! To-o-om!« kam abermals der durchdringende, freie, unirdische Schrei. Er klang hoch und übernatürlich, fast rein. Fred Brangwen haßte ihn. Er machte ihn fast verrückt. So furchtbar klang er, fast wie Gesang.

Das Wasser floß immer reichlicher ins Haus.

»Solltest man lieber zu Beebys hinaufgehen und ihn und Artur mit runterbringen, und sag Frau Beeby, sie sollte Wilkinson holen«, sagte Fred zu Tilly. Er zwang seine Mutter, nach oben zu gehen.

»Ich weiß, dein Vater ist ertrunken«, sagte sie in sonderbarer Bestürzung.

Die ganze Nacht über stieg die Flut, bis sie in der Küche den Kessel vom Fender spülte. Mrs. Brangwen saß oben an einem Fenster allein. Sie rief nicht länger mehr. Die Männer waren bei den Schweinen und dem Rindvieh beschäftigt. Sie kamen mit einem Boot, um sie zu holen.

Gegen Morgen hörte der Regen auf, die Sterne traten über all dem Lärm und dem schrecklichen Glucksen und Klickern des Wassers hervor. Dann wurde es im Osten blaß, das Licht begann zu kommen. Im rötlichen Schein der Dämmerung sah sie das Wasser sich ausbreiten und träge sich weiterbewegen und die Gebäude aus der Wasserwüste hervorragen. Vögel begannen schläfrig zu singen und als habe die Dämmerung sie etwas heiser gemacht. Es wurde heller. Neben dem zweiten Felde war ein großes, wüstes Loch im Damme.

Mrs. Brangwen ging von Fenster zu Fenster, die Flut überschauend. Jemand war mit einem kleinen Boot gekommen. Das Licht wurde stärker, das rote Glimmern war von dem Wasser verschwunden, das Tageslicht brach hervor. Mrs. Brangwen ging von der Vorderseite des Hauses nach hinten und schaute gespannt und unermüdlich aus in den bleichen Frühlingsmorgen.

Einen Augenblick nur erfaßte sie einen Schein des gelben Überrockes ihres Mannes, als das Wasser den Körper gegen die Gartenhecke wusch. Sie rief den Männern im Boot zu. Sie freute sich, daß er gefunden war. Sie zogen ihn aus der Hecke hervor. Sie konnten ihn nicht ins Boot heben. Fred Brangwen sprang bis an die Hüfte ins Wasser und brachte den Körper seines Vaters halb tragend durch die Flut bis auf die Landstraße. Er hatte Heu und Zweige und Schmutz in Haar und Bart. Laut jammernd schob der Junge sich durch die Flut, tränenlos, wie ein geschlagenes Tier. Die Mutter am Fenster weinte, aber machte ihm in keiner Weise zu schaffen.

Der Arzt kam. Aber der Körper war tot. Sie trugen ihn nach Cossethay hinauf, in Annas Haus.

Als Anna Brangwen die Neuigkeit hörte, preßte sie den Kopf zurück und rollte die Augen, als dränge etwas auf sie ein, um sie in die Kehle zu beißen. Sie preßte den Kopf zurück, ihr Geist wurde in Schlaf versetzt. Seit sie verheiratet und Mutter geworden war, war das kleine Mädchen von einst vergessen. Jetzt aber drohte der Schreck über sie hereinzubrechen und ihr ganzes dazwischen liegendes Leben hinwegzufegen, sie wieder zu dem jungen Mädchen von achtzehn zu machen, das seinen Vater so lieb gehabt hatte. So preßte sie den Kopf zurück, fort von dem Schrecken, und klammerte sich an ihr gegenwärtiges Leben.

Als sie ihn ihr tot in seinem nassen Zeuge ins Haus brachten, in seinem nassen, durchfeuchteten Zeuge, wie er voll angezogen vom Markte gekommen war, und doch ganz durchfeuchtet und schlaff, da brach der Schreck wirklich über sie herein und erfüllte sie mit Angst. Ein mächtiger, nasser, schlaffer Haufen, das war er, der für sie das Urbild aller Kraft und Lebensstärke gewesen war.

Fast mit Abscheu begann sie ihm die nassen Sachen auszuziehen und den für ihn nun so wenig passenden Marktanzug eines wohlhabenden Landmannes. Die Kinder wurden ins Pfarrhaus geschickt, der tote Körper lag auf dem Fußboden im Wohnzimmer; Anna begann ihn rasch auszuziehen und legte seine Uhr mit Kette und den Siegeln in einem nassen Haufen auf den Tisch. Ihr Mann und die Aufwartefrau halfen ihr dabei. Sie reinigten und wuschen den Körper und legten ihn aufs Bett.

