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Erstes Kapitel.
Wie Tom Brangwen eine polnische Dame heiratete

I

Manche Geschlechter der Brangwens schon hatten auf dem Marschenhofe gelebt, auf den Wiesen, wo der Erewash sich träge durch Ellernbüsche windet, ein Grenzstrich zwischen Derbyshire und Nottinghamshire. Zwei Meilen weiter auf einem Hügel stand ein Kirchturm, zu dem die Häuser der kleinen Landstadt scheinbar eilig hinaufkletterten. Hob einer der Brangwens auf dem Felde den Kopf von seiner Arbeit, so sah er den Kirchturm von Ilkeston gegen den leeren Himmel stehen. Daher blieb ihm, wenn er sich der ebenen Erde wieder zuwandte, das Gefühl von etwas über ihm und weit, weit weg Stehendem.

Der Blick in den Augen der Brangwens war voller Erwartung, voller Sehnsucht nach dem Unbekannten. Sie sahen aus, als wären sie gefaßt auf alles, was da kommen möchte, sicher, erwartungsvoll, wie geborene Besitzer.

Sie waren frische, hellhaarige, schwerfällig redende Leute, die sich vollständig, aber langsam zu erkennen gaben, so daß man in ihren Augen jede Übergangsstufe vom Lachen zum Zorn, von lichtblauem Lachen zu hartem, blitzblauem Zorn, beobachten konnte, durch alle Schwankungen des Himmels bei unbeständigem Wetter.

Dadurch daß sie auf fettem Boden, auf eigener Scholle saßen, dicht bei einer emporblühenden Stadt, hatten sie vergessen, was es heißt, in knappen Verhältnissen zu leben. Reich waren sie nie geworden, weil immer Kinder da waren und das Erbe jedesmal geteilt werden mußte. Aber stets herrschte auf dem Marschenhofe reichliche Fülle.

So kamen und gingen die Brangwens ohne Furcht vor Not, harte Arbeiter aus innerem Lebensdrange, nicht aus Geldmangel. Sie waren aber auch nicht verschwenderisch, über den letzten halben Groschen gaben sie sich Rechenschaft, und ihre Anlage ließ sie keine Apfelschale umkommen, denn sie konnte ja noch zum Viehfutter dienen. Aber Himmel und Erde rund um sie her waren so fruchtbar, und wie sollte das je anders werden? Sie fühlten, wie der Saft im Frühling emporquoll, sie kannten die unaufhaltsame Welle, die jedes Jahr allen Samen zur Zeugung vorwärtstreibt und zurückflutend das Neugeborene auf Erden zurückläßt. Sie kannten die Wechselbeziehungen zwischen Himmel und Erde, wußten, wie diese den Sonnenschein in Brust und Eingeweide einsaugt, wie sie tagsüber den Regen einschlürft, kannten die Nacktheit, die mit den Herbstwinden kommt und alle Vogelnester den Blicken preisgibt, da sie nun keinen [Grimms WB: "bei Adelung nur als m. bezeugt" *E*] Versteck mehr brauchen. Ihr Leben und seine Wechselbeziehungen waren derart: sie fühlten den Puls und den Leib der Erde, die sich in ihren Furchen dem Saatkorn öffnet und unter ihrem Pfluge wieder glatt und eben wurde, die sich mit einem Gewicht an ihre Füße hängte als sehnte sie sich nach ihnen, und hart und unzugänglich dalag, wenn das Korn reif zum Schneiden war. Das junge Korn wogte in seidigem Glanz, der über die Glieder der Männer hinglitt wenn sie es sich ansahen. Sie nahmen das Euter ihrer Kühe, die Kühe gaben Milch und ihr Pulsschlag teilte sich den Händen der Männer mit, der Puls des Blutes in den Zitzen der Kühe ging in den Pulsschlag in der Menschenhand über. Sie stiegen zu Pferde und hielten Leben in der Umklammerung ihrer Knie, sie schirrten ihre Pferde vor den Wagen und lenkten mit der Hand am Zügelring die Zugkraft der Pferde nach ihrem Willen.

Im Herbste schwirrten Rebhühner empor, Vogelschwärme sausten wie ein Sprühregen über das Brachfeld, Krähen erschienen am grauen, wässerigen Himmel und flogen krächzend dem Winter entgegen. Dann saßen die Männer zu Hause am Feuer, wo die Frauen sich voller Sicherheit umherbewegten, und Leib und Seele der Männer waren erfüllt von ihrem Tagewerk, von Vieh und Boden und Pflanzenwuchs und Himmel; sie saßen am Feuer und ihr Denken ruhte, während das Blut müde von der Tageslast durch ihre Adern floß.

Die Frauen waren anders. Auch über ihnen lag eine gewisse Schwerfälligkeit infolge der Beziehungen des Blutes zu saugenden Kälbern und den Scharen umherlaufender Hühner und unruhig flügelschlagender junger Gänse, die unter ihren Händen zitterten, wenn sie ihnen das Futter in die Kehle stopften. Aber die Frauen blickten über das aufgeregte, blinde Hofleben hinweg nach der redenden Welt in der Ferne aus. Sie fühlten, wie Lippen und Sinne der Welt sprachen und Gedanken äußerten, hörten ihren Klang in der Ferne und horchten aufmerksam auf ihn.

Den Männern genügte es, daß die Erde strotzte und ihnen ihre Furchen öffnete, daß der Wind wehte, den feuchten Weizen zu trocknen und die jungen Kornähren sausend im Kreise herumzutreiben; es war genug, wenn sie der Kuh in ihren Wehen beistanden oder die Ratten unter der Tenne wegfingen, oder mit einem scharfen Handschlag einem Kaninchen das Genick brachen. Sie fühlten in ihrem Blute so viel Wärme und Zeugungskraft und Schmerz und Tod, kamen mit diesem in so vielerlei Beziehungen, daß ihr Leben voll und übervoll davon war, ihre Sinne volle Nahrung in ihnen fanden und ihre Gesichter sich dauernd der Hitze des Blutes zuwandten, in die Sonne starrend, betäubt von dem Blick auf die Quellen des Lebens und unfähig, sich von ihnen abzuwenden.

Die Frau aber sehnte sich nach anderer Lebensart; nach etwas über diese Beziehungen des Blutes Hinausgehendem. Ihr Teil des Hauses war von den Hofgebäuden und den Feldern abgekehrt, er überblickte den Weg und die Stadt mit der Kirche und dem Amtshaus und dem was dahinter lag. Sie stand und wünschte die ferne, ferne Welt der Städte zu sehen, mit der Regierung und dem weiten Tätigkeitsfelde der Menschen, einem Zauberlande für sie, in dem alle Geheimnisse gelöst und alle Wünsche erfüllt wurden. Sie blickte nach außerhalb, wo die Männer sich als Herrscher und Schöpfer bewegten, dem heißen Pulsschlag der Zeugung den Rücken kehrten und mit ihr als Rückhalt auf Entdeckung des Jenseits ausgingen, um die eigene Wirksamkeit, ihr Gesichtsfeld, ihre Freiheit zu erweitern; die Brangwen-Männer dagegen blickten nach innen, in das schwellende Leben der Mutter Natur, das sich unverwässert durch ihre Adern ergoß.

Wie sie so notwendigerweise von der Vorderseite ihres Hauses auf die Tätigkeit der Menschen in der großen Welt hinausblickte, während ihr Mann von der Hinterseite aus nach Himmel und Ernte und Vieh und Land aussah, blickte sie angestrengt nach dem, was die Menschen da draußen in ihrem Kampfe ums Wissen vollbrachten; sie horchte scharf auf die Ergebnisse ihrer Eroberungsfahrten; ihre tiefste Sehnsucht hing an diesem Kampf, dessen Toben sie in weiter Ferne, an der Grenze des Unbekannten, vernahm. Sie auch wollte wissen und zum kämpfenden Heere gehören.

In ihrer Heimat, ja ihr ganz nahe, in Cossethay saß der Vikar, der jene andere, jene Zaubersprache verstand und sich so ganz anders, so viel feiner benahm, was sie beides zwar wohl bemerken, sich aber doch nicht angewöhnen konnte. Der Vikar bewegte sich in einer anderen Welt als der, in der ihr Mannsvolk lebte. Kannte sie ihr Mannsvolk etwa nicht: frische, langsame, muskelstrotzende Kerls, herrisch genug wohl, aber auch wieder leichtsinnig, Erdgeborene, denen es an Äußerem, an Bewegungsfreiheit fehlte. Der Vikar dagegen, dunkel und welk und klein neben ihrem Gatten, hatte etwas Rasches, etwas Zielbewußtes in seinem Wesen, das Brangwen mit seiner breiten Fröhlichkeit stumpf und bäurisch erscheinen ließ. In des Vikars Wesen lag aber noch etwas anderes, was über ihr Verständnis hinausging. Wie Brangwen über sein Vieh herrschte, so herrschte der Vikar über ihren Gatten. Was hatte der Vikar denn nur an sich, das ihn so hoch über den gemeinen Mann erhob wie den Menschen über das Vieh? Das hätte sie zu gern gewußt. Sehnlichst gern hätte sie dies höhere Wesen erlangt, wenn auch nicht mehr für sich selbst, so doch für ihre Kinder. Was den Menschen so stark macht, wenn er auch klein und körperschwach ist, just so wie neben einem Bullen jeder Mann klein und schwach dasteht und doch stärker ist als der Bulle, was war das nur? Geld, oder Einfluß, oder Stellung waren es nicht. Welchen Einfluß hatte denn der Vikar wohl auf Tom Brangwen –, gar keinen! Aber zog man beiden die Kleider aus und setzte sie auf einer öden Insel aus, dann war der Vikar der Herr. Sein Geist war Herr über den des anderen. Und warum? – warum? Sie kam zu dem Schlusse, das müsse an seinen Kenntnissen liegen.

Der Kurat war zwar recht ärmlich und als Mann auch nicht weit her, und doch stand er auf derselben Stufe mit jenen anderen, den Oberen. Sie paßte auf, als seine Kinder zur Welt kamen, sah sie als winzige Wesen neben ihrer Mutter herlaufen. Und sofort waren sie ganz ausgesprochen anders als ihre eigenen. Warum trugen ihre Kinder ein Mal, das sie jenen unterordnete? Warum gingen die Kinder des Kuraten unweigerlich den ihren vor, warum war ihnen von Anbeginn an Obmacht gegeben? Geld war es nicht, auch der Stand nicht. Es war Erziehung und Erfahrung, sicherlich.

Das war's, diese Erziehung, diese höhere Lebensart, die die Mutter ihren Kindern zu geben wünschte, so daß auch sie auf Erden ein Leben wie die Oberen führen könnten. Denn ihre Kinder, wenigstens die Kinder ihres Herzens, besaßen vollkommen die Anlagen, um als Ebenbürtige mit allen wirklich Lebenden im Lande zu teilen, und nicht im Dunkel unter Arbeitsleuten zu verschwinden. Warum sollten sie ihr ganzes Leben unbekannt nach Atem ringen, warum sollten sie unter Mangel an Bewegungsfreiheit leiden? Wie konnten sie Zutritt zu den feineren, lebensvolleren Kreisen des Daseins erlangen?

Ihre Einbildungskraft wurde durch die Frau des Gutsbesitzers auf Shelly Hall angefeuert, die mit ihren Kindern in Cossethay zur Kirche ging, kleinen Mädchen in glatten Biberumhängen und hübschen kleinen Hüten; die Frau selbst wie eine Christrose so hell und zierlich. Und doch, ob noch so weiß, so feingliedrig, so strahlend, welche Empfindungen konnte Mrs. Hardy hegen, die sie, Mrs. Brangwen, nicht auch besaß? Inwiefern unterschied sich Mrs. Hardys Veranlagung von der der gewöhnlichen Frauen in Cossethay, worin war sie ihnen überlegen? Alle Frauen von Cossethay redeten eifrig über Mrs. Hardy, über ihren Mann, ihre Kinder, ihre Gäste, ihre Kleider, ihre Dienstboten und ihren Haushalt. Die Herrin von Shelly Hall war der lebendige Traum ihres Lebens, Mrs. Hardys Dasein das Heldengedicht, das dem ihren Seele verlieh. Ihre Einbildungskraft lebte gänzlich in dieser Frau und dem Klatsch über ihren Gatten, der trank, ihren schändlichen Bruder, ihren Freund Lord Bentley, den Parlamentsabgeordneten des Bezirks; eine ganze Odyssee spielte sich vor ihren Blicken ab, sie sahen Penelope und Odysseus mit Circe und den Schweinen und dem nicht zu Ende kommenden Gewebe vor sich.

Also waren die Frauen des Ortes ganz glücklich. Sie erblickten sich selbst in der Herrin des Gutshauses, jede erlebte ihre eigene Erfüllung in Mrs. Hardy. Und die Brangwen-Frau in der Marsch wollte über sich selbst hinaus, verlangte mehr nach dem ihr ferner liegenden Leben der feinen Dame, nach dem ausgedehnten Gesichtskreise, den sie zu erkennen gab, wie ein Reisender seinem Inneren vorschwebende ferne Gegenden durch sein beherrschtes Wesen kundgibt. Warum aber sollte die Kenntnis ferner Gegenden ein Menschenleben zu etwas anderem machen, etwas Schönerem, Größerem? Und warum ist der Mensch mehr als jedes Tier, als das Vieh, das ihm dient? Es ist hier wie dort ganz dasselbe.

Die männlichen Rollen des Heldengedichtes wurden von Leuten wie Lord William und dem Vikar gespielt, mageren, scharfen Leuten mit seltsamen Bewegungen, Männern, die auf ferner gelegenen Gefilden den Befehl führten, deren Leben sich über einen weiten Umkreis erstreckte. Ach, das war noch etwas wonach man sich so heiß sehnen durfte, dies Wissen, die Berührung mit diesen wunderbaren Männern, die solche Macht im Denken und Verstehen besaßen! Die Frauen des Ortes hatten gewiß Tom Brangwen viel lieber und fühlten sich mit ihm viel wohler, und doch, wären der Vikar und Lord William ihrem Leben genommen worden, es wäre ihm damit die Tragrebe abgeschnitten gewesen, sie hätten sich schwer, ohne geistigen Inhalt gefühlt, wären dem Haß anheim gefallen. Solange dies Wunder aus dem Jenseits vor ihnen stand, konnten sie weiterkommen, mochte ihr Los sein, wie es wollte. Und Mrs. Hardy und der Vikar und Lord William, sie alle bewegten sich ja in jenem Wunderland und blieben bei all ihrem Tun den Augen von Cossethay sichtbar.

 

II

Um das Jahr 1840 wurde eine Wasserstraße durch die Wiesen des Marschenhofes gelegt, um einige neuerschlossene Kohlengruben mit dem Erewash-Tale zu verbinden. Ein hoher Damm durchlief die Felder und trug den Wasserweg, der dicht am Wohngebäude vorbeiging und beim Zusammentreffen mit der Landstraße diese auf einer schweren Brücke überschritt.

Damit war die Marsch von Ilkeston abgeschnitten und auf den kleinen Talboden beschränkt, der in dem buschigen Hügel mit dem Kirchturm von Cossethay seinen Abschluß fand.

Die Brangwens bekamen eine hübsche Summe Geld für diesen Eingriff in ihren Besitz. Kurze Zeit später wurde dann ein Kohlenschacht auf der anderen Seite des Wasserweges niedergetrieben, und wieder nach einer Weile kam die Midlandbahn am Fuße des Hügels von Ilkeston das Tal herab, und damit war die Überflutung vollkommen. Die Stadt wuchs rasch heran, die Brangwens hatten mit der Beschaffung von Vorräten alle Hände voll zu tun, immer wohlhabender wurden sie, wurden beinahe zu Handelsleuten.

Trotzdem verblieb der Marsch ihre Abgelegenheit und Eigenart auf der unverändert ruhigen Seite des Dammes, in dem sonnigen Tale, wo sich das Wasser träge zwischen steifen Ellerbüschen einherwand und der Weg unter Eschenbäumen an Brangwens Gartentür vorüberlief.

