Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel.
Der Kreis weitet sich

Maggies Angehörige, die Schofields, lebten in der zu Belcote Hall gehörigen Gärtnerei, fast einem ganzen Hofe, für sich. Belcote Hall selbst war zu feucht, um darin leben zu können, so daß die Schofields Hausmeister, Wildhüter und Bauern alles in einem waren. Der Vater war Wildhüter und Züchter, der älteste Sohn Marktgärtner, wofür er die großen Gärten von Belcote Hall benutzte, der zweite Sohn Bauer und Gärtner. Die Hausgenossen waren wie in Coffethay sehr zahlreich.

Ursula blieb gern einmal auf Belcote, um sich von Maggies Brüdern als große Dame behandeln zu lassen. Sie waren gut aussehende Leute. Der älteste Sohn war sechsundzwanzig Jahre alt. Er war der Gärtner, ein nicht besonders hochgewachsener Mann, aber stark und gut gebaut, mit braunen, sonnigen, leichtblütigen Augen und hübsch geschnittenem Gesicht, braun mit langem, hellem Schnurrbart, an dem er immer herumzerrte, wenn er mit Ursula sprach.

Die Aufmerksamkeit, die diese Menschen ihr schenkten, sobald sie sich ihnen näherte, regte das Mädchen sehr auf. Sie konnte ihre Augen zum Leuchten und Zittern bringen, sie konnte Anton, den Ältesten, dazu bringen, daß er seinen Schnurrbart zwirbelte und zupfte. Sie wußte, sie könne sie mit ihrem leichten Gelächter und Geschwätz beinahe völlig nach ihrem Gefallen lenken. Sie liebten ihre Gedankengänge und paßten sehr auf, wenn sie heftig über Staats- und öffentliche Angelegenheiten oder Wirtschaftsfragen redete. Und sie bemerkte beim Reden, wie die goldbraunen Augen Antons satyrgleich zu funkeln begannen, während sie sie beobachteten. Er beachtete ihre Worte gar nicht, er beachtete nur sie. Das regte sie sehr auf.

Er war wie ein vergnügter Faun, wenn sie mit ihm durch seine Gewächshäuser ging, um sich die hübschen, grünen Pflanzen anzusehen, die über ihren Blättern nickenden rosa Primeln, die purpurn und scharlach und weiß prunkenden Zinerarien. Sie fragte nach allem, und er erzählte ihr alles ganz genau und eingehend auf eine sonderbar förmliche Weise, über die sie immer lachen mußte. Und doch fühlte sie sich wirklich gefesselt durch sein Tun. Und er hatte ein sonderbares Leuchten auf seinem Gesicht, wie das Leuchten in den Augen des Ziegenbockes, der draußen am Hoftore angebunden war.

Sie ging mit ihm in den feuchtwarmen Keller hinunter, wo die kleinen gelben Knöpfe des Rhabarbers in der Dunkelheit bereits durchkamen. Er hielt die Laterne zu dem dunklen Boden nieder. Sie sah die glänzenden Knöpfe des Rhabarbers sich auf den dicken, roten Stielen emporrecken, sich wie einen Flammenkopf durch den weichen Boden hindurchdrängen. Sein Gesicht war zu ihr emporgewendet, das Licht glitzerte auf seinen Augen und Zähnen während er lachte, ein leises, wohlklingendes Wiehern. Er sah hübsch aus. Und dies schwache, wohlklingende Wiehern Antons war ihren Ohren ein neuer Klang: sein Schnurrbart stand ihm in die Höhe, seine Augen leuchteten beständig in einem kalten, anmaßenden, lachenden Glimmern. In seiner Bewegung lag etwas, als brüste er sich eines Sieges, aber sie konnte sich nicht einer Bewegung des Einverständnisses, einem Hauch des Entgegenkommens entschlagen. Und doch war er so demütig, seine Stimme so liebkosend. Er hielt ihr seine Hand hin, um draufzutreten, wenn sie über eine Gartenmauer steigen mußte. Und sie trat auf seine lebende Festigkeit, die unter ihrem Gewicht erschauerte.

