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Viertes Kapitel.
Anna Brangwens Mädchenzeit

Als Anna neun Jahre alt war, schickte Brangwen sie auf die Mädchenschule nach Cossethay. Die besuchte sie, auf ihre gewöhnliche geringschätzige Art umherhüpfend und tanzend, tat meistens, was ihr paßte, und machte das alte Fräulein Coates durch ihre Gleichgültigkeit gegen Wohlanstand und ihren Mangel an jeglicher Hochachtung ganz untröstlich. Anna lachte bloß über Fräulein Coates, mochte sie aber gern und spielte auf ihre kindlich-hochnäsige Weise ihre Gönnerin.

Das Mädchen war gleichzeitig scheu und wild. Für gewöhnliche Leute besaß sie eine sonderbare Mißachtung, eine Art wohlwollender Überlegenheit. Sie war sehr scheu und litt unter einem quälenden Jammergefühl, sobald andere sie nicht mochten. Auf der andern Seite kümmerte sie sich nur sehr wenig um irgend jemand, mit Ausnahme ihrer Mutter, die sie immer noch, mit ein wenig Trotz untermischt, verehrte, und ihren Vater, den sie liebte, und zwar bevormundete, von dem sie sich aber doch völlig abhängig fühlte. Diesen beiden, ihrem Vater und ihrer Mutter, hielt sie sich noch verpflichtet. Allen übrigen gegenüber fühlte sie sich frei und nahm ihnen gegenüber meistens eine gönnerhafte Haltung an. Tiefverhaßt jedoch waren ihr Häßlichkeit, Aufdringlichkeit oder Anmaßung. Für ein Kind war sie so stolz und schattenhaft wie ein Tiger, und auch so hochmütig. Wohl konnte sie Freundlichkeiten erweisen, aber, ausgenommen von ihrem Vater oder ihrer Mutter, nie welche annehmen. Leute, die ihr zu nahe kamen, haßte sie. Wie ein Geschöpf der Wildnis verlangte sie nach Abstand. Freundlichkeit mißtraute sie.

In Cossethay und Ilkeston blieb sie immer fremd. Sie hatte viele Bekanntschaften, aber keine Freunde. Sehr wenige von den Menschen, die sie traf, bedeuteten ihr etwas. Sie kamen ihr wie zur Herde gehörig, ohne Merkmal vor. Sie nahm die Menschen nicht sehr ernst.

Zwei Brüder hatte sie, Tom, dunkelhaarig, flatterhaft, dem sie sich durchaus vertraut fühlte, mit dem sie aber nicht viel zusammen war, und Fred, hellhaarig und entgegenkommend, den sie anbetete, aber nicht als ein wirklich selbständiges Wesen betrachtete. Sie war sich zu sehr Mittelpunkt ihrer eigenen Welt und kümmerte sich zu wenig um alles außerhalb dieser Liegende.

Der erste »Mensch«, den sie traf, der sich ihr als ein wirkliches Eigenwesen darstellte, der für sie tatsächlich ein selbständiges Dasein führte, war Baron Skrebensky, ihrer Mutter Freund. Er war gleichfalls ein polnischer Flüchtling, hatte die Weihen erhalten und von Gladstone eine kleine Lebensstellung in Yorkshire bekommen.

Als Anna ungefähr zehn Jahre alt war, fuhr sie mit ihrer Mutter für ein paar Tage zu Baron Skrebensky. Er fühlte sich in seinem kleinen Backstein-Pfarrhause sehr unglücklich. Er war Vikar einer Landpfarre, die ihm etwas über zweihundert Pfund jährlich einbrachte, aber die Pfarre war groß, es gehörten ein paar Bergwerke zu ihr mit einer ganz neuen, rohen, heidnischen Bevölkerung. Er war mit der Erwartung nach Nordengland gegangen, das gewöhnliche Volk werde in ihm den Edelmann verehren, denn das war er. Er wurde ruppig, ja gradezu grausam aufgenommen. Aber das begriff er nie. Er blieb derselbe heißblütige Edelmann. Nur mußte er lernen, seinen Pfarrkindern aus dem Wege zu gehen.

Anna empfing einen sehr starken Eindruck von ihm. Er war ein schmächtiger Mensch mit mürrischem, verkniffenem Gesicht und sehr tief liegenden, blauen, glühenden Augen. Seine Frau war lang, dünn, aus edlem polnischen Geschlecht und wahnsinnig vor Hochmut. Er sprach immer noch gebrochen englisch, denn er beschränkte sich meistens auf den Umgang mit seiner Frau, da sie sich beide in diesem fremden, ungastlichen Lande wie verloren vorkamen und nur polnisch zusammen sprachen. Er fühlte sich durch Mrs. Brangwens weiches, natürliches Englisch sehr unbehaglich berührt und empfand es höchst ärgerlich, daß ihr Kind nicht polnisch sprach.

Anna beobachtete ihn gern. Sie hatte das große, neue, weitläufige Pfarrhaus, das so einsam und beherrschend oben auf seinem Hügel lag, sehr gern. Es kam ihr so frei, so kühn und traurig vor nach der Marsch. Der Baron sprach mit ihrer Mutter endlos polnisch; er fuchtelte wütend mit den Händen, und seine blauen Augen strahlten vor Feuer. Und für Anna bekamen alle seine weitausholenden, scharfen Bewegungen bestimmte Bedeutung. Etwas in ihrem Inneren kam seiner Überspanntheit und seinen überschwenglichen Redensarten entgegen. Sie hielt ihn für einen ganz wundervollen Menschen. Sie war bange vor ihm, aber sie hatte es gern, wenn er mit ihr sprach. Sie fühlte sich frei in seiner Nähe.

Sie konnte nicht sagen, woher sie es wußte, aber sie wußte ganz bestimmt, daß er Johanniter sei. Sie konnte sich nie darauf besinnen, ob sie seinen Stern oder sein Ordenskreuz gesehen hatte oder nicht, aber vor ihrem Geiste standen sie als blitzende Wahrzeichen seiner Stellung. Er stellte auf alle Fälle für das Kind die wirkliche Welt dar, in der sich Könige und Prinzen und vornehme Herren bewegten und ihr glänzendes Leben auslebten, wo Königinnen und Edelfrauen und Prinzessinnen den Adel hochhielten.

Sie hatte in Baron Skrebensky den wirklichen Menschen anerkannt, und er hatte ihr Beachtung geschenkt. Aber sobald sie ihn nicht mehr sah, verblaßte er und war ihr nur noch ein Andenken. Aber als solches lebte er auch in ihr weiter.

Anna wuchs zu einem großen, linkischen Mädchen heran. Ihre Augen waren immer noch sehr dunkel und rasch, aber sie wurden achtlos, sie verloren ihren wachsamen, feindseligen Blick. Ihr straffes, gesponnenes Haar wurde braun, es wurde schwerer und mußte zurückgebunden werden. Sie kam dann auf eine Schule für junge Mädchen in Nottingham.

Von jetzt an ging sie ganz in dem Gedanken auf, eine junge Dame zu werden. Sie war klug genug, nahm aber gar keinen Anteil am Lernen. Zuerst kamen ihr alle die jungen Mädchen in der Schule ganz wie Damen vor, ganz wundervoll, und sie wünschte sehnlichst, ihnen gleich zu werden. Sie erlebte aber bald eine herbe Enttäuschung: sie quälten sie und machten sie wahnsinnig, sie waren kleinlich und gemein. Nach dem ungebundenen, freigebigen Leben zu Hause, wo Kleinigkeiten nicht gerechnet wurden, fühlte sie sich in dieser Welt, wo man sich stets um Nichtigkeiten biß und zankte, sehr unbehaglich.

Ein rascher Wechsel kam über sie. Sie mißtraute sich selbst, sie mißtraute der übrigen Welt. Sie wollte sie nicht weiter kennen lernen, gar nicht erst in sie eintreten, sie wollte nicht weiter.

»Was mache ich mir denn aus dem Haufen Mädels?« pflegte sie voller Verachtung zu ihrem Vater zu sagen; »sie sind für mich gar nicht da.«

Das Leiden war, daß die Mädchen Anna nicht mit ihrem selbstgewählten Maßstab messen wollten. Sie wollten sie ihren Regeln entsprechend aufnehmen oder gar nicht. So wurde sie verwirrt, verlockt, versuchte es ihnen eine Zeitlang gleichzutun, und haßte sie dann als Gegengewicht wütend.

»Warum lädst du dir nicht mal ein paar von den Mädchen ein?« sagte ihr Vater immer wieder.

»Hier kommen sie nicht her!« rief sie.

»Warum denn nicht?«

»Sie sind Bagatelle«, antwortete sie mit einer der sonderbaren Redensarten ihrer Mutter.

»Bagatells oder Billards, das ist ganz schnuppe, es sind doch nette Mädels.«

Aber Anna war nicht dazu zu bringen. Sie hatte einen merkwürdigen Widerwillen gegen gewöhnliche Leute, und ganz besonders gegen die jungen Mädchen ihrer Tage. In Gesellschaft mochte sie nicht gehen wegen eines Gefühls von Unbehagen, das andere Leute über sie brachten. Und sie konnte sich nie darüber klar werden, ob das ihre Schuld war oder die der anderen. Halbwegs achtete sie diese Leute doch, und beständige Enttäuschung machte sie ganz verrückt. Sie hätte ihnen gern vollkommene Achtung entgegengebracht. Denn sie hielt beständig alle ihr noch unbekannten Leute für wahre Wunder. Die sie kannte, schienen ihr sie stets nur einzuengen, sie in kleine Falschheiten zu verstricken, die sie über alle Begriffe reizten. Lieber blieb sie zu Hause und vermied die übrige Welt, so daß sie sich ihren schönen Schein bewahren konnte.

Denn in der Marsch besaß das Leben tatsächlich einen gewissen Spielraum, Großzügigkeit. Da gabs kein Gezanke um Geld, keine kleinlichen Vortrittsrechte, noch kümmerte man sich um das, was andere Leute dachten, weil weder Mrs. Brangwen noch Brangwen selbst irgendwelcher von außerhalb kommenden Beurteilung zugänglich waren. Ihr Leben lief ganz andere Bahnen.

So fühlte Anna sich nur zu Hause wohl, wo gesunder Menschenverstand und die wundervollen Beziehungen zwischen ihren Eltern freiere Daseinsformen schufen, als sie sie draußen finden konnte. Wo konnte sie außerhalb der Marsch die würdevolle Duldung wiederfinden, in der sie aufgezogen war? Ihre Eltern standen unangefochten von irgendwelchem Urteil da, sie bemerkten es gar nicht. Die Leute, die sie draußen traf, beneideten sie scheinbar um ihr bloßes Dasein. Es war, als wollten sie sie auch immer irgendwie herabsetzen. Daher ihr außerordentlicher Widerwille, unter sie zu gehen. Sie verließ sich auf ihren Vater und ihre Mutter. Und doch wäre sie gern ausgegangen.

In der Schule oder in der Welt ging es in der Regel schief mit ihr, sie hatte gewöhnlich das Gefühl, als müsse sie sich beschämt von dannen schleichen. Innerlich fühlte sie sich nie ganz sicher, ob sie oder ob die andern im Unrecht wären. Sie hatte ihre Aufgaben nicht gemacht: ja, sie sah aber auch durchaus nicht ein, warum sie denn ihre Aufgaben machen sollte, wenn sie keine Lust dazu hatte. Gab es denn irgendeinen geheimnisvoll-verborgenen Grund, weshalb sie sie hätte machen sollen? Waren denn diese Leute, die Lehrerinnen, Vertreter eines geheimnisvollen Rechts, einer höheren Gottheit? Sie selbst hielten sich offenbar dafür. Aber für ihr Leben konnte sie nicht einsehen, warum ein Frauenzimmer sie plagen und beleidigen durfte, weil sie dreißig Zeilen aus »Wie es euch gefällt« nicht auswendig wußte. Was lag denn schließlich daran, ob sie sie konnte oder nicht? Nichts hätte ihr die Überzeugung beibringen können, daß es auch nur den geringsten Wert hätte. Sie verachtete nämlich innerlich die grobe Arbeitsweise ihrer Lehrerin. Darum stand sie sich immer schlecht mit der Obrigkeit. Durch die ewigen Vorhaltungen kam sie schließlich beinahe dazu, an ihre eigene Schlechtigkeit, an eine innerliche Verworfenheit zu glauben. Sie fand, sie müsse eigentlich stets beschämt beiseite schleichen, wenn sie wirklich einmal zustande brachte, was man von ihr erwartete. Aber sie bäumte sich dagegen auf. Sie glaubte niemals wirklich an ihre Schlechtigkeit. Im Grunde ihres Herzens verachtete sie vielmehr die anderen, die spöttelten und sich mit Kleinigkeiten breit machten. Sie verachtete sie und hätte sich gern an ihnen gerächt. Sie haßte sie, solange ihre Machtbefugnis über sie vorhielt.

