Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Hochzeit in der Marsch

Sie hatten einen wundervoll sonnigen Tag für die Hochzeit, der Erdboden war schmutzig, aber der Himmel strahlte wolkenlos. Sie hatten drei Mietfuhrwerke und einen großen geschlossenen Wagen. Im Wohnzimmer drängte sich alles in höchster Erregung. Anna war noch oben. Ihr Vater nahm hin und wieder einen Kleinen zur Stärkung. Er sah stattlich aus in seinem schwarzen Rock mit den grauen Hosen. Seine Stimme klang aber bei aller Herzlichkeit doch unruhig. Seine Frau kam in dunkelgrauer Seide mit Spitzen herunter, und einem kleinen pfauenblauen Stutz am Hute. Ihr schmächtiger Körper war durchaus sicher und bestimmt. Brangwen dankte Gott, daß sie da war, um ihm unter allen diesen Leuten beizustehen.

Die Wagen! Die Nottingham-Mrs. Brangwen steht in ihrem Seidenbrokat in der Haustür und gibt an, wer mit wem zu fahren hat. Eine mächtige Verwirrung hebt an. Die Vordertür steht offen, und die Hochzeitsgäste ziehen den Gartenpfad hinunter, während die, die noch warten müssen, durch die Scheiben gucken, und die kleine Menge an der Gartentür sich gaffend auf die Zehenspitzen stellt. Wie putzig solche feingemachten Menschen in dem Wintersonnenschein aussehen!

So, die sind weg – 'ne neue Ladung! Allmählich gibt es Luft. Anna kommt errötend und sehr scheu herunter, um sich in ihrer weißen Seide mit dem Schleier anstaunen zu lassen. Ihre Schwiegermutter sieht sie sehr genau an, schüttelt die weiße Schleppe zurecht, legt den Schleier in richtige Falten und ist nun zufrieden.

Laute Rufe vom Fenster her, daß der Wagen des Bräutigams grade vorbei ist.

»Vater, wo sind deine Handschuhe und dein Hut?« ruft die Braut und stampft mit dem weißen Pantöffelchen auf; ihre Augen blitzen durch den Schleier. Er sucht umher – sein Haar wird strubbelig. Alle sind fort bis auf die Braut und ihren Vater. Er ist fertig – sein Gesicht sehr rot und verschüchtert. Tilly trippelt unter dem kleinen Vordach hin und her, um die Haustür richtig zu öffnen. Eine Aufwartefrau läuft um Anna herum, die sie fragt: »Bin ich in Ordnung?«

Sie ist fertig. Sie nimmt sich zusammen und sieht aus wie eine Königin. Scharf winkt sie mit der Hand ihrem Vater zu: »Komm her!«

Er kommt. Sie legt ihre Hand sehr leicht auf seinen Arm, und indem sie ihren Strauß wie eine Schauspielerin hält und oh! so zierlich dahertrippelt, ein ganz klein wenig ungeduldig mit ihrem Vater, weil er so rot im Gesicht ist, schwebt sie langsam an der ganz verdutzten Tilly vorbei und den Pfad hinunter. An der Gartentür ertönen heisere Hochrufe, und all ihre schwebende, schaumige Weiße verschwindet langsam im Wagen.

Ihrem Vater fällt ihr schmächtiger Knöchel und der kleine Fuß auf, wie sie in den Wagen steigt: ein reiner Kinderfuß. Das Herz ist ihm schwer vor Zärtlichkeit. Aber sie ist gänzlich von sich berauscht, von dem schönen Schauspiel, das sie bietet. Während der ganzen Fahrt saß sie glühend vor Seligkeit da, weil alles doch so reizend war. Etwas besorgt sah sie auf ihren Strauß nieder: weiße Rosen und Maiglöckchen und Tuberosen und Frauenhaar – sehr reich, der reine Sturzbach.