Sah man aber von der Gartentür den Weg hinab nach rechts, durch die dunkle viereckige Öffnung der Dammunterführung hindurch, so stand dort, nahebei, das neue Kohlenbergwerk in vollem Betriebe; weiter weg bedeckte ein dichter Schwarm roter, roher Häuser das Tal, und noch ferner, jenseits alles dessen lag schattenhaft der rauchende Hügel der Stadt.

Das Anwesen befand sich grade noch auf der ruhigen Seite der Gesittung, außerhalb des Tores. Das Wohnhaus stand etwas von der Straße ab, ein Gartenpfad, an dem im Frühling die Narzissen in dicken gelben und weißen Haufen blühten, führte schnurgrade darauf zu. Neben dem Hause standen Fliederbüsche und Schneeball und Liguster und verdeckten die Hofgebäude vollständig.

Auf der Rückseite schloß sich ein Wirrsal von Schuppen, die zwei oder drei undeutlich erkennbare Höfe bildeten, zu einem Gehöft zusammen. Der Ententeich lag jenseits der äußersten Umzäunung und streute seine weißen Federn über die festgetretene Einfassung hin, während einzelne lose schmutzige Federn über das Gras und zu den Ginsterbüschen an der Dammböschung hinanflogen, die sich dicht daneben wie ein hoher Wall erhob, auf dem gelegentlich die Gestalt eines Mannes oder ein Mann mit einem Zugpferde wie ein Schattenriß gegen den Himmel daherzog.

Zuerst staunten die Brangwens über all dies Leben um sie her. Der Bau der Wasserstraße quer über ihr Land machte sie zu Fremdlingen auf der eigenen Scholle; der rohe Erdwall, der sie von der Umwelt ausschloß, beunruhigte sie. Wenn sie auf dem Felde arbeiteten, flog von dem ihnen allmählich ganz vertraut gewordenen Damme her das genau abgemessene Geräusch der Windevorrichtungen herüber, zuerst beunruhigend, später aber rein wie ein Schlummerlied. Dann wieder hallte das schrille Pfeifen eines Zuges ihnen durchs Herz, ein freudiger Schreck, der das Herankommen des Weit-Abgelegenen in unmittelbare Nähe verkündete. Fuhren sie aus der Stadt nach Hause, so stießen sie, die Landleute, auf kohlengeschwärzte Bergleute, die vom Schachteingang heimwärts zogen. Brachten sie die Ernte ein, so führte der Westwind ihnen einen schwachen Schwefelgeruch von den brennenden Schutthalden zu. Zogen sie im November Rüben aus, so machte das scharfe Klick-klick-klick-klick der leeren, auf ein Nebengleis laufenden Kohlenwagen ihre Herzen in der Erkenntnis erzittern, es gäbe außer ihrem eigenen Tätigkeitsfelde auch noch ein anderes.

Der Alfred Brangwen dieses Zeitabschnittes hatte ein Mädchen aus Heanor zur Frau genommen, eine Tochter aus dem »Schwarzen Roß«. Sie war ein zierliches, hübsches dunkles Frauenzimmer, sonderbar in ihren Redensarten, witzig, so daß die scharfen Dinge, die sie sagte, nicht wehtaten. Sie führte ein merkwürdiges Sonderdasein, war in ihrem Benehmen fast quengelig, stand aber innerlich allem fern und gleichgültig gegenüber, weswegen ihre langen, jammervollen Klagen, erhob sie die Stimme gegen ihren Gatten im besonderen und alle übrigen außer ihm, eigentlich die Zuhörer nur mit Verwunderung und Mitleid gegen sie erfüllten, selbst wenn sie sich durch sie gereizt fühlten und die Geduld mit ihr verloren. Ausdauernd und laut zog sie über ihren Mann her, aber stets in gleichmäßigem, leichtem Tonfall und in einer merkwürdigen Ausdrucksweise, die ihn innerlich mit Stolz und männlichem Siegergefühl erfüllte, während er doch bitterlich murrte über das, was sie sagte.

Infolgedessen bekam Brangwen selber ein listiges Zwinkern um die Augenwinkel, eine Art fettigen Lachens, sehr ruhig und voll, und er wurde verwöhnt wie der Herr der Schöpfung selbst. Er tat ruhig alles was er wollte, lachte über ihr Schelten, brachte seine Entschuldigungen in einem neckenden Ton vor, den sie zu gern mochte, folgte all seinen inneren Neigungen, und wenn ihm etwas gar zu nahe ging, erschreckte und duckte er sie zuweilen durch einen tiefen, schweren Wutausbruch, der sich tagelang in ihm festzusetzen und auf ihm zu lasten schien, so daß sie alles drum gegeben hätte, ihn zu besänftigen. Sie waren zwei grundverschiedene Wesen, auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden; sie wußten nichts voneinander, und doch gingen ihre getrennten Wege von einer gemeinsamen Wurzel aus.

Vier Söhne und zwei Töchter waren da. Der älteste Junge lief früh davon, ging zur See und kam nicht wieder. Nach diesem Ereignis wurde die Mutter noch mehr als früher zum Hauptschwingungsknoten und Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit im Hause. Der zweite Sohn, Alfred, den die Mutter am höchsten schätzte, war der zurückhaltendste. Er wurde nach Ilkeston auf die Schule geschickt und machte zunächst auch einige Fortschritte. Aber trotz all seiner verbissenen, schmerzlichen Bemühungen gelangte er doch nicht über die einfachsten Grundlagen der Dinge hinaus, ausgenommen im Zeichnen. Hierin, wofür er gewisse Anlagen besaß, arbeitete er, als wäre es seine einzige Hoffnung. Nach vielem Murren und wütendem Widerstand gegen alles und jedes und vielerlei unsicherem Hin- und Hertasten, als sein Vater schon voll heißen Zornes gegen ihn war und seine Mutter fast an ihm verzweifelte, wurde er Zeichner in einer Spitzenweberei in Nottingham.

Er blieb schwerfällig und etwas grobschlächtig, sprach mit breitem Derbyshire-Tonfall, und hing mit seiner ganzen Zähigkeit an seinem Berufe und seiner Stellung in der Stadt, machte auch gute Zeichnungen und brachte es zu leidlichem Wohlstande. Beim Zeichnen schwang seine Hand sich wie von selbst in kühnen, großen Zügen, etwas reichlich ungezwungen, so daß es ihm grausam hart ankam an seinen Spitzenentwürfen herumzupüttchern, streng in den kleinen Vierecken auf dem Papier zu bleiben, zu zählen und zu grübeln und herumzustricheln. Aber hartnäckig, voller Seelenqualen, blieb er dabei, quetschte sich die Eingeweide im Leibe zusammen und verbiß sich in sein selbstgewähltes Los, koste es was wolle. Und so fügte er sich steif und gesetzt ins Leben, ein wenig sprechender, etwas sauertöpfischer Mensch.

Er heiratete die Tochter eines Drogenhändlers, der sich eine etwas höhere gesellschaftliche Stellung angequält hatte, und wurde in seiner verbissenen Art so etwas wie ein Bildungsprotz mit einer Leidenschaft für alle äußerlichen Feinheiten im Haushalt; er konnte rein wahnsinnig werden, ging irgend etwas schief oder wurde gar etwas verbummelt. Später, als seine drei Kinder herangewachsen waren und er selbst scheinbar ein besonnener Mann in mittleren Jahren war, fing er an hinter fremden Frauenzimmern herzulaufen und wurde zu einem schweigsamen, undurchdringlichen Liebhaber verbotener Genüsse, der seine hierüber verschnupfte Biederfrau ohne die leisesten Gewissensbisse links liegen ließ.

Frank, der dritte Sohn, verweigerte von Anfang an jede Beschäftigung mit Lernkram. Von Anbeginn an trieb er sich mit Vorliebe beim Schlachthause herum, das seitab auf dem dritten Hofe ganz hinten in dem Anwesen stand. Die Brangwens hatten immer selbst geschlachtet und versorgten auch die Nachbarschaft. Hieraus entwickelte sich ein richtiges Schlachtergeschäft in Verbindung mit dem Hofe.

Schon als Kind war Frank von dem dunklen, über das Pflaster sickernden Blut nach dem Leutehof gezogen worden, oder durch den Anblick eines Mannes, der ein mächtiges halbes Rind mit den frei daliegenden, in schwere Fettpolster gebetteten Nieren nach dem Fleischhaus schleppte.

Er war ein hübscher Junge mit weichem, braunem Haar und regelmäßigen Gesichtszügen, ungefähr wie ein Jüngling der späteren Römerzeit. Er war leichter erregbar, ließ sich leichter hinreißen als die übrigen, ein weicheres Gemüt. Mit achtzehn Jahren heiratete er ein kleines Arbeitermädchen, ein blasses, pulliges, ruhiges Ding mit schlauen Augen und einschmeichelnder Stimme; sie verstand sich ihm unentbehrlich zu machen, bescherte ihm jedes Jahr ein Kind und zog ihn gründlich auf. Sobald er die Schlachterei übernommen hatte, ließ ihn eine wachsende Gleichgültigkeit, eine Art Verachtung seinen Beruf sofort vernachlässigen. Er fing an zu trinken und war häufig in seiner Kneipe anzutreffen wie er drauflos schwatzte, als verstünde er alles und jedes, während er in Wirklichkeit doch nur ein lauter Hansnarr war.

Von den Töchtern heiratete die älteste, Alice, einen Bergmann und führte in Ilkeston eine Zeitlang ein stürmisches Leben, ehe sie mit ihrer zahlreichen jungen Nachkommenschaft nach Yorkshire zog. Effie, die jüngere, blieb zu Hause.

Das letzte Kind, Tom, war beträchtlich jünger als seine Brüder, so daß er mehr mit seinen Schwestern zusammen gehörte. Er war seiner Mutter Liebling. Sie raffte sich zu einem Entschlusse auf und schickte ihn, als er zwölf Jahre alt war, mit Gewalt auf die Lateinschule nach Derby. Er empfand keine Lust dazu und sein Vater hätte ihm auch wohl nachgegeben, aber Frau Brangwen hatte nun mal ihr Herz drangesetzt. Ihr zierlicher, hübscher Leib in der eng anliegenden Jacke und den weiten Röcken war jetzt der Mittelpunkt aller Entschlüsse im Hause, und hatte sie sich einmal auf irgend etwas versteift, was nicht oft vorkam, so gab die ganze Gesellschaft ihr gegenüber nach.

Also bezog Tom die Schule, ein widerwilliger Versager von Anfang an. Zwar glaubte er, seine Mutter habe ganz recht, wenn sie ihn in die Schule schickte, aber er wußte auch, sie habe bloß darum recht, weil sie seine mangelhafte Veranlagung nicht zugeben wolle. Er wußte mit der tiefen, gefühlsmäßigen Voraussicht von Kindern für alles, was mit ihnen vorgehen wird, daß er auf der Schule doch nur einen armseligen Kerl spielen würde. Aber er nahm sein Geschick als unvermeidlich hin, als wäre er an seiner eigenen Veranlagung schuld, als wäre sein ganzes Wesen verkehrt und die Auffassung seiner Mutter richtig. Hätte er so sein können wie er gemocht hätte, so würde er grade das gewesen sein, was seine Mutter so gern, aber so irrtümlich in ihn hineinlegte. Dann wäre er klug gewesen und hätte alle Anlagen zu einem großen Herrn gezeigt. Das war es, was ihr Ehrgeiz mit ihm vorhatte, und deshalb wußte er, es wäre das Richtige für jeden ordentlichen Jungen. Aber aus einem Schweinsohr kannst du keine Seidenbörse machen, wie er seiner Mutter schon ganz früh mit Bezug auf sich selbst gesagt hatte; zu ihrem tiefen Ärger und Kummer.

Sobald er auf die Schule kam, begann er heftig gegen seine körperliche Unfähigkeit zum Lernen anzukämpfen. Verkniffen saß er da und machte sich ganz blaß und unansehnlich durch seine Anstrengungen, sich über einem Buche zu sammeln, das aufzufassen, was er grade zu lernen hatte. Aber es war umsonst. Wenn er auch den ersten Widerwillen niederkämpfte und wie ein Selbstmörder vor dem Zeugs dastand, er kam nur sehr wenig vorwärts. Es nutzte nichts, daß er sich fest vornahm, zu lernen. Sein Geist arbeitete einfach nicht.

Sein Gemüt dagegen entwickelte sich und wurde sehr empfindlich gegen den ihn umgebenden Dunstkreis; vielleicht war er roh, aber doch zugleich auch empfindsam, sehr empfindsam. Daher rührte die geringe Meinung seiner selbst. Er kannte seine Grenzen. Er wußte, sein Schädel sei ein schwerfälliger, hoffnungsloser Nichtsnutz. So wurde er bescheiden.

Zu gleicher Zeit aber machte er in seinem Gemütsleben doch viel mehr Unterschiede als die meisten anderen Jungens, und das verwirrte ihn. Er war sinnlicher veranlagt und besaß feinere Gefühle als sie. Er haßte sie wegen ihres triebmäßigen Stumpfsinns, litt wieder unter der Verachtung, die er für sie fühlen mußte. Handelte es sich aber um Verstandesangelegenheiten, dann war er im Hintertreffen. Da war er ganz in ihrer Hand. Er war ein Dummkopf. Er besaß nicht Verstand genug, um die dümmste Behauptung zu widerlegen, so daß er gezwungen mancherlei zugab, an das er ganz und gar nicht glaubte. Und hatte er es einmal zugegeben, so wußte er nicht, glaubte er dran oder nicht; gewöhnlich, gestand er sich, glaubte er daran.

Aber jeden, der ihm auf dem Wege über das Gemüt Erleuchtung verschaffen konnte, den liebte er. Er konnte seine Rührung nicht verbergen, als er dasaß und der Lehrer packend Tennysons »Ulysses« oder Shelleys »Ode an den Westwind« vorlas. Seine Lippen öffneten sich, seine Augen füllten sich mit einem sehnenden, beinahe leidenden Licht. Und der Lehrer las weiter, angefeuert durch seine Macht über den Jungen. Durch diese Erfahrung fühlte Tom Brangwen sich über alle Maßen bewegt, er bekam fast Angst vor ihr, so tief ging sie ihm. Als er aber beinahe heimlich und voller Scham versuchte, das Buch selbst vorzunehmen und die ersten Worte begann »O wilder Westwind, Atem du des Herbst«, da verursachte allein schon der Druck ihm ein kitzliges, widerwilliges Gefühl auf der Haut, das Blut trat ihm ins Gesicht und sein Herz füllte sich mit leidenschaftlicher, brennender Wut über seine Unfähigkeit. Er warf das Buch zu Boden, trampelte darauf herum und lief auf das Kricketfeld hinaus. Er haßte Bücher, als wären sie seine Feinde. Er haßte sie schlimmer, als er je einen Menschen gehaßt hatte.

Sein Wille besaß keine Gewalt über seine Aufmerksamkeit. Sein Geist kannte keine festen Gewohnheiten, an die er sich hätte halten können, er fand nichts, um sich daran zu halten, nichts, wovon er hätte ausgehen können. Nichts war ihm greifbar, in sich selbst wußte er nichts, das er fürs Lernen hätte verwenden können. Er wußte nicht, wie er anfangen sollte. Daher war er auch so hilflos, sowie es auf verstandesmäßige Überlegung oder Lernen durch Nachdenken ankam.

Für Mathematik besaß er ein gewisses gefühlsmäßiges Verständnis, ließ ihn dies aber im Stich, so war er hilflos wie ein Schwachsinniger. So merkte er, er werde nie festen Boden unter den Füßen fühlen, er schwamm im Nichts. Der endgültige Niederbruch erfolgte durch seine vollkommene Unfähigkeit, auf eine Frage einzugehen, ohne daß man ihm die Antwort in den Mund legte. Hatte er einen Aufsatz über das Heerwesen zu schreiben, so lernte er endlich die paar ihm bekannten Tatsachen auswendig niederschreiben: »Man kann ins Heer eintreten, sobald man achtzehn Jahre alt ist. Man muß über fünf Fuß acht Zoll groß sein.« Aber die ganze Zeit über fühlte er sich lebendig überzeugt, dies sei nur eine Ausflucht und all diese Binsenwahrheiten seien über alle Begriffe dumm. Dann wurde er rot vor Wut, fühlte wie ihm das Herz in die Hosen sank, strich alles durch, was er geschrieben hatte, machte einen todeskampfähnlichen Versuch, etwas im richtigen Aufsatzstil auszudenken, scheiterte auch daran, wurde vor Wut und Scham gänzlich stumpfsinnig, legte die Feder hin und hätte sich lieber in Stücke reißen lassen, als daß er nun noch ein einziges Wort zu schreiben versucht hätte.