Aber sie machte sich auch ein Vorbild: eine freie, stolze, von jedem kleinlichen Zwang losgelöste Dame, für die es Kleinigkeiten gar nicht gab. Solche Damen sah sie wohl einmal abgebildet: Alexandra, Prinzessin von Wales, war eins dieser Vorbilder. Das war eine stolze, königliche Dame, die achtlos an allen kleinen, gemeinen Wünschen vorbeischritt: so dachte Anna sie sich in ihrem Herzen. Und das Mädchen zog ihr Haar unter dem kleinen, schiefsitzenden Hute in die Höhe, ihre Röcke wurden ganz nach der Mode gerafft, sie trug geschmackvolle, enganliegende Jacken.

Ihr Vater war entzückt. Anna hatte etwas sehr Stolzes in ihrem Wesen; sie war nach ihrer Abstammung viel zu gleichgültig gegen gewisse kleinere Verbindlichkeiten, als daß Ilkeston mit ihr hätte zufrieden sein können; es hätte sie im Gegenteil zu gern gedemütigt gesehen. Aber für dergleichen war Brangwen nicht zu haben. Wenn sie sich wie eine Königin benehmen wollte, dann sollte sie auch eine Königin sein. Wie ein Fels stand er zwischen ihr und der Welt da.

Wie es so in seiner Sippe lag, wurde er ein sehr dicker, hübscher Mann. Seine zwinkernden, gemütvollen blauen Augen waren voller Licht, er gab sich nachdenklich, aber warm und herzlich. Seine Fähigkeit, ohne sich um seine Nachbarn zu kümmern dahinzuleben, verschaffte ihm deren Achtung. Sie liefen, wenn sie ihm nur etwas zu Gefallen tun konnten. Er beachtete sie gar nicht, hatte ihnen gegenüber aber stets eine offene Hand, und so zogen sie auch wieder Nutzen aus ihrer Bereitwilligkeit. Er mochte die Menschen leiden, so lange sie sich im Hintergrunde hielten.

Mrs. Brangwen ging weiter ihren eigenen Weg, sie verfolgte ihre eigenen Pläne. Sie hatte ihren Gatten, ihre beiden Söhne und Anna. Diese kennzeichneten und umgrenzten ihren Gesichtskreis. Alle übrigen gehörten der Außenwelt an. Innerhalb ihrer eigenen Welt verlief ihr Leben wie ein Traum, ruhig glitt es dahin, und in seinem Dahingleiten lebte sie tätig und immer voller Freude. Die Dinge der Außenwelt nahm sie kaum wahr. Was draußen war, war eben draußen und folglich nicht vorhanden. Es war ihr gleichgültig, ob die Jungens sich prügelten, so lange es nur nicht in ihrer Gegenwart geschah. Aber wenn sie anfingen sich zu zanken und sie war dabei, dann wurde sie böse, und sie hatten Angst vor ihr. Es war ihr gleichgültig, wenn sie ein Fenster in einem Eisenbahnwagen einwarfen oder ihre Uhren verkauften, um sich dafür auf dem Gänsemarkt einen lustigen Tag zu machen. Brangwen konnte sich am Ende wohl über solche Kleinigkeiten ärgern. Für die Mutter hatten sie gar keine Bedeutung. Andere Vorkommnisse dagegen ärgerten sie erstaunlicherweise. Sie wurde wütend, wenn die Jungens sich beim Schlachthause herumtrieben, es mißfiel ihr sehr, wenn die Schulzeugnisse schlecht ausfielen. Ihren Jungens mochten noch so viele Sünden vorgeworfen werden, das war ihr einerlei, so lange sie nur nicht dumm oder minderwertig waren. Sah es aber so aus, als nähmen sie eine Beleidigung ruhig hin, so haßte sie sie. Und an Anna war es nur eine gewisse » gaucherie«, etwas Linkisches, das sie gegen das Mädchen aufbrachte. Gewisse Arten von Ungewandtheit oder gar Grobheit ließen die Augen ihrer Mutter in merkwürdiger Wut erstrahlen. Sonst war sie ganz mit ihr zufrieden oder gleichgültig.

Ihr »Stolze-Damen«-Vorbild verfolgend, wurde Anna mit sechzehn Jahren ein schnippischer Backfisch, von mancherlei angestammten Unzulänglichkeiten geplagt. Gegen ihren Vater war sie sehr empfindlich. Sie merkte, wenn er getrunken hatte, und wenn es ihn auch noch so wenig angegriffen hatte; und das konnte sie nicht ertragen. Er wurde rot, sobald er trank, und die Adern an den Schläfen schwollen ihm an, in seinen zwinkernden Augen lag eine gewisse ungestüme Heiterkeit, sein Benehmen wurde überhebend und spöttisch. Und das ärgerte sie. Sobald sie seine lauten, tobenden derben Späße hörte, fühlte sie sich geärgert und abgestoßen. Sie kam ihm dann immer schon zuvor, im Augenblick, wo er hereintrat.

»Siehst ja wieder schön aus so, mit deinem roten Gesicht!« rief sie dann.

»Vielleicht sähe ich noch schlimmer aus, wenn ich grün wäre«, erwiderte er.

»Gepichelt hast du in Ilkeston.«

»Was is mit Il'ston los?«

Sie schoß von dannen. Er sah ihr mit vergnügt-zwinkernden Augen nach, war aber doch traurig, daß sie ihn nun wieder schnitt.

Sie waren eine sonderbare Gemeinschaft, hatten ihre eigenen Gesetze, anders als die ganze übrige Welt; sie waren ein in sich abgeschlossenes, kleines Gemeinwesen mit unsichtbaren Grenzen. Die Mutter benahm sich gegen Cossethay und Ilkeston vollkommen gleichgültig, ebenso gegen alle übrigen an sie von außen her gestellten Ansprüche; gegen Fremde war sie sehr scheu, wenn auch außerordentlich höflich, ja sogar gewinnend. Aber im selben Augenblick, wo der Besucher ging, lachte sie und strich ihn aus ihrem Gedächtnis, dann war er nicht mehr vorhanden. Für sie war das alles nur ein Spiel gewesen. Sie war immer noch eine Fremde, stand immer noch auf unbekanntem Boden. Aber mit ihren Kindern und ihrem Gatten auf der Marsch allein war sie die Herrin ihres Heimwesens, dem es an nichts gebrach.

Irgendwo in ihrem Innern hatte sie so etwas wie Glauben, aber keinen scharf umrissenen. Im römisch-katholischen war sie erzogen worden. An die anglikanische Kirche hatte sie sich um Schutz gewandt. Die äußere Form war ihr vollkommen gleichgültig. Aber im Innern hatte sie doch einen festen Glauben. Sie glaubte an Gott als an ein geheimnisvolles Etwas, suchte aber nie sein Wesen zu ergründen.

Und in ihrem Innern war das feine Gefühl für alles Große, Vollkommene, auf dem ihr ganzes Wesen beruhte, sehr stark. Die anglikanische Glaubenslehre gelangte nie bis zu ihr: ihre Sprache war ihr zu fremd. Durch sie hindurch empfand sie den großen Gesetzgeber, der alles Leben in Händen hielt, glühend, drohend, schrecklich, das große Geheimnis, unmittelbarer als sich sagen ließ.

Sie glänzte und gleißte dem großen Geheimnis entgegen, das sie mit allen Sinnen erkannt hatte, sie blickte umher, voll sonderbaren, geheimnisvollen Aberglaubens, wie er nie in englischer Sprache zum Ausdruck gekommen war, nie sich auf englisch zu Gedanken verdichtet hatte.

Aber so lebte sie dahin, in einem mächtigen, sinnlichen Glauben, der die Ihren umfaßte und ihr Geschick in sich schloß.

So weit hatte sie ihren Gatten sich unterworfen. Er lebte mit ihr in vollkommener Gleichgültigkeit gegen alles, was die Welt allgemein hochschätzt. Jeder ihrer Züge, das Aussehen ihrer Augenbrauen allein schon war für ihn ein Wahrzeichen, ein Merkmal. Hier auf seinem Hofe durchlebte er mit ihr das Geheimnis von Tod und Leben und Schöpfung, seltsame, gewaltig tiefgehende Freuden, und nicht wiederzugebende Befriedigung, die die übrige Welt nicht verstand, die ihnen beiden zudem eine eigenartige und geachtete Stellung in dem englischen Dorfe verschaffte, denn sie waren daneben auch wohlhabend.

Anna aber war, soweit ihrer Mutter Kenntnis reichte, die hierüber nicht weiter nachdachte, nur halb geborgen. Sie besaß von ihrem Vater her einen perlmutternen Rosenkranz. Was er ihr eigentlich bedeute, konnte sie selbst nicht sagen. Aber diese Kette aus Mondschein und Silber erfüllte sie, sobald sie sie in den Fingern hielt, mit einer seltsamen Leidenschaft. Auf der Schule hatte sie etwas Latein gelernt, sie lernte das Ave-Maria und das Paternoster, sie lernte auch ihren Rosenkranz abbeten. Aber das nützte ihr nichts. » Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus et benedictus fructus ventris tui Jesus. Ave Maria, Sancta Maria, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae, Amen

Und doch war es so noch nicht richtig: Was diese Worte in ihrer Übersetzung bedeuteten, war nicht dasselbe, was der blasse Rosenkranz ihr bedeutete.

Da klaffte noch ein Widerspruch, war irgend etwas falsch. Es machte sie unruhig, wenn es hieß » Dominus tecum« oder » benedicta tu in mulieribus«. Sie liebte die geheimnisvollen Worte » Ave Maria, Sancta Maria«; sie fühlte sich gerührt durch das » benedictus fructus ventris tui Jesus« und das » nunc et in hora mortis nostrae«. Aber nichts von alledem war für sie wirklich. Jedenfalls befriedigte es sie nicht.

Sie vernachlässigte ihren Rosenkranz, weil er sie mit dieser seltsamen Leidenschaft erfüllte und dabei doch nur für diese so wenig bedeutsamen Dinge stand. Sie legte ihn weg. Ihr Gefühl hieß sie all diese Dinge beiseitelegen. Ihr Gefühl sagte ihr, sie dürfe nicht denken, sie müsse dem aus dem Wege gehen, um sich selbst zu erretten.

Sie war siebzehn, empfindlich, lebenslustig und sehr launisch: sie wurde leicht rot, war immer unruhig und unsicher. Aus irgendwelchem Grunde wandte sie sich mehr ihrem Vater als ihrer Mutter zu, gegen ihre Mutter fühlte sie manchmal sogar in sich etwas wie Haß aufblitzen. Ihrer Mutter geheimnisvoll-dunkler Mund und ihre sonderbaren, hinterhältigen Wege, ihre seltsame Zufriedenheit, ja ihr Siegesgefühl, ihrer Mutter Art über manches zu lachen und sich schweigend über ihr nicht passende Vorschläge hinwegzusetzen, und vor allem ihrer Mutter sieghaftes Wesen machten das Mädchen rein wahnsinnig.

Sie wurde hastig und unberechenbar. Häufig stand sie am Fenster und sah hinaus, als möchte sie wohl ausgehen. Zuweilen ging sie auch und besuchte andere Leute. Aber immer kam sie verärgert nach Hause, als sei ihr jemand zu nahe getreten oder habe sie bekrittelt, herabgesetzt.

Über dem Hause lag etwas wie ein dunkles Schweigen, eine Spannung, in der die Leidenschaft ihre unvermeidlichen Folgen vorbereitete. Im Hause herrschte etwas wie innerer Reichtum, eine tiefinnerliche, unausgesprochene Wechselbeziehung, die andere Häuser dünn und unbefriedigend erscheinen ließ. Brangwen konnte still in seinem Stuhle sitzen und rauchen, die Mutter konnte sich auf ihre ruhige, hinterhältige Weise umherbewegen, und doch war das Gefühl von der Gegenwart beider Wesen mächtig, ertragreich. Ihr ganzer Gedankenaustausch vollzog sich ohne Worte, in höchster Spannung.

Aber Anna wurde unruhig. Sie wollte hinaus. Wohin sie indessen auch ging, das Gefühl von Dünne überkam sie, als schmälere man sie, bekrittele sie. Sie machte, daß sie wieder heim kam.

Da raste sie dann und störte den starken, ruhigen Austausch. Zuweilen kehrte ihre Mutter sich gegen sie in wildem, vernichtendem Zorn, der keinerlei Mitleid oder Rücksicht kannte. Und Anna schrak voller Furcht zurück. Sie ging zu ihrem Vater. Der war noch bereit, auf das gesprochene Wort zu hören, das bei der achtlosen Mutter auf unfruchtbaren Boden fiel. Zuweilen sprach Anna zu ihrem Vater. Sie versuchte sich mit ihm über die Leute zu unterhalten, sie wollte wissen, was das alles hieß. Aber auch ihr Vater wurde unruhig. Er wünschte die Dinge nicht ins Licht des Bewußtseins gezogen zu sehen. Nur aus Freundlichkeit hörte er ihr zu. Eine Art stacheliger Aufregung herrschte dann im Zimmer. Die Katze stand auf, streckte sich und ging unruhig nach der Tür. Mrs. Brangwen war still, aber sie schien gefahrdrohend. Anna durfte dann mit ihrem Fehleraufspüren, ihren Ausstellungen, ihren Ausdrücken von Unzufriedenheit nicht fortfahren. Sie merkte, daß sogar ihr Vater gegen sie war. Mit ihrer Mutter verbanden ihn starke, dunkle Gefühle, eine mächtige Vertraulichkeit, unausgesprochen und wild, die ihren eigenen Weg ging und bei Unterbrechungen oder Entdeckung wild werden konnte.

