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Zweites Kapitel.
Sie leben in der Marsch

Sie war die Tochter eines polnischen Gutsbesitzers, der wegen seiner tiefen Verschuldung an die Juden eine reiche Deutsche geheiratet hatte und gerade vor dem Aufstande gestorben war. Sehr jung noch hatte sie Paul Lensky geheiratet, einen gebildeten Menschen, der in Berlin studiert hatte und als Vaterlandsfreund nach Warschau zurückgekehrt war. Ihre Mutter hatte einen deutschen Kaufmann geheiratet und war fortgezogen.

Lydia Lensky wandte sich nach ihrer Hochzeit mit dem jungen Arzt gleichfalls den Vaterlandsfreunden zu und warf jeden Zwang des Gesellschaftslebens von sich. Sie waren arm, aber sehr hochmütig. Um ihre Unabhängigkeit zu bezeigen, lernte sie Krankenpflege. Sie vertraten in Polen die neue Bewegung, die grade in Rußland ihren Anfang nahm. Aber sie waren sehr vaterländisch gesinnt und zugleich sehr »europäisch«.

Sie hatten zwei Kinder. Dann kam der große Aufstand. Lensky, sehr heißblütig und redegewandt, lief umher und hetzte seine Landsleute auf. Kleine Polen liefen durch die Straßen Warschaus auf ihrem Marsche, um jeden Moskowiter zu erschießen. Schließlich traten sie ins südliche Rußland über, und es war für eine Handvoll kleiner Aufständischer etwas ganz Gewöhnliches, mit geschwungenen Säbeln und sprudelnden Redensarten in ein jüdisches Dorf einzureiten und der Tat Nachdruck zu verleihen, daß sie jeden Moskowiter erschießen würden.

Auch Lensky war so eine Art Feuerfresser. Lydia war unter dem Einfluß ihres deutschen Blutes und ihrer ganz anderen Herkunft gemäßigter, dennoch wurde sie unbewußt von ihres Gatten eindringlichen Erklärungen und dem Toben seiner Begeisterung mitgerissen. Er war wirklich tapfer, aber keine Tapferkeit hätte der Lebhaftigkeit seiner Reden gleichkommen können. Er arbeitete sehr angestrengt, bis nichts mehr an ihm lebendig war als seine Augen. Und Lydia folgte ihm wie behext, wie sein Schatten, ihm dienend, wie sein Widerhall. Zuweilen hatte sie ihre beiden Kinder bei sich, zuweilen ließen sie sie allein.

Einmal kamen sie wieder, um sie beide an Diphtherie gestorben vorzufinden. Der Mann weinte laut, ohne Rücksicht auf seine Umgebung. Aber der Krieg tobte weiter, und bald war er wieder in seinem Beruf. Über Lydias Geist hatte sich Dunkelheit gelagert. Sie ging stets wie überschattet umher, still, im Banne eines seltsamen, tiefen Schreckens; sie sehnte sich nach Beruhigung durch etwas Furchtbares, durch Eintritt in ein Kloster, um das Gefühl des Furchtbaren in ihrem Inneren durch den Gottesdienst eines dunklen Glaubens zu befriedigen. Aber sie konnte nicht.

Dann kam ihre Flucht nach London. Für Lensky, den kleinen, schmächtigen Menschen, schloß sich das ganze Leben zu einem einzigen Widerstandsgefühl zusammen, das einfach unlösbar war. Er lebte in einer Art wahnsinniger Reizbarkeit dahin, empfindlich, hochmütig bis an die Grenzen der Möglichkeit, widerspenstig, so daß er sich als Hilfsarzt an einem der großen Krankenhäuser sehr bald unmöglich machte. Sie waren beinahe Bettler. Aber er hielt dennoch an der hohen Meinung seiner selbst fest, er schien in einer Art Sinnestäuschung zu leben, in der er die Rolle eines sehr lebendigen großen Herrn spielte. Seine Gattin behütete er eifersüchtig gegen das Beschämende ihrer Stellung, er war um sie wie ein geschwungenes Schwert, ein merkwürdiger Anblick für englische Augen; er besaß vollkommene Herrschaft über sie, als hätte er sie eingeschläfert. Sie blieb stets widerstandslos, dunkel, überschattet.

Er schwand dahin. Schon bei der Geburt des Kindes war er nichts mehr als Haut und Knochen und ein festgefaßter Gedanke. Sie sah, daß er starb, pflegte ihn, pflegte das Kind, aber in Wahrheit bemerkte sie nichts von dem allem, über ihr lagerte Dunkelheit, wie Gewissensqual, oder wie die Erinnerung an den dunklen, geheimnisvollen, wilden Ritt der Furcht, des Todes, des Schattens der Rache. Als ihr Mann starb, fühlte sie sich erleichtert. Nun würde er nicht länger um sie herumtoben.

England mit seiner Zurückhaltung und seiner Fremdartigkeit sagte ihrer Stimmung zu. Ein wenig hatte sie die Sprache schon gekannt, ehe sie herkamen, und papageienhaft pickte sie sie ziemlich leicht auf. Aber von den Engländern oder von englischer Lebensart wußte sie nichts. Diese waren für sie auch gar nicht vorhanden. Sie war wie jemand, der durch die Unterwelt geht, wo die Schatten wohl erkennbar uns umdrängen, aber sich uns nicht verständlich machen können. Sie empfand die Engländer wie eine mächtige, kalte, etwas feindselige Schar, in der sie als Sonderwesen umherging.

Die Engländer selbst dagegen benahmen sich eher zuvorkommend gegen sie, die Kirche achtete darauf, daß sie keinen Mangel litt. Leidenschaftslos, wie ein Schatten, durch das Kind zu Ausbrüchen qualvoller Liebe gebracht, schritt sie einher. Ihr sterbender Gatte mit seinen gequälten Augen und der straff gespannten Gesichtshaut war für sie zu einer Vorstellung geworden, er war nicht länger Wirklichkeit. Sein Begräbnis, sein Fortgang waren eine Erscheinung geworden. Dann verschwand diese Erscheinung, sie empfand länger keine Unruhe mehr, die Zeit verlief grau, farblos, wie eine lange Reise, auf der sie die Landschaft ohne Bewußtsein an sich vorüberziehen ließ. Wenn sie abends ihr Kind wiegte, verfiel sie am Ende einmal in ein polnisches Schlummerlied, oder zuweilen sprach sie auch einmal polnisch mit sich selbst. Sonst dachte sie nie an Polen, oder an das Leben, dem sie angehört hatte. All das erschien ihr wie ein großer, finsterer, leerer Raum. In der äußeren Tätigkeit ihres Daseins wurde sie ganz Engländerin. Sie dachte sogar englisch. Aber wenn das leere, finstere Sinnen über sie kam, war sie Polin.

So lebte sie eine Zeitlang. Mit leichter Unruhe erwachte sie dann halb zu der Empfindung der Londoner Straßen. Sie empfand, daß es etwas um sie her gab, etwas höchst Ungewohntes, daß sie sich an einem fremden Orte befand. Und dann wurde sie aufs Land geschickt. Nun kam die Erinnerung an das Heim ihrer Kindheit wieder durch, an das große Haus auf dem Lande, an die Bauern im Dorfe.

Sie wurde nach Yorkshire geschickt, um einen alten Geistlichen in seinem Pfarrhause an der See zu pflegen. Dies war der erste Wurf des Farbenspiels, der ihr etwas vor Augen führte, was sie nicht umhin konnte zu sehen. Es tat ihrem Geiste weh, das flache Land und das Moor. Es schmerzte und schmerzte. Und doch drängte es sich ihr als etwas wirklich Lebendiges auf, es erweckte schlummernde Fähigkeiten ihrer Kindheit in ihr, es stand in Beziehung zu ihrem Ich.

Nun sah sie wieder Silber und Blau und Grün in den Lüften um sich her. Und von der See her drang ein sonderbares, nicht zu dämpfendes Licht, das sie wohl wahrnehmen mußte. Primeln glühten um sie her, viele, und sie bückte sich zu dem beunruhigenden Bilde zu ihren Füßen, sie pflückte sogar ein oder zwei Blumen und dachte bei ihren neuen, lebenverkündenden Farben an das, was gewesen war. Wenn sie oben am Fenster saß, drang den ganzen Tag von der See her dies Licht, unaufhörlich, unaufhörlich, ohne Widerstand auf sie ein, bis es sie mit sich fortzuziehen schien in die Ferne, und das Tosen der See erzeugte Schläfrigkeit in ihr, ein Erschlaffen wie im Schlummer. Das Gefühl, als sei sie nur ein totes Spielwerk, wurde etwas schwächer, sie strauchelte zuweilen, und ein schneidendes, rasch emportauchendes Gefühl, daß sie doch ein lebendes Kind besäße, tat ihr unsagbar weh. Ihre Seele füllte sich mit Aufmerksamkeit. Sehr eigentümlich war ihr der beständige Glanz der See, die blau unter dem Himmel dalag, sehr süß und warm kam ihr der Friedhof vor in seinem Winkel des Hügels, wo er jeden Sonnenstrahl einsog und festhielt, wie man eine betäubte Biene zwischen den flachen Händen hält. Graues Gras und Flechten und eine kleine Kirche, und Schneeglöckchen zwischen dem rauhen Grase, und eine Fülle unendlich warmen Sonnenscheines.

Ihre Gedanken waren voller Unruhe. Wenn sie den unter Bäumen dahinfließenden Bach hörte, fuhr sie auf und wunderte sich, was das sein könne. Schritt sie dann hinunter, so kamen ihr die Glockenblumen unter den Bäumen wie glühende Zeichen einer neuen Gegenwart vor.

Der Sommer kam, das Moor war übersät mit Glockenblumen wie der Weg mit Wasserlachen, die Heide bekam unter dem hohen Himmel einen rosigen Glanz, von dem die ganze Welt erwachte. Und sie wurde unruhiger. Ging sie an Ginsterbüschen vorbei, so schrak sie vor ihrer Gegenwart zurück, in die Heide schritt sie hinein wie in ein erregendes Bad, das fast schmerzte. Ihre Finger fuhren über die zusammengeballten ihres Kindes, sie hörte zerstreut seine sehnsuchtvolle Stimme bei seinen Versuchen, sie zum Reden zu bringen.

Und wieder schrak sie zurück, zurück in ihre Finsternis und hielt sich dort so eine Weile sicher vor allem Leben verborgen. Aber der Herbst kam mit dem schwachen, rötlichen Schimmer singender Rotkehlchen, Winter dunkelte über dem Moore und fast wild wandte sie sich dem Leben wieder zu, forderte ihr Leben zurück, verlangte es wieder so, wie es zu ihrer Mädchenzeit gewesen war, zu Hause auf dem Lande unter freiem Himmel. Schnee lag weit und breit, die Telegraphenstangen liefen über die weiße Erde unter dem drohenden Himmel dahin. Und wieder stieg der wilde Wunsch in ihr empor, dies möchte Polen sein, alles möchte wieder ihr eigen sein.

Aber es waren keine Schlitten, keine Glöckchen dabei, sie sah keine Bauern wie ganz neue Menschen daherkommen, mit ihren Schafpelzen und mit den fröhlichen, geröteten, frischen Gesichtern, die wie ganz neu aussahen bei dem Leuchten des Schnees am Boden. Es kam nicht zu ihr zurück, das Leben ihrer Jugend, es kam nicht wieder. Ein schwacher Kampf und dann ein Zurückversinken in die Finsternis des Klosters, wo Satan und seine Teufel um die Mauern heulten und Christus weiß an seinem Siegeskreuze hing.

Vom Krankenzimmer aus sah sie den Schnee vorbeiwirbeln wie eine Schar eiliger Schatten, die zu einer letzten Sendung hinaus auf die bleierne, endlose See flogen, über die weißen Grenzsäume der Küstenbuchten und die schneegefleckte Schwärze halb untergetauchter Klippen. Aber nahebei lag der Schnee auf den Bäumen weich wie Blüten. Nur die Stimme des sterbenden Vikars tönte grau und klagend aus dem Hintergrunde.