Dort bot er einen stillen, großartigen Anblick. Er war vollkommen ruhig im Tode, und nun er ausgestreckt dalag, unangreifbar, unnahbar. Für Anna war er die Hoheit unnahbarer Männlichkeit, die Hoheit des Todes. Es machte sie still und beklommen, beinahe freudig.

Lydia Brangwen, die Mutter, kam auch und sah den eindrucksvollen, unangreifbaren Körper ihres toten Mannes. Sie wurde beim Anblick des Todes blaß. Nun stand er jenseits jeden Wechsels oder Wissens, unbedingt, in Übereinstimmung mit dem Unendlichen. Und wer wollte Anspruch an ihn erheben, wer von ihm sprechen, von ihm, der sich da in dem alle Hüllen abreißenden Augenblick des Übergangs vom Leben zum Tode zeigte? Weder die Lebenden noch die Toten besaßen Ansprüche an ihn, er war eins wie das andere, unverletzlich, unzugänglich.

»Mein Leben teilte ich mit dir, nun gehöre ich auf meine Weise der Ewigkeit an«, sagte Lydia Brangwen kalten Herzens, im Bewußtsein ihrer Einsamkeit.

»Im Leben kannte ich dich nicht, nun, in der Hoheit des Todes, stehst du ganz außerhalb meiner Erkenntnis«, sagte Anna Brangwen furchtbeklommen, fast freudig.

Die Söhne konnten es nicht ertragen. Fred Brangwen ging mit blassem, verbissenem Gesicht und geschlossenen Händen umher, das Herz voller Wut und Haß gegen das Schicksal, das seinen Vater betroffen hatte, und blutend in dem Wunsche, seinen Vater wieder zu haben, ihn wieder zu sehen, wieder zu hören. Er konnte es nicht ertragen.

Tom Brangwen kam erst am Tage der Beerdigung. Er war ruhig und gefaßt wie immer. Er küßte seine Mutter, deren Gesicht immer noch dunkel, undurchforschlich war, schüttelte seinem Bruder die Hand ohne ihn anzusehen, und sah den großen Sarg mit den schwarzen Handgriffen. Er las sogar die Namentafel, »Tom Brangwen vom Marschenhofe. Geboren –, gestorben –«.

Das hübsche, ruhige Gesicht des jungen Mannes verzog sich für einen Augenblick zu einer schrecklichen Fratze, nahm dann aber wieder seine alte Ruhe an. Der Sarg wurde um die Kirche getragen, die Begräbnisglocke läutete in gemessenen Abständen, die Leidtragenden trugen ihre mit weißen Blumen geschmückten Kränze. Die Mutter, die Polin, ging mit geistesabwesendem, dunklem Gesicht am Arme ihres Sohnes. Er sah so hübsch aus wie nur je, sein Gesicht war vollkommen bewegungslos und sogar freundlich. Fred ging neben Anna, sie seltsam und lieblich, er mit einem Gesicht wie aus Holz, steif, unbeugsam.

Nur sah Ursula später, als sie zwischen den Johannisbeerbüschen den Garten hinunterflog, ihren Ohm Tom in seinem schwarzen Anzug, hochaufgerichtet und modisch angezogen mit hochgehobenen Fäusten und verzerrtem Gesicht dastehen, die Lippen in einem schrecklichen Grinsen von den Zähnen abgehoben, wie ein gequältes Tier, während seine Brust rasch, wie die eines Hundes, keuchte. Keuchend sah er in die Weite hinaus, hielt dann und wann inne und begann aufs neue zu keuchen, aber von seinem Gesicht wich der beinahe tierische Ausdruck höchster Qual nicht einen Augenblick, alle Zähne blieben sichtbar, die Nase zusammengezogen, die Augen nichts sehend, starr.

Erschreckt schlüpfte Ursula davon. Und als ihr Ohm Tom nachher wieder im Hause war, ernst und sehr ruhig, so daß sein Ernst fast gekünstelt, seine Trauer gemacht erschien, da beobachtete sie sein hübsches ruhiges Gesicht und mußte es sich wieder in seiner Verzerrung vorstellen. Aber sie bemerkte nun, daß seine Nase mit ihrer durchsichtigen Haut ziemlich dick war, fast wie bei einem Russen, sie dachte daran, wie klein und scharf und weit auseinanderstehend die Zähne unter seinem sorgfältig gestutzten Schnurrbart waren. Bei all seinem vornehmen Betragen konnte sie ihn doch als Vieh, fast verderbt, dastehen sehen. Und sie ängstigte sich. Sie vergaß hiernach nie nach seiner tierischen, furchterregenden Seite auszusehen.