Dabei sorgte Brangwen sich doch um das Mädchen, das ganze Haus war in beständiger Unruhe. Sie hatte etwas so Rührendes, wenn sie mit einer Klage nicht durchdrang. Gegen ihre Eltern war sie feindselig, selbst jetzt, wo sie vollständig mit ihnen, in ihrem Banne lebte.

Sie versuchte sich dem auf mancherlei Weise zu entziehen. Sie wurde eine eifrige Kirchengängerin. Aber die Sprache dort besaß für sie keinerlei Bedeutung: sie kam ihr falsch vor. Sie haßte es, die Dinge ausgesprochen, in Worte gepreßt zu hören. Solange sie sich innerlich zum Glauben angeregt fühlte, kamen sie ihr höchst rührend vor. Im Munde des Pfarrers wurden sie falsch, unanständig. Sie versuchte zu lesen. Aber auch hiervon brachten Langeweile und die Falschheit des gesprochenen Wortes sie wieder ab. Sie fuhr zu ihren Freundinnen auf Besuch. Zuerst fand sie das prachtvoll. Aber die innere Langeweile kam über sie, und es erschien ihr alles nichtig. Und ständig fühlte sie sich bekrittelt, als dürfe sie sich nie zu voller Höhe aufrecken, nie ihren eigenen Schritt gehen.

Oft wandten sich ihre Gedanken dem Folterkäfig eines gewissen französischen Bischofs zu, in dem das Opfer weder aufrecht stehen noch je ausgestreckt liegen konnte. Nicht als hätte sie dabei in irgendwelcher Beziehung an sich selbst gedacht. Aber oft mußte sie voller Neugierde darüber nachdenken, wie dieser Käfig wohl gebaut gewesen sei, und sie konnte das entsetzliche Zusammengekrümmtsein wirklich nachempfinden.

Sie war indessen erst achtzehn, als ein Brief von Mrs. Alfred Brangwen aus Nottingham kam, der meldete, ihr Sohn William käme nach Ilkeston, um eine Stelle als Zeichengehilfe, kaum etwas Besseres als Lehrling, an einer Spitzenweberei einzunehmen. Er wäre zwanzig Jahre alt, und ob die Marschen-Brangwens sich seiner wohl freundschaftlich annehmen wollten.

Tom Brangwen schrieb sofort wieder und bot dem jungen Manne ein Heim auf der Marsch an. Das wurde zwar nicht angenommen, aber die Nottingham-Brangwens gaben doch ihrer Dankbarkeit Ausdruck.

Brennende Liebe hatte zwischen den Nottingham-Brangwens und der Marsch nie bestanden. Tatsächlich hielt sich Mrs. Alfred Brangwen, nachdem sie dreitausend Pfund geerbt hatte und Grund zur Unzufriedenheit mit ihrem Gatten empfand, von jeglicher Art Brangwens möglichst fern. Sie tat jedoch so, als schätze sie Mrs. Tom, wie sie die Polin nannte, und meinte, jedenfalls sei sie eine Dame.

Anna Brangwen regte sich nicht sehr über die Nachricht von ihres Vetters Will Übersiedlung nach Ilkeston auf. Sie kannte eine Menge junger Leute, aber sie waren sämtlich für sie niemals wirkliche Menschen gewesen. An dem einen jungen Verehrer fand sie eine Nase, wie sie sie gern mochte, bei einem andern gefiel ihr der Schnurrbart, wieder ein anderer zog sich gut an, einer hatte eine lächerliche Haarlocke, ein anderer redete so spaßhaft. Sie waren für sie nur Gegenstand des Vergnügens und leichten Verwunderns, mehr jedenfalls als wirkliche Menschen, die jungen Leute.

Der einzige Mann, den sie kannte, war ihr Vater; und da er etwas Gewaltiges, Leuchtendes war, eine Art Gott-Vater, so stellte er für sie die Männlichkeit überhaupt dar, und alle übrigen Männer waren Nebensache.

Sie entsann sich ihres Vetters Will wohl. Er trug städtische Anzüge und war dünn, mit einem seltsamen schwarzen Kopf, wie Jett, mit Haaren, wie ein dünner, glatter Pelz. Es war ein sonderbarer Kopf, er erinnerte sie an etwas, aber sie wußte nicht genau an was: an irgendein Tier, ein geheimnisvolles Tier, das in der Dunkelheit unter Blättern lebte und nie herauskam, das aber voller schnellen, angespannten Lebens steckte. Sie mußte immer an ihn mit diesem schwarzen, scharfen, blinden Kopf denken. Und sie fand ihn auch sonderbar.

Eines Sonntagmorgens kam er auf die Marsch: ein ziemlich langer, magerer Junge mit klugem Gesicht und bei aller Scheu doch merkwürdig starkem Selbstgefühl, einer angeborenen Achtlosigkeit gegen das Dasein anderer, da er doch nun mal er selbst war.

Als Anna in ihrem Sonntagskleide zum Kirchgang herunterkam, stand er auf und begrüßte sie förmlich mit einem Händedruck. Sein Benehmen war besser als das ihre. Sie errötete. Sie bemerkte, daß er jetzt auf der Oberlippe einen schwarzen Schimmer trug und eine schwarze, feingezogene Linie seinen großen Mund umgab. Das stieß sie ab. Es erinnerte sie wieder an den dünnen, feinen Pelz seines Haares. Sie fand etwas Fremdartiges in ihm.

Seine Stimme klang in den höheren Tönen dünn, hatte aber in den mittleren etwas stark Hallendes. Das war ihr merkwürdig. Sie wunderte sich, warum er wohl so spräche. Aber er bewegte sich im Marschenwohnzimmer ganz ungezwungen. Er hatte etwas Ungeschlachtes, etwas von dem angeborenen Selbstbewußtsein der Brangwens, das ihn sich hier ganz zu Hause fühlen ließ.

Anna fühlte sich durch die sonderbar vertrauliche, liebenswürdige Art, mit der ihr Vater sich gegen den jungen Mann benahm, etwas beunruhigt. Er kam ihm sehr milde entgegen, er stellte sich förmlich selbst in den Schatten, um den jungen Mann ins rechte Licht setzen zu können. Das reizte Anna.

»Vater, gib mir was für die Sammlung«, sagte sie abgerissen.

»Was für 'ne Sammlung?« fragte Brangwen.

»Sei doch nicht lächerlich«, rief sie und wurde rot.

»Ne wirklich,« erwiderte er, »was ist denn das für 'ne Sammlung?«

»Du weißt doch, es ist doch der erste Sonntag im Monat.«

Verwirrt stand Anna da. Warum tat er das, warum stellte er sie so bloß vor dem Fremden?

»Ich möchte was für die Sammlung«, drängte sie wieder.

»Dat seggste woll«, antwortete er gleichgültig, sah erst sie an und wandte sich dann wieder seinem Neffen zu.

Sie trat auf ihn zu und fuhr ihm mit der Hand in die Hosentasche. Er rauchte ruhig weiter und bot ihr keinerlei Widerstand, während er mit seinem Neffen weitersprach. Ihre Hand grabbelte in seiner Tasche herum und zog endlich seine lederne Börse hervor. Die Farbe auf ihren hellen Backen strahlte, ihre Augen glänzten. Brangwens Augen zwinkerten. Der Neffe saß schafdämlich da. Anna setzte sich in ihrem feinen Kleide nieder und schüttete sich das ganze Geld in den Schoß. Es war Silber und Gold. Der Junge konnte nicht umhin, sie zu beobachten. Sie beugte sich über den Haufen Geldes und fingerte in den verschiedenen Stücken herum.

»Ich möchte wahrhaftig wohl einen halben Sovereign nehmen«, sagte sie und sah mit ihren glühenden schwarzen Augen auf. Sie traf auf die hellbraunen ihres Vetters, die sie gespannt aus der Nähe beobachteten. Das beunruhigte sie. Sie lachte rasch und wandte sich wieder zu ihrem Vater.

»Ich möchte wahrhaftig wohl einen halben Sovereign nehmen, uns' Vatting«, sagte sie.

»Ja, du Langfinger«, sagte ihr Vater. »Nimm, was dir zukommt.«

»Kommst du, uns' Anna?« fragte ihr Bruder von der Tür her.

Plötzlich überkam sie die alte Kälte und sie vergaß sowohl ihren Vater wie ihren Vetter.

»Ja, ich bin soweit«, sagte sie, nahm sich einen Sixpence aus dem Haufen Geld und schüttete den Rest wieder in die Börse, die sie auf den Tisch legte.

»Gib sie her«, sagte ihr Vater.

Rasch steckte sie ihm die Börse wieder in die Tasche und wollte fortgehen.

»Du gehst doch woll lieber mit ihnen, was, Junge?« sagte ihr Vater zu dem Neffen.

Will Brangwen stand unsicher auf. Er hatte goldbraune, rasche stetige Augen, wie ein Vogel, wie ein Habicht, die keine Furcht verraten können.

»Euer Vetter Will kommt mit«, sagte der Vater.

Wieder sah Anna sich den seltsamen Jungen an. Sie merkte, er blieb nur stehen, damit sie sich seiner annehmen solle. Er lungerte am Rande ihres Bewußtseins umher, bereit einzutreten. Sie wollte ihn aber nicht ansehen. Sie empfand einen inneren Gegensatz zu ihm.

Ohne ein Wort zu sagen, wartete sie. Ihr Vetter nahm seinen Hut und trat zu ihr. Draußen war es Sommer. Ihr Bruder Fred pflückte sich grade einen Zweig blühender Johannisbeeren von dem Busch an der Hausecke und wollte ihn sich ins Knopfloch stecken. Sie beachtete ihn nicht. Ihr Vetter kam dicht hinter ihr her.

Nun waren sie auf der Landstraße. Sie merkte wohl, etwas Fremdartiges herrsche in ihr. Das machte sie unsicher. Da fiel ihr Blick auf die blühenden Johannisbeeren in ihres Bruders Knopfloch.

»O uns' Fred!« rief sie. »Steck dir nicht so'n Zeugs an, wenn du in die Kirche willst.«

Fred blickte beschützend auf die rosa Zierde seiner Brust nieder.

»Wieso, ich mag sie aber gern«, sagte er.

»Denn bist du sicher der einzige«, antwortete sie.

Und dann wandte sie sich an ihren Vetter.

»Magst du die riechen?« fragte sie ihn.

Er ging da neben ihr her, lang und ungeschlacht und doch selbstbewußt. Das regte sie auf.

»Ich weiß nicht, ob ich sie mag oder nicht«, erwiderte er.

»Gib her, Fred, die ganze Kirche riecht sonst danach«, sagte sie zu dem kleinen Jungen, ihrem Pagen.

Ihr blonder, kleiner Bruder reichte ihr die Blume pflichtschuldigst hin. Sie roch daran und gab sie ohne ein Wort zu sagen ihrem Vetter, damit er urteilen solle. Er roch neugierig an der Blütentraube.

»Ist ein sonderbarer Geruch«, sagte er.

Und plötzlich lachte sie, und über ihrer aller Gesichter flog ein rasches Leuchten, und in dem leichten Schritt des kleinen Jungen lag helles Vergnügen.

Die Glocken läuteten, als sie in ihren Sonntagskleidern den sommerlichen Hügel hinanstiegen. Anna war sehr schön in einem braunseidenen Kleid mit weißen Streifen, das an den Armen und am Oberkörper eng anschloß und hinten sehr geschmackvoll aufgerafft war. Will Brangwen hatte etwas Ritterliches an sich; auch er war gut angezogen.

Er ließ beim Gehen den Zweig Johannisbeeren zwischen den Fingern baumeln, und keiner sagte etwas. Die Sonne schien hell auf kleine Gruppen Butterblumen unten am Ufer, auf den Wiesen schäumte die Hundspetersilie, ihre Blüten hoch und sehr stolz über eine Menge anderer Blumen erhoben, die unten in dem grünen Zwielicht des Grases aufleuchteten.

Sie erreichten die Kirche, Fred führte sie an ihren Sitz, dann kam der Vetter, dann Anna. Sie kam sich sehr angesehen und wichtig vor. Dieser junge Mensch jedoch gab sie den anderen preis. Er trat zur Seite und ließ sie eintreten, dann setzte er sich neben sie. Es verursachte ihr ein sonderbares Gefühl, neben ihm zu sitzen.

Farbig strömte das Licht durch die bunten Fenster über ihr. Es leuchtete auf dem dunklen Holz des Gestühls, auf den Steinen des ausgetretenen Mittelganges, auf dem Pfeiler hinter ihrem Vetter und auf ihres Vetters Händen, die auf seinen Knieen lagen. Sie saß da wie in Festbeleuchtung, Licht und leuchtender Schatten überall um sie her, ihre Seele hell strahlend. Unbewußt beobachtete sie im Sitzen die Hände und die bewegungslosen Knie ihres Vetters. In ihre Welt war etwas Sonderbares eingedrungen, etwas gänzlich Fremdartiges, von allem ihr bekannten Abweichendes.