Als aber die Zeit kam, daß die Schneeglöckchen durchbrachen, war er tot. Er war tot. Aber mit seltsamem Gleichmut beobachtete die rückkehrende Frau die Schneeglöckchen am Saume des Rasens zu ihren Füßen, die der Wind wohl bleichen, aber nicht fortwehen konnte. Sie beobachtete ihr flatterndes Auf- und Abtauchen, die geschlossenen, weißen Blüten, die nur mit einem Fädchen an dem graugrünen Grase hingen und doch nicht fortgeweht werden konnten, nie im Winde davontrieben.

Als sie am Morgen aufstand, brach die Dämmerung weiß herein mit Lichtschauern, wie ein dünner Schneesturm wehten sie aus dem Osten herüber, wehten stärker und immer wilder, bis das Rosa und Gold erschien und die See dort unten hell wurde. Es ließ sie ganz gleichgültig und unempfindlich. Und doch stand sie bereits außerhalb des Bannes der Finsternis.

Wieder ging eine Zeit der Dunkelheit, anbetendes Versinken in altvertraute Furcht über sie hin, als sie ganz selbstvergessen nach Cossethay geschickt wurde. Hier gab es zuerst nichts, gar nichts – einzig graues Nichts. Aber dann umfing sie eines Morgens der Abglanz goldenen Jasmins und späterhin morgens und abends der unaufhörliche Gesang der Drosseln in den Büschen, bis ihr Herz unter diesem Ansturm sich gezwungen sah, im Wettbewerb antwortend seine Stimme zu erheben. Kleine Weisen kamen ihr ins Gedächtnis zurück. Sie war voller Unruhe, als ängstige sie sich. Widerstrebend mußte sie sich geschlagen bekennen, und aus der Furcht vor der Finsternis wandte sie sich zu der Furcht vor dem Licht. Gern hätte sie sich im Hause verborgen, hätte sie es nur gekonnt. Vor allem sehnte sie sich nach dem Frieden und der Vergessenheit ihres ehemaligen Daseins. Sie konnte die neue Berührung mit der Wirklichkeit nicht ertragen. Die ersten Wehen ihrer Wiedergeburt waren so scharf, daß sie wußte, sie könne sie nicht ertragen. Lieber zerrissen, verstümmelt, außerhalb alles Lebens bleiben, als in diese neue Geburt hineingerissen zu werden, die sie nicht überleben konnte. Sie fühlte nicht die Kraft in sich, hier unter dem fremden, so feindseligen Himmel Englands zu neuem Leben zu erwachen. Sie wußte, sie würde früh sterben, eine farblose, duftlose Blume, die des Winters Ende mitleidlos ins Leben setzt. Und sie wollte ihr Maß flimmernden Lebens bewahren.

Aber ein sonnenheller Tag kam, so voll Duft des Seidelbastes, an dem die Bienen in die gelben Krokus hinabtaumelten, daß sie vergaß, daß sie sich als eine andere fühlte, nicht als sie selbst, voller Freude. Aber sie wußte, wie gebrechlich diese Empfindung war, und hatte Angst vor ihr. Der Vikar streute Erbsenblüten zwischen die Krokus, damit seine Bienen sich in ihnen tummeln könnten, und sie lachte. Dann kam die Nacht mit ihren funkelnden Sternen, die sie von alters her, aus ihrer Mädchenzeit kannte. Und sie funkelten so hell, daß sie merkte, sie seien Sieger.

Sie vermochte weder zu wachen noch zu schlafen. Wie zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft zermalmt, wie eine Blume, die über die Erde hinaufsteigt, um zu finden, daß ein großer Stein über ihr lagert, so hilflos kam sie sich vor.

Ihre Verwirrung, ihre Hilflosigkeit dauerten fort, sie fühlte sich von riesigen Massen umgeben, die sie zermalmen mußten. Und da gab es kein Entrinnen. Außer in ihrer alten Selbstvergessenheit, in der kalten Finsternis, die sie zurückzuhalten strebte. Aber der Vikar zeigte ihr Eier in dem Drosselnest neben der Hintertür. Sie sah selbst die Drosselmutter auf dem Neste und die Art, wie diese ihre Flügel so hastig über ihr Geheimnis breitete. Die ausgebreiteten, hastigen Flügel auf dem Neste erregten sie mehr, als sie ertragen konnte. Sie dachte an sie des Morgens, wenn sie erwachend das Pfeifen des Drosselmännchens hörte, und dachte: »Warum bin ich nicht da draußen gestorben, warum hat man mich hierhergebracht?«

Sie empfand die Leute in ihrer Umgebung nicht als Menschen, sondern als drohende Gespenster. Es wurde ihr sehr schwer, sich wieder zurechtzufinden. In Polen waren die Bauern, das Volk für sie nur Vieh gewesen, ihr gehöriges Vieh, das sie nach Belieben ausnutzen konnte. Was waren dies für Leute? Nun sie erwachte, fühlte sie sich verloren.

Aber als Brangwen an ihr vorbeiging, hatte sie die Empfindung, als habe er sie gestreift. Ihr ganzer Körper war in Erregung geraten, als sie den Hügel hinanstieg. Nachdem sie in der Küche auf der Marsch bei ihm gewesen war, hatte sich die Stimme ihres Körpers stark und dauernd erhoben. Sehr bald verlangte sie nach ihm. Er war der Mann, der ihr bei ihrem Wiedererwachen am nächsten gestanden hatte.

Und doch versank sie immer wieder in die alte Bewußtlosigkeit, Gleichgültigkeit, und ein innerer Wille sagte ihr, sie dürfe nicht weiter ins Leben hinein. Aber dann erwachte sie eines schönen Morgens und fühlte ihr Blut strömen, fühlte sich wie eine geöffnete Blüte ohne Schutz den Sonnenstrahlen ausgesetzt und voller Sehnsucht.

Sie lernte ihn besser kennen, und ihr Gefühl heftete sich an ihn –, just an ihn. Ihr Gefühl war stark gegen ihn, weil er nicht von ihrer Art war. Aber ein blinder Trieb veranlaßte sie, ihn zu nehmen, ihn zu besitzen, und sich dann ganz ihm hinzugeben. Das bedeutete Sicherheit. Sie fühlte, wie sicher seine Wurzeln, sein Leben war. Auch war er jung und so frisch. Sie erfreute sich an dem blauen, stetigen Leben in seinen Augen wie an einem schönen Morgen. Er war sehr jung.

Dann verfiel sie wieder in ihre Starre, ihre Gleichgültigkeit. Aber das würde sicherlich nur vorübergehend sein. Wärme durchflutete sie, sie fühlte, wie sie sich öffnete, entfaltete, fragend, wie eine Blume sich der Sonne mit einer Frage erschließt, wie die Schnäbel junger Vögelchen sich lediglich öffnen, um zu empfangen, zu empfangen! Und entfaltet wandte sie sich ihm zu, gradeswegs Und er kam, langsam, furchtsam, von einer geheimnisvollen Furcht zurückgehalten und von einem Sehnen getrieben, mächtiger als er selbst.

Als sie sich öffnete und ihm zuwandte, da verschwand alles Vergangene und alles, was sie umgab, sie war neu wie eine sich eben entfaltende Blume, die bereit, erwartungsvoll, empfangend dasteht. Er konnte das nicht verstehen. Infolge dieses Mangels mußte er zu ehrbarem Werben und geheiligter, gesetzlich anerkannter Ehe schreiten. Daher blieb sie nach seinem Gang zum Pfarrhause, als er um sie angehalten hatte, ein paar Tage lang wie gefangen in diesem Zauber, geöffnet, empfangend vor ihm. In ihm war die Urwelt los. Er sprach mit dem Vikar und ließ sich aufbieten. Dann stand er und wartete.

Sie verblieb ihm gegenüber aufmerksam und vollgefühlsmäßiger Erwartung, entfaltet, bereit ihn zu empfangen. Er aber konnte nicht, teils aus Furcht vor sich selber und dann wegen seiner Begriffe von ihr schuldiger Verehrung. So blieb er in einem Zustande von Verwirrung.

Und nach ein paar Tagen schloß sie sich allmählich wieder, entschwand ihm, sie zog eine Schutzhülle über, wurde undurchdringlich für ihn und vergaß seiner. Dann breitete sich schwarze, bodenlose Verzweiflung über ihn, und er merkte, was er verloren habe. Er dachte, er habe sie endgültig verloren, er empfand, was es für ihn bedeutet habe, mit ihr in Gedankenaustausch zu stehen und dann wieder verstoßen zu werden. In seinem Elend war ihm das Herz schwer wie ein Stein, er ging wie leblos umher.

Bis er dann schließlich so verzweifelt wurde, daß er fast den Verstand verlor und in eine Wut verfiel, die keine Grenzen kannte. Sprachlos bewegte er sich aus der Marsch in heftiger, düsterer, wortloser Leidenschaft umher, die fast wie Haß gegen sie aussah. Bis sie dann allmählich wieder zum Leben erwachte, wieder ihrer gemeinsamen Beziehungen gewahr wurde, sich ihm aufs neue zu erschließen, ihm entgegenzuströmen begann. Er wartete, bis der Zauber zwischen ihnen wieder mächtig wurde, bis sie wieder in einer brausenden, stürmenden Flamme zusammenkamen. Und dann überkam ihn wieder Verwirrung, er war wie mit Stricken gebunden und konnte sich nicht zu ihr hinbewegen. So kam sie zu ihm, sie knöpfte ihm die Weste über der Brust auf und das Hemd, und legte ihm die Hand auf die Brust in dem Zwange, ihn kennen zu lernen. Denn für sie war es grausam, sich ihm erschließen und ihm anbieten zu sollen und dann noch nicht zu wissen, wer er war, nicht einmal ob er wirklich da sei. Sie gab sich der Stunde hin, aber er vermochte das nicht, und verpaßte so die Gelegenheit, sie hinzunehmen.

So lebte er bis zur Hochzeit in der Schwebe, als sei nur die Hälfte seines Wesens noch am Leben. Sie verstand das nicht. Aber wieder kam die Unsicherheit über sie, und die Tage schlichen hin. Er konnte zu keiner wirklichen Berührung mit ihr kommen. Für den Augenblick ließ sie ihn wieder gehen.

Er litt sehr unter dem Gedanken an das eigentliche Zusammenleben, an die Vertraulichkeit und Blöße der Ehe. Er kannte sie ja so wenig. Sie waren sich ja so fremd, so unbekannt. Und sie konnten auch nicht recht miteinander reden. Wenn sie von Polen oder ihrer Vergangenheit erzählte, war ihm das alles so fremd, sie vermittelte ihm damit so gar nichts. Und wenn er sie dann ansah, so wandelte eine übertriebene Ehrfurcht und Angst vor dem Unbekannten sein Sehnen in eine Art Verehrung um, die sie gegen seinen Willen seinen fleischlichen Wünschen fernhielt.

Sie wußte dies nicht, sie merkte es nicht. Sie hatten sich angesehen und sich gegenseitig hingenommen. Das war richtig, und dagegen gab es kein Stemmen, es war zwischen ihnen alles in Ordnung.

Während der Hochzeit blieb sein Gesicht steif und ausdruckslos. Er hätte gern getrunken, um von seinen Ängsten und Hintergedanken loszukommen, um den richtigen Augenblick herbeizuführen. Aber er konnte nicht. Die Spannung seines Herzens verstärkte sich nur. Die Scherze und die witzigen, offenherzigen Anspielungen seiner Gäste machten ihn nur noch zurückhaltender. Er konnte sie nicht anhören. Er war von dem Bevorstehenden wie besessen und konnte nicht davon freikommen.