Er sagte seiner Mutter Lebewohl und ging sofort wieder. Ursula schauderte jetzt beinahe vor seinem Kuß zurück. Trotzdem sehnte sie sich nach ihm und ebenso nach dem etwas Abstoßenden darin.

Bei der Beerdigung und nachher war Will Brangwen rasend verliebt in seine Frau. Der Tod hatte ihn aufgerüttelt. Aber Tod und alles übrige schien sich in ihm zu einer verrückten, überwältigenden Leidenschaft für seine Frau zusammenzufassen. Sie kam ihm so seltsam und lieblich vor. Er war fast außer sich vor Sehnsucht nach ihr.

Und sie nahm ihn hin, sie schien bereit für ihn, sie sehnte sich nach ihm.

Die Großmutter blieb noch eine Zeitlang im Eibenhäuschen, bis auf der Marsch alles wieder in Ordnung war. Dann kehrte sie ruhig in ihre eigenen Zimmer zurück, wo es ihr anscheinend an nichts fehlte. Fred stürzte sich in die Wiederherstellungsarbeiten auf dem Hofe. Daß sein Vater auf ihm zu Tode gekommen war, schien ihm den Hof nur um so vertrauter und um so unvermeidlicher zu seinem Heim zu machen.

Es lief eine Sage um, die Brangwens stürben alle eines gewaltsamen Todes. Ihnen allen, ausgenommen vielleicht Tom, schien das selbstverständlich. Aber Fred ging hartnäckig, mit gefaßtem Herzen umher. Er konnte dem Unbekannten den Mord seines Vaters nicht verzeihen.

Nach dem Tode seines Vaters war es in der Marsch sehr ruhig. Mrs. Brangwen hatte ihren Halt verloren. Sie konnte nicht den ganzen Abend ruhig dasitzen wie früher, und tagsüber war sie fast beständig auf den Beinen, aber zaudernd, als müsse sie irgendwohin gehen und wisse doch nicht genau wohin.

Man sah sie in ihrer kleinen wollenen Jacke durch den Garten schlendern. Oft fuhr sie in dem kleinen Wagen aus, neben ihrem Sohne sitzend und das offene Land oder die Straßen in der Stadt mit einem kindlichen, unschuldigen, fast unheimlichen Gesicht beobachtend, als wäre ihr das alles ganz fremd.

Die Kinder, Ursula und Gudrun und Therese, mußten auf ihrem Schulwege an ihrer Gartentür vorbei. Die Großmutter hatte es gern, wenn sie hereinkamen, sie ließ sie auch gern zum Mittagessen auf die Marsch kommen. Sie liebte die Umgebung der Kinder.

Vor ihren Söhnen war sie fast bange. Sie konnte die düstere Leidenschaft und Sehnsucht und Unzufriedenheit in ihnen bemerken und hätte das am liebsten nicht länger mit angesehen. Selbst Fred mit seinen blauen Augen und seinem schweren Unterkiefer machte sie unruhig. Es war kein Frieden in ihm. Er sehnte sich nach etwas, er sehnte sich nach Liebe, Leidenschaft, und konnte sie nicht finden. Aber warum mußte er sie damit beunruhigen? Warum mußte er mit seinem inneren Toben und seinen Leiden und seiner Unzufriedenheit gerade zu ihr kommen? Sie war zu alt dafür.

Tom war beherrschter, zurückhaltender. Er hielt sich sehr still. Aber er beunruhigte sie nur um so mehr. Sie sah untrügliche Anzeichen schwarzer Auflösung in seinen Augen, in dem plötzlichen Aufblicken zu ihr, als könne sie ihn retten, als wolle er sich ihr enthüllen.