Sie fühlte sich merkwürdig erhoben. Sie saß in einer glühenden Welt von Unwirklichkeit da, die entzückend war. Ein sinnendes Licht, wie ein Lachen, trat in ihre Augen. Sie merkte, wie ein fremder Einfluß auf sie eindrang, über den sie sich freute. Es war ein dunkler, reichmachender Einfluß, den sie früher nicht gekannt hatte. An ihren Vetter dachte sie gar nicht. Aber wenn er die Hände bewegte, erregte es sie.

Sie wünschte, er möchte die Responsorien nicht so deutlich aussprechen. Das lenkte sie von ihrer unbestimmten Freude ab. Warum suchte er sich so vorzudrängen und ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Das zeugte von schlechtem Geschmack. Aber es ging ganz gut weiter, bis der Gesang anfing. Wie er neben ihr stand, um mitzusingen, das gefiel ihr. Dann mit einem Male, beim ersten Wort, ertönte seine Stimme laut und beherrschend, sie füllte die ganze Kirche. Er sang Tenor. Ihre Seele öffnete sich in Staunen. Seine Stimme füllte die ganze Kirche. Sie klang wie eine Trompete, wieder und wieder. Da geriet sie hinter ihrem Gesangbuch ins Lachen. Aber er fuhr fort, ganz ruhig. Auf und nieder lief seine Stimme, lief ihren eigenen Weg. Hilflos geriet sie immer mehr ins Lachen. War sie mal ein paar Augenblicke innerlich still, dann schütterte sie wieder vor Lachen. Das Lachen kam wieder, es packte sie und schüttelte sie, bis ihr die Tränen in die Augen traten. Sie war darüber erstaunt und es machte ihr gradezu Vergnügen. Und weiter ging der Gesang, und weiter mußte sie lachen. Purpurrot vor Verwirrung beugte sie sich über ihr Gesangbuch, aber ihr ganzer Leib erzitterte vor Lachen. Sie tat so, als müsse sie husten, als hätte sie eine Krume in die verkehrte Kehle gekriegt. Fred sah sie mit seinen klaren, blauen Augen an. Sie kam wieder zu sich. Und dann brachte irgendeine Bindung in der starken, blinden Stimme neben ihr die ganze Geschichte in einem neuen Lachkrampf wieder ins Rollen.

Sie beugte sich nieder um zu beten, voll kalten Tadels gegen sich selbst. Und doch überliefen sie beim Niederknien kleine Lachstöße. Der bloße Anblick seiner Knie auf dem Kissen brachte ihr wieder einen kleinen Lachkrampf.

Sie nahm sich zusammen und saß mit gefaßtem, reinem Gesicht da, weiß und rosa und kühl wie eine Christrose, die Hände in ihren Handschuhen auf dem Schoße gefaltet, ihre dunklen Augen ganz ausdruckslos, wie in einem Traum verloren, alles vergessend.

Die Predigt lief ruhig dahin, in einer Woge reichen Friedens. Ihr Vetter zog sein Taschentuch hervor. Er war scheinbar ganz hingerissen von der Predigt. Er hielt sich das Taschentuch vors Gesicht. Da fiel ihm etwas auf die Knie. Und da lag das bißchen Johannisbeerblüten. Ehrlich verwundert sah er auf sie nieder. Ein wildes, prustendes Gelächter ertönte von Annas Platz. Jeder hörte es; es war eine Qual. Er hielt die Blüten zusammengeknüllt in der Hand verborgen und blickte mit seiner vorigen Hingerissenheit wieder auf den Prediger. Wieder prustete Anna vor Lachen los. Fred stieß sie vorwurfsvoll an. Ihr Vetter saß regungslos. Sie merkte aber doch, daß sein Gesicht rot wurde. Sie konnte es fühlen. Seine immer noch die Blüten umschließende Hand lag ganz still, als wäre nichts geschehen. Abermals ein wilder Kampf in Annas Brust, und dann ein neuer Prust. Zitternd vor Lachen beugte sie sich vor. Nun war es aber kein Spaß mehr. Fred puffte sie fortwährend. Sie puffte ihn wütend wieder. Dann überfiel sie wieder ein neuer, schändlicher Lachreiz. Sie versuchte ihn in einem leichten Husten zu ersticken. Der Husten endete in einem unterdrückten Prusten. Sie wäre am liebsten gestorben. Und seine geschlossene Hand stahl sich langsam von den Knien zur Tasche. Während sie so in schärfster Spannung dasaß, kam das Lachen wieder über sie, denn sie merkte, wie er an seiner Tasche herumfummelte, um die Blume wegzustecken.

Schließlich fühlte sie sich ganz schwach, erschöpft und völlig niedergeschmettert. Ganz leer von diesem niederschmetternden Gefühl kauerte sie sich innerlich zusammen. Sie war wütend, daß andere Leute dabei waren. Ihr Gesicht wurde sehr hochmütig. Ihren Vetter wurde sie gar nicht mehr gewahr.

Als beim letzten Gesang die Sammlung anfing, sang ihr Vetter wieder mit hallender Stimme mit. Und wieder machte ihr das Vergnügen. Trotz der scheußlichen Art und Weise, in der sie sich eben bloßgestellt hatte, machte es ihr doch wieder Vergnügen. Sie hörte ihm wie verzaubert vor Vergnügen zu. Dann wurde ihr der Klingelbeutel hingehalten, und der Sixpence versteckte sich in den Falten ihres Handschuhes. Bei dem eiligen Herausholen schlüpfte er ihr weg und rollte klingend in den nächsten Stuhl. Sie stand da und gnickerte. Sie konnte sich nicht helfen: sie lachte gradeheraus, ein wahres Bild der Schande.

»Was hattest du denn so zu lachen, uns' Anna?« fragte Fred sie im Augenblick, als sie aus der Kirche traten.

»O ich konnte mir nicht helfen«, sagte sie in ihrer achtlosen, halbspöttischen Weise. »Ich weiß nicht, warum Vetter Wills Singen mich so dazu reizte.«

»Was war denn an meinem Singen, daß du so lachen mußtest?« fragte er.

»Es war so laut«, antwortete sie.

Sie sahen sich nicht an, aber sie mußten beide loslachen und wurden rot dabei.

»Was prustetest und lachtest du denn immer, uns' Anna?« fragte Tom, der ältere Bruder bei Tische mit vergnügtem Zwinkern seiner braunen Augen. »Alles wurde ja ganz still, um dich anzusehen.« Tom sang im Chor mit.

Sie merkte, wie Wills Augen sie fest ansahen und auf ihre Antwort warteten.

»Vetter Wills Singen war es«, sagte sie.

Worauf ihr Vetter in ein unterdrücktes, glucksendes Lachen ausbrach; plötzlich zeigte er alle seine kleinen, regelmäßigen, sehr scharfen Zähne, machte den Mund aber gleich wieder zu.

»Hat er denn so 'ne merkwürdige Stimme?« fragte Brangwen.

»Nein, das nicht«, sagte Anna. »Es reizte mich bloß – warum, weiß ich nicht.«

Und abermals lief fröhliches Gelächter um den ganzen Tisch.

Will Brangwen schob sein dunkles Gesicht vor, seine Augen hüpften, als er sagte:

»Ich bin im Chor von St. Nikolaus.«

»Och, denn geht ihr zur Kirche?« sagte Brangwen.

»Mutter ja – Vater nicht«, erwiderte der Junge.

Es waren solche Kleinigkeiten, seine Bewegungen, der merkwürdige Tonfall seiner Stimme, die sich Anna besonders bemerkbar machten. Die Gemeinplätze, von denen er redete, waren ihr dagegen gradezu lächerlich. Auch was ihr Vater sagte, schien bedeutungslos und gleichgültig.

Den Nachmittag über saßen sie im Wohnzimmer, wo es nach Geranien roch, aßen Kirschen und unterhielten sich. Will Brangwen sollte mal zeigen, was an ihm dran wäre. Und bald ging er aus sich heraus.

Er hatte viel für Kirchen über, für Kirchenbau. Ruskins Einfluß hatte ihn dazu gebracht, an den mittelalterlichen Formen Gefallen zu finden. Seine Redeweise war abgebrochen, er sprach alles nur halb aus. Aber wenn man ihm zuhörte, wie er so von einer Kirche nach der anderen sprach, von Schiff und Altarplatz und Querschiff, von Chorschranken und Taufbecken, von Unterschneidung und Gesimsen und Maßwerk, immer mit tiefster Leidenschaft von ihren besonderen Eigentümlichkeiten redend, da kam über ihr Herz das tiefe Schweigen der Kirchen, ein geheimnisvolles Etwas, die gewichtige Bedeutung des Wölbsteins, ein schwachgefärbtes Licht, durch das irgend etwas dunkel vor sich ging und im Dunkel sich verlor: das hohe, entzückende Maßwerk eines geheimnisvollen Chorschrankenwerks und dahinter, tief im Hintergrunde der Altar. Das war ein wirkliches Erlebnis. Sie war ganz hingerissen. Das ganze Land schien ihr von einer mächtigen, geheimnisvollen Kirche überdeckt, in düsterer Zurückhaltung, von unbekanntem Geiste durchbebt.

Es tat ihr fast weh, wenn sie aus dem Fenster blickte und den Flieder im hellen Sonnenschein emporstreben sah. Oder war dies Glasmalerei?

Er sprach von Gotik und Renaissance und Lotrechten, und Frühenglisch und Normannisch. Die Worte zitterten in ihr nach.

»Bist du mal in Southwell gewesen?« sagte er. »Ich war da um zwölf Uhr mittags und aß mein Frühstück auf dem Kirchhofe. Und da spielten die Glocken einen Vers.«

»Ja, das ist ein feiner Dom, Southwell, ein mächtiger. Er hat schwere Rundbogen, etwas niedrig zwar, auf ihren dicken Pfeilern. Großartig ist das aber, wie diese Bogen sich so weiterziehen.«

»Da ist auch ein Chorgestühl – sehr nett. Aber das Hauptschiff der Kirche mag ich besonders gern – und den Nordeingang – –«

Er war ganz erregt und von sich selbst erfüllt, diesen Nachmittag. Eine Flamme umleuchtete ihn und verlieh seiner Erfahrung so leidenschaftliche Glut, so brennende Wirklichkeit.

Sein Oheim hörte ihm mit zwinkernden Augen zu, nur halb bewegt. Die Tante beugte ihr dunkles Gesicht vornüber, auch nur halb bewegt, aber doch von diesem fremden Wissen gepackt. Anna ging ganz mit ihm.

Mit raschen Schritten kehrte er abends in seine Wohnung zurück, mit blitzenden Augen und das ganze Gesicht dunkel leuchtend, als käme er von einer ihn leidenschaftlich fesselnden, seinem Leben Inhalt verleihenden Aufgabe.

Diese Glut blieb in ihm, das Feuer brannte weiter, sein Herz war wie eine stolze Sonne. Er freute sich an seinem unbekannten Leben und dem eigenen Ich. Und er war zu einem neuen Besuch in der Marsch bereit.

Ohne es zu wissen, sehnte Anna sich nach diesem neuen Besuch. In ihm fand sie Freiheit. Durch ihn hatte sie die Grenzen ihres Wissens erweitert: er war das Loch in der Wand, außerhalb derer der Sonnenglanz auf die Außenwelt herniederstrahlte.

Er kam. Zuweilen, nicht oft, aber zuweilen überfiel sie bei seiner Unterhaltung wieder jenes seltsame, fernabliegende Wirklichkeitsgefühl, das alles mit sich reißt. Zuweilen sprach er von seinem Vater, den er mit einem nahezu an Liebe streifenden Hasse haßte, oder von seiner Mutter, die er mit einer Liebe verehrte, die Haß oder Abscheu sehr verwandt war. Seine Sätze waren unbeholfen, er konnte sich nur halb aussprechen. Aber er hatte die wundervolle Stimme, die dem Mädchen durch die Seele zitterte, sie in seine Gefühlswelt hinüberzuziehen vermochte. Manchmal war seine Stimme heiß und hochtrabend, manchmal hatte sie einen seltsam näselnden, fast katzenartigen Tonfall, manchmal stockte sie, wie suchend, manchmal lag etwas wie beginnendes Lachen in ihr. Anna wurde ganz von ihm mitgerissen. Sie liebte die züngelnde Flamme, die sie beim Zuhören überflutete. Und sein Vater und seine Mutter wurden für sie zwei getrennte Wesen in ihrem Leben.

Ein paar Wochen lang kam der Junge häufig und wurde von allen fröhlich aufgenommen. Er saß mit glühendem Gesicht unter ihnen, etwas Gespanntes und fast Spöttisches um den breiten Mund, der sich manchmal zu einem Grinsen verzog, und die Augen immer leuchtend wie die eines Vogels, ohne jede Tiefe. Dem Burschen ist nicht beizukommen, dachte Brangwen gereizt. Er ist wie ein grinsender junger Kater, der kommt, wenn es ihm paßt, und sich um kein anderes Wesen kümmert. Zuerst hatte der Junge beim Sprechen immer Tom Brangwen angesehen; dann richtete er seine Blicke auf seine Tante, um deren Billigung zu finden, die ihm höher stand als die seines Ohms; und dann wandte er sich an Anna, weil er bei ihr fand, was er suchte und was bei den älteren Leuten nicht zu finden war.