Sie saß ruhig mit einem stillen, seltsamen Lächeln da. Da sie ihn genommen hatte, wünschte sie ihn auch ganz für sich zu haben, sie gehörte nun gänzlich der Stunde an. Keiner Zukunft, keiner Vergangenheit, nur dieser ihrer Stunde. Sie nahm ihn nicht einmal wahr, wie er da neben ihr am Kopfende der Tafel saß. Er war ihr ganz nahe, ihre Vereinigung stand nahe bevor. Was wollte sie weiter!

Als die Abschiedszeit für die Gäste herankam, entzündete sich ihr dunkles Gesicht mit einem sanften Licht, die Haltung ihres Kopfes wurde stolz, ihre grauen Augen waren hell und weit geöffnet, so daß die Männer sie nicht ansehen konnten und die Frauen sich von ihrem Anblick erhoben fühlten, sie beteten sie an. Ganz wundervoll war sie beim Abschied, ihr häßlicher, breiter Mund lächelte vor Stolz und Verständnis, ihre Stimme klang weich und voll in den fremden Tönen, ihre weit offenen Augen sahen nicht einen einzigen der sich verabschiedenden Gäste. Ihr Benehmen war liebenswürdig und bezaubernd, aber sie übersah vollkommen ihn oder sie, denen sie grade die Hand gab.

Und Brangwen stand neben ihr und tauschte mit seinen Freunden einen treuherzigen Handschlag und nahm dankbar jede Aufmerksamkeit entgegen, erfreut über ihre Achtung. Aber sein Herz stand Qualen aus, er versuchte auch nicht einmal zu lächeln. Die Zeit seines Gerichts und seiner Zulassung, sein Gethsemane und sein Einzug zugleich war nun gekommen.

Hinter ihr lag noch so vieles verborgen, was er nicht kannte. Wenn er sich ihr näherte, stieß er auf so furchtbar viel Unbekanntes, das ihm peinlich war. Wie konnte er all das umfassen und es ergründen? Wie sollte er seine Arme um all dies Dunkel legen, es an seine Brust drücken und sich ihm hingeben? Was konnte ihm dabei nicht zustoßen? Mochte er sich auch ewig strecken und härmen, nie würde er das alles verstehen und sich selber nackt und bloß aus seiner eigenen, dieser ihm unbekannten Macht ausliefern können. Wie sollte ein Mann so stark sein, daß er sie in die Arme schließen und besitzen und dabei doch nicht sicher sein konnte, er habe auch all dies Furchtbare, Unbekannte, ihm dicht am Herzen Liegende erobert? Was lag denn in ihr, dem er sich zu übergeben hatte und das er zu gleicher Zeit behalten sollte?

Er sollte ihr Gatte werden. So war es beschlossen. Und er wünschte es sehnlicher als sein eigenes Leben oder sonst irgend etwas. Sie stand in ihrem Seidenkleide neben ihm, ihn mit seltsamen Blicken anschauend, so daß ein gewisser Schrecken, eine Angst vor ihr von ihm Besitz ergriff, weil sie so seltsam und drohend aussah und ihm keine Wahl ließ. Er konnte den Blick unter ihren starken, seltsamen Brauen hervor nicht mehr aushalten.

»Ist es spät?« fragte sie.

Er sah auf die Uhr.

»Nein – halb zwölf«, sagte er. Und er brauchte eine Ausflucht, um in die Küche gehen zu können und sie im Zimmer inmitten der Unordnung halbgeleerter Trinkgläser stehen zu lassen.

Lilly saß in der Küche am Feuer, den Kopf in den Händen. Sie fuhr bei seinem Eintritt in die Höhe.

»Wat bist du nich to Bedde gohn?« sagte er.

»Ick dach, ick moch woll beter hier blieben und wegsluten un so«, antwortete sie. Ihre Erregung machte ihn ruhiger. Er gab ihr einen kleinen Auftrag und ging dann ruhig, beinahe beschämt, aber nun ganz fest wieder zu seiner Frau. Sie stand und beobachtete ihn einen Augenblick, während er sich mit weggewandtem Gesicht herumbewegte. Dann sagte sie:

»Du wirst gut gegen mich sein, nicht wahr?«

Sie war klein, mädchenhaft, furchtbar, mit einem sonderbar umfassenden Blick in den Augen. Sein Herz hüpfte in einem Ansturm von Liebe und Sehnsucht in ihm empor, er schritt blind auf sie zu und schloß sie in seine Arme.

»Das will ich«, sagte er, als er sie fester und fester an sich preßte. Sie fühlte sich durch die Kraft seiner Umarmung beruhigt und blieb ganz still, hingegeben an ihn gelehnt, sich mit ihm vermischend. Und er riß sich von Zukunft und Vergangenheit los und überließ sich mit ihr der Stunde. Der Stunde, in der er sie hinnahm und bei ihr war und nichts um sie mehr da war und sie in einer urgewaltigen Umarmung über ihre äußerliche Fremdheit hinauswuchsen. Aber am Morgen war er wieder unruhig. Sie war ihm wieder fremd und unbekannt. Nur lag Stolz in seiner Furcht, der feste Glaube, daß er ihr zum Genossen bestimmt sei. Und sie, die in der Stunde, da sie in dies neue Leben eintrat, alles vergessen hatte, erstrahlte vor freudigem Kraftgefühl, so daß er davor erzitterte, sie zu berühren.

Die Ehe bedeutete für ihn eine gewaltige Veränderung. Alles erschien ihm so fern, so bedeutungslos, nun er die mächtige Quelle seines Lebens erkannte, seinen Augen öffneten sich neue Welten, und er wunderte sich, wenn er daran dachte, wie gleichgültig ihm früher dies alles gewesen war. Es zeigte sich ihm eine neue, beruhigende Verwandtschaft in den Dingen, die er um sich her sah, in seinem Vieh, wenn er es pflegte, in seinem jungen Weizen, wenn er im Winde schwankte.

Und immer, wenn er nach Hause kam, ging er ruhig, erwartungsvoll, wie ein Mann, der einer tiefen, unbekannten Befriedigung entgegengeht. Zur Essenszeit erschien er in der Tür und blieb einen Augenblick stehen, um zu sehen, ob sie da wäre. Er sah zu, wie sie die Teller auf den weißgescheuerten Tisch setzte. Ihre Arme waren dünn, sie trug ein enganliegendes Leibchen und weite Röcke, hatte einen dunklen, feingeformten Kopf mit schlicht anliegendem Haar. Indessen war es grade ihr Kopf, so feingeformt und aufregend, der sie ihm als seine Frau enthüllte. Wie sie da in ihrer engen Jacke, den weiten Röcken und mit ihrer kleinen seidenen Schürze herumwirtschaftete, ihr dunkles Haar schlicht gescheitelt, enthüllte sich ihm ihr Kopf in seiner ganzen innerlichen, zarten Schönheit, und er wußte, sie war seine Frau, er kannte ihr innerstes Wesen, das nun sein eigen sein sollte. Und auf die Weise schien er in Berührung mit ihr, in Berührung mit dem Unbekannten, dem Unberechenbaren und nicht Vorherzusehenden zu leben.

Mit Bewußtsein achteten sie nicht besonders viel aufeinander.

»Ich komme wohl ein bißchen früh?« sagte er.

»Jawohl«, erwiderte sie.

Er wandte sich zu den Hunden oder zu der Kleinen, wenn sie da war. Die kleine Anna spielte auf dem Hofe herum, sauste alle Augenblicke herein, um ihre Mutter irgend etwas zu fragen, die Arme um ihrer Mutter Röcke zu schlagen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen und vielleicht einmal gestreichelt zu werden und um dann wieder vergessend hinaus zu fliegen.

Wenn Brangwen dann zu dem Kinde oder zu dem Hunde zwischen seinen Knien sprach, dann wurde er wohl sein Weib gewahr, wie sie sich in ihrem enganliegenden Leibchen und dem Spitzentuche nach dem Eckbord emporreckte. Mit einem scharfen Stich wurde er gewahr, daß sie ihm und er ihr angehörte. Er wurde gewahr, daß er nur durch sie lebte. War sie sein eigen? War sie hier für immerdar? Oder konnte sie wieder weggehen? Sie gehörte ihm nicht wirklich an, es war keine wirkliche Ehe, die Ehe zwischen ihnen beiden. Sie konnte wieder gehen. Er fühlte sich nicht als ihren Herrn, ihren Gatten, den Vater ihrer Kinder. Sie gehörte woanders hin. Jeden Augenblick konnte sie gehen. Und er fühlte sich stets zu ihr hingezogen, hinter ihr her, mit ewig brennender, ewig unbefriedigter Sehnsucht. Immer müßte er heimkehren, wohin ihn seine Schritte auch führten, immer zu ihr, und nie könnte er sie völlig erreichen, nie würde er sich ganz befriedigt, ganz beruhigt fühlen, weil sie ja doch wieder fortgehen konnte.

Abends wurde er froh. Wenn er dann auf dem Hofe fertig war und hereinkam und sich gewaschen hatte, wenn das Kind zu Bett gebracht war, dann konnte er ihr gegenüber am Feuer sitzen mit seinem Bier auf dem Vorsetzer und der langen, weißen Pfeife zwischen den Fingern, sicher, daß sie ihm gegenüber saß, an ihrer Stickerei arbeitend oder mit ihm sprechend, und nun fühlte er sich bis zum Morgen bei ihr geborgen. Sie war merkwürdig selbstgenügsam und sprach wenig. Gelegentlich hob sie einmal den Kopf, und ihre grauen Augen erglänzten in einem sonderbaren Lichte, das nichts mit ihm oder seinem Eigentum zu schaffen hatte, und dann erzählte sie ihm von sich. Sie schien dann wieder in ihrer Vergangenheit zu leben, meistens in ihrer Kinder- oder Mädchenzeit, bei ihrem Vater. Sehr selten sprach sie von ihrem ersten Manne. Aber manchmal war sie auch mit strahlenden Augen wieder in ihrem alten Heim, und dann erzählte sie ihm von dem Aufstande, der Fahrt nach Paris mit ihrem Vater, Geschichten von Wahnsinnstaten der Bauern, als eine Welle gottsuchender, selbstvernichtender Wut über das Land hingegangen war. Dann pflegte sie den Kopf zu heben und zu erzählen:

»Als sie die Eisenbahn über das Land gebaut hatten, legten sie nachher kleinere Bahnen an, mit schmalerer Spur, die auch bis zu unserer Stadt gingen – hundert Meilen weit. Als ich noch ein kleines Mädchen war, war Gisla, meine deutsche Erzieherin, immer sehr entsetzt und wollte mir nie etwas erzählen. Aber ich hörte, was die Dienstboten sich erzählten. Ich weiß noch, Peter, der Kutscher wars. Und mein Vater und ein paar von seinen Freunden, auch Gutsbesitzer, sie hatten ein Fuhrwerk genommen, ein ganzes Eisenbahnfuhrwerk – in dem man reist ...«

»Einen Eisenbahnwagen«, sagte Brangwen.

Sie lachte bei sich.