Ihr Vater saß verwirrt durch all dies Seltsame neben ihr, das Herz war ihm so voll, daß es sich ganz hart anfühlte, und er vermochte an nichts zu denken.

Die Kirche war bereits in ihrem Weihnachtsschmuck, dunklem Immergrün, kalt und überschneit mit weißen Blumen. Gedankenlos schritt er auf den Altar zu. Wie lange war es doch her, daß er zu seiner eigenen Hochzeit ging? Er war sich nicht ganz klar darüber, ob er nicht auch jetzt verheiratet werden sollte, oder wozu er eigentlich hergekommen war. Er hatte so ein dunkles Gefühl, er habe irgend etwas zu tun. Er sah den Hut seiner Frau und wunderte sich, weshalb sie nicht bei ihm war.

Sie standen vor dem Altar. Er starrte auf das Ostfenster, das lebhaft in einer Art Purpurblau aufglühte; ein dunkles Blau glühte darin, und auch wieder Hochrot, und kleine gelbe Blumen in schattige Säume eingefaßt, und ein schweres, dunkles Gewebe darüber. Wie lebhaft all dies Gefunkel auf dem schwarzen Gewebe strahlte.

»Wer gibt diese Frau diesem Manne zur Ehe?« Er fühlte, wie ihn jemand anstieß. Er fuhr empor. Die Worte hallten ihm noch im Gedächtnis wider, aber sie begannen sich zu verflüchtigen. »Ek«, sagte er hastig.

Anna beugte den Kopf vor und lächelte in ihren Schleier. Wie lächerlich er war.

Brangwen stierte immer noch auf das brennende blaue Fenster hinter dem Altar und wunderte sich undeutlich, aber mit einem schmerzhaften Gefühl, ob er wohl je alt werden würde, ob er wohl je zur Ruhe, zu Sicherheit gelangen würde. Hier war er auf Annas Hochzeit. Ja, mit welchem Rechte sollte er sich denn hier als Vater verantwortlich fühlen? Er war immer noch ebenso unsicher und unklar wie auf seiner eigenen Hochzeit. Seine Frau und er! Mit schmerzlicher Angst wurde es ihm klar, wie unsicher sie eigentlich doch beide noch waren. Er war ein Mann von fünfundvierzig Jahren. Fünfundvierzig! In fünf Jahren würde er fünfzig sein. Dann sechzig – dann siebzig – und dann war es aus. Mein Gott – und man steht immer noch so wackelig auf den eigenen Füßen!

Wie wurde man denn alt – wie konnte man Selbstvertrauen erwerben? Er hätte sich gern älter gefühlt. Wieso, was für ein Unterschied war denn zwischen ihm jetzt, soweit er sich nämlich reifer oder vollkommener vorkam, und bei seiner eigenen Hochzeit? Er konnte sich ja noch mal verheiraten lassen – er und seine Frau. Er kam sich vor wie ein kleinwinziges, aufrecht daherwandelndes Wesen auf einer Ebene, die der ungeheure, brausende Himmel rundherum umgab: er und seine Frau, zwei kleinwinzige Wesen wandelten aufrecht über diese Ebene, und die Himmel brausten schimmernd um sie her. Wann würde dies mal ein Ende nehmen? In welcher Richtung lag das Ende? Es gab kein Ende, keinen Schluß, nur die brausende Weite. Würde man denn wohl nie alt, starb man nie? Da lag der Schlüssel. Ein seltsames Frohlocken bei aller Qual kam über ihn. Er und seine Frau würden weiterziehen, er und sie wie zwei Kinder, die auf einer Wiese leben. Welche andere Sicherheit gab es wohl als die Unendlichkeit des Himmels? Aber der war so sicher, so grenzenlos.

Immer weiter brannte und flammte das königliche Blau und machte sich prunkvoll auf dem schwarzen Gewebe vor seinen Augen breit, unermüdlich, reich und prächtig. Wie reich und schön war doch sein eigenes Leben, brennendrot und flammend sich durch die dunklen Adern seines eigenen Körpers ergießend! Und sein Weib, wie sie glühte und in den Adern ihres Körpers dunkel glomm. Es war stets so unfertig, so unbestimmt!