So fingen die jungen Leute, nachdem sie zuerst immer sehr aufmerksam gegen die Alten gewesen waren, allmählich an, sich von ihnen zurückzuziehen und sich ein eigenes Königreich einzurichten. Zuweilen war Tom Brangwen ärgerlich. Sein Neffe reizte ihn. Der Bengel schien ihm zu sehr ins Einzelne zu gehen, zu selbstbewußt. Sein inneres Wesen war wohl stark genug, aber zu weltfremd, wie etwas ganz für sich Stehendes, wie das eines Katers. Ein Kater kann in vollstem Seelenfrieden auf der Herdmatte liegen, während sein Herr oder seine Herrin sich in Armeslänge von ihm in Todesqualen windet. Mit anderer Leute Angelegenheiten hatte er nichts zu schaffen. Was kümmerte sich der Bengel wohl um irgendwas, außer seinen eigenen Gefühlsangelegenheiten?

Brangwen war ärgerlich. Trotzdem mochte er seinen Neffen gern und achtete ihn sehr. Mrs. Brangwen war ärgerlich über Anna, die sich so plötzlich unter dem Einflusse des Jungen umänderte. Die Mutter mochte den Jungen gern: er war ihr nicht ganz so fernstehend. Aber sie liebte es nicht, ihre Tochter so sehr in seinem Banne stehen zu sehen.

So zogen sich also die jungen Leute allmählich zurück, machten sich von den älteren los, um für sich etwas Neues zu schaffen. Er arbeitete im Garten, um seinen Ohm zu besänftigen. Er redete mit seiner Tante über Kirchen, um sie zu besänftigen. Er folgte Anna wie ihr Schatten: wie ein langer, hartnäckiger, nie weichender schwarzer Schatten lief er hinter dem Mädchen her. Das ärgerte Brangwen ganz außerordentlich. Es reizte ihn über jedes erträgliche Maß, wenn er dies helle Grinsen, dies Katergrinsen, wie er es nannte, auf seines Neffen Gesicht sah.

Und Anna bekam eine neue Zurückhaltung, eine neue Unabhängigkeit. Sie fing plötzlich an, ganz unabhängig von ihren Eltern etwas zu unternehmen, abseits von ihnen zu leben. Ihre Mutter bekam ärgerliche Anwandlungen.

Aber das Hofmachen nahm seinen Fortgang. Anna fand Gelegenheit, abends nach Ilkeston zum Einkaufen zu gehen. Sie kam stets mit ihrem Vetter zurück; er ging den Kopf über ihre Schulter ein wenig hinter ihr her, wie der Teufel über Lincoln, wie Brangwen ärgerlich und doch voller Genugtuung bemerkte.

Will Brangwen befand sich zu seiner eigenen Verwunderung in einem Zustand gespanntester Leidenschaft. Zu seiner größten Verwunderung hatte er sie eines Abends bei der Rückkehr von Ilkeston an der Gartentür angehalten und geküßt, er hatte ihr den Weg vertreten und sie geküßt, während ihm so war, als führe aus dem Dunkeln ein Schlag auf ihn nieder. Und als sie im Hause waren, ärgerte er sich wütend über das forschende Aufblicken der Eltern nach ihnen beiden. Was für ein Recht hatten denn die da: weshalb mußten sie aufgucken! Laß sie doch rausgehen oder woanders hinsehen.

Und als der Junge nach Hause ging, wirbelten sämtliche Sterne am Himmel in der Düsternis seines Gehirns umher, und sein Herz raste wild, unausgesetzt wild, als fühle er jemand sich ihm widersetzen. Er hätte gern irgend etwas zertrümmert.

Über sie war ein Zauberbann geworfen. Und wie unruhig wurden erst ihre Eltern, als sie völlig unachtsam im Hause umherging, wie gebannt, als wäre sie für sie unsichtbar. Und sie war auch unsichtbar für sie. Das machte sie böse. Und doch mußten sie es dulden. Sie ging eine Weile wie in Gedanken, wie verdunkelt umher.

Auch über ihm lag die Finsternis des Unbekanntseins. Er schien in einer elektrisch geladenen Finsternis verborgen, in der seine Seele, sein Leben eifrig wirksam blieb, aber ohne daß er teil daran gehabt hätte. Sein Geist war verfinstert. Er arbeitete rasch und triebmäßig und brachte einige wundervolle Sachen zustande.

Seine Lieblingsbeschäftigung war Holzschnitzerei. Das erste, was er für sie machte, war eine Butterform. Er schnitzte einen sagenhaften Vogel hinein, einen Phönix, so eine Art Adler, der sich auf ebenmäßigen Schwingen emporhob, umgeben von einem Kranze wundervoller, vom Rande der Form aufzüngelnder Flammen.

Am Abend, wo er es ihr überreichte, hielt Anna nichts von diesem Geschenk. Aber am nächsten Morgen, als die Butter fertig war, da nahm sie seine Form an Stelle der alten mit Eichenlaub und Eicheln. Sie war merkwürdig gespannt, zu sehen, wie das Bild herauskommen würde. Merkwürdig, wie der klobige Vogel da aus der tassenartigen Form herauskam, wie ihn diese sonderbaren dicken Wellenlinien umgaben, die von dem glatten Rande ausliefen. Sie machte eine andere Form. Seltsam, wenn sie die Form abhob und dann den adlergleichen Vogel die Brust ihr darbieten sah. Es machte ihr Freude, sie wieder und wieder hervorzubringen. Und jedesmal schien ihr beim Ansehen ein neues Wesen ins Leben zu treten. Jedes Stück Butter wurde zu diesem seltsamen, lebensvollen Wahrzeichen.

Sie zeigte es Vater und Mutter.

»Wie schön das ist!« sagte die Mutter, und ein flüchtiges Leuchten stieg ihr ins Gesicht.

»Schön!« rief der Vater, verblüfft, gereizt. »Wieso, was soll denn das für 'ne Art Vogel bedeuten?«

Und das war die stehende Frage aller Kunden während der nächsten Wochen.

»Wat vor 'ne Ort Vagel schall denn dat bedüden, de Se dor up de Botter hevvt?«

Als er am Abend kam, nahm sie ihn mit in die Milchkammer, um es ihm zu zeigen.

»Magst du es leiden?« fragte er mit seiner lauten, schwingenden Stimme, die in den dunklen Tiefen ihres Wesens immer so starken Widerhall fand.

Sie rührten einander sehr selten an. Sie waren gern miteinander allein, ganz dicht beieinander, aber es lag noch etwas Trennendes zwischen ihnen.

In der kühlen Milchkammer wurde das Kerzenlicht von den weiten weißen Oberflächen der Rahmschüsseln zurückgeworfen. Scharf drehte er den Kopf. Es war so kühl und weitab hier drinnen, so weit weg. Sein Mund öffnete sich mit einem kleinen, gezwungenen Lächeln. Sie stand mit vornübergebeugtem Kopf, aber abgewandt, da. Er wäre gern zu ihr hingegangen. Einmal hatte er sie schon geküßt. Wieder blieb sein Blick auf den runden Stücken Butter haften, auf denen der bedeutungsvolle Vogel seine Brust aus dem vom Kerzenlicht geworfenen Schatten hervorhob. Was hielt ihn noch zurück? Ihre Brust war ihm so nahe; sein Kopf hob sich wie der eines Adlers. Sie rührte sich nicht. Plötzlich schlang er mit einer unglaublich raschen, zarten Bewegung seine Arme um sie und zog sie an sich. Es war schnell geschehen, und sauber, wie ein Vogel, der niederstößt und tief, immer tiefer sinkt.

Er küßte sie auf die Kehle. Sie wandte sich und sah ihn an. Ihre Augen waren dunkel und glühten in innerem Feuer. Seine waren hart und helleuchtend vor stolzem Willen und Freude, wie die eines Habichts. Sie fühlte, wie er in die dunkle Weite ihrer Flammen hinausflog, wie ein Feuerbrand, wie ein glühender Habicht.

Sie hatten einander angesehen und hatten sich seltsam gefunden, und doch so nahe, sehr nahe, wie ein kreisender Habicht in eine Flamme der Dunkelheit herniederschießt, herniedersinkt. Sie nahm die Kerze, und sie gingen wieder in die Küche.

Auf diese Weise fuhren sie eine Zeitlang fort, stets trafen sie sich, aber nur selten berührten sie sich, ganz selten kam es zu einem Kusse. Und selbst dann war es oft nur ein leichtes Berühren der Lippen, mehr ein Zeichen. Aber ihre Augen begannen in einem ständigen Feuer zu erwachen, zuweilen hielt sie mitten in ihrer Tätigkeit ein, wie um sich auf etwas zu besinnen, oder als müsse sie etwas ausfindig machen.

Und sein Gesicht wurde düster, gespannt, er verstand nicht immer gleich, wenn man ihm etwas sagte.

An einem Augustabend regnete es, als er kam. Mit hochgeklapptem Jackenkragen trat er ein, die Jacke zugeknöpft, das Gesicht ganz naß. Und er sah so schlank und festentschlossen aus, wie er da aus dem kalten Regen hereintrat: sie wurde plötzlich blind vor Liebe zu ihm. Und dabei saß er da und redete mit ihrem Vater und ihrer Mutter ganz bedeutungsloses Zeug, während ihr Blut geradezu quälend um ihn ins Sieden geriet. Sie sehnte sich danach, ihn jetzt nur zu berühren, nur zu berühren.

Es lag ein seltsamer, wie abwesender Ausdruck auf ihrem silbern strahlenden Antlitz, der ihren Vater ganz verrückt machte; ihre dunklen Augen waren wie verborgen. Aber zu dem Jungen hob sie sie empor. Und dann waren sie voll dunkler Glut, die ihn einen Augenblick zurückschrecken machte.

Sie ging in die Hinterküche und holte sich eine Laterne. Ihr Vater beobachtete sie, als sie wiederkam.

»Komm mit, Will«, sagte sie zu ihrem Vetter. »Ich möchte noch mal nachsehen, ob ich auch den Stein über das Loch gedeckt habe, wo die Ratten immer durchkommen.«

»Das is doch ganz unnötig«, sagte ihr Vater zu ihr. Sie schenkte ihm keine Beachtung. Der Junge stand zwischen ihrer beider Willen. Dem Vater stieg die Röte ins Gesicht, seine blauen Augen starrten. Das Mädchen stand an der Tür, den Kopf leicht zurückgeworfen, wie um dem Jungen zu zeigen, er müsse mit. Er stand in seiner schweigenden, gespannten Art auf und war mit ihr draußen. In Brangwens Stirnadern schwoll das Blut empor.

Es regnete. Das Licht der Laterne blitzte auf dem gepflasterten Pfade und am unteren Rande der Mauer. Sie kam zu einer kleinen Leiter und stieg hinauf. Er reichte ihr die Laterne zu und stieg hinterher. Sie waren auf dem Hühnerboden, die Vögel saßen in fetten Bündeln auf den Ricken, ihre roten Kämme glühten wie Feuer. Glänzende, scharfe Augen öffneten sich. Ein scharfes, tadelndes Krächzen ertönte, als eine der Hennen sich umdrehte. Der Hahn saß wachsam da, seine Halsfedern glänzend wie aus Glas. Anna schritt über den schmutzigen Boden hin. Brangwen kauerte sich in der dunklen Luke zusammen und beobachtete sie. Das Licht lag weich unter den kahlen, roten Ziegeln. Das Mädchen kauerte in einer Ecke zusammen. Wieder ein plötzlich losbrechender Wirrwarr, als eine der Hennen von ihrem Rick heruntersprang.

Anna kam zurück, sich unter den Ricken bückend. Er wartete auf sie dicht bei der Tür. Plötzlich warf sie die Arme um ihn und preßte sich dicht an ihn, klammerte sich mit ihrem ganzen Körper an ihn und weinte in flüsternden, klagenden Tönen.

»Will, ich liebe dich, ich liebe dich, Will, ich liebe dich.« Es klang, als risse es ihr das Herz in Stücke.

Er war gar nicht einmal sehr überrascht. Er hielt sie in den Armen, und sein Gebein begann zu schmelzen. Er lehnte sich gegen die Wand zurück. Die Luke war offen stehen geblieben. Draußen schoß der Regen in feiner, stählerner, geheimnisvoller Hast schräg hernieder, aus den Klüften der Finsternis hervorbrechend. Er hielt sie in seinen Armen, und sie beide schienen in mächtigem, sausendem Schwunge zu fliegen, sie schienen miteinander in der Finsternis verwachsen. Draußen vor der offenen Luke, in der sie standen, über und unter ihnen herrschte Dunkelheit und zog sich ein dichter Regenschleier hin.

»Ich liebe dich, Will,« stöhnte sie. »Ich liebe dich.«

Er hielt sie umschlungen als wären sie eins, und war stumm. Tom Brangwen wartete eine Weile im Hause. Dann stand er auf und ging nach draußen. Er ging über den Hof. Er sah einen sonderbaren, nebelhaften Schimmer aus der Luke fallen. Er wußte kaum, daß es das Licht durch den Regen war. Er schritt weiter, bis der schwache Schein grade auf ihn fiel. Sowie er dann in die Höhe sah, sah er durch den Regenschleier den Jungen und das Mädchen beieinander, den Jungen mit dem Rücken an die Wand gelehnt, den Kopf über den des Mädchens gebeugt. So sah sie der ältere Mann, verschleiert durch den Regen, aber doch hell beleuchtet. Sie dachten, sie wären in Nacht vergraben. Er sah sogar, daß es hinter ihnen auf dem Boden trocken war, und Schatten und Körper der schlafenden Hühner da droben in der Nacht, seltsame Schatten, von der auf der Erde stehenden Laterne geworfen.