Sie nahm ihn wie in einem Zauberschlaf gewahr. Im gewöhnlichen Sinne hatte sie nichts mit ihm zu tun. Aber die sonderbare Leichtigkeit, die Unwahrnehmbarkeit, mit der er das Haus betrat, die Macht des kalten Glitzerns seiner Augen, wenn er sie ansah, war wie eine Verzauberung. In seinen Augen schien, wie in den blaßgrauen des Ziegenbocks draußen, etwas von dem stetigen, kalten Feuer des Mondlichts zu liegen, das nichts mit dem Tage gemein hat. Das ließ sie auf ihrer Hut sein, und doch vergingen ihr die Sinne, als würden sie ausgelöscht. Sie war ganz Sinn, alle ihre Sinne wurden lebendig.

Dann sah sie ihn am Sonntag, in seinem Festtagsanzug, der Eindruck auf sie machen sollte. Und da sah er lächerlich aus. Sie hielt sich an dem lächerlichen Eindruck seines steifen Sonntagsanzuges.

Mit Hinsicht auf Anton fühlte sie sich Maggie gegenüber immer wie treulos. Die arme Maggie stand dabei, als wäre sie verraten. Maggie und Anton waren gefühlsmäßig Feinde. Mußte Ursula zu ihrer Freundin zurück, so lief sie immer über vor Zuneigung und bitterem Mitgefühl. Und Maggie nahm das etwas steif entgegen. Dann traten Dichterwerke und Wissenschaft und Bücher an die Stelle Antons mit seinen Ziegenbocksbewegungen und seinem kalten, glimmernden Wesen.

Während Ursula noch auf Belcote war, trat Schnee ein. Am Morgen lag eine Schneelast auf den Rhododendronbüschen. »Wollen wir ausgehen?« sagte Maggie.

Sie hatte ihre sichere Führung ein wenig verloren und hielt sich jetzt sehr zurück, versuchte immer erst, ob ihre Freundin auch wolle.

Sie nahmen den Torschlüssel mit und wanderten in den Park hinaus. Er war eine weiße Welt, in der die Bäume einzeln und in Gruppen dunkel gegen den froststrahlenden Himmel standen. Die beiden Mädchen gingen am Schlosse vorbei, das stumm mit verschlossenen Läden dalag, ihre Fußspuren zeichneten sich auf dem Zufahrtswege ab. Weit hinten im Park, in großer Entfernung, schleppte ein Mann einen Arm voll Heu über den Schnee. Es war eine kleine, dunkle Gestalt, die sich da unbefangen wie ein Tier vorüberbewegte.

Maggie und Ursula setzten ihre Entdeckungsfahrt fort, bis hinab zu einem plätschernden, kühlen Bache, der den Schnee in kleinen Höhlungen weggewaschen hatte und nun dunkel dazwischen hinlief. Sie sahen die glitzernden Augen eines Rotkehlchens und dann etwas Grau und Rotes ins Gebüsch davonflattern, dann flitzten ein paar lustig gezeichnete Blaumeisen vorüber. Der Bach lief kühl dazwischen hin, mit leisem Plätschern.

Die Mädchen wanderten bis zu den unter einer dünnen Eisschicht liegenden künstlichen Fischteichen. Da lag ein dicker, ganz mit Efeu umsponnener Baumstumpf fast wagerecht über das Wasser hingestreckt. Vergnügt kletterte Ursula hinauf und suchte sich inmitten der Efeupolster mit den dunklen Beeren einen Sitz. Ein paar Efeublätter starrten ihr wie vorgehaltene Speerspitzen entgegen, mit Schnee darauf. Sie konnten das Eis unter sich sehen.