Ein lauter Klang kam von der Orgel her. Die ganze Gesellschaft zog in die Sakristei hinüber. Da lag ein tintenklecksübersätes, verkritzeltes Buch – und dann schlug das junge Mädchen voll Eitelkeit ihren Schleier zurück und legte ihre Hand mit dem Ehering selbstbewußt und für alle sichtbar darauf und schrieb, stolz auf das eitele Schauspiel, das sie bot, ihren Namen:

»Anna Therese Lensky.«

»Anna Therese Lensky« – was für eine eitle, unabhängige kleine Hexe sie war! Der Bräutigam, schlank in seinem schwarzen Schwalbenschwanz und grauen Hosen, feierlich wie ein aufgeblasener junger Kater, schrieb voller Ernst:

»William Brangwen.«

Das sah doch schon vernünftiger aus.

»Komm und unterschreib doch, Vater!« rief die befehlerische junge Hexe.

»Thomas Brangwen – Klotzpfote«, sagte er zu sich selbst, als er unterschrieb.

Dann sein Bruder, ein langer Kerl mit bleifarbenem Gesicht und schwarzem Backenbart, schrieb:

»Alfred Brangwen.«

»Wie viel mehr Brangwens?« sagte Tom Brangwen, dem das zu häufige Vorkommen seines Namens beschämend wurde.

Als sie wieder draußen im Sonnenschein standen und er den bläulich funkelnden Rauhfrost auf dem langen Grase im Schutze der Grabsteine sah, und die Stechpalmbeeren über ihren Köpfen scharlachrot aufleuchteten, während die Glocken anfingen zu läuten, und die Eibenbäume ihre schwarzen dürren Zweige bewegungslos herabhängen ließen, da kam ihm das Ganze wie eine Geistererscheinung vor.

Die Hochzeitsgesellschaft schritt über den Kirchhof zur Mauer, stieg auf den kleinen Stufen über sie hinweg und auf der anderen Seite wieder hinunter. O, wie der kleine weiße Pfau von Braut oben auf der Mauer stehenblieb und dann auf der anderen Seite dem Bräutigam die Hand reichte, damit er ihr herunterhelfe! Die Eitelkeit ihrer winzigen, weißen, zierlich zutretenden Füße, und ihr sanft geschwungener Nacken! Und die königliche Unverfrorenheit, mit der sie sie alle zu entlassen schien, alle anderen, ihre Eltern und die Hochzeitsgäste, als sie mit ihrem jungen Gatten von dannen zog.

Mächtige Feuer brannten in dem kleinen Häuschen, Dutzende von Gläsern standen auf dem Tische, und Stechpalmen und Mistelzweige hingen überall herum. Die Hochzeitsgesellschaft drängte sich herein, und Tom Brangwen, der allmählich ins Brüllen geriet, schenkte zu trinken ein. Jeder mußte trinken. Der Glockenklang tönte von draußen gegen die Fenster.

»Nehmt die Gläser,« rief Tom Brangwen vom Wohnzimmer her, »nehmt die Gläser und trinkt auf Herd und Heim – Herd und Heim, und viel Vergnügen.«

»Nacht und Tag, und viel Vergnügen«, brüllte Frank Brangwen als Nachsatz.

»Hammer und Zange, und viel Vergnügen«, rief Alfred Brangwen, der Schwermütige.

»Füllt die Gläser und laßt uns noch mal von vorne anfangen«, schrie Tom Brangwen.

»Herd und Heim – und viel Vergnügen!«

Ein wirres Geschrei der Gesellschaft war die Antwort.

»Ein gesegnetes Bette, und viel Vergnügen«, rief Frank Brangwen.

Ein anschwellender Chor antwortete ihm.