Und in seinem Herzen begannen dunkelglühender Ärger und gerührtes, selbstvernichtendes Zartgefühl zu streiten. Sie wußte nicht, was sie tat. Sie täuschte sich. Sie war ja noch ein Kind, ein reines Kind. Sie wußte ja gar nicht, wie viel ihres Ichs sie da preisgab. Und er fühlte in sich schwarzen, wütenden Jammer. War er denn ein so alter Mann, daß er sie schon in die Ehe geben sollte? War er denn alt? Er war nicht alt. Er war viel jünger als der junge, gedankenlose Bengel da, dem sie im Arme lag. Wer kannte sie denn besser – er oder dieser blind drauflosgehende Bursche? Wem sollte sie wohl angehören, wenn nicht ihm selbst?

Er dachte wieder daran, wie er sie als Kind nachts in die Scheune hinübergetragen hatte, während seine Frau in Wehen um den kleinen Tom lag. Er erinnerte sich des warmen, weichen Gewichts auf seinem Arm, als das kleine Mädchen an seinem Halse hing. Jetzt würde sie sagen, er wäre abgetan. Sie wollte fort von ihm, wollte ihn verleugnen, unerträgliche Leere in ihm zurücklassen, eine Leere, die er nicht ertragen konnte. Er haßte sie beinahe. Wie durfte sie sagen, er sei alt. So schritt er durch den Regen, schwitzend vor Kummer, vor Angst vor dem Alter, mit der Qual, aufgeben zu müssen, was ihm das Leben bedeutete.

Will Brangwen ging nach Hause, ohne seinen Ohm wieder zu sehen zu bekommen. Er streckte sein heißes Gesicht dem Regen entgegen und schritt vorwärts wie im Zauberschlaf. »Ich liebe dich, Will, ich liebe dich.« Endlos wiederholten sich ihm diese Worte. Die Schleier waren zerrissen und hatten ihn nackt in den unendlichen Raum hinausgestoßen, er schauderte. Die Mauern stießen ihn aus und gaben ihm unendlichen Raum für seine Schritte frei. Wohin führte ihn der Weg durch die unendliche Dunkelheit, ihn, den Blinden? Wo saß Gott der Allmächtige auf dunklem Throne, an welchem Ende der Dunkelheit, und trieb ihn vorwärts? »Ich liebe dich, Will, ich liebe dich.« Er zitterte vor Furcht, als diese Worte in seinem Herzen widerhallten. Und an ihr Gesicht durfte er überhaupt nicht denken, an ihre glühenden Augen, ihr sonderbares, verändertes Gesicht. Die Hand der verborgenen Allmacht, die lodernde Flamme hatte sich aus der Dunkelheit ausgestreckt und ihn ergriffen. Demütig und in Furcht ging er weiter, sein Herz ergriffen und brennend von der Berührung.

Die Tage liefen hin, auf dunkel dahintrottenden Sohlen schlichen sie weiter. Er ging, um Anna zu besuchen, aber aufs neue war etwas Zurückhaltendes zwischen sie getreten. Tom Brangwen war düster, seine blauen Augen finster. Anna war seltsam und ergeben. Ihr Antlitz mit seinen zarten Farben war stumm, aber prickelnd in seiner Wortlosigkeit. Die Mutter ließ den Kopf hängen und bewegte sich in ihrer eigenen dunklen Welt voll neuer, fruchtbarer Fülle.

Will Brangwen arbeitete an seiner Holzschnitzerei. Das war seine Leidenschaft; es war eine Leidenschaft für ihn, das Schnitzmesser in der Faust zu fühlen. Tatsächlich lenkte die Leidenschaft seines Herzens jeden Schnitt des feinen Stahles. Er schnitzte, wie er es sich schon immer vorgenommen hatte, die Erschaffung Evas. Es war eine Wandtafel, flach-erhaben, für eine Kirche. Adam lag schlafend da, wie leidend, und Gott, eine undeutliche, mächtige Gestalt, beugte sich über ihn und streckte ihm seine freigemachte Hand entgegen; Eva, ein schmächtiges, lebensvolles, nacktes weibliches Wesen, hob sich gleich einer Flamme der Hand Gottes aus der aufgerissenen Seite Adams entgegen.

Jetzt arbeitete Will Brangwen an seiner Eva. Sie war mager, ein scharfes, unreifes Ding. Mit zitternder Leidenschaft, fein wie ein Luftzug, ließ er das Messer über ihren Leib dahingleiten, ihren harten, unreifen kleinen Leib. Sie war ein steifes kleines Wesen, mit scharfen Umrissen, in den Wehen, in der Qual und Erhebung ihrer Erschaffung. Aber wenn er sie berührte, zitterte er. Er hatte noch keine seiner Gestalten völlig beendet. Da saß ein Vogel auf einem Zweige über ihr, der die Schwingen zum Fluge hob, und eine Schlange wand sich zu ihm empor. Auch das war noch nicht fertig. Er zitterte vor Leidenschaft, daß er nun endlich so weit war, den frischen, scharfen Körper Evas zu schaffen.

An den beiden Enden, zu äußerst an beiden Seiten waren zwei Engel angebracht, die sich das Gesicht mit den Schwingen bedeckten. Sie waren wie Bäume. Während er im Zwielicht in die Marsch hineinschritt, fühlte er die beiden Engel mit den bedeckten Gesichtern sich zur Seite. Die Dunkelheit rührte von dem Bedecken ihrer Gesichter und ihrem Schatten her. Als er unter der Dammbrücke hindurchging, glühte der Abend in seinen letzten tiefen Farben auf, der Himmel war dunkelblau, fernher glitzerten die Sterne, ungeheuer fern, und näherten sich einander über dem dunkelnden Haufen der Hofgebäude, über den Kristallpfaden am Rande des Himmels entlang.

Sie wartete auf ihn wie die Glut des Lichtes selbst und als wäre sein Gesicht bedeckt. Und er wagte nicht, sein Gesicht zu ihr zu erheben.

Das Korn wurde geschnitten. Eines Abends schritten sie bei hereinbrechender Nacht durch die Hofgebäude. Ein mächtiger, goldener Mond hing schwer über der grauen Kimme; hoch, sich in der Dämmerung verlierend, erwartungsvoll, standen die Bäume. Geräuschlos gingen Anna und der junge Mann an der Hecke entlang, wo die Hofwagen tiefe Rinnen ins Gras eingeschnitten hatten. Sie traten durch das Gatter auf ein weites, freies Feld, wo sich noch ein starkes Licht über ihre Gesichter ergoß. Auf dem schattigen Boden lagen die Garben, wie die Mäher sie hatten liegen lassen, manche wie niedergeworfene Körper in schattenhafter Masse, andere, weiter weg, standen schon undeutlich wie Schiffe im Mondesdunst in Haufen zusammen.

Sie mochten nicht umkehren, aber wohin sollten sie gehen, dem Monde entgegen? Denn sie waren getrennt, fühlten sich jeder allein.

»Wir wollen ein paar Garben zusammensetzen«, sagte Anna. So konnten sie noch auf der weiten Ebene bleiben.

Sie schritten über die Stoppeln bis ans Ende der bereits aufgestellten Garben. Dieser Teil des Feldes sah merkwürdig belebt aus mit seinen aufrecht stehenden Haufen; der Rest lag frei und eben.

Die Luft war voll silberigen Schimmers. Sie sah sich um. In der Ferne standen undeutliche Bäume, als warteten sie wie Herolde auf das Zeichen zum Anmarsch. In dieser Weite wie aus mattem Kristall schien ihr ihr Herz wie eine Glocke zu klingen. Sie fürchtete, der Klang möchte hörbar werden.

»Nimm du diese Reihe«, sagte sie zu dem Jungen, und weiterschreitend beugte sie sich zu den in der nächsten Reihe liegenden Garben nieder, packte mit beiden Händen in das Haferstroh, hob das schwere Korn hoch, und trug die schwere Last in den freien Zwischenraum, wo sie die beiden Garben kräftig niedersetzte, so daß sie beim Zusammensinken ein schwaches, aber deutlich hörbares Rauschen von sich gaben. Ihre beiden Garben standen nun aufrecht. Er kam mit seinen beiden Garben heran, verschwommen durch das Gespinst der Dämmerung schreitend. Sie wartete dicht daneben. Auch er setzte seine beiden Garben mit jenem schwachen, deutlichen Rauschen zusammen, dicht neben ihre. Sie schwankten unsicher. Er verflocht ihr Stroh. Es rauschte wie eine Quelle. Er sah auf und lachte.

Dann wandte sie sich ab und dem Monde zu, der jedesmal, wenn sie sich ihm zukehrte, ihren Busen glühend zu entblößen schien. Er schritt pflichtgetreu in die undeutliche Leere des Raumes auf der anderen Seite hinüber.

Sie beugten sich nieder, ergriffen die feuchten, weichen Halme des Korns, hoben die schweren Bündel auf und kamen wieder zurück. Sie war immer die erste. Sie setzte ihre Garben nieder und machte aus ihnen und den anderen ein Joch. Schattenhaft kam er über die Stoppeln daher mit seinen Bündeln. Sie wandte sich schon wieder und hörte nur noch das scharfe Zischen der Berührung von seinem Korn. Sie schritt zwischen dem Monde und seiner schattenhaften Gestalt einher.

Sie nahm wieder zwei Bündel auf und schritt auf ihn zu, als er sich grade wieder aufrichtete. Er kam ganz aus der Nähe. Sie setzte ihre Garben nieder, um einen neuen Haufen anzufangen. Sie standen unsicher. Ihre Hände zitterten. Sie riß sich aber doch wieder los, dem Monde zu, der ihr den Busen entblößte, so daß ihr war als schwelle und seufze er vor Mondlicht. Und er mußte ihre beiden Garben wieder aufstellen, da sie umgefallen waren. Er arbeitete stumm. Der Schwung seiner Arbeit riß ihn fort, als sie aufs neue herankam.

Sie arbeiteten wieder gemeinschaftlich, kommend und gehend nach einem Takte, der ihre Füße und Leiber im Gleichmaß mit dahinriß. Sie beugte sich nieder, hob die Last ihrer Garben, wandte ihr Gesicht der undeutlichen Helle zu, in der er stand, und schritt mit ihrer Last über die Stoppeln. Sie zögerte, setzte ihre Garben nieder, dann kam das Zischen und Rauschen, wenn das Stroh ineinander fuhr; er kam, und sie mußte wieder fort. Und dann glänzte der Mond hernieder und entblößte ihren Busen, so daß sie sich wie eine heranschwellende und wieder verebbende Welle fühlte.

Er arbeitete stetig, ganz in Anspruch genommen, fuhr wie ein Weberschifflein vor- und rückwärts durch die Bänder blanker Stoppeln und wob eine lange Reihe aufrechtstehender Haufen, näher und immer näher an die schattendunklen Bäume heran, seine Garben mit den ihren verwebend.

Und jedesmal war sie fort, ehe er herankam. Wenn er kam, ging sie grade, ging er fort, kam sie wieder. Würden sie sich denn nie treffen? Allmählich zitterte von ihm zu ihr ein leiser, tieftönender Wille hinüber, versuchte, sie mit ihm in Einklang zu bringen, sie ihm allmählich zuzuführen, bis sie sich träfen, bis sie zusammenkommen müßten, bis sie sich treffen würden wie die Garben, wenn sie zusammenzischten.

Und die Arbeit nahm ihren Fortgang. Der Mond wurde heller, klarer, und das Korn erglänzte. Er beugte sich über die daliegenden Garben, die leise zischten, wenn sie den Boden verließen; es war, als lege sich ein schwerer Körper gegen ihn an, eine Flut von Mondlicht stand vor seinen Augen. Und dann setzte er das Korn in den Haufen nieder. Und sie kam näher.

Er wartete auf sie, indem er sich etwas an dem Haufen zu tun machte. Sie kam, aber sie blieb stehen, bis er wieder wegging. Er sah sie im Schatten wie ein dunkles Standbild und sprach zu ihr, und sie antwortete ihm. Sie sah im Mondlicht eine Frage auf seinem Gesichte aufblitzen. Aber zwischen ihnen war ein weiter Raum, und er ging wieder fort, getragen vom Schwunge der Arbeit.

Warum blieb denn nur immer dieser weite Raum zwischen ihnen, warum blieben sie stets getrennt? Warum blieb sie stehen, wenn sie aus dem Mondesschimmer herankam, getrennt von ihm? Warum wurde er so von ihr ferngehalten? Hartnäckig, düster dröhnte sein Wille weiter, übertönte alles übrige.