Maggie holte ein Buch hervor, und indem sie sich etwas unterhalb Ursulas zurechtsetzte, begann sie Coleridges »Christabel« zu lesen. Ursula hörte nur halb zu. Sie war wild erregt. Sie sah Anton über den Schnee daherkommen, mit seinem sicheren, etwas prahlerischen Schritt. Sein Gesicht hob sich braun und hart gegen den Schnee ab, er lächelte in einer Art gespannter Zutraulichkeit.

»Hallo!« rief sie ihn an.

Eine Antwort fuhr über sein Gesicht, sein Kopf hob sich mit einem antwortenden Ruck.

»Hallo!« sagte er. »Sie sitzen ja da wie ein paar Vögel.«

Ursulas Lachen tönte weithin. Es war eine Antwort auf das sonderbare, schnarrende Näseln in seiner durchdringenden Stimme.

Sie dachte gar nicht an Anton und stand doch in gewisser Hinsicht in Verbindung mit ihm, mit seiner Welt. Eines Abends traf sie ihn, als er grade die Straße hinunterkam, und sie gingen Seite an Seite nebeneinander her.

»Ich finde es so entzückend hier«, rief sie.

»Wirklich?« sagte er. »Ich freue mich, wenn es Ihnen hier gefällt.«

In seiner Stimme lag etwas merkwürdig Zutrauliches.

»O, ich liebe die Gegend hier. Was kann man sich denn wohl Besseres wünschen, als hier an diesem entzückenden Orte zu leben und alles in seinem Garten zum Wachsen zu bringen. Es ist hier ja wie im Garten Eden.«

»Ja?« sagte er mit einem kleinen Lachen. »Jawohl – na ja, so ganz übel ist es nicht – – –« meinte er dann etwas zögernd. Das blasse Leuchten in seinen Augen war besonders stark, er sah sie beständig an und beobachtete sie wie ein Tier. In ihrer Seele sprang etwas empor. Sie wußte, er würde ihr nun den Vorschlag machen, doch ihm gleich zu werden.

»Möchten Sie nicht hier bei mir bleiben?« fragte er sie versuchend.

Sie stutzte vor Furcht und in dem überwältigenden Gefühl, er mute ihr mit dieser Frage etwas Unsittliches zu.

Sie waren ans Tor gekommen.

»Aber wie denn?« sagte sie. »Sie sind doch nicht allein hier.«

»Wir könnten uns ja heiraten«, sagte er mit dem seltsamen, kalt glitzernden, eindringlichen Ton, der das Sonnenlicht zu Mondschein erstarren machte. Alles Wesentliche schien ihr verändert. Schatten und tanzendes Mondlicht waren wirklich, alles übrige dagegen nur kalte, gefühllose, glitzernde Empfindungen. Mit einer Art Schrecken wurde sie gewahr, sie fange an dies so hinzunehmen. Unvermeidlich würde sie ihn nehmen. Seine Hand streckte sich nach dem Gitter vor ihnen aus. Sie blieb stehen. Sein Fleisch war hart und braun und bestimmt. Sie schien in den Klauen von etwas Schimpflichem gefangen.

»Das könnte ich nicht«, antwortete sie unwillkürlich.

Er ließ wieder sein kurzes, wieherndes Lachen hören, nur diesmal sehr traurig und bitter, und schloß das Tor auf. Aber er öffnete es noch nicht. Einen Augenblick standen sie beide da und sahen auf die Glut des Sonnenuntergangs, die zwischen den purpurnen Zweigen der Bäume hindurch zitterte. Sie sah sein braunes, hartes, schöngeschnittenes Gesicht vor Ärger und Erniedrigung und Unterwerfung aufbrennen. Er war ein Tier, das weiß, es muß gehorchen. Ihr Herz flammte empor im Gefühl für ihn und in der Empfindung all des Bezaubernden, das er ihr bot, aber auch vor Mitleid und einem untröstlichen Gefühl von Einsamkeit. Ihre Seele war wie ein Kind in der Nacht, das weint. Er hatte keine Seele. O, und warum mußte sie eine haben? Er war der Reinere.