»Rein und raus, und viel Vergnügen«, rief der schwermütige Alfred Brangwen, und nun brüllten die Männer schon ganz kühn, und die Frauen sagten: »Nu hört doch bloß!«

Es lag ein Anflug von Ungebühr in der Luft.

Dann rollte die Gesellschaft in den Wagen von dannen, Hals über Kopf zurück nach der Marsch, zu einem Frühstück, das schon mehr ein großes Essen war und anderthalb Stunden dauerte. Braut und Bräutigam saßen am Kopfende des Tisches, beide sehr anständig und strahlend, beide wortlos, während die übrige Gesellschaft weiter unten am Tische tobte.

Die männlichen Brangwens tranken Branntwein in ihren Tee und waren allmählich nicht mehr zu bändigen. Der schwermütige Alfred bekam glitzernde Augen, die nichts mehr sahen, und zeigte bei seiner seltsamen, wilden Art zu lachen die Zähne. Seine Frau glühte ihn wütend an und stieß den Kopf gegen ihn vor wie eine Schlange. Er merkte nichts. Frank Brangwen, ein rosiger blühender hübscher Kerl, brüllte den Widerhall zu den Worten seiner beiden Brüder. Auch Tom Brangwen in seiner biederen Weise ließ sich endlich gehen.

Die drei Brüder beherrschten die ganze Gesellschaft. Tom Brangwen wollte eine Rede halten. Zum erstenmal in seinem Leben mußte er sich in Worten ergehen.

»Der Ehestand,« begann er, mit zwinkernden und doch tiefen Augen, denn er fühlte sich zu gleicher Zeit tiefernst und aufs höchste erheitert, »der Ehestand,« sagte er, und redete in der langsamen, schwermäuligen Weise der Brangwens, »das ist das, wofür wir eigentlich gemacht sind –«

»Laß ihn doch reden,« meinte Alfred Brangwen, langsam und unerforschlich,»laß ihn doch reden.« Mrs. Alfred schoß wütende Blicke nach ihrem Gatten.

»Der Mann«, fuhr Tom Brangwen fort, »hat seinen Spaß daran ein Mann zu sein: wozu wäre er denn sonst zum Manne gemacht, als daß er seinen Spaß dran haben sollte?«

»Das ist ein wahres Wort«, meinte Frank ganz unnötig.

»Und ebenso,« fuhr Tom Brangwen fort, »ebenso hat auch die Frau ihren Spaß daran, daß sie 'ne Frau ist: wollen das wenigstens mal annehmen –«

»Ach, da quälen Sie sich man nich um –«, rief ihm eine Hofbesitzersfrau zu.

»Kannst deinen Kopf drauf wetten, sie nehmen immer was an!« sagte Franks Frau.

»Damit nun«, fuhr Tom Brangwen fort, »der Mann ein richtiger Mann wird, braucht er 'ne Frau –«

»Verbraucht sie auch!« sagte eine Frau grimmig.

»Und damit die Frau eine richtige Frau wird, muß sie 'nen Mann haben«, fuhr Tom Brangwen fort.

»Nu los doch, ihr Männer!« unterbrach ihn eine weibliche Stimme.

»Und darum haben wir den Ehestand«, redete Tom Brangwen weiter.

»Halt, halt! Laß uns doch die Beine unterm Leibe!« sagte Alfred Brangwen.

Und in Totenstille wurden die Gläser gefüllt. Braut und Bräutigam, ein paar Kinder, saßen mit gespannten, glänzenden Gesichtern oben am Tische, ganz in Gedanken.

»Im Himmel gibts keinen Ehestand,« lautete Tom Brangwens Fortsetzung, »aber auf Erden gibts einen.«

»Das ist ja grade der Unterschied«, sagte Alfred Brangwen spöttisch.