Trotzdem gewöhnte er sich bald an die Lateinschule, und die Schule gewöhnte sich an ihn, indem sie ihn als hoffnungslosen Dämel beim Lernen einschätzte, aber in ihm andrerseits auch den anständigen, ehrlichen Burschen achtete. Nur ein engherziger, herrschsüchtiger Kerl, der Lateinlehrer, quälte ihn und füllte seine blauen Augen mit wahnsinniger Wut und Scham. Es kam zu einem scheußlichen Auftritt, wobei der Junge dem Lehrer mit einer Schiefertafel ein Loch in den Kopf schlug, und dann verlief alles wie vorher. Der Lehrer fand wenig Mitgefühl. Aber Brangwen krümmte sich innerlich und litt unter dem Gedanken an seine Tat, selbst lange nachher noch, als er schon ein Mann war.

Er war froh als er die Schule verlassen konnte. Es war ja zwar nicht ganz ohne Vergnügen gewesen, er hatte sich sehr an dem Zusammensein mit den anderen Jungens gefreut, oder hatte doch geglaubt, er fände Freude daran; die Zeit war rasch in endloser Geschäftigkeit vorübergegangen. Aber die ganze Zeit über hatte er das Gefühl gehabt, sich an diesem Orte der Gelehrsamkeit in unwürdiger Stellung zu befinden. Die ganze Zeit über war er sich seines Mißerfolges, seiner Unfähigkeit bewußt. Aber er war zu gesund, zu vollblütig, um darüber elend zu werden; er war viel zu lebendig. Und doch fühlte sich seine Seele jämmerlich bis zur Hoffnungslosigkeit.

Einen warmherzigen, klugen Jungen von etwas schwächlichem Körperbau, eine Art Schwindsüchtigen, hatte er sehr lieb gehabt. Die beiden verband eine gradezu vorbildliche Freundschaft, wie David und Jonathan, wobei Brangwen Jonathan, der Dienende, war. Aber er hatte sich seinem Freunde nie ebenbürtig gefühlt, weil des anderen Geist den seinigen rasch überflügelte und ihn beschämt weit hinter sich ließ. So kamen die beiden Jungens gleich nach Verlassen der Schule auseinander. Aber Brangwen erinnerte sich noch lange seines ehemaligen Freundes und bewahrte ihm ein Andenken als einer Art Lichterscheinung, einer schönen Lebenserfahrung.

Tom Brangwen war froh, als er wieder auf dem Hofe ankam, wo er sich ganz in seinem Fahrwasser fühlte. »Hab' ja doch nur 'nen Kohlkopf auf den Schultern, laßt mich man auf dem Felde bleiben«, sagte er zu seiner verzweifelten Mutter. Er hatte eine zu schlechte Meinung von sich selbst. Aber an seine Arbeit auf dem Hofe ging er voller Freude, vergnügt über das Herumwirtschaften und den Erdgeruch, voller Jugend und Kraft und guter Laune und mit gutem Mutterwitz, dabei auch willens und imstande, die eigenen Mängel zu vergessen; zuweilen war er wahnsinnigen Wutausbrüchen unterworfen, für gewöhnlich aber stand er auf bestem Fuße mit all und jedem.

Als er siebzehn Jahre alt war, fiel sein Vater von einem Heuschober und brach sich das Genick. Von da an lebten Mutter, Tochter und Sohn zusammen auf dem Hofe, gelegentlich mal durch laut jammernde, von Eifersucht eingegebene Besuche des Schlachters Frank aufgestört, der einen Groll gegen die ganze Welt gefaßt hatte, weil sie ihm stets weniger als seinen gebührenden Anteil zukommen ließ. Besonders gegen den jungen Tom war Frank eingenommen, den er ein verzogenes Kröt nannte, und Tom erwiderte diesen Haß voller Heftigkeit, sein Gesicht rötete sich und seine blauen Augen begannen starr zu werden. Effie schlug sich dann auf Toms Seite gegen Frank. Wenn aber Alfred aus Nottingham kam, mit dem dicken Unterkiefer und von unten auf schulend, einsilbig, aber seine Angehörigen mit einer gewissen Verachtung behandelnd, dann stellten Mutter und Effie sich auf seine Seite und schoben Tom in den Schatten. Es ärgerte den Jungen, daß die Weiber aus dem älteren Bruder eine Art Helden machten, bloß weil er nicht zu Hause lebte und so'n Spitzenzeichner und beinahe ein feiner Herr war. Aber Alfred war eine Art gefesselter Prometheus, so liebten die Weiber ihn. Später lernte Tom seinen Bruder besser verstehen.

Als jüngster Sohn fühlte Tom sich eine gewichtige Persönlichkeit, nun die Fürsorge für den Hof sich ihm auf die Schultern legte. Er war erst achtzehn Jahre alt, aber durchaus imstande, alles fertig zu bringen, was sein Vater getan hatte. Und selbstverständlich blieb die Mutter der Mittelpunkt des Hauses.

Er wuchs zu einem sehr frischen, gewandten jungen Manne heran, der eifrig jeden Augenblick seines Lebens wahrnahm. Er arbeitete und ritt und fuhr zu Markte, er ging mit seinen Gefährten aus, bekneipte sich gelegentlich auch mal und spielte Kegel und besuchte kleine Wanderbühnen. Einmal, als er sich in einem Wirtshause bezecht hatte, ging er mit einer Dirne nach oben und sie verführte ihn. Damals war er neunzehn.

Dies Ereignis brachte ihm eine Art Knacks bei. In der anheimelnden Vertrautheit der Küche des Hofes nahmen die Frauenzimmer die oberste Stellung ein. Im Hause ordneten die Männer sich ihnen unter, bei allen Haushaltsangelegenheiten, in allem, wo es sich um Sitte und Benehmen handelte. Die Frau war für sie das Wahrzeichen jenes höheren Lebens, das Glauben, Liebe und Sitte umfaßt. In ihre Hände legten die Männer ihr Gewissen, zu ihr sagten sie: »Sei du mein Gewissensbewahrer, sei du der Engel an meiner Schwelle, der über meinen Ausgang und Eingang wacht.« Und die Frau erfüllte die ihr anvertraute Aufgabe, bei ihr fanden die Männer unter allen Umständen Ruhe, sie nahmen ihr Lob oder ihren Tadel mit Vergnügen oder Ärger hin, wüteten wohl mal gegen sie und schnaubten, aber nie entzog ihre Seele sich auch nur einen Augenblick ihrer Oberherrschaft. Sie verließen sich auf sie hinsichtlich der eigenen Festigkeit. Ohne sie wären sie sich wie Strohhalme im Winde vorgekommen, der sie nach Belieben hier- oder dorthin blasen konnte. Sie war ihr Anker und ihre Sicherheit, sie die zügelnde Hand Gottes, die sie mitunter höchlichst verabscheuten.

Als nun Tom Brangwen mit seinen neunzehn Jahren, ein Junge frisch wie ein junger Baum, dessen Wurzeln ganz in seiner Mutter und Schwester lagen, als der nun fand, er habe in einem gewöhnlichen Wirtshause bei einer Dirne gelegen, da war er ganz fassungslos. Bis dahin hatte es für ihn nur eine Art Frauen gegeben – seine Mutter und Schwester.

Aber nun? Er wußte nicht, was er davon denken sollte. Eine leichte Verwunderung, eine Welle des Zornes, von Enttäuschung stieg in ihm auf, zunächst ein Geschmack wie von Asche und die kalte Furcht, dies wäre nun alles, was ihm bevorstände, seine Beziehungen zum Weibe würden zu nichts weiterem führen als zu dieser Nichtigkeit; dann auch ein leichtes Schamgefühl vor der Dirne, Angst, sie möchte ihn verachten wegen seiner Untauglichkeit; er empfand einen kalten Abscheu gegen sie und auch wieder Furcht vor ihr; einen Augenblick überfiel ihn ein lähmender Schrecken bei dem Gedanken, er habe sich vielleicht eine Krankheit bei ihr geholt; und auf all diesen Wirrwarr aufgeregter Gefühle legte sich die beruhigende Hand des Verstandes, der ihm sagte, es wäre eigentlich doch nichts dabei, solange wie er nicht krank geworden wäre. Bald fand er sein Gleichgewicht wieder, und wirklich war auch nicht viel dabei.

Aber erschreckt hatte es ihn doch und ihm Mißtrauen ins Herz geflößt und die Furcht vor seinem inneren Ich noch gesteigert. Nach ein paar Tagen ging er jedoch wieder in seiner eigentümlich sorglosen Weise unbekümmert umher, seine blauen Augen so klar und ehrlich wie nur je, sein Gesicht gerade so frisch, seine Eßlust genau so stark wie früher.

Oder wenigstens doch dem Anschein nach. Tatsächlich hatte er ein wenig von seinem übersprudelnden Selbstvertrauen verloren, und der Zweifel hielt ihn von weiteren Ausgängen ab.

Noch eine Zeitlang nachher blieb er ruhiger, achtete mehr auf sich beim Trinken, hielt sich mehr von seinen Genossen zurück. Die Enttäuschung seiner ersten fleischlichen Berührung mit dem Weibe, verstärkt durch den ihm eingeborenen Wunsch, in einer Frau die Verkörperung all seiner unausgesprochenen, starken gottgläubigen Triebe zu finden, legte ihm ein Gebiß zwischen die Zähne. Er besaß etwas, das zu verlieren er sich fürchtete, wovon er nicht einmal sicher war, ob er es wirklich besäße. Dieses erste Mal machte ja nicht viel aus: aber die Liebe war im Grunde seines Herzens doch die allerernsthafteste und furchtbarste Angelegenheit.

Geschlechtliche Begierden quälten ihn nun, seine Einbildungskraft blieb immer von wollüstigen Bildern erfüllt. Was ihn aber in Wirklichkeit verhinderte, zu einem leichtfertigen Frauenzimmer zurückzukehren, viel mehr als seine angeborene Bedenklichkeit, das war die Erinnerung an die Armseligkeit seiner Erfahrung von neulich. Es war so gar nichts gewesen, so spärlich und so schwunglos, daß er sich schämte, sich einer Wiederholung auszusetzen.

Er machte eine gewaltige, aus dem Innern kommende Anstrengung, um seine angeborene Fröhlichkeit in ihrer alten Frische wieder zu gewinnen. In seiner Veranlagung lag ein mächtiger Strom von Leben und guter Laune, der Sinn für Selbstgenügsamkeit und Überschwang, der Sicherheit verleiht. Jetzt erfüllte ihn alles mit Spannung. Ein angestrengtes Licht trat in seine Augen, seine Brauen waren fortwährend leicht zusammengekniffen. Seine laute Fröhlichkeit gab einem lauernden Schweigen Raum, und ganze Tage liefen ihm in Unschlüssigkeit hin.

Er war sich nicht ganz klar darüber, ob in ihm wirklich etwas anders geworden war; meistenteils fühlte er sich voller Ärger und Bitterkeit. Aber er wußte, er müsse nun fortwährend an Weiber denken, oder an ein Weib, tagein, tagaus, und das machte ihn wütend. Davon konnte er nicht frei kommen: und darüber schämte er sich. Er knüpfte noch eine oder zwei Liebschaften an, in der Hoffnung, rasch mir ihnen weiter zu kommen. Wenn er aber ein nettes Mädchen hatte, war er nicht imstande, es zu der ersehnten Entwicklung zu bringen. Schon die bloße Anwesenheit des Mädchens neben ihm machte das unmöglich. Er konnte sie sich nicht in dieser Lage denken, konnte sie sich nicht tatsächlich nackt verstellen. Sie war ein Mädchen und er hatte sie gern, und bekam fürchterliche Angst bei dem bloßen Gedanken, sie auszuziehen. Er wußte, im Zustande äußerster Nacktheit war weder er für sie, noch sie für ihn da. Kam er aber mit einem leichtfertigen Frauenzimmer zusammen und die Dinge entwickelten sich, so stieß sie ihn die ganze Zeit über so ab, daß er nie wußte, sollte er ihr nicht so rasch wie möglich weglaufen oder würde er sie aus einmal entflammter Begierde doch schließlich nehmen. Auch hier wieder lernte er etwas: nahm er sie, so war es so gar nichts, daß er sich gezwungen fühlte es zu verachten. Nicht sich selbst oder das Mädchen verachtete er. Aber das Endergebnis, das für ihn in dieser Erfahrung lag – das verachtete er tief und bitterlich.

Dann, als er dreiundzwanzig Jahre alt war, starb seine Mutter, und er blieb mit Effie allein im Hause. Seiner Mutter Tod war ein neuer Streich aus der Finsternis. Er konnte ihn nicht verstehen; er wußte auch, es nutzte nichts, das zu versuchen. Solchen unvorhergesehenen Schlägen hat man sich eben zu unterwerfen; sie lassen ihre Male zurück und die schmerzen bei jeder Berührung. Er fing an, sich vor alledem zu fürchten, was da wider ihn aufstand. Er hatte seine Mutter sehr lieb gehabt.

Weiterhin zankten Effie und er sich furchtbar. Sie bedeuteten sich gegenseitig sehr viel, aber sie unterlagen beide einer seltsamen, unnatürlichen Spannung. Er blieb dem Hause so viel wie möglich fern. Er brachte es zu einer besonderen Ecke im Roten Löwen zu Cossethay und wurde dort am Feuer zum Stammgast, ein hellhaariger, frischer junger Bursche mit schweren Gliedern und zurückgelehntem Kopfe, meist schweigsam, wenn auch gewandt und aufmerksam, voller Herzlichkeit, wenn er einen Bekannten begrüßte, aber scheu vor Fremden. Die Weiber zog er alle auf; sie hatten ihn besonders gern. In der Unterhaltung mit Männern war er sehr aufmerksam, voller Achtung.

Wenn er trank, wurde er zuerst sehr rot im Gesicht, und dann trat ein Ausdruck von Selbstbewußtsein und zugleich Unsicherheit, beinahe von Bestürzung in seine blauen Augen. Kam er in diesem Zustand bezechter Verwirrung heim, so haßte ihn seine Schwester und schalt ihn, und dann verlor er den Kopf und wurde wütend wie ein wahnsinniger Bulle.

Noch eine andere Geschichte hatte er mit einem Schatz. Einmal zu Pfingsten machte er mit zwei anderen jungen Burschen einen Ausflug zu Pferde nach Matlock und von da nach Bakewell. Matlock entwickelte sich damals grade zu einem berühmten Schönheitstreffpunkt, der von Manchester und den Staffordshirestädten aus viel besucht wurde. Im Gasthause, wo die jungen Leute frühstückten, waren zwei Mädchen, und beide Teile schlossen sofort Freundschaft miteinander.

Das Mädchen, das sich an Tom Brangwen heranmachte, der damals vierundzwanzig Jahre alt war, war ein hübsches, leichtsinniges Geschöpf, das ihr Liebhaber, der sie hierher mitgenommen hatte, mal einen Nachmittag hatte sitzen lassen. Sie sah Brangwen und hatte ihn wie alle Frauen gern wegen seiner Wärme und seines freimütigen Wesens und wegen seines angeborenen Zartgefühls. Aber sie merkte auch, daß er zu denen gehörte, die erst einen Schups kriegen müssen. Jedenfalls war sie verärgert und fühlte sich unbefriedigt und zu jedem dummen Streiche aufgelegt, und so wagte sie alles. Es würde ja auch nur ein kleines Zwischenspiel bedeuten und ihren Stolz wiederherstellen.