Wie sollte aber das Alter die Jugend retten? Jugend muß sich an Jugend halten. Immer Sturm! Könnte sie denn diese paar Jahre nicht in Frieden verbringen, ruhig, fern vom Leben? Nein, immer mußte die Brandung wieder auf sie einrollen und gegen ihre Deiche vorbrechen. Immer wieder mußte sie in all das Getobe und die Wut und Leidenschaft verstrickt werden, endlos, endlos bis in alle Ewigkeit. Und sie wollte sich so gern davon zurückziehen. Endlich wollte sie Unschuld und Frieden für sich haben. Sie wollte nicht, daß ihre Söhne ihr abermals die rohe, alte Geschichte von Sehnsucht und Opfern und der tief, tiefverborgenen Wut des unbefriedigten Mannes gegen das Weib aufdrängten. Sie wünschte jenseits alles dieses zu stehen, den Frieden und die Unschuld des Alters kennen zu lernen.

Sie war nie eine Frau gewesen, die gern viel tat. So konnte sie jetzt auch häufig an der Gartentür stehen und die kleine Welt vorüberziehen sehen. Der Anblick von Kindern war ihr lieb, machte sie stets glücklich. Gewöhnlich hatte sie einen Apfel oder ein paar Süßigkeiten für sie in der Tasche. Sie hatte es gern, wenn Kinder sie anlächelten.

Nie ging sie zum Grabe ihres Gatten. Sie sprach ganz einfach von ihm, als lebe er noch. Zuweilen liefen ihr die Tränen in hilfloser Trauer über das Gesicht. Dann aber faßte sie sich und war wieder glücklich, sie selbst.

An Regentagen blieb sie im Bette. Ihr Schlafzimmer war ihre Zufluchtsstätte, wo sie liegen und sinnen konnte, sinnen. Zuweilen las Fred ihr auch vor. Aber das bedeutete nicht viel für sie. Sie hatte so viel zu träumen, noch einen großen Vorrat gänzlich ungeordneter Träume. Die brauchten Zeit.

Ihre beste Freundin um diese Zeit war Ursula. Das kleine Mädchen und die gebrechliche, nachdenkliche Frau von sechzig Jahren schienen die gleiche Sprache zu verstehen. In Cossethay war alles Tätigkeit und Leidenschaft, alles drehte sich um die Pole der Leidenschaft. Dann waren auch noch vier jüngere Kinder außer Ursula da, ein Haufen kleiner Krabben; fortwährend prallten die vielen verschiedenen Leben gegeneinander.

So wurde für das älteste Kind die Ruhe, der Frieden in ihrer Großmutter Schlafzimmer zu etwas ganz Besonderem. Hier trat Ursula ein in ein Land von paradiesischer Stille, hier wurde ihr eigenes Dasein einfach und wunderschön, als wäre sie selbst eine Blume.

Alle Sonnabend kam sie in die Marsch hinunter und brachte stets in festgeschlossener Hand irgendeine kleine Gabe mit, entweder ein kleines Deckchen aus verflochtenen bunten Papierstreifen, oder einen kleinen Korb, den sie im Kindergarten gemacht hatte, oder das kleine Buntstiftbild eines Vogels.

Sobald sie im Torweg erschien, beugte Tilly, alt, aber immer noch im Oberbefehl, den dürren Hals vor, um zu sehen, wer da käme.

»Och, du bists, wat?« sagte sie. »Ich dachte doch, wir würden dich wohl noch zu sehen kriegen. Himmel, das ist ja 'nen erstaunlich schönen Rukelbusch, den du da mitgebracht hast!«

Es war merkwürdig, wie Tilly Tom Brangwens des Toten Geist in der Marsch hochhielt. Ursula brachte sie stets unwillkürlich mit ihrem Großvater in Verbindung.

Heute hatte das Kind einen festgebundenen kleinen Strauß von weißen mit einem Kranz von rosa Nelken drum herum mitgebracht. Sie war sehr stolz auf ihn, und sehr scheu vor Stolz.

»Deine Großmudder is im Bedde. Tritt dir man ordentlich die Schuhe ab, ehe du nach oben gehst, und fahr da nich rein wie so 'n Feuerwerk. Himmel ja, is das 'en feinen Rukelbusch! Hast du den ganz alleine gemacht un alles?«

Vorsichtig ließ Tilly sie in das Schlafzimmer treten. Das Kind trat mit der seltsamen, zögernden Zurückhaltung ein, die für sie kennzeichnend war, sobald sie sich gerührt fühlte. Ihre Großmutter saß aufrecht im Bette und hatte eine kleine Wolljacke an.

Schweigend, zögernd blieb das Kind neben dem Bette stehen und hielt seinen Strauß dicht vor sich hin. Seine Kinderaugen leuchteten. In den grauen Augen der Großmutter leuchtete ein ähnliches Licht.