In das Zeitmaß seiner Arbeit kam Schwung und fester Wille. Er beugte sich nieder, hob die schwere Last, hob sie ihr entgegen und setzte sie nieder gleichwie in sie selbst auf dem mondüberstrahlten Fleck. Und dann ging er zurück nach neuen Garben. Mit immer zunehmendem Annäherungswillen hob er diese und schwang sich über den freien Raum mit ihnen, immer näher trieb er sie zum Treffpunkt heran, tat sein Werk und näherte sich ihr immer mehr, sie allmählich überholend. Nur dies hingenommene Auf und Nieder im Mondlicht, dies schweigende Schwingen, nur durch das Aufrauschen der Garben gekennzeichnet, und dann wieder Stille und neues Aufrauschen. Und das Aufrauschen seiner Garben wurde immer schneller, sich dem ihren nähernd, während das ihrige gleichmäßig weiter tönte, unverändert; aber das Aufrauschen seiner Garben kam näher. Bis sie sich endlich an dem Haufen trafen und sich mit ihren Garben in der Hand gegenüberstanden. Er war silberüberströmt vom Mondlicht, und sein mondbeschienenes, durchschattetes Gesicht erschreckte sie. Sie wartete.

»Setz deine hin«, sagte sie.

»Nein, du bist dran.« Seine Stimme hallte drängend.

Sie setzte ihre Garben gegen den Haufen. Er sah ihre Hände in einem Sprühregen von Körnern leuchten. Und er ließ seine Garben fallen und zitterte, als er sie in die Arme schloß. Er hatte sie überholt, und nun war es sein gutes Recht, sie zu küssen. Sie war süß und frisch von der Nachtluft und süß vom Dufte des Kornes. Und der ganze Schwung seiner Arbeit ging in seine Küsse über, er bedrängte sie immer heftiger mit seinen Küssen, und immer noch war sie nicht ganz gewonnen. Er wunderte sich über das Mondlicht auf ihrer Nase. Alles Mondenlicht auf ihr, aller Schatten in ihr. Die ganze Nacht in seinen Armen, mit ihrem Glanz und ihrer Finsternis, alles das besaß er. Die ganze Nacht gehörte ihm nun, um sie zu enthüllen, sich in sie hinein zu wagen, alle die Geheimnisse, in die er nun eintreten sollte, all die Entdeckungen, die er nun machen würde.

Zitternd vor heißem Siegesgefühl war sein Herz weiß wie ein Stern, während seine Küsse drängender wurden.

»Mein Lieb!« rief sie mit leiser Stimme, wie aus der Ferne. Der leise Laut schien ihn aus der Ferne, vom Monde her zu rufen, ihn, den Unachtsamen. Er hielt inne, zitternd, und lauschte.

»Mein Lieb!« kam wieder der leise, klagende Ruf, wie der eines unsichtbaren Vogels aus der Nacht.

Er erschrak. Sein Herz zitterte und brach. Er mußte innehalten. »Anna«, sagte er, als antwortete er ihr unsicher aus der Ferne.

»Mein Lieb.«

Und er drängte sich an sie, und sie drängte sich an ihn.

»Anna«, sagte er in Verwunderung, in den Geburtschmerzen der Liebe.

»Mein Lieb«, sagte sie, und ihre Stimme riß ihn hin. Und hingerissen und überrascht küßten sie sich auf den Mund, lange, wirkliche Küsse. Lange dauerte der Kuß, dort im Mondlicht. Er küßte sie aufs neue, und sie küßte ihn wieder. Und wieder küßten sie sich gegenseitig. Bis in ihm etwas vorging und er seltsam wurde. Er wollte sie haben. Er wollte sie brennend gern haben. Sie war ihm so neu. Verschlossen, in der Schwebe standen sie da in der Nacht. Und sein ganzes Wesen erzitterte vor Überraschung, wie von einem Schlage. Er wollte sie haben und wollte ihr das sagen. Aber der Schreck war zu groß. Er war sich vorher nie darüber klar geworden. Vor Erregung und Ungewohntheit zitterte er, wußte er nicht, was tun. Er hielt sie sanfter, sanfter, viel sanfter. Der Zusammenstoß war vorüber. Und er war froh darüber und atemlos, fast in Tränen. Aber er wußte, er wollte sie haben. Etwas kam in seinem Inneren ein für allemal zu einem festen Entschluß. Er gehörte ihr an. Und er war erfreut und erschrocken hierüber. Er wußte nicht, was er nun tun sollte, wie sie da auf freiem, mondüberstrahltem Felde standen. Er blickte durch ihr Haar nach dem Monde, der flüssig-glänzend dahin zu schwimmen schien.

Sie seufzte und schien zu erwachen; dann küßte sie ihn wieder. Dann machte sie sich von ihm los und ergriff seine Hand. Es tat ihm weh, als sie sich von seiner Brust losriß. Es tat ihm weh vor Kummer. Warum entzog sie sich ihm? Aber sie hielt noch seine Hand.

»Ich möchte nach Hause gehen«, sagte sie und sah ihn auf eine Weise an, die er nicht begriff.

Er hielt ihre Hand sehr fest. Er war betäubt und konnte sich nicht regen, er wußte nicht, wie sich bewegen. Sie zog ihn fort. Hilflos schritt er an ihrer Seite dahin, ihre Hand haltend. Sie ging mit gebeugtem Kopfe. Plötzlich sagte er, und es kam ihm wie die einfachste Lösung vor:

»Wir wollen uns heiraten, Anna.«

Sie war stumm.

»Wir wollen uns heiraten, Anna, nicht?«

Sie blieb wieder auf dem Felde stehen und küßte ihn, hängte sich leidenschaftlich an ihn, auf eine Weise, die er nicht begreifen konnte. Er konnte sie nicht begreifen. Aber er überließ jetzt alles der Ehe. Diese Lösung stand nun für die Zukunft fest. Haben wollte er sie, er wollte sich mit ihr verheiraten, er wollte sie für ewige Zeiten als sein Eigentum besitzen. Und voller Spannung wartete er auf die Erfüllung. Aber während der ganzen Zeit fühlte er sich auch leicht gereizt.

Er sprach noch am selben Abend mit dem Ohm und der Tante.

»Ohm,« sagte er, »Anna und ich wollen uns heiraten.«

»Och ne!« sagte Brangwen.

»Aber wie denn, ihr habt ja kein Geld?« sagte die Mutter.

Der Junge wurde blaß. Solche Worte haßte er. Aber er war wie ein glänzender, heller Kiesel, hellglänzend und unveränderlich. Er dachte gar nicht nach. In seiner harten Helle saß er da und sagte nichts.

»Hast du deiner Mutter schon was davon gesagt?« fragte Brangwen.

»Nein – ich wollte es ihr Sonnabend sagen.«

»Willst du hingehen und es ihr sagen?«

»Ja.«

Dann kam ein langes Stillschweigen.

»Und woraufhin wollt ihr denn heiraten – auf dein Pfund in der Woche?«

Wieder wurde der Junge blaß, als würde der Geist in ihm verletzt.

»Ich weiß nicht«, sagte er und sah seinen Ohm mit seinen hellen, menschenunähnlichen, habichtartigen Augen an.

In Brangwen regte sich Haß.

»Das soll man aber wissen«, sagte er.

»Ich kriege ja später das Geld«, sagte der Neffe. »Jetzt will ich etwas aufnehmen, und später zahle ich es dann zurück.«

»Och jawohl! – Und wozu denn so 'ne verrückte Eile? Sie ist 'n Kind von achtzehn, und du bist 'n Junge von zwanzig. Ihr seid beide noch nicht mündig, und könnt man nicht einfach tun was ihr wollt.«

Will Brangwen duckte den Kopf und sah seinen Ohm mit raschen, mißtrauischen Augen an, wie ein Habicht im Käfig.

»Was macht das denn, wie alt sie ist, und wie alt ich bin?« sagte er. »Was ist denn für 'n Unterschied zwischen mir jetzt und wenn ich dreißig bin?«

»'n großer, wollen wir hoffen!«

»Aber ihr habt doch auch gar keine Erfahrung – ihr habt keine Erfahrung und kein Geld. Wie kannst du denn heiraten wollen ohne jede Erfahrung und ohne Geld?« fragte die Tante.

»Was für Erfahrung brauche ich denn dazu, Tante?« fragte der Junge.

Und wenn Brangwens Herz vor Ärger nicht hart geworden wäre wie ein Edelstein, dann hätte er das zugegeben.

Will Brangwen ging seltsam unberührt nach Hause. Er fühlte, er könne seinen festen Entschluß nicht mehr ändern, sein Wille stand fest. Um den zu ändern, müßte man ihn vernichten. Und er wollte sich nicht vernichten lassen. Geld hatte er nicht. Aber er würde schon welches bekommen, irgendwoher, darauf kam es nicht an. Viele Stunden lang lag er wach, hart und klar, aber ohne nachzudenken, während seine Seele sich mehr und mehr zu unwandelbarem Kristall härtete. Dann fiel er in tiefen Schlaf.

Es war, als habe sich seine Seele in harten Kristall verwandelt. Er mochte zittern und beben und leiden, sie änderte sich nicht mehr.

Am nächsten Morgen sprach Tom Brangwen mit Anna, grausam vor Ärger.

»Was is das mit eurem Heiratenwollen?« sagte er.

Sie stand da und wurde ein wenig blaß, in ihre Augen sprang der feindselige, unruhige Blick eines wilden Wesens, das sich zur Wehr setzt, aber doch vor Empfindlichkeit erzittert.

»Ja, das will ich«, sagte sie aus ihrer Bewußtlosigkeit heraus.

Sein Ärger wuchs, er hätte sie am liebsten zerbrochen.

»Du willst – du willst – und weshalb?« spottete er voller Verachtung.

Die alte Todesqual ihrer Kinderzeit, die Blindheit, in der sie niemand anerkennen konnte, das zitternde Widerstreben eines nackten, hilflosen, verteidigungslosen Wesens kam wieder über sie.

»Ich will es, weil ich es will«, schrie sie in der schrillen, krankhaften Art ihrer Kindheit. »Du bist ja gar nicht mein Vater – mein Vater ist tot – du bist gar nicht mein Vater.«

Also immer noch fühlte sie sich ihm fremd. Sie erkannte ihn nicht an. Tief, tief drang der kalte Stahl in Brangwens Seele. Er trennte sie auf ewig von ihm.

»Und wenn ich das auch nicht bin?« sagte er.

Aber er konnte es nicht ertragen. Er hatte das so leidenschaftlich gern gehört, ihr »Vater – Vatting!«

Ein paar Tage lang ging er wie betäubt umher. Seine Frau war in tiefem Sinnen. Sie verstand ihn nicht. Sie dachte, es ständen der Hochzeit nur Hindernisse wegen Mangel an Geld oder einer festen Stellung entgegen.

Über dem Hause hing ein schreckliches Schweigen. Anna hielt sich so viel als möglich außer Sicht. Stundenlang konnte sie allein sein.

Will Brangwen kam wieder, nachdem es in Nottingham törichte Auftritte gegeben hatte. Auch er war blaß und leer, aber unverändert. Sein Ohm haßte ihn. Er haßte den Jungen, der so unmenschlich hartnäckig war. Trotzdem war es Will Brangwen, dem der Ohm eines Abends ein Bündel Anteilscheine einhändigte, die er auf Anna Lensky übertragen hatte. Sie lauteten auf zweitausendfünfhundert Pfund. Will Brangwen sah seinen Ohm an. Das bedeutete einen großen Teil des Marschenvermögens, was hier weggegeben wurde. Der Junge indessen wurde nur kälter und fester. Er war geistesabwesend, nur noch zäher Wille. Er gab Anna die Scheine.

Hinterher weinte sie einen ganzen Tag lang; sie schluchzte sich die Augen aus. Und als sie am Abend ihre Mutter zu Bett gehen hörte, schlich sie nach unten und lauerte in der offenen Tür. Ihr Vater saß in schwerem Schweigen wie eine Bildsäule da. Langsam wandte er den Kopf.

»Vatting!« rief sie von der Türe her und lief zu ihm, schluchzend, als wollte ihr das Herz zerbrechen. »Vatting – Vatting – Vatting!«

Sie kauerte sich auf der Matte nieder und schlang die Arme um ihn, ihr Gesicht an ihn pressend. Sein Körper war so mächtig, so trostspendend. Aber irgend etwas tat ihrem Kopf unerträglich weh. Sie schluchzte fast wie irrsinnig.

Er saß still, die Hand auf ihrer Schulter. Sein Herz war jeden Trostes bar. Er war ja nicht länger ihr Vater. Dies geliebte Bild hatte sie zerbrochen. Wer war er denn? Ein Mensch, zu denen geschoben, deren Leben keine Entwicklungsfähigkeiten mehr besitzt. Er war von ihr geschieden. Es lag ein ganzes Geschlecht zwischen ihnen, er war alt, er war tot für dies heiße Leben. Eine mächtige Schicht Asche lag über seinem Feuer, kalte Asche. Er fühlte die unvermeidliche Kälte und vergaß in Bitterkeit das darunter glühende Feuer. Da saß er in der Kälte des Alters und der Trennung. Er hatte ja zwar auch seine eigene Frau. Und er tadelte sich, er verspottete sich wegen dieses Hanges zur Jugend, wegen dieses Wunsches, die Jugend möge ihm angehören.