Sie war ein hübsches Mädchen mit vollem Busen, dunklem Haar und blauen Augen, ein Mädel, das leicht lachte, von der Sonne gebräunt, und hatte eine sehr selbstverständliche und fesselnde Art, sich über ihr lachendes Gesicht zu fahren.

Brangwen saß in einem Zustande von Verwunderung da. Er behandelte sie mit seiner neckischen Ergebenheit, angeregt, aber doch seiner selbst nicht gewiß, voller Todesangst, er möchte zu zutraulich werden, und voller Scham, ihr schwerfällig vorzukommen, toll vor Begierde und doch gehemmt durch seine gefühlsmäßige Hochachtung vor den Frauen bei jedem endgültigen Annäherungsversuche; die ganze Zeit fühlte er das Lächerliche seiner Lage und wurde vor Verwirrung dunkelrot. Sie dagegen wurde hart und herausfordend, je verwirrter er wurde; es machte ihr Spaß, ihn so herankommen zu sehen.

»Wann müssen Sie nach Hause?« fragte sie.

»Hab keine besondere Eile,« erwiderte er.

Damit brach die Unterhaltung wieder zusammen.

Brangwens Freunde waren fertig zum Aufbruch.

»Kommste, Tom,« riefen sie, »oder bleibste hängen?«

»Jo jo, komme schon,« antwortete er und stand widerwillig auf, während ein ärgerliches Gefühl von Nutzlosigkeit und Enttäuschung ihn überkam.

Er fing gerade einen vollen, beinahe beleidigenden Blick des Mädchens auf und zitterte vor etwas Ungewöhnlichem.

»Wollen Sie mit und sich mal meinen Gaul ansehen?« sagte er zu ihr mit seiner gutmütigen Herzlichkeit, in der nun ein Zittern lag.

»Ach ja, das möchte ich wohl,« sagte sie und stand auf.

Und sie ging hinter ihm her nach draußen, er mit seinen Hängeschultern und seinen Tuchgamaschen voran. Die jungen Leute holten sich selbst ihre Pferde aus dem Stall.

»Können Sie reiten?« fragte Brangwen sie.

»Ich möchte wohl, wenn ich es nur könnte – ich habe es nie versucht.«

»Kommen Sie her, machen Sie mal einen Versuch«, erwiderte er.

Dann hob er sie in den Sattel, er errötend, sie lachend.

»Ich rutsche ja herunter – das ist doch kein Damensattel!« schrie sie.

»Halten Sie sich man fest«, sagte er und führte sie aus dem Hoftor.

Das Mädchen saß sehr unsicher und klammerte sich fest. Er legte ihr einen Arm um die Hüfte, um sie zu stützen. Und er hielt sie sehr fest, als umarmte er sie; er wurde ganz schwach vor Begierde, wie er so neben ihr herschritt.

Das Pferd ging am Flusse entlang.

»Sie müßten rittlings sitzen«, sagte er zu ihr.

»Weiß ich wohl«, sagte sie.

Damals waren die Röcke sehr weit. Sie brachte es fertig, sich rittlings auf den Gaul zu setzen, sehr anständig, und ängstlich darauf bedacht, ihr hübsches Bein nicht zu zeigen.

»So gehts viel besser«, sagte sie und sah zu ihm nieder.

»Sicher tuts das«, sagte er und fühlte, wie ihm das Mark in den Knochen unter dem Ausdruck ihrer Augen schmolz. »Weiß nicht, was sie mit der Damensattelgeschichte wollen, sie brechen ja die Mädels entzwei.«

»Sollen wir alleine losziehen – bist ja wohl angeleimt da?« riefen Brangwens Gefährten von der Landstraße her.

Er wurde rot vor Ärger.

»Jo jo, quält euch man nicht drum«, rief er zurück.

»Wie lange dauerts denn noch?« fragten sie.

»Nicht über Weihnachten«, erwiderte er.

Und das Mädchen brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Na gut – Wiedersehen!« riefen seine Freunde.

Damit trabten sie von dannen und ließen ihn dunkelrot bei seinem Versuch zurück, sich gegen das Mädchen zu benehmen, als wäre gar nichts vorgefallen. Aber mit einem Male war er wieder beim Gasthause angelangt, hatte sein Pferd einem Stallknecht übergeben und war mit dem Mädchen in den Wald gegangen, ehe er auch nur wußte, wo er war und was er machte. Sein Herz klopfte und er hielt dies für sein großartigstes Abenteuer; er war ganz verrückt vor Begierde nach dem Mädchen.

Nachher strahlte er vor Vergnügen! Weiß Gott! das war doch nochmal was! Er blieb den ganzen Nachmittag mit dem Mädchen zusammen und wollte auch die Nacht bei ihr bleiben. Das wäre aber unmöglich, meinte sie; ihr Freund käme mit Dunkelwerden wieder und sie müsse bei dem bleiben. Er, Brangwen, dürfe sich nicht merken lassen, daß was zwischen ihnen vorgefallen wäre.

Sie lächelte ihn verständnisinnig an, und das erfüllte ihn mit Verwirrung und Dankbarkeit.

Er konnte sich aber trotz seines Versprechens, sich nicht mehr um das Mädchen zu kümmern, nicht losreißen. So blieb er noch über Nacht in dem Gasthause. Beim Abendessen sah er den andern: einen kleinen Mann von mittlerem Alter mit eisengrauem Haar und einem merkwürdigen Gesicht wie ein Affe, aber fesselnd, in seiner Art beinahe schön. Brangwen vermutete einen Ausländer in ihm. Er war mit einem zweiten, einem harten, trockenen Engländer zusammen. Die vier saßen an einem Tische, zwei Männer, zwei Frauen. Brangwens Augen waren ganz Aufmerksamkeit.

Er bemerkte, wie der Fremde die Mädchen mit höflicher Verachtung behandelte, als wären sie vergnügliche Tierchen. Brangwens Mädchen hatte ein damenhaftes Benehmen angenommen, aber ihre Stimme verriet sie doch. Sie wollte ihren Liebhaber wiedergewinnen. Als der Nachtisch kam, drehte der kleine Fremde sich auf seinem Platze um und sah ruhig durch das ganze Zimmer, als wäre er ganz unbefangen. Brangwen bewunderte die kalte, tierähnliche Schlauheit seines Gesichts. Die braunen Augen waren rund und zeigten den ganzen Umkreis der braunen Sterne wie bei einem Affen, und ihr ruhiger Blick strich über den andern hin ohne irgendwelche Beziehung mit ihm herzustellen. Dann blieben sie auf Brangwen haften. Dieser war erstaunt, als das alte Gesicht sich ihm zuwandte und ihn ansah, ohne es auch nur für nötig zu halten, ihn zu bemerken. Die Brauen der runden, durchdringenden, aber gänzlich unbekümmerten Augen waren in die Höhe gezogen, mit kleinen Fältchen darüber, genau wie bei einem Affen. Es war ein altes, kein Alter erkennen lassendes Gesicht.

Der Mann benahm sich die ganze Zeit über erstaunlich vornehm, wie ein Edelmann. Brangwen starrte ihn wie verzaubert an. Das Mädchen fegte ihre Brotkrumen auf dem Tischtuche zusammen, beunruhigt, errötend und ärgerlich.

Als Brangwen nachher regungslos auf der Diele saß, viel zu erregt und ratlos, was er anfangen sollte, trat der kleine Fremde mit einem wunderhübschen Lächeln auf ihn zu und sagte, während er ihm eine Zigarette anbot:

»Rauchen Sie?«

Brangwen rauchte eigentlich nie Zigaretten, aber er nahm die angebotene doch und fummelte sie fassungslos in seinen dicken Fingern herum, rot bis unter die Haarwurzeln. Dann blickte er mit seinen warmen, blauen Augen in die beinahe hämischen, von schweren Lidern überdeckten des Fremden. Dieser hatte sich neben ihn gesetzt und sie fingen ein Gespräch an, größtenteils über Pferde.

Brangwen gewann den andern seiner ausgesuchten Liebenswürdigkeit halber gern, wegen seines feinen, zurückhaltenden Wesens und seiner kein Alter erkennen lassenden, affenartigen Selbstsicherheit. Sie sprachen über Pferde, über Derbyshire, über Landwirtschaft. Der Fremde bezeigte gegen den jungen Burschen wirkliche Wärme, und Brangwen wurde ganz aufgeregt. Er fühlte sich von dem Zusammentreffen mit diesem sonderbaren mittelalterlichen, vertrockneten Menschen persönlich hingerissen. Ihre Unterhaltung war sehr angenehm, aber darauf kam es ihm so sehr gar nicht an. Es war die liebenswürdige Art und Weise, die Berührung mit solcher Vornehmheit, die ihm alles ausmachte.

Lange Zeit unterhielten sie sich miteinander, und Brangwen wurde rot wie ein Mädchen, wenn der andere seine Mundart nicht verstand. Dann sagten sie sich Gute Nacht und schüttelten sich die Hände. Wieder verbeugte sich der Fremde und wiederholte sein Gute Nacht.

»Gute Nacht und bon voyage

Dann wandte er sich der Treppe zu.

Brangwen ging in sein Zimmer hinauf und lag da und starrte zu den Sternen der Sommernacht hinaus, sein ganzes Wesen in tosendem Wirbel. Was war dies alles? Dies war ein Leben, so gänzlich verschieden von dem ihm bekannten. Was gab es denn wohl noch über sein Wissen hinaus, wie mancherlei? Woran hatte er da gerührt? Wie sollte er sich diesem neuen Einfluß gegenüber verhalten? Was bedeutete das alles? Wo lag das Leben, in dem was er bereits kannte, oder ganz außer seinem Ich?

Er fiel in Schlaf und war am andern Morgen fortgeritten ehe die anderen aufwachten. Er war vor dem Wiedersehen mit ihnen am Morgen zurückgeschreckt.

Sein Gehirn war eine gewaltige Aufregung. Das Mädchen und der Fremde: er wußte von beiden nicht mal den Namen. Und doch hatten sie die innere Heimstätte seines Wesens in Flammen gesetzt, und er fühlte, er würde aus seinem Bau ausgeräuchert werden. Von den beiden Begegnungen war am Ende die mit dem Fremden die bedeutendere. Aber das Mädchen – mit dem Mädchen konnte er nicht fertig werden.

Er verstand das nicht. Dies mußte er schon so lassen wie es war. Er konnte das Endergebnis dieser Erfahrung nicht ziehen. Schließlich kam es aber doch darauf hinaus, daß er Tag und Nacht, hingerissen, von einem wollüstigen Frauenzimmer und dem Zusammentreffen mit einem kleinen, vertrockneten Fremden von altem Geschlecht träumte. Kaum war sein Verstand unbeschäftigt, kaum hatte er sich von seinen Freunden verabschiedet, als er sich auch schon in eine enge Freundschaft mit feingliedrigen, vornehm sich gebenden Leuten wie der Fremde zu Matlock hineindachte, und den Mittelpunkt dieser Freundschaft bildete stets die Befriedigung eines wollüstigen Weibes.

Ganz verloren in dem Durchdenken und dem Ausbau dieses Traumes ging er umher. Seine Augen glühten, er ging, den Kopf hoch, voll ausgesuchten Vergnügens an dieser vornehmen Feinheit und Zierlichkeit, gequält von Begierde nach dem Mädchen einher.

Dann allmählich ließ die Glut nach, und die kalte Wirklichkeit des alltäglichen Lebens kam wieder durch. Er fühlte es. Hatte seine Einbildung ihn betrogen? Er scheute vor den Schranken der gemeinen Wirklichkeit zurück, stand stur wie ein Bulle vor einem Rickelwerk, und wollte unter keinen Umständen in das wohlbekannte Rundum seines Lebens wieder hinein.

Er trank mehr als gewöhnlich, um die Glut in Gang zu halten. Aber trotzdem verblaßte sie mehr und mehr. Er biß die Zähne zusammen angesichts der Alltäglichkeit, die er nicht anerkennen wollte. Trotzdem behauptete sie sich vor ihm unwandelbar.

Er wollte heiraten, um irgendwie zur Ruhe zu kommen, aus dieser Zwickmühle, in der er sich befand, heraus. Aber wie? Er fühlte sich unfähig auch nur ein Glied zu bewegen. Da hatte er ein kleines Geschöpf auf der Leimrute sitzen sehen, und dieser Anblick war ihm zu einem Alb geworden. Er fühlte, wie er vor Wut über seine Unfähigkeit allmählich toll wurde.

Er verlangte nach einem Halt, um sich daran herauszureißen. Aber er fand keinen. Scharf sah er sich alle jungen Frauenzimmer an, um eine zu finden, die er heiraten könnte. Aber keine einzige hätte er mögen. Und daß der Gedanke an ein Dasein unter solchen Leuten wie der Fremde lächerlich war, das wußte er. Und doch träumte er davon und klebte hartnäckig an seinem Traum, und wollte von der Wirklichkeit von Ilkeston und Cossethay nichts wissen. Da saß er stur in seiner Ecke im Roten Löwen, rauchte und grübelte und hob dann und wann den Bierkrug, sagte nichts, und alle Welt hätte ihn für einen Ackerknecht halten können, der Maulaffen feilhielt, wie er selbst sagte.

Dann kam ein fieberhafter ruheloser Ärger über ihn. Er wollte weg – sofort. Er träumte von der Fremde. Aber trotzdem kam er in keine Beziehung zu ihr. Es waren sehr starke Wurzeln, die ihn in der Marsch festhielten, an dem eigenen Heim, seinem Grund und Boden.

Weiterhin heiratete Effie, und er blieb allein im Hause mit Tilly, der schielenden Magd, die schon fünfzehn Jahre bei ihnen war. Nun fühlte er die Dinge sich zuspitzen. Die ganze Zeit über hatte er sich gegenüber der Einwirkung der alltäglichen Unwirklichkeit stumm widerstandsfähig gezeigt, wenn sie ihn zu verschlingen drohte. Aber nun mußte er selbst etwas unternehmen.

Er war mäßig von Hause aus. Da er aber auch empfindsam und voller Gemüt war, bewahrte ihn der Ekel davor, zu viel zu trinken.

Aber in leicht aufsteigendem Ärger konnte er mit der hartnäckigsten Vorsätzlichkeit und anscheinend bei bester Laune anfangen zu trinken, eben um sich zu betrinken. »Verdammt,« sagte er bei sich, »es muß doch einen Weg geben, so oder so, – kannst' den Gaul nicht an den Schatten vom Torpfosten anbinden – wenn du Beine hast, mußt du jetzt oder später doch mal in die Höhe.« So stand er auf und ging nach Ilkeston, nahm seinen Platz etwas linkisch unter einem Haufen junger Kerls ein, gab der ganzen Gesellschaft ein paar Runden aus und fand, er verstände es doch ganz gut. Es kam ihm so vor, als wäre jedermann im Zimmer gerade ein Kerl nach seinem Herzen, alles sei wunderschön und einfach vollkommen. Als jemand ihm voller Aufregung zurief, seine Rocktasche stände in Feuer, konnte er nur noch strahlend über sein rotes Gesicht hervorbringen: »Is schon gut – is schon gut so – ganz gut so, laß man –«, und dann lachte er vor Vergnügen und fand die anderen reichlich sonderbar, weil sie es nicht ganz selbstverständlich fanden, daß seine Rocktasche brannte: – das war doch die reizendste und selbstverständlichste Geschichte in der ganzen Welt – was?

Auf dem Heimweg redete er mit sich und dem Monde, der hoch und klein am Himmel stand, stolperte über den Widerschein des Mondes auf den Pfützen zu seinen Füßen und wunderte sich, was zum Deubel das wäre und lachte dann dem Monde vertrauensvoll zu und versicherte ihn, das wäre doch ganz Nummer eins!

Morgens beim Aufwachen dachte er hierüber nach und merkte zum erstenmal in seinem Leben, was es hieße, wirklich reizbar zu sein, in der wirklich schlechten Laune seines Jammers. Nachdem er Tilly angebrüllt und angeknurrt hatte, verzog er sich vor lauter Scham in die Einsamkeit. Und bei jedem Blick auf die aschgrauen Felder und die dreckigen Wege zerplagte er sich, was in drei Teufels Namen er denn nur anfangen könnte, um dies prickelnde Gefühl von Ärger und Ekel los zu werden. Und er erkannte, dies wäre das ganze Ergebnis seines großartigen Abends.