»Alfred, spar deine Bemerkungen man für später auf, und denn sollste auch vielen Dank für sie haben –«, sagte Tom Brangwen. »Auf Erden ist außer der Ehe man wenig los. Ihr mögt da wohl von Geldverdienen oder Seelenretten reden. Ihr mögt eure eigene Seele siebenmal retten, und mögt noch so große Haufen Geld haben, aber an eurer Seele da knabbert was, da knabbert was, da knabbert was, und das sagt: mir fehlt was! Im Himmel gibts keinen Ehestand. Aber auf Erden gibts die Ehe, sonst fiele der Himmel ein, und alles wäre bodenlos.«

»Nu hört doch bloß!« sagte Franks Frau.

»Weiter, Thomas«, sagte Alfred Brangwen spöttisch.

»Wenn wir nun schon mal Engel werden müssen,« redete Tom Brangwen die Gesellschaft ganz allgemein weiter an, »und es gibt nichts Derartiges wie einen Mann oder eine Frau unter ihnen, denn kommts mir so vor, als machte ein Ehepaar einen Engel aus.«

»Das is der Schnaps«, sagte Alfred Brangwen kläglich.

»Denn«, sagte Tom Brangwen, und die ganze Gesellschaft lauschte auf die Lösung seines Rätsels, »ein Engel kann doch woll nicht weniger als ein Mensch sein. Und wäre er bloß die Seele eines Mannes weniger den Mann selbst, dann wäre er doch weniger als ein menschliches Wesen.«

»Entschieden«, sagte Alfred.

Gelächter lief um den Tisch. Aber Tom Brangwen war des Geistes voll. »Ein Engel muß doch mehr als ein menschliches Wesen sein«, fuhr er fort. »Darum sage ich: ein Engel ist die Seele eines Mannes und einer Frau in eins: zu einem verschmolzen stehen sie am Tage des Gerichts auf, als ein Engel –«

»Und preisen den Herrn«, sagte Frank.

»Und preisen den Herrn«, wiederholte Tom.

»Und was wird aus den Weibern, die ledig bleiben?« fragte Alfred spöttisch. Die Gesellschaft begann unruhig zu werden.

»Das kann ich nich sagen. Wie kann ich denn wissen, ob am Tage des Gerichts überhaupt noch jemand ledig ist? Darum wollen wir uns nich quälen. Was ich sage is das, daß wenn sich eines Mannes Seele und einer Frau Seele zusammentun – daß das einen Engel gibt –«

»Mit de Seelen, das weiß ich nich. Aber das weiß ich, daß eins und eins zuweilen drei macht«, sagte Frank. Aber er lachte allein.

»Körper und Seele aber, das ist ganz dasselbe«, sagte Tom.

»Und wie is es mit deiner eigenen Frau, die war doch vor dir schon mal verheiratet?« fragte Alfred, dem diese Rede sehr gegen den Strich ging.

»Das kann ich dir nich sagen. Wenn ich mal ein Engel werden sollte, dann is das meine verheiratete Seele, nich meine ledige. Meine Jungensseele is es ganz gewiß nich: denn da hatte ich noch gar keine Seele, aus der man einen Engel hätte machen können.«

»Ich muß immer noch daran denken,« sagte Franks Frau, »als unser Harold so krank war, da tat er nichts als Engel hinter dem Spiegel zu sehen. ›Sieh, Mutter!‹ sagte er, ›da, der Engel!‹ ›Do is ja kein Engel nich, mein Küken‹, sag ich, aber er wollts nich glauben. Ich holte den Spiegel von de Kammode 'runter, aber das war ganz gleich. Er fing immer wieder an un sagte, da wäre er. Warraftig, das hat mir schön verjagt, damals! Ich dachte ganz gewiß, nu hätt ich ihm verloren.«