»Ich weiß noch, es gab eine mächtige Aufregung: ja – einen ganzen Wagen, und sie hatten Mädchen, weißt du, filles, nackt, den ganzen Wagen voll, und so kamen sie in unsere Stadt. Sie kamen durch Judenstädte und es gab eine mächtige Aufregung. Kannst du dir das vorstellen? Die ganze Landschaft! Und meine Mutter, sie liebte das nicht. Gisla sagte zu mir: ›Madame, sie darf das nicht wissen, daß du solche Dinge gehört hast‹. – Meine Mutter, sie weinte oft, und sie wollte meinen Vater schlagen, richtig schlagen. Er pflegte dann zu sagen, wenn sie weinte, weil er den Wald verkauft hatte, das Holz, um mit dem Gelde in der Tasche zu klimpern und nach Warschau oder Paris oder Kiew zu fahren, wenn sie dann sagte, er müsse sein Wort zurücknehmen, er dürfte den Wald nicht verkaufen, dann stand er da und sagte: ›Ich weiß, ich weiß, ich weiß, das habe ich alles schon gehört, das habe ich alles schon früher gehört. Erzähl mir doch mal was anderes! Ich weiß, ich weiß, ich weiß!‹ Oh, aber kannst du das begreifen, ich liebte ihn, wenn ich ihn so in der Tür stehen sah und er dann bloß sagte: ›Ich weiß, ich weiß, das kenne ich alles schon.‹ Sie konnte ihn nicht ändern, nein, und wenn sie sich deswegen umgebracht hätte. Und sie konnte doch jeden anderen ändern, nur ihn nicht, ihn konnte sie nicht ändern ...«

Brangwen konnte dies nicht verstehen. Er sah vor sich ein Bild von einem Viehwagen voll nackter Mädchen, der aus dem Nichts ins Nichts fuhr, wie Lydia lachte, weil ihr Vater große Schulden machte und sagte: »Ich weiß, ich weiß, ich weiß«; wie die Juden durch die Straßen rannten und auf jiddisch riefen: »O nicht doch, nicht doch!« und von den wahnsinnigen Bauern niedergehauen wurden – sie nannte sie »Vieh« –, wobei sie mit Spannung, ja sogar Vergnügen zusah; von Lehrern und Erzieherinnen und Paris und einem Kloster. Das war für ihn zu viel. Und da saß sie, erzählte ihre Geschichten in die leere Luft hinein, gar nicht für ihn, sich eine sonderbare Oberhoheit über ihn anmaßend; ein leerer Raum war zwischen ihnen, etwas Seltsames und Fremdartiges und außerhalb seines Lebens Stehendes, wenn sie so redend, schwatzend dasaß, ohne Zeitmaß oder Vernunft, lachend, wenn er entsetzt oder verwundert war, nichts verurteilend, seinen Geist verwirrend und die ganze Welt durcheinanderrührend, ohne jede Ordnung oder Stetigkeit irgendwelcher Art. Gingen sie dann zu Bett, so wußte er, er habe nichts mit ihr zu schaffen. Sie war wieder in ihrer Kindheit, er war ein Bauer, ein Leibeigener, ein Diener, ihr Liebhaber, ihr Schätzchen, ihr Schatten, ein Nichts. Still lag er voller Verwunderung da, starrte in dem ihm so wohlbekannten Raume umher und wunderte sich, ob er wohl wirklich noch derselbe sei, mit dem Fenster und dem Schrank, oder ob es nur ein Trugbild seines Dunstkreises sei. Und dann geriet er allmählich in eine rasende Wut gegen sie. Aber weil er so erstaunt war, und zwischen ihnen noch ein so großer Spielraum lag, und sie etwas so Sonderbares für ihn war mit all dem Wunderbaren, das von ihr ausströmte, da nahm er keine Vergeltung an ihr. Nur lag er still, die Augen vor unausgesprochener Wut weit geöffnet, ohne jedes Verständnis, aber in festgewurzelter Feindseligkeit.

Und so verblieb er voller Grimm und innerlich getrennt von ihr, äußerlich aber unverändert, nur innerlich fest in mächtigem Widerstreben gegen sie. Sie wurde dies nur allmählich gewahr. Und es reizte sie, als sie merkte, daß er eine Macht für sich darstelle. Sie verfiel in eine Art düsterer Abgeschlossenheit ihrerseits, eine merkwürdige Art von Gemeinschaft mit geheimnisvollen Mächten, eine Art wundersam-dunklen Zustand, der ihn und das Kind beinahe verrückt machte. Er ging tagelang steif vor innerem Widerstreben gegen sie umher, gesteift durch den Willen, sie, so wie sie jetzt war, zu vernichten. Dann sprang plötzlich aus dem Nichts eine neue Verbindung zwischen ihnen hervor. Das kam über ihn als er auf dem Felde arbeitete. Die Spannung, die Knechtschaft zerbrach, die Flut der Leidenschaft strömte in furchtbarem, prachtvollem Ansturm vorwärts, so daß ihm war, als könne er die Bäume am Wege abbrechen und eine neue Welt erschaffen.

Und kam er dann nach Hause, dann gab es keinerlei Anzeichen von Gemeinschaft zwischen ihnen. Er wartete und wartete, bis sie kam. Und während seines Wartens erschienen ihm seine Glieder stark und prächtig, seine Hände kamen ihm vor wie leidenschaftlich ergebene Diener, gut anzusehen, er fühlte eine riesige Lebenskraft in sich und heiß emporquellendes Blut.

Sie kam schließlich ganz sicher und rührte ihn an. Dann brach er in Flammen um sie aus und verlor sich ganz. Mit einem tiefen Lachen auf dem Grunde ihrer Augen sahen sie einander an, und dann nahm er sie aufs neue, ganz und gar, er schwelgte wie wahnsinnig in ihrem unerschöpflichen Reichtum, vergrub sich in ihren Tiefen in nicht endender Forscherwonne, und sie schwelgte währenddessen ununterbrochen in dem, was er genoß, sie schleuderte all ihre Geheimnisse zur Seite und tauchte nieder in Tiefen, die auch ihr geheimnisvoll blieben, während sie vor Furcht und äußerster Angst in Wonne bebte.

Was machte es denn aus, wer sie waren, ob sie einander kannten oder nicht?

Wieder ging die Stunde hin, eine neue Trennung entstand zwischen ihnen, und Wut und Elend und schmerzender Verlust auf ihrer Seite, Entthronung und Sklavenarbeit in der Tretmühle für ihn. Aber das machte nichts. Sie hatten ihre Stunde genossen, und sollte sie abermals schlagen, sie waren bereit, bereit das Spiel an dem Punkte wieder aufzunehmen, wo sie es abgebrochen hatten, am Saume äußerster Finsternis, wo die mit Verbissenheit aufgespürten Geheimnisse der Frau dem Manne zur Beute fallen, wo diese Geheimnisse dem Manne zum Abenteuer werden und beide sich diesem Abenteuer hingeben.

Sie wurde schwanger, und abermals entstand Stille und Entfremdung zwischen ihnen. Sie wollte weder von ihm noch von seinen Geheimnissen oder seinen Abenteuern etwas wissen, er war abgesetzt, ausgestoßen. Er schäumte vor Wut über das schmächtige Frauenzimmer mit dem häßlichen Munde, das nichts mit ihm zu tun haben wollte. Zuweilen wurde sein Grimm gegen sie laut, aber sie weinte nicht. Wie ein Tiger fuhr sie auf ihn los, und es kam zum Kampf.

Er mußte lernen an sich zu halten, und das haßte er. Er haßte sie, weil sie nicht mehr für ihn da sein wollte. Und so zog er los, irgendwohin.

Aber ein triebmäßiges Gefühl von Dankbarkeit und die Gewißheit, daß sie ihn doch wieder aufnehmen würde, daß sie späterhin auch wieder für ihn da sein würde, beschützte ihn vor zu fernen Abwegen. Er nahm sich sehr in acht, nicht zu weit zu gehen. Er wußte, sie möchte sonst in völliges Vergessen seines Daseins versinken, sie könnte von ihm fort, immer weiter, weiter, weiter treiben, bis sie für ihn verloren wäre. Er besaß genügend Verstand und inneres Warnungsgefühl, dies wohl zu bemerken und sich dementsprechend einzustellen. Denn verlieren wollte er sie nicht: er wollte sie nicht wegtreiben lassen.

Kalt nannte er sie und selbstsüchtig, nur auf sich selber bedacht, eine Fremde mit schlechtem Herzen, die sich in Wirklichkeit um nichts kümmerte, die auf dem Grunde ihrer Seele keine Spur von Gefühl besitze, nicht ein bißchen nett sein könne. Er wütete und häufte Schmähungen gegen sie auf, die wohl ein Körnchen Wahrheit in sich trugen. Aber ein gewisses Feingefühl verbot ihm auch hier, zu weit zu gehen. Er wußte, und zitterte vor Wut und Haß deswegen, daß sie ganz so gemein war, daß sie alles war, was nur gemein und schlecht sein konnte. Aber das Zartgefühl auf dem Grunde seines Herzens war da, und das sagte ihm, daß er sie doch vor allen Dingen nicht verlieren wolle, daß er sie nicht verlieren würde.

So nahm er immer noch eine gewisse Rücksicht auf sie und hielt gewisse Beziehungen zwischen ihnen aufrecht. Er ging wieder häufiger aus, in den Roten Löwen, um dem Irrsinn zu entfliehen, neben ihr sitzen zu müssen, während sie ihm doch nicht angehörte, während sie sich so weit von ihm geschieden hatte, wie eine Frau es aus Gleichgültigkeit nur tun kann. Er konnte nicht zu Hause bleiben. So zog er wieder in den Roten Löwen.

Und zuweilen betrank er sich auch. Aber er hielt Maß; gewisse Dinge zwischen ihnen setzte er nie aufs Spiel.

Ein gequälter Ausdruck trat in seine Augen, als verfolge ihn etwas unaufhörlich. Er blickte scharf und rasch umher, er konnte nicht lange untätig still sitzen. Er mußte ausgehen, um Gesellschaft zu finden und sich da gehen lassen zu können. Denn eine andere Möglichkeit sich zu äußern besaß er nicht, er konnte in der Arbeit keine Erlösung finden, dazu besaß er nicht das Wissen. Je weiter die Monate ihrer Schwangerschaft sich hinzogen, desto mehr ließ sie ihn allein, desto weniger wurde sie ihn gewahr, sein Dasein war für sie ausgelöscht. Und er fühlte sich gebunden, geknebelt, unfähig sich zu rühren, am Rande des Wahnsinnes, zu toben imstande. Denn sie blieb ruhig und höflich, als wäre er gar nicht da, mit der Höflichkeit und Ruhe, die sie den Dienstboten bezeigte.

Und dabei trug sie doch sein Kind unterm Herzen, an ihm war es also, sich zu unterwerfen. Sie saß ihm gegenüber, nähte, ihr fremdartiges Gesicht undurchforschlich und gleichgültig. Er fühlte den Wunsch, sie zur Anerkennung seiner selbst, seiner Gegenwart zu zwingen. Es war unerträglich, wie sie ihn übersah. Er wollte seine Anerkennung aus ihr herauspressen. Dieser Wunsch quälte ihn tödlich.

Aber etwas Höheres in ihm hielt ihn davon ab, zwang ihn zu Bewegungslosigkeit. So ging er aus dem Hause, um Erleichterung zu finden. Oder er wandte sich zu dem kleinen Mädchen um ihr Mitgefühl und ihre Liebe; mit aller Macht drängte er sich um Hilfe an die kleine Anna. So waren sie bald wie ein Liebespaar, Vater und Kind.

Denn er hatte Angst vor seiner Frau. Wenn sie so mit gesenktem Kopfe dasaß, arbeitend oder lesend, aber so tonlos schweigsam, daß es sich ihm wie ein Mühlstein aufs Herz legte, dann wurde sie selbst zum Mahlstein, der sich auf ihn legte, ihn zermalmte, wie zuweilen der Himmel schwer über der Erde lagert.

Und doch wußte er, er könne sie aus dem schweren Dunkel, in das sie versunken war, nicht herausreißen. Er durfte nicht versuchen, sie dazu aufzurütteln, ihn wieder zu erkennen und wieder eins mit ihm zu sein. Das würde unheilvoll, unheilig sein. Mochte er also so wild toben wie er wollte, er mußte sich zurückhalten. Aber die Handgelenke zitterten ihm wie wahnsinnig, als wollten sie zerspringen.

Als im November die Blätter mit einem klatschenden Geräusch an die Fensterladen flogen, fuhr er empor, und ein flackerndes Leuchten trat ihm in die Augen. Der Hund sah zu ihm auf und ließ den Kopf wieder gegen das Feuer sinken. Aber seine Frau wurde unruhig. Er merkte, wie sie aufhorchte.

»Das rasselt so, wenn sie fliegen«, sagte er.

»Was?« fragte sie.