Sein Magen verlangte auch nach keinem Schnaps mehr. Verbissen zog er mit seinem Terrier über Feld und sah alles mit scheelem Auge an.

Der nächste Abend fand ihn wieder auf seinem alten Platze im Roten Löwen, ganz anständig und mäßig. Da saß er und wartete stur der Dinge, die da kommen sollten.

Glaubte er denn überhaupt an seine Zugehörigkeit zu der Welt von Ilkeston und Cossethay oder nicht? Es gab nichts in ihr, wonach er sich gesehnt hätte. Aber könnte er denn je aus ihr heraus? Lag denn in ihm selber auch nur irgend etwas, was ihn hätte aus ihr herausbringen können? Oder war er wirklich so ein donnerschlägiger Dämelack, nicht Manns genug wie die andern jungen Kerls, die ordentlich tranken und auch ohne viel Wenn und Aber mal etwas herumhurten und doch dabei ganz zufrieden waren.

So trieb er es hartnäckig eine ganze Zeitlang. Dann wurde die Überreizung für ihn zu groß. Immer heißer, immer mächtiger wuchs in seinem Innern das Bewußtsein empor, seine Handgelenke fühlten sich geschwollen und zitterig an, sein Geist war mit wollüstigen Vorstellungen erfüllt, und seine Augen waren blutunterlaufen. Wütend kämpfte er dagegen an, um sein Selbstgefühl zu bewahren. Nach Weibern sah er sich nicht mehr um. Er lief umher, als wäre er ganz der alte. Bis er dann irgend etwas aushecken oder sich den Kopf an der Wand einrennen mußte.

Dann ging er mit vollster Überlegung nach Ilkeston, stillschweigend, entschlossen und geschlagen. Er trank, um sich zu betrinken. Es goß einen Schnaps hinunter, und wieder einen, bis sein Gesicht blaß wurde, seine Augen brannten. Und trotzdem konnte er sich nicht freimachen. Sinnlos betrunken schlief er ein, wachte um vier Uhr morgens auf und trank weiter. Er wollte wieder frei werden. Allmählich begann die Stimmung in seinem Innern nachzulassen. Er fing an sich glücklich zu fühlen. Sein eisernes Schweigen lockerte sich, er begann zu reden und zu schwatzen. Er war glücklich und fühlte sich eins mit aller Welt, allem Fleisch fühlte er sich durch Bande heißen Blutes verbunden. Wenn er so drei Tage hintereinander sich unaufhörlich in Schnaps besoffen hatte, dann war die Jugend aus seinem Blut ausgebrannt, er war zu jenem Zustande glühender Einheit mit der ganzen Welt gelangt, der das Endziel der leidenschaftlichsten Träume der Jugend bildet. Aber er brachte es auf die Weise fertig, sich erst durch vollständiges Vergessen seines Einzeldaseins befriedigt zu fühlen, das zu erhalten und zu entwickeln Sache seiner Mannheit war.

So wurde er ein Gewohnheitssäufer, der in bestimmten Zwischenräumen drei oder vier Tage lang Schnaps trinken mußte und dann diese ganze Zeit über benebelt war. Er dachte darüber gar nicht nach. Tiefe Bitterkeit erfüllte ihn. Von Weibern hielt er sich voller Abscheu fern.

Als er achtundzwanzig Jahr alt war, ein schwergliedriger, steifer, hellhaariger Mann mit frischem Gesicht und gradeaus vor sich hinstarrenden Augen, kam er eines Tages von Cossethay mit einer Ladung Saatkorn grade aus Nottingham. Es war just die Zeit wo er wieder anfangen wollte sich zu betrinken, und daher starrte er stier vor sich hin, aufmerksam und doch in sich versunken, alles bemerkend und doch nichts gewahr werdend, in sich verschlossen. Es war im Frühjahr.

Er ging gleichmäßig neben dem Pferde her, die Last krachte hinter ihm, je steiler es den Hügel hinabging. Weiter unten vor ihm am Hügel machte der Weg zwischen Böschungen und Hecken eine Biegung, die man nur auf ein paar Schritte vorher sehen konnte.

Als er langsam um die steilste Stelle der Biegung herunterkam, und sein Pferd sich zwischen den Scherbäumen stemmte, sah er eine Frau auf sich zukommen. Aber er dachte im Augenblick nur an sein Pferd.

Dann wandte er sich, um sie anzusehen. Sie war schwarz gekleidet, offenbar ziemlich klein und mager unter ihrem langen schwarzen Umhang und trug einen schwarzen Hut. Sie schritt eilig dahin, als sehe sie nichts und hielt den Kopf weit vorgestreckt. Diese merkwürdig versonnene, rasche Bewegung war es, dies als schritte sie dahin, von niemand gesehen, was ihn zuerst auf sie aufmerksam machte.

Sie hatte den Wagen gehört und blickte auf. Ihr Gesicht war klar und blaß, sie hatte dicke, dunkle Augenbrauen und einen breiten Mund, den sie sonderbar verzog. Ganz klar sah er ihr Gesicht, als werfe die Luft ein eigenes Licht darauf. Er sah ihr Gesicht so deutlich vor sich, daß er aus seiner Verschlossenheit aufwachte und ganz gespannt wurde.

»Das ist sie«, sagte er sich ganz unwillkürlich. Während der Wagen an ihr vorbeizog und durch den dünnen Schmutz platschte, trat sie zurück auf die Böschung. Als er dann still neben seinem sich zurückstemmenden Pferde einherschritt, trafen seine Augen die ihren. Er sah rasch wieder weg, warf den Kopf zurück und eine schmerzhafte Freude durchlief ihn. Er konnte es nicht ertragen, an irgend etwas anderes zu denken.

Im letzten Augenblick drehte er sich um. Er sah ihren Hut, ihre Gestalt in dem schwarzen Umhang, ihre Bewegungen beim Gehen. Dann war sie um die Ecke.

So war sie vorüber. Er fühlte sich wieder, als ginge er in einer fremden Welt umher, nicht in Coffethay, in einer weitentfernten Welt, in der zerbrechlichen Wirklichkeit. Er schritt weiter, ruhig gefaßt, wie verflüchtigt. Jeder Gedanke, jedes Wort waren ihm unerträglich, jedes Zeichen oder auch nur ein Ton, jedes Abweichen von seiner gleichmäßigen Bewegung. Kaum den Gedanken an ihr Gesicht konnte er ertragen. In dem Wissen um sie schritt er dahin, in jener Welt, die jenseits der Wirklichkeit liegt.

Das Gefühl, sie hätten sich gegenseitig erkannt, quälte ihn wie ein Wahn, wie eine Folter. Wie konnte er denn das so sicher wissen, welche Bestätigung besaß er dafür? Dieser Zweifel war wie das Empfinden räumlicher Unendlichkeit, ein Nichts, war Vernichtung. Im Herzen aber trug er den Willen zur Gewißheit. Sie hatten sich erkannt.

In diesem Zustand ging er die nächsten paar Tage umher. Und dann wars wieder, als hebe sich der Nebel und lasse ihn die Alltäglichkeit, die Leere der Welt erkennen. Er war gegen Menschen und Tiere sehr freundlich, fürchtete aber immer, die Enttäuschung möchte in ihrer ganzen Starre wieder emporschießen.

Als er so ein paar Tage später nach dem Essen mit dem Rücken dem Feuer zugekehrt dastand, sah er jene Frau vorbeigehen. Er wollte Gewißheit, daß sie ihn kenne, daß sie seiner bewußt war. Er wollte hören, daß sie in Beziehung zueinander ständen. So stand er da und paßte scharf auf, wie sie die Straße hinunterging. Er rief Tilly herbei.

»Wekeen kunn dat wesen?« fragte er.

Tilly, die schielende Vierzigerin, die ihn anbetete, lief hocherfreut ans Fenster, um nachzusehen. Sie war glücklich, wenn er sie nach irgend etwas fragte. Sie beugte ihren Hals über den kurzen Vorhang vor, der kleine, straffe Dutt ihres schwarzen Haares stand ganz rührend in die Höhe, wie sie da so herumwirtschaftete.

»Och wieso« – sie hob den Kopf und stierte mit ihren kleinen überkreuzstehenden, scharfen braunen Augen hinaus – »wieso. Se weet jo doch, wekeen dat is – dat is – dat is se dor von't Pasterhus – Se weten jo doch –«

»Wat schall ick dat weeten, du Goos«, brüllte er.

Lilly wurde rot, zog den Hals zurück und sah ihn mit ihrem schielenden, scharfen Blick fast vorwurfsvoll an.

»Gewiß weeten Se dat – de niege Weertschafterin.«

»– So – un wat schall ick dat von weeten?«

»Jowoll, un wat sche't Se dat von weeten?« erwiderte Lilly wütend.

»Se is 'n Wief, Weertschafterin oder nich, nich wohr? Se is doch woll noch 'n beten mehr as dat. Wen is se – se hett doch woll 'n Nomen?«

»Je, wenn se en' hett – ick weet 'n nich«, antwortete Lilly, die sich von diesem eben zum Manne erwachsenen Bengel nicht anrüffeln lassen wollte.

»Wat is ehr Nome?« fragte er freundlicher.

»Seeker, ick kann Se't nich seggen«, erwiderte Lilly höchst würdig.

»Un dat is allens, wat du dor upsnappt hest, dat se Weertschafterin in 'n Pasterhuse is?«

»Ick hev ehren Nomen woll hört, ober ick kann'r mi for min Leben nich up besinnen.«

»Wat, du neegenkloket olet Wieberstuck, wat hest du denn 'n Kopp for?«

»For ganz datsulbige, wat annere Lüe ehren for kregen hebbt«, prustete Lilly ihn an, die nichts mehr liebte als solche Katzbalgereien, bei denen er sie ausschalt.

Dann trat eine Pause ein.

»Ick glöv nich, dat een dat in 'n Kopp beholen kunn«, fuhr die Magd dann fort und steckte einen Fühler aus.

»Wat?« fragte er.

»No, ehren Nomen.«

»Woso?«

»Se kummt dor so von 'ne annere Gegend her.«

»Wekeen hett di dat vertellt?«

»Dat is all, wat ick dor von afweet, wat se is.«

»Un wat meenst du denn woll, wo se herkummt?«

»Dat weet ick nich. De Lüd seggt, se kummt von 'n Pol her, ick weet dat jo nich«, beeilte Tilly sich hinzuzufügen, weil sie wußte, nun käme der Hauptangriff.

»Von Pol her, du kummst denn ok woll von 'n Pol her? Wekeen hett di so 'ne Menascherie vormaakt?«

»Dat 's, wat se seggt – ick weet dat jo nich –«

»Wekeen seggt dat?«

»Fru Bentley seggt 't, wat se von 'n Pol herkummt, oder wat se 'n Pol is oder sunst up de Ort.«

Tilly hatte mächtige Angst, sie hätte sich doch verhauen.

»Wekeen seggt, se is 'n Pol?«

»Se seggt so alltohope.«

»Wat hett se denn woll hierher brocht?«

»Dat kann 'k Se nich vertellen. Se hett ne lüttje Deern bi ehr.«

»Hett ne lüttje Deern bi ehr?«

»Von dree oder veer, mit so 'n Plusterkopp.«

»Swatt?«

»Witt – so witt as 't man sien kann, un all een Pluster.«

»Is dor denn 'n Vadder?«

»Nich wat ick von afweet. Ick weet 't nich.«

»Wat hett se denn hierher brocht?«

»Kann ick nich seggen, wennanners de Pastor ehr nich beden hett.«

»Is dat Göhr denn ehr Göhr?«

»Dat schult 'k doch meenen – se seggt dat jo.«

»Wekeen hett di dat allens vertellt?«

»Na, Lizzie – Maandags – wi sagg ehr vorbigahn.«

»Makt woll 'n schönen Spitakel mit jo 'n Tungens, wenn dor wen vorbigeiht.«

Brangwen stand nachdenklich. Am selben Abend ging er nach Cossethay in den Roten Löwen, halb und halb mit der Absicht, mehr zu hören.

Sie war die Witwe eines polnischen Arztes, fand er heraus. Ihr Mann war als Flüchtling in London gestorben. Sie sprach mit etwas fremdem Klang, aber man konnte leicht herauskriegen, was sie meinte. Sie hatte ein kleines Mädchen, namens Anna. Lensky war der Name der Frau, Frau Lensky.

Brangwen fühlte, nun war das Unwirkliche endlich greifbar geworden. Er fühlte sich ihrer auch ganz sicher, als wäre sie ihm vorher bestimmt. Es gewährte ihm eine tiefe Befriedigung, daß sie eine Fremde war.

Nun vollzog sich für ihn auf Erden ein rascher Wechsel, als wäre eine neue Schöpfung vor sich gegangen, in der er sein wahres Wesen gefunden hätte. Alles um ihn her war steif, unwirklich, unfruchtbar, ein reines Nichts gewesen. Nun aber traten Wirklichkeiten an ihn heran, die er fassen konnte.

Er wagte kaum an die Frau zu denken. Er war bange. Nur war er sich die ganze Zeit über bewußt, daß sie ihm nicht fern sei, daß er in ihr lebe. Aber er wagte nicht, sie zu erforschen, auch nur, sich mit ihr dadurch bekannter zu machen, daß er an sie dachte.

Eines Tages traf er sie, wie sie mit ihrem kleinen Mädchen den Weg entlang kam. Es war ein Kind mit einem Gesicht wie ein Zweig Apfelblüten und strahlend hellem Haar, das wie Disteldaunen in straffen, wilden Flammenzungen umherstand, und ganz dunklen Augen. Das Kind klammerte sich unter seinem Blick eifersüchtig an die Mutter und starrte ihn mit vorwurfsvollen schwarzen Augen an. Aber die Mutter erwiderte seinen Blick, fast ausdruckslos. Und gerade diese Leere ihres Blickes entflammte ihn. Sie hatte große, graubraune Augen mit sehr dunklen, bodenlosen Sternen. Er fühlte, wie ihm eine feine Flamme unter der Haut entlang kroch, als hätten seine sämtlichen Adern Feuer gefangen. Und so ging er wie bewußtlos weiter.

Es kam, sein Schicksal, das wußte er. Die Welt unterzog sich ihrer Umbildung. Er rührte sich nicht: was kommen mußte, würde kommen.

Als seine Schwester Effie für eine Woche in die Marsch kam, ging er auch mal mit zur Kirche. In dem winzigen Raum mit seinem Dutzend Bänken saß er nicht weit von der Fremden. Sie hatte etwas Feines an sich, etwas Prickelndes in der Art wie sie dasaß und den Kopf hoch hielt. Sie war eine Fremde, von weit her, und ihm doch so vertraut. Sie kam von weit her und war doch seiner Seele so gegenwärtig, so nahe. Sie war gar nicht wirklich, wie sie da in der Kirche von Cossethay neben ihrem kleinen Mädchen saß. Sie lebte gar nicht das scheinbare Dasein ihrer Tage. Sie gehörte wo anders hin. Das fühlte er mit einem Prickeln als etwas Wirkliches, Tatsächliches. Aber ein Angstschauer um sein eigenes greifbares Dasein, das nur zu Cossethay gehörte, verursachte ihm Schmerzen und erfüllte ihn mit böser Ahnung.

Ihre dicken schwarzen Brauen stießen über der unregelmäßigen Nase beinahe zusammen, sie hatte einen breiten, ziemlich dicken Mund. Aber ihr Gesicht war zu einer andern Daseinswelt erhoben: nicht zum Himmel oder zum Tode empor, aber zu einem Orte, an dem sie immer noch lebte, wenn auch ihr Körper dort nicht mehr weilte.