»Wie niedlich!« sagte sie. »Wie niedlich hast du den gemacht! Was für ein allerliebstes kleines Sträußchen!«

Glühend schob Ursula ihn ihr in die Hand und sagte: »Hab ich für dich gemacht.«

»Gradeso machten die Bauern zu Hause sie«, sagte die Großmutter, die Nelken mit den Fingern auseinander biegend und an ihnen riechend. »Genau solche kleinen Sträußchen! Und dann machten sie sich Kränze für die Haare – sie flechten die Stiele ineinander. Dann ziehen sie mit ihren Kränzen im Haar umher und tragen dabei ihre besten Schürzen.«

Sofort dachte Ursula sich in dies Feenland versetzt.

»Hattest du auch immer einen Kranz im Haar, Großmutter?«

»Als ich ein kleines Mädchen war, da hatte ich ganz goldenes Haar, so ungefähr wie Käte. Dann trug ich auch wohl mal einen Kranz aus kleinen blauen Blumen, o so blaue, die hervorkommen, wenn der Schnee weg ist. Peter, der Kutscher, brachte mir gewöhnlich den allerersten.«

So redeten sie, und Tilly brachte dann das Teebrett herein, das für zwei zurechtgemacht war. Ursula hatte ihre eigene grün und goldene Tasse, die für sie ganz allein auf der Marsch bestimmt war. Da war dünnes Brot und Butter, und Kresse zum Tee. Alles war eigenartig und wundervoll. Sie aß sehr vorsichtig, mit wählerischen kleinen Bissen.

»Warum hast du zwei Trauringe, Großmutter? – Mußt du das?« fragte das Kind, als es seiner Großmutter elfenbeinfarbige Hand mit den blauen Adern auf dem Teebrett liegen sah.

»Ich habe zwei Männer gehabt, Kind.«

Ursula dachte einen Augenblick nach.

»Denn mußt du beide Ringe auf einmal tragen?«

»Ja.«

»Welcher Ring gehörte meinem Großvater?«

Die Frau zögerte.

»Dem Großvater, den du gekannt hast? Dies war sein Ring, der rote. Der gelbe gehörte deinem andern Großvater, den du nie gesehen hast.«

Voller Anteilnahme sah Ursula auf die beiden Ringe an der hingehaltenen Hand.

»Wo hat er dir den gekauft?« fragte sie.

»Diesen? In Warschau, glaube ich.«

»Kanntest du denn meinen Großvater noch gar nicht?«

»Diesen Großvater noch nicht.«

Ursula dachte über diese reizvolle Neuigkeit nach.

»Hatte er denn ebenso 'n weißen Bart?«

»Nein, sein Bart war dunkel. Du hast seine Augenbrauen, glaube ich.«

Ursula hielt inne und dachte über sich selbst nach. Sofort brachte sie sich mit ihrem polnischen Großvater in Verbindung.

»Und hatte er auch braune Augen?«

»Ja, dunkle Augen. Er war klug, rasch wie ein Löwe. Er war niemals ruhig.«

Lydia war immer noch böse auf Lensky. Wenn sie an ihn dachte, war sie immer jünger als er; sie war stets zwanzig oder fünfundzwanzig, und unter seiner Herrschaft. Er verkörperte sie in seinen Vorstellungen, als wäre sie gar kein Sonderwesen, als wäre sie nur sein Gehilfe, oder ein Teil seines Gepäckes, oder eins seiner ärztlichen Werkzeuge. Darüber war sie immer noch böse. Und er war doch immer nur dreißig; mit vierunddreißig war er schon gestorben. Er tat ihr nicht leid. Er war älter als sie gewesen. Aber im Gedenken an diese Tage fühlte sie immer noch den alten Schmerz.

»Hast du meinen ersten Großvater lieber leiden mögen?« fragte Ursula.

»Ich hatte sie beide lieb«, antwortete die Großmutter.

Und nun sie darüber nachdachte, wurde sie wieder Lenskys Mädchenbraut. Er war von guter Herkunft, von besserer als ihre eigene, denn sie war doch eine halbe Deutsche. Sie war ein junges Mädchen in einem Hause mit sehr unsicheren Vermögensverhältnissen. Und er, der Gebildete, ein kluger Arzt und Wissenschaftler, hatte sie geliebt. Wie sie zu ihm emporgesehen hatte! Sie erinnerte sich ihrer ersten Verzückung, als er mit ihr gesprochen hatte, der bedeutende junge Mann mit dem ernsten dunklen Bart. Er war ihr ganz wundervoll vorgekommen, so willenskräftig. Nach ihrem eigenen, nachlässig geführten Heim waren ihr sein Ernst und seine sichere, harte Oberherrschaft beinahe gottähnlich vorgekommen. Denn so etwas hatte sie noch nie in ihrem Leben kennen gelernt, ihre ganze Umgebung war lose, nachlässig, unordentlich gewesen, ein Wirrwarr.