Das Kind, das sich da an ihn hängte, wünschte seinen Kind-Ehemann. Wie es ja auch selbstverständlich war. Und von ihm, Brangwen, wollte sie Hilfe, so daß ihr Leben gehörig ausgestattet würde. Aber nach seiner Liebe verlangte sie nicht. Wozu sollte auch Liebe zwischen ihnen bestehen, zwischen dem dicken, mittelalterlichen Manne und diesem Kinde? Wie konnte es irgend etwas zwischen ihnen geben außer dem rein menschlichen Wunsch, sich gegenseitig zu helfen? Er war ihr Vormund, weiter nichts. Sein Herz war wie Eis, sein Gesicht kalt und ausdruckslos. Sie hätte ihn ebensowenig wie eine Bildsäule bewegen können.

Sie schlich zu Bett und weinte. Aber sie würde ja Will Brangwen heiraten, und dann brauchte sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Brangwen ging mit kaltem, hartem Herzen zu Bett und verwünschte sich selber. Er sah seine Frau an. Sie war ja immer noch seine Frau. Ihr dunkles Haar war mit weißen Fäden durchzogen, ihr Antlitz wunderschön in seinem zunehmenden Alter. Sie war grade fünfzig. Wie reizvoll sie aussah. Und er hätte sich gern das Stück seines Herzens abgeschnitten, das so unmäßig immer noch seinen Anteil an dem raschen Leben der Jugend forderte. Wie er sich selber haßte!

So reizvoll war seine Frau, so selbstverständlich. Sie war immer noch jung und unerfahren, hatte noch immer etwas von ihrer Mädchenblüte. Aber von Kampf, von Streit, von Zwang wollte sie nichts mehr wissen, wie er in seiner Unmäßigkeit. Sie war so natürlich, und er so häßlich, so unnatürlich in seiner Unfähigkeit Platz zu machen. Wie ekelhaft, dies gierige Mittelalter, das dem Leben im Wege stand wie ein übler Teufel.

Was fehlte ihm denn in seinem Leben, daß er in seiner heißhungrigen Seele noch nicht zufrieden war? Auf der Schule hatte er einen Freund gehabt, dann seine Mutter, seine Frau, und Anna? Und was hatte er getan? Seinem Freund war er nicht genug, seiner Mutter ein schlechter Sohn gewesen; aber durch seine Frau hatte er Befriedigung kennen gelernt, das hätte ihm doch genügen müssen; es ekelte ihn vor sich selbst wegen des Zustandes, in dem er sich um Anna befand. Und doch war er nicht zufrieden. Dies Bewußtsein quälte ihn tödlich.

War sein Leben denn gar nichts? Hatte er denn nichts aufzuweisen, keinerlei Verdienst? Seine Arbeit zählte er nicht mit, die hätte jeder verrichten können. Worauf hatte er sich denn verstanden außer auf das lange, eheliche Verwebtsein mit seiner Frau? Sonderbar, daß dies alles war, worauf sein Leben hinauslief. Jedenfalls war es aber etwas, es war ewig. So würde er jedem antworten und stolz dabei sein. Da lag er mit seiner Frau im Arm, und sie war ihm immer noch die Erfüllung, genau so wie ehemals. Und das war das Lange und Breite davon. Und er fühlte sich stolz darauf, jawohl!

Aber dann die Bitterkeit im Untergrunde, daß doch immer noch der unzufriedene Tom Brangwen da war, der Todesqualen litt, weil ein Mädchen sich nichts aus ihm machte. Er liebte seine Söhne – die hatte er ja auch noch. Aber es war das Leben im weiteren Sinne, im schöpferischen, mit dem Mädchen, wonach es ihn auch verlangte. O, und wie er sich schämte! Er hätte sich in den Boden hineintrampeln mögen.

O diese Müdigkeit! Kein Friede, so alt man auch wurde. Nie hatte man recht, nie wurde man anständig, nie Herr seiner selbst. Es war, als hätte auf dem Mädchen seine ganze Hoffnung geruht.

Anna sank bald wieder in ihre Liebe für den Jungen zurück. Will Brangwen hatte die Hochzeit auf den Sonnabend vor Weihnachten festgesetzt. Und bis dahin wartete er auf sie in seiner keine Frage zulassenden, hellen Weise. Er wollte sie haben, sie gehörte ihm, er hielt sein ganzes Wesen in der Schwebe, bis der Tag herankäme. Der Hochzeitstag, der dreiundzwanzigste Dezember, war für ihn zu etwas Unabänderlichem geworden. In ihm lebte er.

Er zählte die Tage nicht. Aber wie ein Mann, der eine Reise zu Schiffe macht, hing er in der Schwebe, bis er den Hafen erreichte.

Er arbeitete an seiner Schnitzerei, er arbeitete in seinem Geschäft, er kam um sie zu sehen; alles aber nur als eine Form des Wartens, ohne zu denken oder zu fragen.

Sie war viel lebendiger. Sie wollte die Freuden der Verlobungszeit genießen. Er schien ihr zu kommen und zu gehen wie der Wind, ohne zu fragen warum oder wohin. Aber sie wollte sich an seiner Gegenwart erfreuen. Für sie war er der Kern des Lebens, ihn anzurühren war ihr Seligkeit. Aber für ihn war sie der Inbegriff alles Lebens. Sie war für ihn gegenwärtig ebensogut wenn er in seiner Wohnung in Ilkeston an seiner Schnitzerei arbeitete, als wenn sie in der Marschenküche saß und ihn ansah. Er kannte sie in sich selber. Aber die Tätigkeit seiner äußeren Sinne schien aufgehoben. Er sah sie nicht mit seinen Augen, wie er sie auch nicht mit seinen Ohren hörte.

Und doch zitterte er manchmal bis zu einer Art Ohnmacht, wenn er sie in den Armen hielt. Sie standen wohl mal zusammen in der Scheune, umschlungen, stumm. Für sie war dann die Seligkeit, wenn sie seinen jungen straffen Körper mit ihren Fingern fühlte, unerträglich, unerträglich die Empfindung, daß sie ihn besitze. Denn sein Körper war so scharf, so wundervoll, er war für sie das einzig Wirkliche auf der Welt. In ihrer Welt gab es nur diesen einen straffen, lebensvollen Manneskörper, und dann noch viele schattenhafte Männer, alle unwirklich. In ihm berührte sie den Mittelpunkt der Wirklichkeit. Und sie waren zusammen, er und sie, im Herzen des Geheimnisses. Wie sie ihn an sich zog, war sein Körper der eine Körper des Lebens. Aus dem Felsen seiner Gestalt flutete für sie die Quelle alles Lebens.

Aber für ihn bildete sie eine Flamme, die ihn verzehrte. Die Flamme züngelte an seinen Gliedern hoch, durchflutete ihn, bis er ganz verzehrt war, bis er nur noch ein unbewußtes, dunkles Flammenwesen war, das aus ihr herrührte.

Zuweilen hustete eine Kuh in der Dunkelheit. In der Dunkelheit ertönte das langsame Geräusch von einer wiederkäuenden Kuh. Und all das schien um sie herum- und auf sie einzufluten wie das heiße, den Weibesschoß durchströmende Blut, das das ungeborene Junge nährt.

Zuweilen, wenn es kalt war, standen sie in ihrer Verliebtheit im Stalle, wo die Luft warm und scharf von Ammoniak war. Und in diesen dunklen Wochen lernte er sie kennen, ihren Leib an sich gepreßt, sie drängten sich fester und fester aneinander, ihre Küsse wurden immer enger schließend. So daß sie, wenn in der Dunkelheit plötzlich ein Pferd mit dumpfem, donnerähnlichem Geräusch auf die Füße sprang, wie ein einziges Wesen lauschten, sie faßten es wie ein Leib auf, dies Pferd.

Tom Brangwen hatte für sie in Cossethay ein Häuschen auf einundzwanzig Jahre gemietet. Will Brangwens Augen wurden hell, als er es sah. Es war das Häuschen neben der Kirche, mit dunklen Eibenbäumen, sehr dunklen, alten Bäumen am Hause und an dem Rasen des Vorgartens entlang; ein rotes, viereckiges Häuschen mit niedrigem Schieferdach und niedrigen Fenstern. Es besaß eine lange Milchkammer, eine große, fliesenbelegte Küche und ein niedriges Wohnzimmer, das eine Stufe höher lag als die Küche. Weißgekalkte Balken liefen unter der Decke hin, und in einigen Ecken standen sonderbare Wandbörte. Wenn man aus dem Fenster sah, war da der Grasgarten mit der langen Reihe Eibenbäumen an der einen Seite, und an der andern eine rote Mauer mit Efeu, die das Ganze gegen die Landstraße und den Kirchhof abschloß. Die kleine, alte Kirche mit ihrem winzigen Helm auf dem dicken, viereckigen Turm schien ihnen in die Fenster hinein zu sehen.

»'ne Uhr werden wir da nicht brauchen«, sagte Will Brangwen mit einem Blick auf das weiße Zifferblatt am Turme, seinem Nachbarn.

Auf der Rückseite des Hauses reichte ein zweiter Garten bis an die Pferdeweide, ferner war da ein Kuhstall mit Ständen für zwei Kühe, Schweinestall und ein Hühnerstall. Will Brangwen war sehr glücklich. Anna freute sich beim Gedanken daran, daß sie Herrin eines eigenen Hauses sein sollte.

Tom Brangwen spielte nun die gute Fee im Märchen. Er fühlte sich nicht glücklich, wenn er nicht etwas kaufen konnte. Will Brangwen mit seinem Verständnis für alles Holzwerk kaufte die Möbel. Es blieb ihm überlassen, Tische und Stühle mit runden Stäben und Kommoden zu kaufen, nichts Besonderes, aber wie es zu dem Häuschen paßte.

Tom Brangwen machte mit besonderer Gedankenschärfe allerlei ausfindig, was, wie er meinte, ihr zu Passe kommen würde. Er erschien mit einem Satz neuerfundener Bratpfannen, mit einer besonderen Art Hängelampe, obwohl die Zimmer schon niedrig genug waren, mit ganz merkwürdigen kleinen Vorrichtungen zum Fleischhacken oder Kartoffelbrei- oder Eierschneemachen.

Anna nahm regen Anteil an allem, was er kaufte, obgleich es ihr nicht immer gefiel. Einzelne seiner kleinen Einkäufe, die ihm so gerissen vorkamen, versetzten sie in Zweifel. Trotzdem war sie immer in Erwartung, an Markttagen war sie stets lange in zitternder Vorfreude. Sowie es anfing dunkel zu werden, kam er, die Kupferlampen seines Wagens glühten. Dann rannte sie an die Gartentür, während er, eine dicke, dunkle Gestalt hoch oben auf dem Wagen, sich über seine Packen beugte.

»Bloß dein Leckermaul bringt dich so rasch nach draußen«, sagte er und seine Stimme hallte in der kalten Dunkelheit wider. Trotzdem war er voller Aufregung. Und dann nahm sie eine der Wagenlampen und stöberte suchend in dem Wirrwarr seiner Mitbringsel herum, wobei sie das Öl oder was er an Werkzeug für sich selbst mitgebracht hatte, zur Seite schob.

Sie zog ein paar starker kleiner Bälge hervor, brachte sie rasch in ihrem Gedächtnis unter und zupfte dann unsicher an irgend etwas anderm herum. Es hatte einen langen Griff, und um die Mitte ein mächtiges Stück braunes Packpapier, wie eine Weste.

»Was ist denn dies?« fragte sie.

Er hielt inne und sah sie an. Sie trat in das Lampenlicht neben das Pferd und stand da über das neue Ding gebeugt, während ihr Haar wie Bronze glänzte und ihre Schürze so weiß und frisch aussah. Geschäftig pflückten ihre Finger an dem Papier herum. Sie zog eine kleine Wringmaschine hervor, mit sauberen Gummirollen. Prüfend sah sie sie an und wußte nicht recht, wie sie gebraucht würde.

»Wie geht das?« fragte sie.

»Wieso, das is 'ne Rübenpresse«, erwiderte er.

Sie sah ihn an. Seine Stimme beunruhigte sie.

»Sei doch nicht so albern. Eine kleine Mangel ist es«, sagte sie. »Wie macht man sie aber fest?«

»Mußt sie an die Seite von deinem Waschtubben anschrauben.« Er kam und zeigte ihr, wie.

»O ja!« rief sie mit einer jener kleinen flitzenden Bewegungen, die immer noch wieder durchkamen, wenn sie sich plötzlich freute.

Und ohne jeden weiteren Gedanken lief sie weg ins Haus und ließ ihn allein das Pferd abschirren. Als er in die Aufwaschküche kam, fand er sie hier und die kleine Mangel an dem kleinsten Waschtubben befestigt; sie drehte glückselig den Handgriff, und Tilly stand neben ihr und rief:

»O jemine! is dat 'n nüdlichet lüttjet Dings! Nu brukst du di nich mehr dat Ingedömels ut'n Liwe dreihen! Dat is woll dat Allerniegste, dat dor!«

Und Anna drehte den Handgriff im höchsten Glücke ihres Besitzes. Dann ließ sie Tilly auch mal dran.

»Dat geiht jo grode as von sülben«, sagte Tilly und drehte und drehte. »Din Tüg ward jo man liekerweg up de Linen fleegen.«


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