Das Kind neben ihr verfolgte alles mit weiten, schwarzen Augen. Es hatte einen merkwürdigen, ablehnenden kleinen Blick, ihr kleiner roter Mund war fest geschlossen. Es schien über irgend etwas eifersüchtig zu wachen, stets auf Verteidigung bedacht zu sein. Sein Blick traf Brangwens leeren, vertrauten, eindringenden Blick, und eine offenbare Feindseligkeit, fast wie eine schmerzende Flamme, trat in die weit offenen, über-selbstbewußten dunklen Augen.

Der alte Seelenhirt mummelte weiter, Cossethay saß wie gewöhnlich ohne jede Gefühlsregung da. Und da saß diese fremde Frau mit dem eigentümlichen fremden Wesen, unverwundbar, und das merkwürdige Kind, auch ganz fremd, das irgend etwas so eifersüchtig bewachte.

Als der Gottesdienst zu Ende war, ging er auf dem Wege zu einem anderen Dasein aus der Kirche. Als er mit seiner Schwester den Kirchweg hinunterkam, hinter der Frau mit dem Kinde her, brach das kleine Mädchen plötzlich von der Hand seiner Mutter los und glitt mit einer raschen, fast unwahrnehmbaren Bewegung zurück, um irgend etwas beinahe unmittelbar unter Brangwens Füßen aufzunehmen. Ihre winzigen Finger waren fein und schnell, aber sie verfehlten den roten Knopf doch.

»Hast du was gefunden?« fragte Brangwen sie.

Und damit bückte er sich auch nach dem Knopf. Aber sie hatte ihn schon gefaßt und stand da, ihn fest gegen ihren kleinen Mantel pressend, und ihre schwarzen Augen flammten ihn an, als untersagte sie ihm, sie auch nur zu bemerken. Nachdem sie ihn so zum Schweigen gebracht hatte, wandte sie sich mit einem kurzen, raschen »Mutter –« um und war den Pfad hinunter.

Die Mutter war stehengeblieben und hatte mit gleichgültigem Blick hinübergesehen, nicht nach dem Kinde, sondern nach Brangwen. Er merkte, daß die Frau ihn ansah, wie sie so allein und für ihn doch beherrschend in ihrem fremden Wesen dastand.

Er wußte nicht was er tun sollte, und wandte sich wieder seiner Schwester zu. Aber die großen grauen Augen, fast ausdruckslos und doch so rührend, hielten ihn außerhalb seiner selbst. »Darf ich den haben, Mutter?« kam des Kindes stolze, silberne Stimme zu ihm zurück. »Mutter –« sie rief ihre Mutter scheinbar fortwährend, um nicht vergessen zu werden, »Mutter –«, aber weiter konnte sie nicht fortfahren, da ihre Mutter schon antwortete: »Ja, mein Kind!« Aber mit schneller Erfindungsgabe stolperte das Kind weiter und fragte im Laufen: »Wie heißen die Leute da?«

Brangwen hörte das geistesabwesende:

»Ich weiß nicht, mein Liebling.«

Er schritt den Weg hinunter, als lebte er gar nicht in seiner eigenen Haut, sondern irgendwo anders.

»Wer war die Frau?« fragte Effie.

»Kanns dir nicht sagen«, antwortete er unbewußt.

»Sie ist jedenfalls sehr spaßig«, sagte Effie fast verächtlich, »das Kind ist ja wie verhext.«

»Verhext – wieso verhext?« wiederholte er.

»Das kannst du doch wohl selbst sehen. Die Mutter ist nichts Besonderes, ehrlich gesagt – aber das Kind ist ein Wechselbalg. Sie muß so ungefähr fünfunddreißig sein.«

Aber er achtete nicht auf sie. Seine Schwester redete weiter.

»Das wäre so 'ne Frau für dich«, fuhr sie fort. »Die solltest du man heiraten.« Aber er kehrte sich nicht daran. Die Dinge waren nun mal wie sie waren.

Einen der nächsten Tage, als er zur Teezeit allein am Tische saß, klopfte es an der Vordertür. Wie ein Vorzeichen durchfuhr es ihn. Niemand klopfte je an der Vordertür. Er stand auf und begann die Riegel zurückzuziehen und den dicken Schlüssel zu drehen. Als er die Tür aufmachte, stand die fremde Frau auf der Schwelle.

»Können Sie mir ein Pfund Butter geben?« fragte sie, in der merkwürdig abgehackten Art von Leuten, die eine ihnen fremde Sprache sprechen.

Er suchte ihre Frage zu verstehen. Sie sah ihn fragend an. Aber was lag denn unter ihrer Frage verborgen, was lag in ihrer unbeweglichen Haltung, wie sie so dastand, was ihn so packte?

Er trat zur Seite, und sie trat sofort ins Haus, als wäre die Tür nur geöffnet, um sie einzulassen. Das weckte ihn auf. Jeder andere hätte nach der Gepflogenheit auf der Schwelle gewartet, bis er aufgefordert wurde hereinzukommen. Er ging in die Küche und sie hinter ihm her.

Die Teesachen standen noch auf dem blank gescheuerten Holztisch herum, ein mächtiges Feuer brannte, ein Hund stand vom Herde auf und kam auf sie zu. Sie stand bewegungslos gerade auf der Schwelle.

»Lilly,« rief er laut, »hevvt wi Botter?«

Die Fremde stand wie ein Bild des Schweigens in ihrem schwarzen Umhang da.

»Wat?« kam eine schrille Antwort aus der Ferne.

Er rief ihr seine Frage noch mal zu.

»Wi hevvt wat dor upp'n Disch steiht«, antwortete Tillys schrille Stimme aus der Milchkammer.

Brangwen sah nach dem Tische. Da stand ein großer Klumpen Butter auf einem Teller, wohl fast ein Pfund. Er war rund und mit Ahorn- und Eichenblättern verziert.

»Kannst du nich kamen, wenn ick wat von di will?« rief er.

»Wat willt Se denn?« sträubte Lilly sich, als sie mit einem fragenden Blick durch die andere Tür sah.

Sie sah die fremde Frau, starrte sie schielend an, sagte aber nichts.

»Hevvt wi denn keen anner Botter?« fragte Brangwen wieder, ungeduldig, als könnte seine Frage welche herbeischaffen.

»Ick segg Se jo, wat dor upp 'n Disch steiht!« erwiderte Lilly voller Ungeduld, daß sie doch auf seine Forderung keine schaffen könne. »Wi hevvt anners nich 'n beeten.«

Einen Augenblick herrschte Stillschweigen.

Die Fremde sprach in ihrer merkwürdig klaren, abgehackten Weise, wie jemand, der sich erst überlegen muß, was er sagen will.

»O, dann danke ich Ihnen vielmals. Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Mühe mache.«

Sie konnte seinen gänzlichen Mangel an Lebensart nicht verstehen und fühlte sich wie vor einem Rätsel. Jeder Anflug von Höflichkeit hätte die Lage zu einer ganz unpersönlichen gemacht. Aber hier waren offenbar alle Sinne in Verwirrung. Brangwen wurde bei ihren höflichen Worten rot. Aber er ließ sie noch nicht los.

»Hal di wat und wickel dat dor for ehr in«, sagte er zu Lilly mit einem Blick nach dem Tische.

Und indem er ein reines Messer nahm, schnitt er die bereits angebrochene Seite der Butter ab.

Sein Ausdruck »for ehr« ging der Fremden nur langsam ein und brachte Tilly in Wut.

»De Paster kriggt sine Botter bi rechtens von Browns«, rief die nicht zu unterdrückende Magd. »Wi botter glieks morgen froh gans toerst.«

»Ja –,« das langgezogene, fremde »ja – ja –« sagte die Polin, »ich bin schon bei Frau Brown gewesen. Sie hatte keine mehr.«

Tilly warf den Kopf zurück und hätte ihr brennend gern gesagt, Leute, die Butter kaufen wollten, brauchten doch auch nicht zu einem zu kommen als wäre das man so gar nichts, und an die Vordertür klopfen und nach einem Pfund Butter zu fragen, um damit ein Loch zu stopfen, bloß weil die rechten Butterleute keine mehr hätten. Wenn Sie zu Brown gehen, dann gehen Sie eben zu Brown, und meine Butter ist auch nicht dazu da, bloß um auszuhelfen, wenn Browns keine mehr haben.

Brangwen verstand diese unausgesprochene Rede Tillys ganz genau. Die polnische Dame nicht. Und da sie Butter für den Vikar haben wollte und Tilly doch erst morgen früh butterte, wartete sie.

»Nu mok man de Klappe to«, sagte Brangwen laut, nachdem dies Schweigen lange genug gedauert hatte; und Tilly verschwand durch die innere Tür.

»Ich fürchte, ich hätte nicht kommen sollen, so«, sagte die Fremde, indem sie ihn fragend ansah, als wollte sie von ihm erfahren, was denn der Brauch sei.

Er fühlte sich verwirrt.

»Wieso denn nicht?« sagte er und versuchte heiter zu sein, es kam aber nur gönnerhaft heraus.

»Haben Sie –?« begann sie entschlossen. Aber sie fühlte sich auch nicht auf sicherem Boden und die Unterhaltung brach wieder ab. Ihre Augen blickten ihn die ganze Zeit über an, weil sie die Sprache nicht beherrschte.

So standen sie einander Aug in Auge gegenüber. Der Hund ging von ihr zu ihm. Er beugte sich zu ihm nieder.

»Und wie gehts Ihrem kleinen Mädchen?« fragte er.

»Ja, danke, der gehts recht gut«, war die Antwort, lediglich ein Ausdruck von Höflichkeit in fremder Landessprache.

»Setzen Sie sich doch«, sagte er.

Und sie setzte sich auf einen Stuhl, während ihre dünnen Arme, die aus den Schlitzen ihres Umhanges hervortraten, auf ihrem Schoße ruhten.

»Sie kennen das Land hier noch nicht recht«, sagte er, immer noch auf der Herdmatte stehend, mit dem Rücken dem Feuer zugekehrt, ohne Rock, den Blick merkwürdig gradeaus auf die Frau gerichtet. Ihre Selbstbeherrschung gefiel ihm und regte ihn an, gab ihm ein sonderbares Gefühl von Freiheit. Es schien ihm fast roh, wie sehr er sich Herr seiner selbst und der ganzen Lage fühlte.

Ihre Augen ruhten einen Augenblick auf ihm wie fragend, während sie über die Bedeutung seiner Frage nachdachte.

»Nein«, sagte sie, als sie ihn verstand. »Nein, es ist mir ganz fremd.«

»Sie finden es hier wohl ziemlich ruppig?« fragte er wieder.

Ihre Augen hefteten sich wartend auf ihn, damit er das noch einmal sagen sollte.

»Unsere Art kommt Ihnen wohl ziemlich ruppig vor?« wiederholte er.

»Ja – ja, ich verstehe. Ja, es ist ganz anders, ganz fremd. Aber ich war in Yorkshire –«

»Och, denn,« sagte er, »schlimmer als die da oben sind wir hier auch nicht.«

Das verstand sie wieder nicht ganz. Seine gönnerhafte Art, seine Selbstsicherheit, seine Vertrautheit waren ihr rätselhaft. Was meinte er denn? Wenn er ihr ebenbürtig war, warum benahm er sich dann so formlos?

»Nein –«, sagte sie obenhin, wobei ihre Augen auf ihm hafteten.

Sie sah ihn frisch und unbefangen, grobschlächtig, fast ohne jede Beziehung zu ihr vor sich dastehen. Und doch sah er so hübsch aus mit seinem hellen Haar und seinen blauen Augen, die so voller Tätigkeitsdrang waren, und seinem gesunden Körper, der mit dem ihren anscheinend auf gleicher Stufe stand. Sie betrachtete ihn aufmerksam. Er war schwer für sie verständlich: warmherzig, ungeschlacht und selbstvertrauend wie er war, sicher auf den Beinen, als wüßte er gar nicht, was Unsicherheit bedeute. Was verlieh ihm nur diese sonderbare Sicherheit?

Das begriff sie nicht. Sie begann nachzudenken. Sie sah sich in dem Raum um, in dem er lebte. Er war so traulich, so wohnlich, daß er sie bezauberte und beinahe ängstigte. Die Einrichtung war alt und anheimelnd wie alte Leute, der ganze Ort kam ihr so mit ihm verwandt vor, als wäre er ein Teil von ihm, so daß sie ganz unruhig wurde.

»Es ist wohl schon eine lange Zeit, daß Sie hier in diesem Hause leben – ja?« fragte sie.

»Ich habe immer hier gelebt«, sagte er.

»Ja – aber Ihre Verwandten, Ihre Angehörigen?«

»Wir leben hier seit über zweihundert Jahren«, erwiderte er. Ihre Augen lagen die ganze Zeit auf ihm, weit geöffnet und versuchend, ihn zu verstehen. Er fühlte, er wäre nur für sie da.

»Es gehört Ihnen selbst, das Haus, der Hof –?«

»Ja«, sagte er. Er sah zu ihr nieder und fing ihren Blick auf. Das beunruhigte sie. Sie kannte ihn ja gar nicht. Er war ihr ein Fremder, sie hatten nichts miteinander zu tun. Mit seinem Blick aber kam ihr plötzlich die Erkenntnis seines Wesens. Er war so merkwürdig gradeaus und zutraulich.

»Sie leben hier ganz allein?«

»Ja, wenn Sie das allein nennen wollen.«

Das verstand sie wieder nicht. Es kam ihr ungewöhnlich vor. Was sollte es wohl bedeuten?

Und jedesmal, wenn nach einer kleinen Weile unweigerlich ihre Augen die seinen trafen, fühlte sie eine heiße Welle durch ihr Bewußtsein fluten. Sie saß regungslos und in innerem Zwiespalt da. Wer war dieser fremde Mann, der ihr plötzlich so nahetrat? Was ging mit ihr vor? Etwas in seinem warmen jungen Augenzwinkern schien ein Recht über sie zu beanspruchen, zu ihr zu sprechen, ihr seinen Schutz zu verheißen. Aber wie? Weshalb sprach er zu ihr? Warum waren seine Augen so sicher, so voll Licht und Zutrauen, ohne ihre Erlaubnis oder ein Zeichen von ihr abzuwarten?

Tilly kam mit einem großen Blatt Papier wieder und fand die beiden stumm. Sofort fühlte er, es sei seine Pflicht zu sprechen, nun die Magd wieder dabei wäre.

»Wie alt ist Ihr kleines Mädchen?« fragte er.

»Vier Jahre«, antwortete sie.

»Dann ist ihr Vater wohl noch nicht lange tot?« fragte er.

»Sie war ein Jahr, als er starb.«

»Drei Jahre?«

»Ja drei Jahre ist er tot – ja.«

Seltsam ruhig war sie, fast geistesabwesend, während sie seine Fragen beantwortete. Sie sah ihn wieder an, und etwas Mädchenhaftes trat in ihre Augen. Er fühlte, er könne sich nicht rühren, weder zu ihr hin, noch von ihr weg. Etwas in ihrer Gegenwart tat ihm weh, bis es ihn ungefähr erstarren machte. Er sah die mädchenhafte Verwunderung in ihrem Blick wieder emportauchen.

Tilly reichte ihr die Butter hin, und sie stand auf.

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte sie. »Wieviel kostet sie?«

»Wir wollten sie dem Pastor gern schenken«, erwiderte er. »Das ist denn so wegen meines Kirchenbesuches.«

»Et moch ook woll beter utsehen, wenn Se to Karken gohn wullt und for de Botter Geld nehmt«, sagte Tilly, die zäh an ihren Rechten festzuhalten gesonnen war.

»Du kunnst doch woll stille wesen, nich?« fragte er.

»Wieviel, bitte?« fragte die Polin nun Tilly. Brangwen stand dabei und ließ es zu.

»Dann danke ich Ihnen recht sehr«, sagte sie.

»Bringen Sie doch mal Ihr kleines Mädchen her, daß es sich mal die Hühner und Pferde ansieht,« meinte er –, »wenn es ihm Spaß macht.«

»Ja, das würde ihm viel Spaß machen«, sagte die Fremde. Und damit ging sie. Brangwen blieb ganz betäubt von ihrem Fortgang stehen. Er wurde Tilly gar nicht gewahr, die unschlüssig dastand und Gewißheit über ihn haben wollte. Er konnte an nichts anderes denken. Er fühlte, er habe eine unsichtbare Verbindung zu der fremden Frau angeknüpft.