»Ich kann mich noch besinnen,« sagte jemand anders, der Mann von Toms Schwester, »meine Mutter verhaute mich mal ganz fürchterlich, weil ich gesagt hatte, ich hätte einen Engel in der Nase. Sie sah, wie ich da rumprokelte, un da sagt sie: ›Was prokelst du da in der Nase herum – laß das.‹ ›Da is en Engel drin‹, sagte ich, un da verhaut sie mich aber! Aber es war doch einer drin. Wir nannten die kleinen Butterblumendinger, die so 'rumfliegen, ›Engel‹. Und so eins hatte ich mir in die Nase gesteckt, warum, weiß ich nicht.«

»Och, das is ganz unglaublich, was Kinder sich alles in die Nase stecken«, sagte Franks Frau. »Ich weiß noch, unsre Hemmie, die hatte sich mal so 'n Dings aus 'ner Glockenblume in die Nase gesteckt, so 'n Dings wo sie Kerze zu sagen, richtig in die Nase, und och! was 'ne Arbeit wir damit hatten. Ich hatte woll gesehen, wie sie sich die Dinger erst vorn auf die Nase setzten, so ungefähr, aber ich dachte doch nich, sie wär so unklug, daß sie sich das Dings richtig da 'neinstopfen würde. Sie war 'ne Deern von acht oder mehr. – Warraftig, ich mußt erst 'ne Häkelnadel nehmen und ich weiß nich was noch –«

Tom Brangwens Begeisterung begann sich zu verflüchtigen. Er hatte bald alles vergessen und brüllte und schrie wie alle übrigen. Draußen kam die Wache und sang Weihnachtslieder. Sie wurden in das schon brechend volle Haus eingeladen. Sie brachten zwei Geigen und eine Flöte mit. Da mußten sie im Wohnzimmer Weihnachtslieder spielen, und die ganze Gesellschaft sang so laut sie konnte mit. Nur Braut und Bräutigam saßen mit glänzenden Augen da und seltsamen, hellen Gesichtern, und sangen kaum mit, oder doch nur mit kaum sich bewegenden Lippen.

Nach der Wache kamen die Schauspieler. Lauter Beifall ertönte und Geschrei und Gelächter, als das alte Spiel von Sankt Georg losging, in dem jeder der Anwesenden als Junge mitgewirkt hatte, mit Bumsen und Knüppelaufstoßen und der leckenden Bratpfanne.

»Warraftig, da hab ich mir mal 'nen schönen Knacks weggeholt, als ich den Beelzebub spielen mußte«, sagte Tom Brangwen und die Tränen standen ihm vor Lachen in den Augen. »Ich wurde richtig ganz dämlich, es war als ob man ein Ei aufknackt. Aber das kann ich euch sagen, als ich wieder zu mir kam, da spielt ich aber hübsch Schindluder mit Sankt Georg, jawohl!«

Er lachte, daß ihm der Bauch wackelte. Wieder klopfte es an die Tür. Alles horchte auf.

»Der Wagen is da«, sagte jemand von der Tür her.

»Komm man 'rein«, rief Tom Brangwen, und ein rotgesichtiger, grinsender Kerl trat herein.

»Nanu, ihr beiden, nu macht euch mal fertig für die Bettenvorstellung!« rief Tom Brangwen. »Nu mal fix, und wenn ihr nich wie 'n geölter Blitz loszieht, denn sollt ihr überhaupt gar nich weg, denn könnt ihr jeder alleine schlafen.«

Anna stand stumm auf, um ihr Kleid zu wechseln. Will Brangwen wäre auch nach draußen gegangen, aber Tilly brachte ihm Hut und Rock. Sie halfen dem Jungen hinein.

»Na, auf gut Glück, mein Junge!« rief sein Vater.

»Solange das Fett auf'm Feuer steht, laß es bruzzeln«, ermahnte ihn sein Ohm Frank.

»Laß es langsam angehen, laß es langsam angehen«, rief im Gegensatz seine Tante.