»Fräulein Lydia, wollen sie mich heiraten?« hatte er sie auf deutsch gefragt, in seiner ernsten, aber hierbei doch zitternden Stimme. Sie hatte vor den dunklen Augen, die auf ihr ruhten, Angst bekommen. Sie sahen sie gar nicht, sie waren nur auf sie geheftet. Und er war hart, seiner Sache sicher. Sie zitterte vor Erregung und hatte ihn angenommen. Während ihrer Verlobungszeit waren seine Küsse ihr stets wie ein Wunder vorgekommen. Sie dachte immer noch voller Verwunderung an sie. Sie wünschte nie, ihn wieder zu küssen. In ihrer Vorstellung küßte der Mann, und die Frau prüfte in ihrer Seele die empfangenen Küsse.

Nie hatte sie sich ganz von der Entkräftung der ersten Tage oder Nächte ihrer Ehe erholen können. Er hatte sie mit nach Wien genommen, und sie war ganz allein mit ihm gewesen, gänzlich allein in einer andern Welt, alles, alles fremd, selbst er ihr ein Fremdling. Dann kam die wirkliche Ehe, die Leidenschaft kam über sie, und sie wurde seine Sklavin, er wurde ihr Herr, ihr Oberherr. Sie war seine Kinderbraut, seine Sklavin, sie küßte ihm die Füße, sie hielt es schon für eine Ehre, nur seinen Körper berühren, ihm die Schuhriemen lösen zu dürfen. Zwei Jahre lang war sie als seine Sklavin umhergegangen, war sie zu seinen Füßen gekrochen, hatte ihm die Knie umarmt.

Es waren Kinder gekommen, er hing seinen Gedanken nach. Sie war nur dazu für ihn da, ihn in richtiger Verfassung zu halten. Sie war für ihn nur eine der gröberen, stofflichen Lebensnotwendigkeiten bei der Verfolgung seiner Gedankengänge über Vaterlandsliebe, Freiheit, Wissenschaft.

Allmählich aber, mit drei- oder vierundzwanzig Jahren, war sie darauf verfallen, sie könne sich doch auch mit diesen Gedankengängen befassen. Durch die Annahme ihrer Selbstunterwerfung hatte er das Gefühl in ihr erschöpft. Unter seinen Genossen waren ein paar, die es liebten, sich mit ihr über diese Gedanken zu unterhalten, während er selbst das nicht mochte. So wagte sie sich in die Verstandestätigkeit anderer Menschen hinein. Also war er nicht der einzige denkende Mann! Ihr Dasein war also nicht bloß ein Sinnbild des seinigen! Sie begann nun die ihr gewidmete Aufmerksamkeit anderer Männer zu bemerken. Erregung kam über sie. Doch jetzt konnte sie sich der Männer erinnern, die ihr in Warschau als verheirateter Frau den Hof gemacht hatten.

Dann brach der Aufstand los, und auch sie wurde von Begeisterung ergriffen. Sie wollte an der Seite ihres Gatten als Pflegerin mitgehen. Er arbeitete wie ein Löwe, aber er nutzte dadurch auch sein Leben vorzeitig ab. Und sie zog hilflos hinter ihm her. Aber sie konnte nicht mehr an ihn glauben. Er stand ihr zu fern, er wußte so vieles nicht. Er rechnete zu sehr nur auf sich. Seine Arbeit, seine Gedanken, – galt alles übrige denn gar nichts?