»Die Blätter.«

Wieder versank sie. Die Blätter, die der Wind da draußen gegen das Holzwerk blies, waren ihm näher gekommen als sie. Die Spannung im Zimmer wurde überwältigend, es wurde ihm schwer, auch nur den Kopf zu bewegen. Er saß da mit jedem Nerv, jedem Äderchen, jeder Muskelfaser auf der Folter. Es war ihm, als sei er ein geborstener Schwibbogen, dem man seine Stütze entziehe. Denn ihr Erwidern war schon wieder vorbei, er stieß ins Leere. Und so blieb er für sich, er allein bewahrte sich vor dem Sturz ins Nichts, vor dem Zerbersten in Staub durch nichts als innere Spannung, durch rein innerlichen Widerstand.

Während der letzten Monate ihrer Schwangerschaft ging er in einem überhitzten, bedrohlichen Zustand umher, der sich nicht erschöpfen ließ. Auch sie war niedergedrückt und weinte zuweilen. Es kostete so viel Lebenskraft, von vorn wieder anzufangen, nachdem sie so übergroße Verluste erlitten hatte. Zuweilen weinte sie. Dann stand er steif da und glaubte, das Herz solle ihm zerspringen. Denn nach ihm verlangte sie nicht, sie wollte ihn nicht einmal sehen. Schon aus dem Zusammenziehen ihres Gesichts konnte er erkennen, daß er zurückstehen müßte, daß er sie unberührt, allein lassen müsse. Denn der alte Kummer war wieder über sie gekommen, der alte Verlust, der Schmerz über ihr früheres Leben, um den toten Gatten, die toten Kinder. Dies war ihr heilig, und er durfte ihr mit seinem Trost keine Gewalt antun. Was sie von ihm wollte, würde sie zu ihm führen.

Er stand abseits, das Herz geschwellt.

Er mußte zusehen, wenn ihr die Tränen kamen, ihr über das nur selten bewegte Gesicht rollten, das nur zuweilen aufzuckte, auf die Brust hernieder, die so stille war, sich nur so selten regte. Und da war kein Laut, außer daß sie hin und wieder mir einer seltsamen Bewegung wie im Schlafwachen ihr Taschentuch nahm und sich damit übers Gesicht fuhr oder sich schnaubte, und dann wieder lautlos weiter weinte. Er erkannte, jeder Versuch sie zu trösten wäre schlimmer als gar nichts, müsse ihr verhaßt sein, einen Mißklang für sie bedeuten. Sie mußte weinen. Aber es trieb ihn zum Wahnsinn. Sein Herz war siedend heiß, das Hirn schmerzte ihm im Kopfe, er ging fort, aus dem Hause.

Zur größten, zur wesentlichsten Quelle des Trostes wurde für ihn das Kind. Sie war ihm zuerst voller Zurückhaltung ferngeblieben. Wenn sie an einem Tage noch so freundlich war, am nächsten verfiel sie wieder in ihre alte Nichtachtung, hielt sich kalt, fremd in der Entfernung.

Er hatte am ersten Morgen nach der Hochzeit entdeckt, es würde nicht leicht mit dem Kinde gehen. Bei Anbruch der Dämmerung war er plötzlich aufgewacht, als er ein kleines Stimmchen vor der Tür klagen hörte:

»Mutter!«

Er stand auf und machte die Tür auf. Sie stand in ihrem Nachthemd auf der Schwelle, so wie sie aus dem Bett geklettert war, die schwarzen Augen rund und feindselig ihn anstarrend, ihr helles Haar wild umherstehend. Mann und Kind sahen einander an.

»Ich will meine Mutter«, sagte sie mit eifersüchtiger Betonung des »meine«.

»Denn komm«, sagte er freundlich.

»Wo ist meine Mutter?«

»Hier ist sie – komm mit.«

Die Kinderaugen, die den Mann mit dem strubbeligen Haar und Bart anstarrten, veränderten ihren Ausdruck nicht. Die Stimme der Mutter rief sie leise. Mit Zittern betraten die kleinen bloßen Fuße das Zimmer.

»Mutter!«

»Komm, Liebling.«

Rasch kamen die kleinen bloßen Füße näher.

»Ich wunderte mich schon, wo du wärest«, kam die klagende Stimme wieder. Die Mutter streckte die Arme nach ihr aus. Das Kind stand vor dem hohen Bett. Brangwen hob das winzige Mädelchen leicht mit einem »Hoppla!« in die Höhe und nahm dann seinen Platz im Bette wieder ein.

»Mutter!« rief das Kind scharf, als ängstige es sich.

»Was, mein Liebling?«

Anna drängte sich dicht an ihre Mutter und hielt sich eng an ihr fest, wie um nichts von dem Manne zu sehen. Brangwen lag stille und wartete. Ein langes Schweigen trat ein.

Dann sah Anna sich plötzlich nach ihm um, als dächte sie, er wäre fort. Sie sah das Gesicht des Mannes der Decke zugewandt. Voll Widerwillen starrten die schwarzen Augen in ihrem feinen Gesichtchen ihn an, ihre Arme umschlangen die Mutter fest, wie in Angst. Eine Zeitlang rührte er sich nicht, weil er nicht wußte, was er sagen sollte. Sein Gesicht war ruhig und voll sanfter Liebe, seine Augen voll eines milden Lichts. Er sah sie fast ohne sich zu bewegen mit lächelnden Augen an.

»Bist du grade erst wach geworden?« sagte er.

»Geh weg!« erwiderte sie und schnellte den Kopf ein klein wenig vor, fast wie eine Schlange.

»Ne,« antwortete er, »ich gehe nicht. Du kannst ja weggehen.«

»Geh weg!« kam wieder das scharfe, kleine Gebot.

»Is ja Platz genug für dich!« sagte er.

»Du kannst deinen Vater doch nicht aus seinem eigenen Bett jagen, mein Vögelchen«, sagte ihre Mutter scherzend.

Das Kind glühte ihn an, unglücklich in seiner Ohnmacht.

»Is ja Platz genug für dich da«, sagte er wieder. »Das Bett is groß genug!«

Ohne etwas zu erwidern, glühte sie ihn weiter an, dann plötzlich wandte sie sich und umschlang ihre Mutter. Sie wollte das nicht dulden.

Den Tag über fragte sie ihre Mutter mehrere Male:

»Wann gehen wir wieder nach Hause, Mutter?«

»Wir sind ja zu Hause, Liebling. Wir leben jetzt hier. Dies ist unser Haus, wir leben hier bei deinem Vater.«

Das Kind mußte das gezwungen zugeben. Aber sie verharrte in ihrer Stimmung gegen den Mann. Als die Nacht hereinbrach, fragte sie:

»Wo schläfst du nachher, Mutter?«

»Ich schlafe jetzt bei deinem Vater.«

Und als Brangwen hereintrat, fragte sie ihn wild:

»Warum schläfst du bei meiner Mutter? Meine Mutter schläft bei mir«, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu.

»Komm du man auch und schlaf bei uns«, redete er ihr zu. »Mutter!« rief sie laut und wandte sich wie hilfeflehend nach ihr um.

»Aber ich muß doch einen Mann haben, Liebling. Alle Frauen müssen einen Mann haben.«

»Und du möchtest doch auch gern einen Vater und eine Mutter haben, nich?« sagte Brangwen.

Anna glühte ihn an. Sie schien nachzudenken.

»Nein!« rief sie schließlich wild, »nein, ich will gar keinen haben!« Und langsam zuckte es über ihr Gesicht, und sie begann bitterlich zu weinen. Er stand neben ihr und beobachtete sie, und sie tat ihm leid. Aber er konnte es nicht ändern.

Und als sie das einsah, wurde sie ruhiger. Er war sehr nett gegen sie, sprach mit ihr, nahm sie mit, um sich alles Lebende auf dem Hofe anzusehen, er brachte ihr die ersten Küken in seiner Mütze, nahm sie mit zum Eiersuchen und ließ sie dem Pferde Brotrinden vorwerfen. Sie ging gern mit ihm und nahm alles an, was er ihr bot, aber sie blieb immer noch gleichgültig.

Die Art, wie sie, voller Eifersucht, sich stets ängstlich für ihre Mutter bedacht zeigte, hatte etwas Merkwürdiges, kaum zu Fassendes. Wenn Brangwen mit seiner Frau nach Nottingham fuhr, lief Anna lange Zeit ganz vergnügt und achtlos umher. Kam dann aber der Nachmittag heran, gab es nur noch ein fortwährendes Geschrei. »Ich will meine Mutter wiederhaben, ich will meine Mutter wiederhaben –« und ein bitteres, leidenschaftliches Schluchzen, das die gutherzige Tilly auch ins Heulen brachte. Des Kindes Furcht war, seine Mutter wäre fort, fort.

Und doch schien Anna in der Regel kalt, unwillig gegen ihre Mutter und überwachte sie scharf. Dann hieß es:

»Ich mag nicht, daß du das tust, Mutter,« oder: »Das mußt du nicht sagen, Mutter!« Sie stellte Brangwen und alle anderen Bewohner des Marschenhofes vor eine schwierige Aufgabe. Für gewöhnlich war sie jedoch ein beständig leicht auf dem Hofe umherflitzendes kleines Ding und tauchte nur dann und wann einmal auf, um sich zu vergewissern, ob die Mutter auch noch da wäre. Glücklich schien sie nie zu sein, aber scharf, rasch, nachdenklich, voller Einbildungskraft und wechselnder Laune. Tilly behauptete, sie wäre verhext. Aber das machte nichts, solange sie nur nicht weinte. In Annas Weinen lag etwas Herzzerbrechendes, ihre kindliche Angst schien so furchtbar und so endlos, als handelte es sich um etwas außerhalb aller Zeit.

Alle Lebewesen des Hofes machte sie sich zu Spielgefährten, sprach mit ihnen, erzählte ihnen Geschichten, die sie von ihrer Mutter gehört hatte, gab ihnen gute Ratschläge oder tadelte sie. Brangwen fand sie so an der Gittertür, die nach der Weide und dem Ententeiche führte. Sie guckte durch die Stäbe und rief den stattlichen weißen Gänsen, die in einer bogenförmigen Reihe dastanden, zu:

»Ihr müßt die Leute nicht anschreien, wenn sie uns besuchen wollen! Das dürft ihr nicht!«

Die schwerfällig wackelnden Tiere sahen ruhig nach dem eifrigen kleinen Gesicht, das sich mit seinem strubbeligen hellen Haar durch die Stäbe steckte, sie hoben die Köpfe und schwankten weiter, indem sie mit dem lauten »Kank-ank-ank« der Gänse Einspruch dagegen erhoben und ihre schiffartig geformten, schönen weißen Körper in einer Reihe an der Tür vorbeischoben.

»Ihr seid unartig, ihr seid unartig!« schrie Anna, mit Tränen ärgerlicher Enttäuschung in den Augen. Und sie stampfte mit ihren Filzschuhen auf.

»Warum, was tun sie dir denn?« sagte Brangwen.

»Sie wollen mich nicht hereinlassen«, sagte sie und wandte ihm ihr blitzendes kleines Gesicht zu.

»Tjo, das tun sie doch woll! Wenn du Lust hast, geh man hinein«, und er machte ihr die Tür mit einem Stoß auf.

Sie stand unentschlossen da und sah auf die Gruppe der bläulich-weißen Gänse, die wie Bildwerke in dem grauen, kalten Tageslicht dastanden.

»Geh zu«, sagte er.

Tapfer machte sie ein paar Schritte vorwärts. Wie im Krampf schreckte ihr kleiner Körper dann zusammen bei dem plötzlichen, spöttischen »Kank-ank-ank« der Gänse. Verwirrung überfiel sie. Die Gänse trollten mit erhobenen Köpfen unter dem niedrigen, grauen Himmel weiter.

»Sie wissen nicht, wer du bist«, sagte Brangwen. »Du mußt ihnen mal sagen, wie du heißt.«

»Sie sind ganz unartig, daß sie mich so anschreien«, blitzte sie.