»Wirst ja wohl nich über deine eigenen Beine stolpern«, rief ein angeheirateter Oheim. »Stehst ja wohl nich wie die Kuh vor 'n bunten Tor!«

»Jedermann muß sich selber seinen Weg finden«, sagte Tom Brangwen etwas empfindlich. »Behaltet doch man eure guten Ratschläge für euch selbst, er heiratet ja doch, nich ihr!«

»'nen Wegweiser hat er jedenfalls nicht nötig«, sagte sein Vater. »Welche Wege muß man 'nen Mann führen, und welche Wege kann auch 'n Einäugiger finden, wenn er 's Auge zumacht. Aber diesen Weg kann auch'n Blinder und ein Einäugiger oder 'n Krüppel nich verfehlen – und das is er doch alles nich, Gott sei Dank!«

»Sei du man nich so sicher, daß du ihn noch gut finden kannst«, rief ihm Franks Frau zu. »Manchein kommt nich weiter als halbwegs, und könnts nich, un wenn es ums Leben ginge, un er ewig lebte.«

»Nanu, woher weißt du denn das?« sagte Alfred.

»Was die welchen sind, die zeigen das so klar wie Kloßbrühe«, antwortete ihm seine Schwägerin Lizzie.

Der Junge stand mit einem schwachen, halb bewußten Lächeln auf den Lippen da. Er war gespannt und geistesabwesend. Alles dies, oder überhaupt irgend etwas berührte ihn kaum noch.

Anna kam in ihrem Tagkleid wieder herunter, sehr gedankenvoll aussehend. Sie gab allen, Männern und Frauen, einen Kuß. Will Brangwen schüttelte allen die Hand, küßte seine Mutter, die anfing zu weinen, und die ganze Gesellschaft flutete zum Wagen nach draußen.

Die Tür wurde hinter dem jungen Paare zugeschlagen und ihnen ein paar letzte gute Ratschläge nachgerufen.

»Fahr zu!« rief Tom Brangwen.

Der Wagen rollte davon. Sie sahen sein Licht unter den Eschenbäumen verschwinden. Dann ging die ganze Gesellschaft etwas ruhiger wieder ins Haus.

»Sie haben drei gute Feuer in Gang«, sagte Tom Brangwen und sah nach der Uhr. »Ich hab Emma gesagt, sie sollte um neun anlegen, und denn die Tür nur anlehnen. Jetzt is es erst halb zehn. Drei Feuer an, und die Lampe brennt, und Emma hat ihnen das Bett gewärmt mit der Wärmpfanne. Sollte meinen, 's wär woll alles in Ordnung.«

Die Gesellschaft war viel ruhiger geworden. Sie redete über die jungen Leute.

»Sie sagte, ein Mädchen wollte sie nich haben«, sagte Tom Brangwen. »Das Haus is nich so groß, sie hätte das Geschöpf ja man immer unter der Nase. Emma kann für sie machen, was nötig is, und denn haben sie das Reich ganz für sich allein.«

»Das is auch am besten so,« meinte Lizzie, »denn is man freier.«

Langsam zog die Unterhaltung sich hin. Brangwen sah nach der Uhr.

»Wollen wir mal hin und ihnen noch eins singen?« sagte er. »Fiedeln finden wir wohl noch im ›Hahn und Finken‹.«

»Ja, man los«, sagte Frank.

Alfred stand stumm auf. Der Schwager und einer von Wills Brüdern standen auch auf.

Die fünf Männer gingen nach draußen. Die Nacht war sternenklar. Der Sirius funkelte wie ein Blinkzeichen über dem Hügel, der Orion war schon im Untergehen, aber noch stattlich und prächtig.

Tom ging neben seinem Bruder Alfred. Die Hacken der Männer tönten laut auf dem Erdboden.

»'ne schöne Nacht«, sagte Tom.

»Jo«, meinte Alfred.

»Fein zum Laufen.«

»Jo.«

Die Brüder gingen dicht nebeneinander her, die Bande des Blutes waren stark zwischen ihnen. Tom fühlte sich dem andern gegenüber immer noch sehr als der Jüngere.