Dann starben die Kinder, und damit trat für sie alles übrige zurück. Er trat auch zurück. Sie sah ihn, sie sah, wie er kreideweiß umherging, als er die Nachricht bekam, wie er die Stirn runzelte, als dächte er: »Weshalb mußten sie denn auch grade jetzt sterben, wo ich doch keine Zeit habe, ihnen nachzutrauern?«

»Er hat keine Zeit zu trauern«, sagte sie in ihrer abgeschiedenen, furchterfüllten Seele. »Er hat keine Zeit. Es ist ja so wichtig, was er vorhat! Ist er denn selbst so wichtig, dieser halbverrückte Mensch? Nichts hat für ihn Bedeutung als sein Aufstand. Er hat keine Zeit zu trauern, oder auch nur mal an seine Kinder zu denken! Er hatte wirklich nicht mal die Zeit, sie zu zeugen.«

Sie hatte ihn allein laufen lassen. Aber in der allgemeinen Verwirrung hatte sie doch an seiner Seite weitergearbeitet. Und aus dieser Verwirrung war sie mit ihm nach London geflohen.

Er war ein gebrochener, kalter Mann. Er besaß keine Liebe zu ihr, noch zu irgend jemand anders. Er war an seinem Werke gescheitert, und so war eben alles gescheitert. Er wurde steif und starb.

Das konnte sie nicht zugeben. Er war gescheitert, alles war gescheitert, und doch stand hinter dieser Strandung die niemals wankende Leidenschaft des Lebens. Die Bemühungen des einzelnen mochten scheitern, die Freude des Menschen aber nicht. Sie gehörte der menschlichen Freude an.

Er starb und zog seines Weges, aber nicht ehe ein neues Kind ankam. Und die kleine Ursula hier war sein Enkelkind. Sie freute sich darüber, denn sie ehrte ihn doch noch, trotzdem er auf Abwege geraten war.

Nun tat er ihr, Lydia Brangwen, leid. Er war tot – er hatte ja kaum gelebt. Sie hatte er nie gekannt. Er hatte bei ihr gelegen, aber gekannt hatte er sie nie. Er hatte nie empfangen, was sie ihm hätte geben können. Mit leeren Händen war er von ihr gegangen. So war er gestorben und von hinnen gezogen. Und doch waren Kraft und Stärke in ihm gewesen.

Sie konnte es ihm kaum verzeihen, daß er eigentlich nie gelebt hatte. Wären Anna und die kleine Ursula hier nicht gewesen, die seine Brauen besaß, es wäre nichts mehr von ihm übriggeblieben als von einem zerbrochenen Gefäß, das man wegwirft und kaum noch wieder dran denkt.

Tom Brangwen war ihr Diener gewesen. Er war zu ihr gekommen und hatte von ihr empfangen. Er war gestorben und war seinen Weg in den Tod gegangen. Aber durch sein Erkennen ihrer Eigenart hatte er sich unsterblich gemacht. So besaß sie nun ihren Platz hier, im Leben, und in der Unsterblichkeit. Denn er hatte seine Kenntnis von ihr mit in den Tod genommen, so daß sie nun auch im Tode ihren Platz besaß. »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.«

Sie hatte ihre beiden Gatten liebgehabt. Für den einen war sie nur die nackte, kleine Kinderbraut gewesen, die als Sklavin hinter ihm herlief. Den andern liebte sie zur Erfüllung, weil er gut war und ihr zu einem wirklichen Dasein verholfen hatte, weil er ihr in Ehren gedient hatte und ihr Mann geworden war, eins mit ihr.

Sie besaß ihre feste Stellung in dieser Lebensspanne, sie war zu sich selbst gekommen. Während ihrer ersten Ehe war sie gar nicht dagewesen, außer durch ihn; er war der Kern gewesen und sie nur der seinen Füßen nacheilende Schatten. Sie war sehr froh gewesen, als sie zu sich selbst kam. Dafür war sie Brangwen dankbar. Sie streckte in Dankbarkeit die Hände nach ihm aus, hinüber in den Tod.

In ihrem Herzen empfand sie eine unbestimmte Zärtlichkeit und Mitleid für ihren ersten Gatten, der ihr Oberherr gewesen war. Er war auf so verkehrtem Wege gewesen, als er starb. Sie konnte es nicht ertragen, daß er nie wirklich gelebt hatte, nie zu seinem wahren Ich gekommen war. Und er war doch ihr Oberherr gewesen! Seltsam, alles vorbei! Warum war er denn ihr Herr gewesen? Er schien ihr nun so weit entfernt, so ohne jede Beziehung zu ihr.

»Welchen, Großmutter?«

»Was denn?«

»Welchen du am liebsten mochtest.«

»Ich hatte sie beide lieb. Ich heiratete den ersten, als ich noch ein reines Kind war. Deinen Großvater liebte ich dann, als ich schon eine Frau war. Das ist ein großer Unterschied.«

Eine Weile schwiegen sie still.