»Sie meinen, du gehörtest hier nicht her«, sagte er.

Nachher fand er sie dann am Gitter, wie sie ihnen schrill und herrschsüchtig zuschrie:

»Ich heiße Anna, Anna Lensky, und ich wohne hier, weil Herr Brangwen jetzt mein Vater ist. Das ist er auch, jawohl, das ist er! Und ich wohne hier!«

Das gefiel Brangwen sehr. Und allmählich, wohl ohne daß sie selbst es merkte, hängte sie sich an ihn in ihren verlorenen, einsamen Kinderlaunen, wenn es ihr so wohl tat, sich an jemand Großes, Warmes anzuschmiegen und ihr kleines Ich in seinem großen, grenzenlosen Wesen zu bergen. Sein Gefühl bewog ihn, sich ihrer besonders anzunehmen, er achtete sehr darauf, sie als voll anzuerkennen und sich ihr ganz zur Verfügung zu halten.

In ihrer Zuneigung war sie schwierig. Für Tilly hatte sie nur eine gründliche, kindliche Verachtung, fast mehr Abneigung, weil das arme Frauenzimmer ja doch bloß Magd und weiter nichts als Magd war. Das Kind litt nicht, daß die Magd sich um sie kümmerte, sich mit ihren kleinen Vertraulichkeiten abgab, lange Zeit nicht. Sie behandelte sie als Wesen niederer Stufe. Brangwen mochte das nicht gern.

»Warum hast du Tilly nicht lieb?« fragte er sie.

»Weil – weil – weil sie mich mit so 'nem Knick in den Augen anguckt.«

Allmählich ließ sie es sich gefallen, daß Tilly zum Haushalt gehörte, aber nie als ein menschliches Wesen.

Die ersten Wochen lang waren die schwarzen Augen des Kindes stets auf der Hut. Brangwen war in seiner gutmütigen Ungeduld, und weil Tilly ihn sehr verwöhnt hatte, leicht etwas polternd. Wenn er mal den ganzen Haushalt ein paar Minuten lang mit seiner Ungeduld in Verwirrung brachte, dann fand er schließlich die schwarzen Augen ihn glühend anstarren, und sicherlich schnellte sie dann den Kopf vor wie eine Schlange mit ihrem bissigen:

»Geh weg!«

»Ich geh nich weg«, rief er schließlich gereizt. »Geh du doch – fix – mach zu – hopp!« Und er zeigte nach der Tür. Das Kind wich vor ihm zurück, blaß vor Angst. Dann raffte sie ihren ganzen Mut zusammen, als sie bemerkte, daß er wieder ruhiger wurde.

»Wir wohnen gar nicht bei dir«, sagte sie und stieß ihren kleinen Kopf gegen ihn vor. »Du – du – du bist ein Pruster!«

»Was?« rief er.

Ihre Stimme schwankte – aber heraus mußte es.

»Ein Pruster!«

»Na ja, und du bist ein Schuster.«

Sie überlegte. Dann stieß sie den Kopf wieder vor.

»Das bin ich nicht.«

»Was bist du nich?«

»Ein Schuster.«

»Und ich bin auch kein Pruster.«

Er ärgerte sich wirklich.

Ein andermal sagte sie:

»Meine Mutter wohnt hier gar nicht.«

»Na und –?«

»Sie soll wieder weggehen.«

»Dann wirds wohl beim Sollen bleiben«, antwortete er kurz ab.

So kamen sie allmählich einander näher. Er pflegte sie mit sich zu nehmen, wenn er in seinem Wägelchen ausfuhr. Stand das Pferd fertig vor der Tür, dann trat er laut ins Haus, das ruhig und friedlich erschien, bis er hereinkam und es in Aufruhr brachte.

»Na, Topsy, nu mal fix in den Hut!«

Das Kind richtete sich auf, es ärgerte sich über die unhöfliche Anrede.

»Ich kann doch meinen Hut nicht alleine zubinden«, sagte es hochmütig.

»Noch nich groß genug«, sagte er und band ihr die Schleife unter dem Kinn mit seinen klobigen Fingern zu.

Sie streckte ihm ihr Gesichtchen entgegen, ihre frisch-roten Lippen bewegten sich, als er ihr unter dem Kinn herumfummelte.

»Du schnackst ja – Untsinn«, sagte sie, und wiederholte damit eine seiner eigenen Lieblingsredensarten.

»Na, das Gesicht ist aber wirklich reif für die Pumpe!« erwiderte er, und indem er ein mächtiges rotes Taschentuch hervorholte, das stark nach Tabak roch, begann er ihr um den Mund herum zu wischen.

»Wartet Kitty auch auf mich?« fragte sie.

»Jowoll«, antwortete er. »Aber erst wollen wir mal dein Gesicht fertig abwischen – so, nu hier noch ein bißchen!«

Sie hielt allerliebst still. Sowie er sie dann gehen ließ, begann sie umherzuhüpfen, wobei sie immer mit einem Bein ganz merkwürdig hinten ausschlug.

»Nanu, min Hartjebuck,« sagte er, »'rin damit!«

Sie kam und wurde in ihren Mantel gesteckt, und dann zogen die beiden los. Sie saß ganz eng an ihn geschmiegt in dem Wägelchen, dicht eingewickelt, und empfand es als großartig, wenn sein großer Körper gegen sie anschwankte. Sie mochte es gern, wenn der Wagen tüchtig schaukelte und dann sein mächtiger, lebendiger Körper auf sie, gegen sie rollte. Sie lachte, ein prickelndes, schrilles kleines Lachen, und ihre schwarzen Augen glühten.

Sie war sonderbar hart und dann wieder leidenschaftlich zärtlich. Ihre Mutter war krank, und das Kind schlich stundenlang auf den Zehenspitzen im Zimmer umher, und zwar bedacht und aufmerksam. Ein andermal fühlte ihre Mutter sich unglücklich. Dann konnte Anna mit gespreizten Beinen zornglühend dastehen und auf den Außenseiten ihrer Pantoffel wippen. Sie konnte lachen, wenn die jungen Gänse sich unter Tillys Händen krümmten und die Futterbrocken ihnen mit einem Stöpsel die Kehle hinuntergestopft wurden; dann lachte sie gereizt. Sie war allen Tieren gegenüber hart und befehlshaberisch, kein bißchen Liebe vergeudete sie, sondern lief unter ihnen herum als ihre grausame kleine Herrin.

Der Sommer und die Heuernte kamen, und Anna tanzte wie ein braunes kleines elfisches Wesen umher. Tilly wunderte sich immer über sie, mehr als sie sie liebte.

Aber immer war das Kind auf die eine oder andere Weise besorgt um seine Mutter. Solange es Frau Brangwen gut ging, spielte das kleine Mädchen umher und kümmerte sich recht wenig um sie. Aber dann war die Getreideernte vorüber, und der Herbst dehnte sich hin, und die Mutter wurde mit dem Beginn der letzten Monate ihrer Schwangerschaft sonderbar und geistesabwesend; Brangwen begann die Brauen zu furchen und die alte ungesunde Unruhe, die Empfindlichkeit, als habe sie keine Haut, kam wieder über das Kind. Wenn sie mit ihrem Vater aufs Feld ging, dann fing sie wieder an, anstatt daß sie sorglos umherspielte:

»Ich möcht nach Hause.«

»Nach Hause, da kommst du ja diesen Augenblick erst her.«

»Ich möcht nach Hause.«

»Warum denn? Was fehlt dir denn?«

»Ich möcht zu meiner Mutter.«

»Deine Mutter! Deine Mutter will nichts von dir wissen.«

»Ich möcht nach Hause.«

Noch einen Augenblick, und die Tränen kamen.

»Kannste'n Weg nich alleine finden?«

Und er sah zu, wie sie schweigend und eilig an den Heckenwurzeln entlang huschte, mit gleichmäßigem, angstbeflügeltem Schritt, bis sie sich wandte und durch das Gatter verschwand. Dann sah er sie wieder zwei Felder weiter immer vorwärtsstreben, klein und eindringlich. Sein Gesicht war umwölkt, als er sich umdrehte, um die Stoppeln weiter umzupflügen.

Das Jahr lief weiter, in den Hecken glänzten die Beeren leuchtend rot an den nackten Zweigen. Rotkehlchen wurden sichtbar, mächtige Vogelschwärme sausten wie ein Sprühregen über das Brachfeld, Krähen tauchten auf, schwarz zur Erde niederstreichend, der Boden fühlte sich kalt an beim Rübenziehen, alle Wege versanken in dickem Schmutz. Dann wurden die Rüben eingemietet, und es gab wenig mehr zu tun.

Im Hause war es dunkel und still. Das Kind schlüpfte unruhig umher, und zuweilen ertönte sein klagender, erschreckter Ruf:

»Mutter!«

Frau Brangwen war schwer und unzugänglich, müde, in sich versunken. Brangwen hatte bei seiner Arbeit draußen zu tun. Kam er abends herein, um die Kühe zu melken, so lief das Kind wohl hinter ihm her. Sie stand dann im Kuhstall, wo die Tür geschlossen war und die Luft ihr im Schein der über den verzweigten Hörnern der Kühe aufgehängten Laterne warm vorkam, und sah zu, wie seine Hand gleichmäßig die Zitzen der ruhig dastehenden Tiere entlang strich, sah zu, wie der Schaum und der Milchstrahl hervorspritzte, sah zu, wie seine Hand zuweilen langsam, verständnisvoll ein hängendes Euter hinunterstrich. So leisteten sie sich gegenseitig Gesellschaft, aber aus der Ferne, und sprachen nur selten miteinander.

Die dunkelsten Tage des Jahres kamen heran, das Kind wurde eigensinnig, seufzte, als läge ein Druck auf ihm und rannte hin und her, ohne Ruhe zu finden. Und Brangwen ging seiner Arbeit nach, schwer, das Herz schwer wie die durchnäßte Erde. Früh brach die Winternacht herein, die Lampe mußte bereits vor der Teezeit angezündet werden, die Läden waren geschlossen, alle fanden sie sich gespannt und bedrückt im Zimmer eingeschlossen. Frau Brangwen ging früh zu Bett, Anna spielte auf dem Fußboden bei ihr. Brangwen saß unten in der Leere seines Wohnzimmers, rauchend und sich über sein Elend nicht recht klar. Aber oft ging er aus, um ihm zu entrinnen.

Weihnachten war vorüber, die naßkalten Januartage liefen einer nach dem andern dahin, eintönig, hin und wieder strahlte einmal ein Fleckchen Blau hervor, als Brangwen einst in einen Morgen von Kristall hinausschritt; jeder seiner Schritte hallte laut, und zahllose Vögel ließen sich eifrig und plötzlich in den Hecken hören. Da kam es trotz allem wie eine Erhebung über ihn, ob nun seine Frau ihm fremd war oder trübselig, oder ob er sie nun gern bei sich gehabt hätte oder nicht, alles war einerlei, die Luft hallte wider von hellen Tönen, der Himmel war wie eine Glocke aus Kristall, und die Erde war hart. Da ging er an die Arbeit und war glücklich, seine Augen strahlten, und seine Backen röteten sich. Und in ihm war ein starker Wille zum Leben.

Eifrig pickten die Vögel um ihn her drauflos, die Pferde waren frisch und willig, die Bäume reckten ihre nackten Zweige in die Luft wie ein gähnender Mann die Arme, gestrafft vor Tatendrang, und die Zweige strahlten in dem klaren Licht. Er war lebendig und fühlte sich voller Eifer zu all und jedem. Und war seine Frau auch schwerblütig, und stand sie ihm fern, leblos, dann mochte sie da bleiben und ihn für sich lassen. Die Dinge würden schon kommen, wie sie kommen sollten. Währenddem hörte er das laute Krähen eines jungen Hahnes in der Ferne, er sah das blasse Horn des Mondes ausgelöscht am blauen Himmel stehen.