»Is 'ne lange Zeit, seit du von Hause gingst«, sagte er.

»Jo«, sagte Alfred. »Ich dachte all, ich würde so 'n bißchen alt – aber ich werde es doch nich. Was man sich so zugelegt hat, das trägt sich mit der Zeit ab, aber nich man selber.«

»Wieso, was is denn bei dir abgetragen?«

»Die meisten Leute, mit denen ich so zu tun habe – und die was mit mir zu tun haben, die brechen alle zusammen. Du mußt für dich alleine laufen, und wenns auch man in die Hölle is. Selbst dahin geht keiner mit.«

Tom Brangwen dachte scharf hierüber nach.

»Vielleicht bist du nie richtig zugeritten«, sagte er.

»Ne, das bin ich nie«, sagte Alfred stolz.

Und Tom fühlte, wie sein älterer Bruder ihn ein wenig verachtete. Er krümmte sich darunter.

»Tja, jedermann hat seinen eigenen Weg«, sagte er hartnäckig; »bloß die Hunde haben keinen. Und wer sich nicht nimmt, was man ihm hinhält, und wer ruhig hingibt, was man ihm wegnimmt, der muß für sich alleine laufen oder sich 'nen Hund suchen, der hinter ihm herläuft.«

»Können auch ohne 'nen Hund fertig werden«, sagte sein Bruder. Und wieder war Tom Brangwen ganz demütig und dachte, sein Bruder wäre doch viel größer als er. Aber wenn er es war, dann war er es eben. Und wenn es feiner war allein zu laufen, dann war es das: und trotz alledem würde er es nicht tun.

Sie schritten über ein Feld, wo ein dünner, schneidender Wind im Sternenlicht um die Kuppe des Hügels blies. Sie kamen an den Übergang neben Annas Haus. Die Lichter waren aus, nur auf den Läden unten und an denen des Schlafzimmers oben schimmerte noch der Widerschein des Kaminfeuers.

»Wir sollten sie doch man besser alleine lassen«, sagte Alfred Brangwen.

»Ne, ne«, sagte Tom. »Wir wollen sie ansingen, zum allerletztenmal.«

Und nach einer Viertelstunde kletterten elf ziemlich angeheiterte Gestalten über die Mauer in den Garten bei den Eibenbäumen unter den Fenstern, auf deren Läden der schwache Widerschein des Feuers schimmerte. Ein schriller Ton, zwei Geigen und eine Pickelflöte tönten durch die kalte Frostnacht.

»Auf dem Feld bei ihrer Herde.« Eine Anzahl Männerstimmen fielen in rauhem Einklang ein.

Anna Brangwen fuhr auf und horchte, als die Musik begann. Sie wurde bange.

»Das ist die Wache«, flüsterte er.

Sie horchte gespannt weiter, ihr Herz klopfte schwer unter dem Eindruck einer seltsamen, starken Furcht. Dann brach der Gesang der Männer los, ziemlich wenig im Takt. Sie horchte angestrengt weiter.

»Das ist Vatting«, sagte sie mit leiser Stimme. Sie horchten stumm.

»Und mein Vater«, sagte er.

Sie horchte noch. Aber nun fühlte sie sich sicher. Sie sank wieder ins Bett zurück, in seine Arme. Er drückte sie fest an sich und küßte sie. Der Gesang ging draußen weiter, sie sangen alle, so gut sie konnten, und vergaßen alles andere unter dem Banne der zwei Geigen und des Liedes. Im Zimmer kämpfte der Feuerschein mit der Dunkelheit. Anna konnte hören, mit welcher Freude ihr Vater sang.

»Wie albern die sind«, flüsterte sie.

Und dann krochen sie dichter, immer dichter zusammen, ihre Herzen aneinander schlagend. Und während das Weihnachtslied noch weiter ging, hörten sie schon gar nichts mehr.


 << zurück weiter >>