»Hast du geweint, als mein erster Großvater starb?« fragte das Kind.

Lydia Brangwen wiegte sich im Bett hin und hin, sie dachte laut.

»Nachdem wir in England angekommen waren, sprach er kaum noch, er war viel zu tief in Gedanken, als daß er irgend jemand bemerkt hätte. Er wurde dünner und dünner, bis seine Backen ganz hohl wurden und sein Mund vorstand. Er war nicht länger hübsch. Ich wußte, er konnte seine Niederlage nicht ertragen, ich dachte, nun wäre alles in der Welt verloren. Nur hatte ich ja noch deine Mutter als Säugling, und so ging es nicht, daß ich auch starb.«

»Er sah mich mit seinen schwarzen Augen an, fast als haßte er mich, wenn er so krank war, und sagte: ›Das war auch grade noch nötig. Das war grade noch nötig, daß ich dich mit dem kleinen Kind hier in London Hungers sterben lassen muß.‹ Ich sagte ihm, wir würden nicht verhungern. Aber ich war jung und töricht und ängstlich, wie er wohl wußte.

Er wurde bitter und gab nie nach. Er lag und zermarterte sich das Gehirn, um zu sehen, was er tun könne. ›Ich bin ja zu nichts mehr gut, ich bin ein Wrack von Anfang bis zu Ende. Nicht mal für Weib und Kind kann ich sorgen.‹

Aber siehst du, es war ja auch nicht seine Sache, für uns zu sorgen. Mein Leben lief ja doch weiter, wenn seins auch aufhörte, und ich heiratete deinen Großvater.

Das hätte ich wissen müssen, ich hätte ihm sagen sollen: ›Sei nicht so bitter, stirb doch nicht, weil dies fehlgeschlagen ist. Du bist doch nicht Anfang und Ende.‹ Aber ich war zu jung, er hatte mich nie zu mir selber kommen lassen, ich dachte, er wäre wirklich Anfang und Ende. So ließ ich ihn alles auf sich nehmen. Aber es hing doch nicht alles nur von ihm ab. Das Leben mußte weitergehen, und ich mußte deinen Großvater heiraten und deinen Ohm Tom und deinen Ohm Fred bekommen. Wir können nicht so viel auf die eigenen Schultern nehmen.«

Des Kindes Herz schlug rascher beim Anhören dieser Dinge. Sie konnte so fern abgelegene Dinge nicht verstehen, aber sie fühlte sie anscheinend. Ein Schauer durchfuhr sie tief und freudevoll in dem Bewußtsein, sie stamme von weither, aus Polen, und von jenem dunkelbärtigen, eindrucksvollen Manne. Seltsam, diese ihre Vorzeit, und sie fühlte das Schicksal schrecklich auf beiden Seiten.

Fast jeden Tag besuchte Ursula ihre Großmutter, und jedesmal hatten sie lange Unterredungen. Bis die Erzählungen und Geschichten der Großmutter durch ihre häufige Wiederholung in dem vollkommenen Schweigen des Schlafzimmers auf der Marsch sich zu geheimnisvoller Bedeutung zusammenfaßten und für das Kind zu einer Art Bibel wurden.

Und Ursula stellte ihrer Großmutter die tiefsten Kinderfragen. »Wird mich auch wohl einmal jemand liebhaben, Großmutter?«

»Viele haben dich doch lieb, Kind. Wir haben dich alle lieb.«

»Aber wenn ich erwachsen bin, wird mich dann wohl jemand lieben?«

»Gewiß, ein Mann wird dich lieben, Kind, weil das so in dir liegt. Und ich hoffe, es wird jemand sein, der dich liebt, weil du so bist, wie du bist, und nicht wegen dessen, was er von dir will. Aber wir haben ein Anrecht auf das, was wir gern haben möchten.«

Ursula wurde bange, wenn sie so etwas hörte. Ihr Herz sank, sie fühlte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie klammerte sich an ihre Großmutter. Hier war Frieden und Sicherheit. Von hier, von ihrer Großmutter Zimmer aus öffnete sich die Tür zu weiteren Räumen, zur Vergangenheit, die so gewaltig war, daß ihr ganzer Inhalt kleinwinzig erschien; Liebes- und Todes- und Geburtsfälle, winzige Vorkommnisse und Geschehnisse in einem riesenhaften Umkreis. Es war ihr eine große Erleichterung, die winzige Bedeutung des Einzelwesens in der großen Vergangenheit erkennen zu lernen.


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