Da rief er seinen Pferden zu und war glücklich. Fuhr er mal nach Ilkeston hinein und traf eine frische junge Frau auf dem Wege zum Einkaufen, so rief er sie an und zügelte sein Pferd und nahm sie mit. Dann fühlte er sich glücklich, sie so neben sich zu haben, seine Augen strahlten, seine lachende Stimme trieb warmherzig Scherz mit ihr, so daß ihre Kopfhaltung noch schöner wurde und ihr Blut rascher strömte. Sie waren beide angeregt, der Morgen war so schön.

Was kam es denn drauf an, ob auf dem Grunde seines Herzens Sorgen und Schmerzen ruhten? Die lagen ja tief unten, mochten sie da bleiben. Seine Frau, ihre Leiden, ihre nahen Wehen – ja, das mußte so sein. Sie litt, aber er stand doch hier im Freien, voller Leben, und es wäre lächerlich, ja unanständig gewesen, ein langes Gesicht zu schneiden und den Jämmerlichen spielen zu wollen. Er war diesen Morgen so glücklich, wie er zur Stadt fuhr und die Hufe seiner Pferde den harten Erdboden schlugen. Wohl war er glücklich, und hätte auch die halbe Welt beim Begräbnis der andern Hälfte geweint. Und es war doch ein prächtiges Mädel, das da neben ihm saß! Und das Weib war unsterblich, komme was wolle, laß sterben wer Lust hatte. Mochte das Elend kommen, wenn man ihm nicht länger widerstehen könnte.

Der Abend später wurde wundervoll, ein rosiger Duft hing über der untergehenden Sonne und ging in veilchen- und lavendelfarbige Dünste über, und in Nord und Süd war der Himmel grün wie Türkis, und im Osten hing ein großer gelber Mond, schwer und strahlend. Es war großartig, so zwischen Sonnenuntergang und Mondschein einherzugehen, auf diesem Wege, über dem die Stechpalmbüsche sich schwarz in das Rosa und Lavendel hineinbohrten und die Stare in Schwärmen durch das Abendlicht schwirrten. Aber was war das Ende der Reise? Bald genug schon kam der Schmerz über ihn, als ihm späterhin Herz und Füße schwer wurden, sein Hirn wie tot war, sein Leben zu schlagen aufhörte.

Die Wehen begannen an einem Nachmittag, Frau Brangwen wurde zu Bett gebracht, und die Hebamme kam. Die Nacht brach herein, die Läden wurden geschlossen, Brangwen kam zum Tee herein, zum Brote und dem zinnernen Teetopf, das Kind spielte zitternd und stille mit Glasperlen, das Haus erschien leer, der Winternacht preisgegeben, als hätte es keine Mauern. Von irgendwoher im Hause erklang langgezogen und wie aus der Ferne kommend, alles durchzitternd, das schluchzende Weinen einer Frau in Wehen. Brangwen saß unten in geteilten Gefühlen. Sein tieferes, inneres Ich war bei ihr, an sie gefesselt in ihren Leiden. Aber die dicke äußere Schale seines Körpers erinnerte sich der Eulenrufe, die den Hof immer umflattert hatten, als er noch ein Junge war. Er war wieder in seiner Jugend, ein Junge, den der Eulenruf quälte, so daß er seinen Bruder aufwecken mußte, um ihn sprechen zu hören. Und dann trieb sein Geist zu den Vögeln selbst weiter, ihren feierlichen, ernsthaften Gesichtern, ihrem weichen breiten Flügelschlag. Und dann weiter zu denen, die sein Bruder geschossen hatte, plusterige, staubfarbige, weiche tote Häufchen, deren Gesichter so lächerlich zu schlafen schienen. Das war doch was Merkwürdiges, so eine tote Eule.

Er hob die Tasse an die Lippen und beobachtete das Kind bei seinen Perlen. Aber sein Geist war mit den Eulen beschäftigt und dem Gesichtskreise seiner Jungenzeit, seinen Brüdern und Schwestern. Irgendwo tief im Untergrunde war er bei seiner gebärenden Frau, bei dem Kinde, das aus ihrer beider Fleisch entsprang. Er und sie, ein Fleisch, aus dem neues Leben entspringen mußte. Zwar ging der Riß nicht durch seinen Körper, aber er hatte doch auch mit seinem Körper zu tun. Auf sie sausten die Schläge hernieder, aber die Erschütterung durchlief auch ihn bis zur äußersten Faser. Sie mußte sich auseinanderreißen lassen, um dem neuen Leben Raum zu geben, und doch waren sie ein Fleisch, ja, noch weiter zurückliegend war dies Leben doch aus ihm zu ihr hinübergelangt, und dennoch war er der Ungebrochene, der den geborstenen Felsen im Arme hielt, ihrer beider Fleisch war ein Fels, aus dem Leben hervorsprudelte, aus ihr, der geschlagenen und zerrissenen, von ihm, der da zitternd zusammenschreckte.

Er ging zu ihr nach oben. Als er ans Bett trat, sprach sie polnisch zu ihm.

»Ist es sehr schlimm?« fragte er.

Sie sah ihn an, und oh! was für eine Anstrengung kostete es sie, die andere Sprache zu verstehen, wie müde machte es sie, ihm zuzuhören, ihn zu erkennen, herauszufinden, wer er war, wie er mit seinem hellen Bart so fremd neben ihr stand und sie ansah. Etwas an ihm war ihr vertraut, in seinen Augen. Aber sie vermochte nicht ihn zu erkennen. Sie schloß die Augen.

Er wandte sich ab, weiß wie die Wand.

»'s is nich so sehr schlimm«, sagte die Hebamme.

Er merkte, daß es seine Frau angriff. So ging er wieder nach unten.

Das Kind sah erschreckt zu ihm auf.

»Ich will zu meiner Mutter«, sagte sie bebend.

»Jo, aber es geht ihr gar nicht gut«, sagte er freundlich ohne Acht.

Mit verwirrten, erschreckten Augen sah sie ihn an.

»Hat sie Kopfweh?«

»Nein – sie kriegt ein Kleines.«

Das Kind sah sich um. Er wurde sie nicht gewahr. Sie war mit ihrem Schrecken wieder ganz allein.

»Ich will zu meiner Mutter!« kam ihr Schreckensruf.

»Laß Tilly dich ausziehen,« sagte er; »du bist müde.«

Dann neues Schweigen. Und wieder kam der Weheruf.

»Ich will zu meiner Mutter!« kam es wie aus einem Uhrwerk von dem zusammenfahrenden angsterfüllten Kinde, das sich in fürchterlicher Einsamkeit abgeschnitten und verloren vorkam. Mit zerrissenem Herzen trat Tilly auf sie zu.

»Kumm un lat mi di uttrecken, min Lämmken,« flüsterte sie; »von Mor'n schast du din Mudder wedder hebben, weene man nich, wees man nich bange, min Putthöneken.«

Aber Anna stand auf dem Sofa mit dem Rücken an der Wand.

»Ich will zu meiner Mutter«, weinte sie, ihr kleines Gesichtchen schmerzverzogen, über das die dicken Tränen höchster kindlicher Angst herabrollten.

»Et geiht ehr man slicht, min Lamm, et geiht ehr hüt Nach man slicht, ober von Morrn to schall se woll beter weesen. Och, nu weene man nich, nu weene man nich, min Leevling, se mag dat nich hebben, dar du weenst, min sötet lüttjet Hart, ne, dat mag se gor nich!«

Leise faßte Tilly nach dem Röckchen des Kindes. Aber Anna riß es ihr wieder aus der Hand und schrie in heller Verzweiflung:

»Nein, du sollst mich nicht ausziehen – ich will zu meiner Mutter« – und ihr ganzes Kindergesicht war überströmt von Kummer und Tränen, der Körper zitterte.

»Och, lat Tilly di doch man uttrecken. Lat Tilly di man uttrecken, de hett di jo so leev, nu wees doch man nich so böse von 'n Abend. Et geiht Mudder man slicht, un se mag dat gor nicht, dat du weenst.«

Verloren schluchzte das Kind vor sich hin, sie verstand nichts. »Ich will zu meiner Mutter«, weinte sie.

»Wenn du uttreckt büst, denn schast du na boben gohn un din Mudder sehn – wenn du uttreckt büst, min Leevling, wenn du Tilly di uttrecken lettst, wenn du so fin büst in din lüttjen Nachtrock, min Leev! Och, nu ween doch man nich so, nu ween doch man nich so –«

Brangwen saß steif in seinem Stuhle. Er fühlte, wie sich sein Gehirn zusammenzog. Er ging durchs Zimmer und merkte nichts als dies wahnsinnige Wimmern.

»Mach nich so'n Lärm«, sagte er.

Ein neuer Schreck durchfuhr das Kind beim Klange seiner Stimme. Sie weinte gleichmäßig vor sich hin, ihre Augen blickten gespannt durch die Tränen, voller Schrecken, voller Furcht vor dem, was nun käme.

»Ich – will – zu meiner – Mutter«, zitterte die schluchzende blinde Stimme.

Ein Schauer der Gereiztheit fuhr dem Manne durch die Glieder. Das war ja doch höchster, bockigster Unverstand, diese blind weinende Stimme machte ihn ganz verrückt.

»Nun mußt du aber kommen und dich ausziehen lassen«, sagte er mit ruhiger Stimme, die vor Ärger dünn klang.

Und damit streckte er die Hand aus und faßte sie. Er fühlte, wie ihr Körper in krampfhaftem Schluchzen erzitterte. Aber er war zu blind, zu verbissen, zu gereizt, so daß er irgendwas tun mußte. Er fing an ihre kleine Schürze loszubinden. Sie hätte sich ihm gern entwunden, aber sie konnte nicht. So blieb ihr kleiner Körper in seinem Griff, während er an den kleinen Knöpfen und Bändern herumfummelte, gedankenlos, eifrig, nichts weiter bemerkend als ihre Gereiztheit. Ihr Leib spannte sich straff in seinem Widerstand, er riß ihr ihr kleines Röckchen und die Unterröcke ab, so daß die bloßen Arme hervortraten, überwältigt, vergewaltigt hielt sie sich ganz steif, und er fuhr mit seiner Arbeit fort. Und die ganze Zeit über schluchzte sie halberstickt:

»Ich – will – zu meiner – Mutter.«

Er schwieg und gab nicht darauf acht, sein Gesicht ganz steif. Das Kind konnte jetzt nichts mehr verstehen, sie war nichts weiter als ein kleines Triebwerk mit einem versetzten Willen. Sie weinte, ihr Leib krampfte sich zusammen, ihre Stimme wiederholte stets ein und denselben Schrei.

»Ochottochott!« schrie Tilly, die nun selbst wie von Sinnen war. Langsam, tapsig, blind, verbissen riß Brangwen all die kleinen Kleidungsstücke ab und stellte das Kind schließlich im bloßen Hemd auf das Sofa.

»Wo is der Nachtrock?« fragte er.

Tilly brachte ihn, und er zog ihn ihr an. Anna bewegte ihre Glieder nicht, wie er wollte. Er mußte sie ihr einzeln zurechtdrehen. Sie stand mit ihrem festen blinden Vorsatz widerwillig, ein zusammengekrampftes kleines Ding da, unabänderlich vor sich hinweinend und dieselben Worte wiederholend. Er hob ihr erst den einen Fuß und dann den andern, um ihr Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Dann war sie fertig.

»Möchtest du was zu trinken haben?« fragte er.

Sie wurde nicht anders. Auf nichts acht gebend, völlig unaufmerksam stand sie auf dem Sofa, lehnte sich zurück, allein, die Hände geballt und halb erhoben, das Gesicht tränenüberströmt der Decke zugewandt und blind. Und durch all ihr Schluchzen und Schlucken kam ihr gebrochenes:

»Ich – will – zu meiner – Mutter!«

»Möchtest du was zu trinken haben?« fragte er wieder.