Ein Nebel lagerte sich über seinen Geist, sein Bewußtsein bekam einen neuen Schwerpunkt. In seiner Brust oder seinen Eingeweiden, irgendwo in seinem Inneren war etwas Neues in Tätigkeit getreten. Es war, als brenne dort ein mächtiges Licht, das ihn blende, und er war unfähig, irgend etwas zu erkennen, mit Ausnahme der Tatsache, daß diese Verklärung zwischen ihm und ihr brenne und sie gleich einer geheimen Macht verbinde. Seitdem sie in sein Haus gekommen war, ging er in diesem Nebel umher; er erkannte kaum die Dinge, die er handhabte, ruhig trieb er in dem veränderten Ausland einher. Er unterwarf sich diesem Vorgang völlig, ließ seinen Willen treiben, gab sein eigenes Wesen gänzlich preis, in Schlummer auf der Schwelle höchsten Entzückens wie ein sich zur Wiedergeburt vorbereitendes Wesen.

Zweimal kam sie mit dem Kinde auf den Hof, aber es war wie eine Windstille zwischen ihnen, äußerste Ruhe und Untätigkeit lagerten wie eine Erstarrung über ihnen, so daß keinerlei tatsächlicher Wechsel sich vollziehen konnte. Das Kind bemerkte er fast gar nicht, und doch gewann er durch die ihm eingeborene Freundlichkeit sein Vertrauen, selbst seine Zuneigung; er setzte es aufs Pferd und gab ihm Korn für das Federvieh.

Einmal fuhr er Mutter und Kind von Ilkeston nach Hause, als er sie unterwegs traf. Das Kind drängte sich dicht an ihn heran wie vor lauter Liebe, die Mutter saß sehr still da. Es lag etwas Unbestimmtes wie ein weicher Nebel über ihnen allen, und ein Stillschweigen, als hinge ihr Willen in der Schwebe. Nur daß er ihre unbehandschuhten, auf dem Schoße gefalteten Hände mit dem Trauring am Finger bemerkte. Er schloß ihn aus: ein geschlossener Reif. Er band ihr Leben, dieser Trauring, ein Sinnbild ihres früheren Lebens, an dem er keinen Teil haben konnte. Aber trotzdem, darüber hinaus war sie selbst, und er und sie mußten zusammenkommen.

Als er ihr vom Wagentritt herunterhalf, sie beinahe herunterhob, da fühlte er, er habe ein Anrecht darauf, sie so in seine Hände zu nehmen. Jetzt gehörte sie wohl noch dem andern an, dem, was hinter ihr lag. Aber er müßte auch für sie sorgen. Sie war zu voller Leben, als daß sie hätte vernachlässigt werden dürfen.

Zuweilen machte die Geistesabwesenheit, in die sie sich verlieren konnte, ihn ganz ärgerlich, gradezu wütend. Aber noch hielt er an sich. Sie besaß noch kein Verhältnis, keine Beziehung zu ihm. Das war ihm rätselhaft und machte ihn wütend, aber er unterwarf sich dem lange Zeit. Hatte sich dann aber die Unruhe darüber, daß sie ihn so vernachlässigte, zu sehr angesammelt, dann brach allmählich die Wut bei ihm durch, voller Zerstörungssucht, und er wünschte auszureißen, ihr zu entfliehen.

Zufällig kam sie wohl einmal in die Marsch, während er sich in dieser Laune befand. Dann stand er ihr gegenüber, stark und schwerfällig in seiner Auflehnung, und wenn er auch nichts sagte, fühlte sie doch, wie sein Ärger und seine schwere Ungeduld von ihr Besitz nahmen, sie fühlte sich wie aus einer Erstarrung aufgerüttelt. Wieder regte sich ihr Herz mit raschem, vorschnellendem Antriebe, sie sah ihn an, diesen Fremdling, der kein gebildeter Mensch war und sich doch in ihr Leben drängte, und die Wehen einer Wiedergeburt zwangen ihr ganzes Innere in eine neue Form. Sie müßte wieder von vorn anfangen, ein neues Dasein finden, eine neue Form, um auf dies blinde, aufdringliche Wesen ihr gegenüber eingehen zu können.

Ein Schauer, die Wehen einer neuen Geburt überliefen sie, die Flamme sprang auf ihn über und lief auch ihm über die Haut. Das wollte sie, dies neue Leben durch ihn, mit ihm, und doch mußte sie sich dagegen verteidigen, denn es bedeutete für sie Vernichtung.

Wenn er allein auf dem Felde arbeitete oder bei seinen Mutterschafen die Nächte wachte, in der Zeit da sie warfen, fiel alles Tatsächliche, alles Stoffliche seines alltäglichen Lebens von ihm ab und ließ den Kern seines Strebens klar hervortreten. Und dann kam es über ihn, er müsse sie heiraten und sie solle seinen Lebensinhalt bilden.

Allmählich lernte er sie verstehen, auch ohne sie zu sehen. Gern hätte er an sie wie an etwas seinem Schutze Anvertrautes gedacht, wie an ein elternloses Kind. Aber das war ihm versagt. Von dieser lieblichen Auffassung seines Falles mußte er absehen. Sie könnte ihn ja zurückweisen. Und außerdem hatte er Angst vor ihr.

Aber in den langen Februarnächten, während seine Schafe warfen und er vom Stalle aus zu den blitzenden Sternen hinaussah, da begriff er, daß er sich selbst nicht mehr angehöre. Er mußte zugeben, daß er so nur ein Bruchstück sei, etwas Unvollständiges, Unterdrücktes. Da fuhren die Sterne am dunklen Himmel dahin, das ganze Heer in ewigem Zuge. Er aber saß in seiner Kleinheit, einem höheren Befehle gehorchend da.

Falls sie nicht zu ihm kam, mußte er ein Nichts bleiben. Das war eine harte Erfahrung. Aber trotz ihres wiederholten Vergessens seiner Gegenwart, trotzdem er so oft bemerkte, daß er für sie gar nicht da war, trotzdem er tobte und ihr zu entfliehen versuchte und sich sagte, er wäre sich auch allein genug, er sei doch ein Mann und könne auf eigenen Füßen stehen, angesichts des nächtlichen Sternenheeres mußte er sich erniedrigen und zugeben, daß ohne sie er ein Nichts sei.

Er war nichts. Aber mit ihr zusammen würde er wirklich sein. Wenn sie jetzt neben dem Schafstalle über das gefrorene Gras dahergeschritten käme, bei dem kläglichen Geblöke der Schafe und Lämmer, dann würde sie ihm Vollkommenheit und Vollendung bringen. Und sollte es dahin kommen, daß sie zu ihm käme! Es mußte so sein – es war so vorherbestimmt.

Lange brauchte er zu dem Entschluß, ihr die endgültige Frage vorzulegen, ihn zu heiraten. Und er wußte, fragte er sie, dann mußte sie zustimmen. Sie mußte, es konnte nicht anders sein. Er hatte manches über sie in Erfahrung gebracht. Sie war arm, alleinstehend und hatte in London harte Zeiten durchgemacht, sowohl vor wie nach dem Tode ihres Gatten. Aber in Polen war sie eine hochgeborene Dame, eines Gutsbesitzers Tochter.

Alles dies waren ihm bloße Worte, die Tatsache ihrer höheren Geburt, die Tatsache, daß ihr Mann ein hervorragender Arzt gewesen war, die Tatsache, daß er ihr in fast jeder Hinsicht an auszeichnenden Eigenschaften nachstand. Es bestand eine innere Wirklichkeit für ihn, eine seelische Folgerichtigkeit, die ihn mit ihr verband.

Eines Abends im März, als der Wind draußen heulte, kam der Augenblick, in dem er sie fragen mußte. Er hatte mit hängenden Händen vornübergebeugt vorm Feuer gesessen. Und während er ins Feuer starrte, kam ihm halb unbewußt die Gewißheit, daß er heute abend zu ihr gehen würde.

»Heste 'n reenet Hemd dor?« fragte er Tilly.

»Se weeten jo, Se hevvt reene Hemden«, erwiderte sie.

»Good –, bring mi en wittet.«

Tilly brachte ihm eins der Leinenhemden, die er von seinem Vater geerbt hatte, und hing es zum Anwärmen vors Feuer. Sie liebte ihn mit stummer, schmerzhafter Hingebung, wie er so mit den Armen auf den Knieen dasaß, still und mit sich selber beschäftigt, sie gar nicht gewahr werdend. Letzthin kam eine zitternde Sucht zu weinen über sie, wenn sie irgend etwas für ihn in seiner Gegenwart zu tun hatte. Jetzt zitterten ihr die Hände, während sie das Hemd ausbreitete. Er schalt und ärgerte sie jetzt nie mehr. Die tiefe im Hause herrschende Stille machte sie erzittern.

Er ging hin, um sich zu waschen. Sonderbare kleine Ausbrüche von klarem Bewußtsein schienen aufzusteigen und wie Blasen aus der Tiefe seines Schweigens hervorzubrechen.

»Es muß sein,« sagte er, als er sich bückte, um sein Hemd vom Fender zu nehmen, »es muß sein, wozu also drum herumgehen?« Und während er sich das Haar vor dem Spiegel an der Wand kämmte, antwortete er sich selbst obenhin: »Das Weib ist ja nicht sprachlos und stumm. Sie hängt doch nich mehr an de Titten. Sie kann tun, was sie Lust hat, und wenn's andern auch keinen Spaß macht.

Dieser Satz von gesundem Menschenverstand brachte ihn etwas weiter.

»Wee't Se wat?« fragte Tilly, die plötzlich auftauchte, da sie ihn hatte reden hören. Sie stand und beobachtete, wie er seinen hellen Bart kämmte. Seine Augen waren stetig und zwinkerten nicht.

»Jo,« sagte er, »wo hest' de Scher?«

Sie brachte sie ihm und beobachtete ihn weiter, während er mit vorgestrecktem Kinn sich den Bart stutzte.

»Scheren Se Ehr man nich, as wenn dat um't Geld gung«, sagte sie hastig. Er pustete sich das feingekräuselte Haar von den Lippen.

Er zog sich gänzlich um, knotete seine Halsbinde sorgsamst und zog seinen besten Rock an. Als er dann fertig war und das graue Zwielicht hereinbrach, ging er in den Obstgarten, um Narzissen zu pflücken. Der Wind sauste in den Apfelbäumen, die gelben Blumen schwankten heftig auf und nieder, er hörte sogar das feine Geräusch der sich aneinander reibenden Blätter, als er sich niederbeugte, um die flachen, zarten Stiele der Blumen zu brechen. »Wat is denn los?« rief ihm ein Freund, den er an der Gartentür traf, zu.

»'n Beeten fründjen,« sagte Brangwen.

Und Lilly ließ sich in einem Zustande zitternder Aufregung vom Winde über das Feld bis an den großen Torweg pusten, von wo aus sie ihn am besten beim Weggehen beobachten konnte.

Er ging den Hügel hinauf und auf das Pastorhaus zu, der Wind sauste in den Hecken, während er versuchte, den Narzissenstrauß mit seinem Körper zu schützen. Er dachte an gar nichts und hatte nur die Empfindung vom Sausen des Windes.

Die Nacht sank herab, in den nackten Bäumen pfiff und trommelte es. Der Vikar, das wußte er, würde in seinem Amtszimmer sitzen, die Polin in der Küche, einem behaglichen Raum, mit ihrem Kinde. Als das Zwielicht schon ganz matt geworden war, trat er durchs Tor und schritt den Pfad hinauf, an dem sich ein paar Narzissen im Winde niederbeugten und zerstreute Krokus ein blasses, farbloses Netzwerk bildeten.

Auf der Rückseite des Hauses strömte aus dem Küchenfenster Licht auf die Büsche. Er begann zu zögern. Wie sollte er es anfangen? Als er durchs Fenster sah, bemerkte er sie in einem Schaukelstuhl mit dem Kinde, das schon in seinem Nachthemd ihr auf dem Knie saß. Der lichte Kopf mit seinem wilden, strubbeligen Haar neigte sich gegen die Glut des Feuers, das sich auf den frischen Backen und der blanken Haut des Kindes widerspiegelte; es schien nachzudenken, fast wie ein Erwachsener. Der Mutter Antlitz war dunkel und still, und er sah mit einem schmerzlichen Zusammenzucken, daß sie wieder in dem Dasein von ehemals weilte. Das Haar des Kindes glänzte wie gesponnenes Glas, sein Gesicht war beleuchtet, so daß es aussah, als wäre es von innen erleuchtetes Wachs. Der Wind brauste mächtig. Mutter und Kind saßen regungslos, still, das Kind mit den leeren dunklen Augen ins Feuer starrend, die Mutter mit dem Blick ins Nichts. Das kleine Mädchen schlief fast schon. Nur sein Wille hielt ihm die Augen noch offen.

Plötzlich sah es sich voller Unruhe um, als ein Windstoß das Haus erschütterte, und Brangwen sah, wie die kleinen Lippen sich bewegten. Die Mutter begann sie zu schaukeln, er hörte das leise Scharren der Wiegehölzer des Stuhles. Dann hörte er das leise, eintönige Summen eines Liedes in fremder Sprache. Dann ein mächtiger Ansturm des Windes, und die Mutter schien fortgeweht, die Augen des Kindes waren weit geöffnet und schwarz. Brangwen sah zu den Wolken empor, die in wilder, erschreckender Hast über den dunklen Himmel dahinfuhren.

Dann kam des Kindes hohe, klägliche und dennoch befehlende Stimme.

»Sing nicht so'n Krams, Mutter, das mag ich nicht hören.«

Das Singen erstarb.

»Nun wirst du zu Bett gehen«, sagte die Mutter.

Er sah, wie das Kind sich widerstrebend anklammerte, die unbewegte Geistesabwesenheit der Mutter, die klammernden, heftigen Bemühungen des Kindes. Dann plötzlich die helle, kindliche Aufforderung:

»Du sollst mir eine Geschichte erzählen.«

Der Wind brauste, die Geschichte nahm ihren Anfang, das Kind schmiegte sich an die Mutter. Brangwen wartete draußen in der Schwebe und blickte in das wilde Schwanken der Bäume im Winde und die zunehmende Finsternis hinaus. Er wußte, was seine Bestimmung wäre, und wartete hier auf der Schwelle. Das Kind verkroch sich, hell und bewegungslos, es schmiegte sich an die Mutter, die Augen scharf und dunkel unter den hellen Haarsträhnen, wie ein zusammengekauertes Tier, an dem alles schläft bis auf die Augen. Die Mutter saß da wie überschattet, die Geschichte nahm ihren Verlauf wie von selber. Brangwen stand draußen und sah die Nacht hereinbrechen. Er merkte gar nicht, wie die Zeit verrann. Seine Hand, die die Narzissen hielt, war steif und kalt.

Die Geschichte ging zu Ende, die Mutter stand endlich auf mit dem ihr am Halse hängenden Kinde. Sie mußte kräftig sein, um ein so großes Kind so leicht tragen zu können. Die kleine Anna hing am Halse ihrer Mutter. Das helle, seltsame Gesicht des Kindes sah der Mutter über die Schulter, in Schlaf bis auf die Augen; diese, weit geöffnet und dunkel, wehrten sich noch und kämpften weiter gegen das Unsichtbare.

Als sie gegangen waren, rührte Brangwen sich zum ersten Male von der Stelle, an der er gestanden hatte, und sah sich in der Nacht um. Er wünschte, sie möchte in Wirklichkeit so schön und vertraut sein, wie es ihm in diesen wenigen Minuten der Ruhe vorkam. Hinsichtlich des Kindes fühlte er sich einer merkwürdigen Besorgnis unterworfen, etwas Schmerzhaftem, Schicksalmäßigem.

Die Mutter kam wieder zurück und begann die Kleider des Kindes zusammenzulegen. Er klopfte. Sie öffnete voller Verwunderung, ein wenig behutsam, wie ein Ortsfremder, unruhig.