Keine Antwort. Er hob den steifen, widerspenstigen Körper in den Händen. Ihre steife Blindheit jagte einen Blitz rasender Wut durch seinen Körper. Zu gern hätte er sie gebrochen.

Er setzte das Kind auf sein Knie und saß wieder in seinem Stuhl vorm Feuer, und das feuchte, schluchzende, tonlose Geräusch ging vor seinen Ohren weiter, das Kind saß steif da, weder ihm noch sonst irgend etwas nachgebend, nichts bemerkend.

Eine neue Art Ärger kam über ihn. Was lag denn an alledem? Was lag daran, ob die Mutter polnisch sprach und in ihren Wehen schrie, wenn dies Kind sich vor Widerborstigkeit steif machte und schrie? Was brauchte er sich das zu Herzen zu nehmen? Laß doch die Mutter in ihren Wehen schreien, laß doch das Kind in seiner Widerborstigkeit heulen, wenn ihnen das Spaß machte. Was sollte er weiter dagegen ankämpfen, warum ihnen widerstehen? Mochte es denn so sein, da es nun einmal so war. Laß sie wie sie waren, wenn sie wollten.

Betäubt saß er da, ohne Gegenwehr. Das Kind fuhr fort zu weinen, die Minuten liefen hin, eine Art Starre kam über ihn.

Es dauerte eine kleine Weile, ehe er wieder zu sich kam und seine Aufmerksamkeit dem Kinde zuwandte. Er war über ihr kleines nasses, blindes Gesicht ganz entsetzt. Ein wenig betäubt strich er ihr das nasse Haar zurück. Wie ein lebendiges Bild des Kummers fuhr das blinde Gesichtchen fort zu weinen.

»Nana, nu man nich so schlimm!« sagte er. »So schlimm is es ja nich, Anna, mein Kleines. Komm, was weinst du denn so? Komm, nu sei ganz still, sonst wirst du noch krank. Nun will ich dich mal abwischen, und denn mach dir dein Gesicht nich wieder naß. Nu weine nich mehr so dicke Tränen, nein, nein, lieber nich! Weine nich – es is ja nich so schlimm! So, so – nu is es genug.«

Seine Stimme klang ganz merkwürdig, wie aus der Ferne, und so ruhig. Er blickte auf das Kind. Es war jetzt ganz außer sich. Er hätte es so gern zum Aufhören gebracht, hätte alles so gern aufhören, wieder wie sonst werden lassen.

»Komm,« sagte er und stand auf, um hinauszugehen, »wir wollen mal den Tieren ihr Abendbrot bringen.«

Er nahm ein dickes Umschlagetuch, wickelte sie hinein und ging in die Küche, um die Laterne zu holen.

»Se wee't doch woll dat Kind nich mit rutnehmen, in 'ne Nach as disse«, sagte Tilly.

»Jo, dat will ehr woll good dohn«, erwiderte er.

Es regnete. Das Kind wurde plötzlich ruhig vor Schreck, als es den Regen im Gesicht fühlte und die Finsternis bemerkte.

»Nu wollen wir den Kühen noch mal 'n bißchen zu essen geben, ehe sie zu Bette gehen«, sagte Brangwen zu ihr und hielt sie sicher und eng an sich.

In der Regentonne plätscherte das Wasser, ein Sprühregen flog über ihr Umschlagetuch, und das Licht der Laterne blitzte über das nasse Pflaster und die untersten Schichten einer nassen Mauer hin. Sonst war alles schwarze Finsternis: man atmete ordentlich Finsternis.

Er öffnete die Türen, die obere und die untere Hälfte, und sie traten in die hohe, trockene Scheune, wo es warm roch, wenn es auch gar nicht warm war. Er hängte die Laterne an einen Nagel und machte die Türen wieder zu. Nun waren sie in einer ganz anderen Welt. Das Licht flutete sanft über das Sparrenwerk der Scheune, die weißgetünchten Wände und einen großen Haufen Heu; Ackergerät warf seinen Schatten weit umher, und eine Leiter stieg in die dunkle Bodenluke hinauf. Draußen das Strömen des Regens, und hier die sanft erleuchtete Stille und Ruhe der Scheune.

Während er das Kind auf dem einen Arme hielt, ging er an die Zubereitung des Futters für die Kühe, indem er eine Schaufel mit feingehacktem Heu und Brauergerste und ein wenig Mehl füllte. Das Kind, ganz Verwunderung, sah aufmerksam zu, was er machte. Ein neues Wesen war in ihr entstanden in dieser neuen Umgebung. Zuweilen erschütterte noch ein leichter Schauer, der Ausläufer ihres vorherigen stürmischen Schluchzens, ihren kleinen Körper. Ihre Augen standen weit offen vor Verwunderung, voll tiefen Ernstes. Sie war still, ganz still.

In einer Art Traumzustand sank sein Herz jetzt zu Boden und ließ ihn äußerlich still, ganz still erscheinen, er stand mit der Schaufel voll Futter auf, vorsichtig wiegend trug er das Kind auf dem einen Arm und die Schaufel in der andern Hand. Die seidenen Fransen des Umschlagetuches wehten leise, Korn und Heu flogen zu Boden; er ging den schwach erleuchteten schmalen Streifen hinter den Krippen entlang, wo die Hörner der Kühe aus der Finsternis herausragten. Das Kind schrak zurück, er wiegte es steif auf dem Arm, setzte die Schaufel auf den gemauerten Krippenrand und schüttete das Futter halb der einen und halb der nächsten Kuh vor. Es entstand ein Geräusch, als scheuerten sich Ketten, wenn die Kühe den Kopf rasch hoben oder senkten; dann kam ein zufriedener, beruhigender Laut, ein langes Schnauben, als die Tiere in der Stille zu fressen anfingen. Die Reise mußte ein paarmal wiederholt werden. Erst ertönte das gleichmäßige Geräusch der Schaufel durch die Scheune, dann ging der Mann steif mit seinen beiden Lasten einher, und das Gesicht des Kindes schaute aus dem Umhängetuch hervor. Als er sich dann das nächstemal niederbeugte, machte sie einen Arm frei und schlang ihn ihm um den Hals; sie schmiegte sich eng und warm an ihn und erleichterte ihm damit alles sehr. Nachdem die Tiere gefüttert waren, legte er die Schaufel nieder und setzte sich auf eine Kiste, um das Kind wieder in Ordnung zu bringen.

»Schlafen die Kühe jetzt ein?« fragte sie mit verhaltenem Atem.

»Ja.«

»Essen sie denn erst all ihr Futter auf?«

»Ja. Hör mal!«

Und die beiden saßen und horchten auf das schnaubende Atmen der Kühe, die in dem an die kleine Scheune stoßenden Stalle fraßen. Die Laterne warf ein ruhiges, sanftes Licht von der Wand herab. Draußen war alles still im Regen. Er sah auf die seidigen Falten des Paisleytuches herab. Es erinnerte ihn an seine Mutter. Sie pflegte mit ihm zur Kirche zu gehen. Er fühlte sich wieder in der alten Unverantwortlichkeit und Sicherheit, ein Junge zu Hause.

Die beiden saßen ganz ruhig. Sein Geist schien sich in einer Art Zauberschlaf mehr und mehr zu verflüchtigen. Er drückte das Kind fest an sich. Ein zitternder kleiner Schauder, der Widerhall ihres Schluchzens, durchfuhr ihre Glieder. Er drückte sie fester an sich. Allmählich gab sie nach, die Lider begannen ihr über die schwarzen, aufmerksamen Augen zu sinken. Während sie in Schlaf fiel, flog sein Geist ins Leere.

Als er wieder zu sich kam, als hätte er geschlafen, kam es ihm vor, als habe er eine endlose Zeit hier in der Stille gesessen. Worauf horchte er denn? Er schien auf einen Laut aus weiter Ferne zu lauschen, von jenseits des Lebens. Er dachte wieder an seine Frau. Er mußte wieder zu ihr. Das Kind schlief, die Lider nicht vollständig geschlossen, wie ein schmaler Streifen der schwarzen Sterne zwischen ihnen anzeigte. Warum machte sie die Augen nicht ganz zu? Ihr Mund stand auch ein klein wenig offen.

Er stand rasch auf und ging wieder ins Haus.

»Slöppt se?« wisperte Tilly.

Er nickte. Die Magd kam, um sich das in seinem Umschlagetuch fest schlafende Kind anzusehen, dessen Backen heiß und rot erglühten bei völliger Weiße, völliger Blässe um die Augen.

»Och du barmherziger Gott!« wisperte Tilly und schüttelte den Kopf.

Er schlenkerte seine Stiefel von sich und ging mit dem Kinde nach oben. Jetzt merkte er, wie die Angst um seine Frau ihm das Herz zusammenschnürte. Aber er blieb still. Im ganzen Hause war es ruhig, mit Ausnahme des Windes draußen und des geräuschvollen Plätscherns und Tröpfelns des Regens in den Regentonnen. Unter der Tür seiner Frau hervor drang ein Lichtschein.

In das Tuch eingeschlagen, wie sie war, legte er das Kind ins Bett, denn die Laken mußten kalt sein. Er hatte Angst, sie möchte nicht imstande sein, die Arme zu bewegen, darum machte er sie frei. Die schwarzen Augen öffneten sich, sahen ihn mit leerem Ausdruck an und schlossen sich wieder. Er deckte sie zu. Ein letzter kleiner Schauder ihres Schluchzens machte ihren Atem erzittern.

Dies war sein Zimmer, das Zimmer, das er vor seiner Hochzeit bewohnt hatte. Es kam ihm so vertraut vor. Er dachte daran, was es hieße, ein unberührter junger Mann zu sein.

Er hing in der Schwebe. Das Kind schlief und streckte seine kleinen Fäuste aus dem Tuche hervor. Er konnte der Frau erzählen, ihr Kind schliefe. Aber er mußte wieder eine Treppe tiefer. Er fuhr auf. Da war der Eulenruf – das Stöhnen seiner Frau. Was für ein schauerlicher Klang! Es war gar nicht mehr menschlich, wenigstens nicht für einen Mann.

Er ging hinunter und trat leise in ihr Zimmer. Sie lag still, mit geschlossenen Augen da, bleich, ermüdet. Sein Herz hüpfte hoch auf vor Furcht, sie möchte tot sein. Und doch wußte er ganz genau, daß sie das nicht war. Er sah, wie ihr das Haar lose über den Schläfen lag, ihr Mund war vor Schmerzen zu einer Art Grinsen verzogen. Sie kam ihm schön vor – aber nicht menschlich. Er hatte Angst vor ihr, wie sie so dalag. Was hatte sie mit ihm zu tun? Sie war ja ganz anders als er.

Etwas in seinem Inneren ließ ihn zu ihr gehen und ihre auf der Decke gefalteten Finger berühren. Ihre graubraunen Augen öffneten sich und sahen ihn an. Sie erkannte nicht, wer er war. Aber sie wußte, er wäre der Mann. Sie sah ihn mit dem Blicke an, den eine Frau in Kindsnöten auf den Mann wirft, der ihr Kind zeugte: einen unpersönlichen Blick, den der Frau zum Manne, in dieser höchsten Stunde. Ihre Augen schlossen sich wieder. Ein großer, heißer Friede kam über ihn, entzündete ihm Herz und Eingeweide und ging wieder in die Unendlichkeit hinaus.

Als die Wehen aufs neue begannen und sie zerrissen, wandte er sich zur Seite, da er nicht zusehen konnte. Aber sein gequältes Herz hatte nun Frieden, sein Inneres war glücklich. Er ging nach unten und hob draußen vor der Tür das Gesicht in den Regen empor und fühlte, wie die Dunkelheit ungesehen und ständig auf ihn einschlug.

Das rasche, unsichtbare Einschlagen der Nacht auf ihn beruhigte ihn, bis er sich ganz überwältigt fühlte. Er wandte sich wieder ins Haus, gedemütigt. Da lag die unendliche Welt, ewig, unwandelbar, ebensowohl wie die Welt des Lebens.


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