»Guten Abend,« sagte er, »ich darf wohl auf einen Augenblick reinkommen?«

Eine Änderung flog rasch über ihr Gesicht; sie war ganz unvorbereitet. Sie sah auf ihn herab, wie er in dem durch das Fenster fallenden Lichte dastand und seine Narzissen hielt, hinter sich die Finsternis. In seinem schwarzen Anzug erkannte sie ihn erst nicht wieder. Sie war beinahe ängstlich.

Aber er trat schon auf die Schwelle und zog die Tür hinter sich zu. Sie wandte sich in die Küche, durch diesen Einbruch aus der Finsternis aus ihrer Träumerei aufgeschreckt. Er nahm seinen Hut ab und trat auf sie zu. Dann stand er im Hellen da, in seinem schwarzen Anzuge, mit seiner schwarzen Halsbinde, den Hut in der einen und die Blumen in der andern Hand. Sie trat zurück, als fühlte sie sich in seiner Macht, emporgerissen aus ihrem Dasein. Sie erkannte ihn nicht, sie wußte nur, daß er ein Mann sei und ihrethalben komme. Sie vermochte nur einen dunkelgekleideten Mann da vor sich stehen zu sehen mit einer Hand voll Blumen. Das Gesicht und die lebendigen Augen konnte sie nicht erkennen.

Er beobachtete sie ohne sie zu erkennen, nur sein Unterbewußtsein nahm sie wahr.

»Ich bin gekommen, um ein paar Worte mit Ihnen zu reden«, sagte er und schritt auf den Tisch zu, um seinen Hut und die Blumen darauf zu legen, die auseinanderfielen und verstreut liegen blieben. Sie war bei seinem Vortreten zurückgewichen. Sie hatte keinen Willen, keine Wesenheit. Der Wind heulte im Schornstein, und er wartete. Er hatte seine Hände freigemacht. Nun schloß er sie zur Faust.

Er nahm wahr, wie sie ihm so unbekannt, furchtbar und doch innerlich verwandt gegenüberstand.

»Ich bin heraufgekommen,« sagte er und sprach sonderbar geschäftsmäßig und eintönig, »um Sie zu fragen, ob Sie mich wohl heiraten wollten. Sie sind ja doch frei, nicht wahr?«

Ein langes Stillschweigen folgte, währenddessen seine blauen Augen mit merkwürdiger Unpersönlichkeit in die ihren blickten, um nach einer Antwort zu forschen. Er sah nach der Wahrheit in ihr aus. Und sie mußte ihm, wie in Zauberschlaf versetzt, schließlich antworten.

»Jawohl, ich kann wieder heiraten.«

Der Ausdruck seiner Augen wurde ein anderer, weniger unpersönlich, als sähe er sie beinahe an, um die Wahrheit in ihr zu erforschen. Stetig und aufmerksam und ewig waren sie, wie unwandelbar. Sie schienen sie festzumachen, sie zu einem Entschlusse zu bringen. Sie zitterte, fühlte sich wie neuerschaffen, willenlos, in ihm versinkend, in einen gemeinsamen Willen mit ihm.

»Sie möchten mich nehmen?« sagte sie.

Sein Gesicht überzog Blässe.

»Ja«, sagte er.

Wieder eine Pause und Stillschweigen.

»Nein«, sagte sie, aber nicht aus sich selbst. »Nein, ich weiß doch nicht.«

Er fühlte, wie sich die Spannung in seinem Inneren löste, seine Hände öffneten sich, er war nicht imstande, sich zu rühren. So stand er da und sah sie an, hilflos in seinem Zusammenbruch. Für den Augenblick war sie ihm ganz unwirklich geworden. Dann sah er sie auf sich zukommen, merkwürdig gradeaus und wie ohne sich zu bewegen, wie fließend. Sie legte ihre Hand auf seinen Rock.

»Ja, ich möchte auch«, sagte sie, ganz unpersönlich, ihn mit ihren großen, ehrlichen, neugeöffneten Augen ansehend, in denen nun äußerste Wahrheit erstrahlte. Er wurde sehr blaß, wie er so dastand und rührte sich nicht, nur seine Augen hingen an den ihren, und er litt. Sie schien ihn mit ihren neugeöffneten, weiten, fast kindlichen Augen anzusehen, und mit einer seltsamen Bewegung, die ihm Todesqual bereitete, reichte sie ihm langsam ihr dunkles Gesicht und ihre Brust entgegen; die langsame Forderung nach einem Kusse lag darin und ließ irgend etwas in seinem Gehirn zerbrechen, und für ein paar Augenblicke war Dunkelheit um ihn her.

Er hielt sie in seinen Armen und küßte sie ganz weltvergessen. Und doch war es reinste, unvermeidliche Todesqual für ihn, sich selbst so aufzugeben. Da lag sie so leicht und winzig und liebebedürftig in seinen Armen, wie ein Kind, und doch hauchte sie ihm die Sehnsucht nach einer Umarmung ein, nach unendlichem Umarmen, daß er es nicht ertragen konnte und sich setzen mußte.

Er wandte sich und sah sich nach einem Stuhl um, und während er sie noch weiter in seinen Armen festhielt, setzte er sich mit ihr, eng an seine Brust geschmiegt, nieder. Dann fiel er ein paar Sekunden lang gänzlich in Schlaf, in tiefen Schlaf und äußerste, höchste Vergessenheit.

Aus der kam er nur langsam wieder zu sich, sie immer noch warm und eng an sich drückend, und sie war gänzlich verstummt ebenso wie er, in die gleiche Vergessenheit, in fruchtbares Dunkel versunken.

Allmählich kam er wieder zu sich, aber neugeboren, wie nach einer Schwangerschaft, einer Wiedergeburt aus dem Schoße der Dunkelheit. Luftig und leicht erschien ihm alles, neu wie der Morgen, frisch emporsteigend.

Wie die Morgendämmerung strömte das Neue, der Segen auf sie hernieder. Und sie saß mit ihm ganz still, als fühle sie gleich wie er selbst.

Dann sah sie zu ihm empor, die jungen, weiten Augen voller strahlendem Licht. Und er beugte sich nieder und küßte sie auf die Lippen. Und die Morgendämmerung strahlte in sie hernieder, ihr neues Leben begann, über alle Begriffe schön, es war so schön, daß es fast wie ein Hinsterben, wie ein Verscheiden war. Er zog sie plötzlich dichter an sich heran.

Denn bald begann das Licht in ihr zu ersterben, ganz allmählich, und während sie ihm noch im Arme lag, sank ihr Haupt an seine Brust, und so lag sie still, mit herabgesunkenem Haupte, ein wenig ermüdet, stumpf vor Müdigkeit. Und in ihrer Müdigkeit lag etwas wie eine Ablehnung seines Wesens.

»Da ist das Kind«, sagte sie aus langem Schweigen heraus. Er verstand sie nicht. Es war so lange her, daß er keine Stimme mehr gehört hatte. Nun hörte er auch den Wind heulen, als hätte er grade erst wieder angefangen.

»Ja«, sagte er ohne jedes Verständnis. Ein leichter Schmerz zog ihm das Herz zusammen, er fühlte ein kaum merkbares Zusammenziehen der Brauen. Etwas, was er erfassen wollte und nicht konnte.

»Du wirst es liebhaben?« sagte sie.

Das rasche Zusammenzucken, wie ein Schmerz, überlief ihn abermals.

»Ich habe es jetzt schon lieb«, erwiderte er.

Still lag sie an seiner Brust und sog, ohne daran zu denken, seine Körperwärme in sich ein. Für ihn war es eine große Bekräftigung, sie so zu fühlen, wie sie seine Wärme in sich aufnahm und ihm ihr Gewicht und ihr seltsames Vertrauen dafür gab. Aber wo war sie denn, daß sie so geistesabwesend schien? Sein Geist stand weit offen vor Verwunderung. Er verstand sie nicht.

»Aber ich bin so viel älter als du«, sagte sie.

»Wie alt?« fragte er.

»Ich bin vierunddreißig«, erwiderte sie.

»Ich bin achtundzwanzig«, sagte er.

»Sechs Jahre.«

Sie war davon merkwürdig berührt, ja es schien ihr sogar Freude zu machen. Er saß und hörte ihr zu und wunderte sich. Es war so wundervoll, so ganz von ihr übersehen zu werden, während sie so an ihn gelehnt dalag und er sie mit jedem Atemzuge hob und ihr Gewicht auf sich ruhen fühlte; das verlieh ihm Vollkommenheit und eine unverletzliche Machtfülle. Er nahm nicht an ihr teil. Er kannte sie nicht einmal. Es war so merkwürdig, wie sie mit ihrem Körpergewicht so hingegeben dalag. Er schwieg vor Entzücken. Er fühlte seine Körperkraft, wie er sie mit seinem Atem hob. Die seltsame, unverletzliche Vollkommenheit ihrer beiden Wesen ließ ihn sich stark und sicher wie Gott vorkommen. Voller Vergnügen dachte er daran, was der Vikar wohl sagen würde, wenn er dies wüßte.

»Du brauchst hier nicht mehr lange in der Wirtschaft bleiben«, sagte er.

»Ich bin hier aber ganz gern«, sagte sie. »Wenn man an so vielen Stellen gewesen ist, ist es hier recht nett.«

Hierauf schwieg er wieder still. So dicht an ihm lag sie da und doch antwortete sie ihm wie aus weiter Ferne. Aber er machte sich nichts daraus.

»Wie wars bei dir zu Hause, als du noch klein warst?« fragte er.

»Mein Vater besaß ein Gut«, erwiderte sie. »Es war dicht an einem Flusse.«

Dies sagte ihm nicht viel. Alles blieb so unbestimmt wie zuvor. Aber das kümmerte ihn nicht, solange sie nur dicht an ihm lag.

»Ich bin auch ein Gutsbesitzer –, ein kleiner«, meinte er.

»Ja«, sagte sie.

Er wagte sich nicht zu rühren. Er saß da mit seinen Armen um sie geschlungen, und sie ruhte regungslos auf seiner atmenden Brust, und lange Zeit rührte er sich nicht. Dann lagerte seine Hand sich langsam, furchtsam auf der Rundung ihres Armes, auf dem Unbekannten. Sie schien sich noch enger an ihn zu schmiegen. Eine heiße Flamme stieg ihm aus den Eingeweiden die Brust empor.

Aber es war noch zu früh. Sie stand auf und schritt durch den Raum auf eine Schublade zu, aus der sie ein kleines Deckchen nahm. Es lag etwas Ruhiges, Berufsmäßiges auf ihr. Sie hatte ihrem Manne sowohl in Warschau als auch später während des Aufstandes als Pflegerin zur Seite gestanden. Sie fuhr mit ihrem Zurechtsetzen des Geschirres fort. Es war, als bemerkte sie Brangwen gar nicht. Er saß aufrecht da, unfähig, diesen Widerspruch in ihr zu ertragen. Sie schritt undurchforschlich umher.

Während er so nachdenklich und verwundert dasaß, trat sie dicht vor ihn hin und sah ihn mit ihren weiten, grauen Augen an, die beinahe in einem schwachen inneren Lichte lächelten. Ihr häßlich-schöner Mund aber blieb immer noch regungslos und traurig. Ihm war bange.

Sein Blick, angestrengt und unruhig von all dem Ungewohnten, zitterte ein wenig vor ihr; er fühlte, daß er bebte, und doch stand er auf, wie auf einen Wink von ihr, und küßte ihren schweren, traurigen, breiten Mund, der, obschon geküßt, nicht anders wurde. Die Furcht war zu stark in ihm. Er hatte sie noch immer nicht gewonnen.

Sie wandte sich ab. Die Pastorenküche war unordentlich, und kam ihm doch so wunderschön in ihrer und des Kindes Unordnung vor. Es lag eine so wunderbare Abgeschiedenheit über ihr, und dann irgend etwas mit Bezug aus ihn selbst, was ihm das Herz in der Brust schlagen machte. So stand er wie in der Schwebe hängend da und wartete.

Wieder trat sie auf ihn zu, in seinem schwarzen Anzuge, mit seinen blanken blauen Augen, die sich über sie wunderten, sein Gesicht in lebhafter Spannung, das Haar in Unordnung. Sie trat dicht an ihn heran, an seinen gespannten, schwarzgekleideten Körper, und legte ihm die Hand auf den Arm. Er blieb unbewegt stehen. Ihre Augen, in denen dunkle Gedanken an die Vergangenheit mir ihrer Leidenschaft kämpften, durchaus ursprünglich in ihrem tiefsten Untergrunde, stießen ihn gleichzeitig ab und nahmen ihn doch wieder gefangen. Aber er blieb er selbst. Er atmete mühsam, und der Schweiß brach ihm an den Haarwurzeln auf der Stirn aus.

»Du willst mich heiraten?« fragte sie ihn langsam, immer noch ungewiß.

Er war bange, er könne noch nicht sprechen. Er holte tief und schwer Atem, als er sagte:

»Ja, das will ich.«

Noch einmal, zu seiner Todesqual, beugte sie sich leicht mit einer Hand auf seinen Arm gelehnt ein wenig vor und bot ihm mit einer seltsamen ursprünglichen Aufforderung zu einer Umarmung ihren Mund dar. Der war häßlich-schön, und er konnte ihn nicht ertragen. Er preßte seinen Mund auf den ihren, und langsam, langsam kam der Gegendruck, nahm an Kraft und Leidenschaft zu, bis er auf ihn einzudonnern schien, so daß er es nicht länger aushalten konnte. Weiß, atemlos zog er sich zurück. Nur in seinen blauen Augen lag etwas von seinem Wesen zusammengefaßt. Und in den ihren lagerte ein schwaches Lächeln über der dunklen Tiefe.

Sie trieb wieder von ihm weg. Er wäre jetzt gern gegangen. Es war unerträglich. Er konnte es nicht länger aushalten. Er mußte gehen. Und doch war er noch unentschlossen. Aber sie wandte sich von ihm weg.

Mit einem kleinen Stich von Angst, von Verneinung, brachte er alles zur Entscheidung.

»Ich komme morgen und spreche mit dem Vikar«, sagte er und nahm seinen Hut.

Sie sah ihn an, die Augen ausdruckslos und voller Dunkelheit. Er konnte keine Antwort in ihnen finden.

»Das ist doch genug, nich?« sagte er.

»Ja«, sagte sie, ein bloßer Widerhall ohne Sinn oder Bedeutung.

»Gute Nacht«, sagte er.

»Gute Nacht.«

Er ließ sie stehen, ausdruckslos und leer wie sie war. Dann fuhr sie fort das Teebrett für den Vikar fertig zu machen. Da sie den Tisch brauchte, legte sie die Narzissen auf die Anrichte, ohne sie zu beachten. Nur ihre Kühle, als sie sie anfaßte, hallte lange in ihr nach.

Sie waren sich so fremd, mußten sich immer so fremd bleiben, daß seine Leidenschaft ihm zu lauter Qual wurde. Eine derartige Innigkeit in ihrer Umarmung, und solche äußerste Fremdheit in der Berührung! Das war unerträglich. Er konnte den Gedanken an ihre Nähe nicht ertragen und sich dabei gleichzeitig über ihre gänzliche Verschiedenheit, ihre vollständige Fremdheit so völlig klar sein. Er trat in den Wind hinaus. Große Löcher waren in den Himmel geweht, das Mondlicht flog umher. Zuweilen sprang der hochstehende Mond, feucht-glänzend, aus einer Wolkenhöhle und verbarg sich hinter bräunlich schimmernden Wolkensäumen. Dann war ein dunkler Wolkenfleck da, und es wurde dunkel. Dann strahlte es irgendwo in der Nacht wieder auf, wie leuchtende Dämpfe. Und am ganzen Himmel schwoll es auf und fegte einher, ein wüstes Durcheinander fliegender Formen und Dunkelheit und fetzenhafter Dünste von Licht und großen, braunen, kreisrunden Lichtbogen, dann sprang wie ein plötzlicher Schrecken der Mond für einen Augenblick hervor, flüssig glänzend, und tat den Augen weh, bevor er sich wieder in den Schatten einer Wolke stürzte.


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