Sie wandte sich weg, drehte sich rundum und sah den Osten von einem seltsamen Rot übergossen, sah den Mond gelb und lieblich an einem rosa Himmel über den dunkelnden, bläulichen Schnee emporsteigen. All dies war so schön, so entzückend! Er sah es gar nicht. Er war ja eins damit. Aber sie sah es und war auch eins damit. Ihr Sehen legte unendliche Weiten zwischen sie.

Schweigend gingen sie den Pfad hinunter, ihren verschiedenen Schicksalen folgend. Die Bäume wurden dunkler und dunkler, der Schnee verursachte nur ein schwaches Leuchten in einer unwirklichen Welt. Schattengleich war der Tag in einen schwach schimmernden, schneeigen Abend versunken, während sie ziellos auf ihn einredete, um ihn von sich abzuhalten und doch möglichst dicht neben ihm zu bleiben; und er ging schwerfällig neben ihr her. Ruhig öffnete er ihr die Gartentür, sie trat in ihren eigenen Lustgarten ein und ließ ihn draußen vor der Tür.

Und während sie diesem Schmerzgefühl so entfloh oder zu entfliehen versuchte, kam Maggie den nächsten Tag und sagte: »Ich würde Anton nicht in mich verliebt machen, Ursula, wenn ich ihn doch nicht will. Das ist nicht nett.«

»Aber Maggie, ich habe nie etwas getan, um ihn in mich verliebt zu machen«, rief Ursula enttäuscht und schmerzvoll; es war ihr, als habe sie etwas Schlechtes begangen.

Sie mochte Anton ja gern. Ihr ganzes Leben lang kam sie zwischendurch in Gedanken immer wieder auf ihn und sein Anerbieten zurück. Aber sie war ein Reisender, sie war ein Wanderer auf Erden, und er ein einsames Geschöpf, das nur der Erfüllung seiner Sinne lebte.

Sie konnte doch nicht dafür, daß sie ein Reisender war. Von Anton wußte sie, daß er keiner war. Aber o, endlich und schließlich mußte sie doch weiter und immer weiter, das Ziel suchend, von dem sie wußte, sie kam ihm immer näher.

Sie vollendete jetzt ihren zweiten und letzten Dienstabschnitt an St. Philipps-Schule. Sie strich jedesmal die Monate durch, wenn sie abgelaufen waren, erst Oktober, dann November, Dezember, Januar. Vorsichtig zog sie von dem verbleibenden Rest immer einen Monat für die Sommerfreizeit ab. Sie sah sich einen Kreis durchlaufen, von dem nur noch ein kurzer Bogen übrig blieb. Dann würde sie im Freien sein, wie ein in die Luft emporgeworfener Vogel, wie ein Vogel, der bis zu einem gewissen Grade zu fliegen gelernt hat.

Also die Hochschule stand ihr bevor; die war ihre Luft, die unbekannte, weite. Erst einmal aus der Hochschule, und sie würde alle Grenzen ihres bisherigen Lebens hinter sich lassen. Denn auch ihr Vater hatte vor, umzuziehen. Sie wollten Coffethay verlassen.

Brangwen hatte die alte Unbekümmertheit um seine häuslichen Verhältnisse beibehalten. Er war sich klar darüber, daß seine Arbeit als Spitzenzeichner für ihn nur von geringem Wert sei, und daß er grade nur seinen Lohn verdiente. Er wußte auch nicht, was denn eigentlich für ihn von besonderem Werte sei. In seinem Leben neben Anna Brangwen war sein Sinn stets so mit körperlicher Hitze durchtränkt, daß er sich immer nur von einer Gefühlsregung zur nächsten weitertastete, immer nur tastete.

Als ihm der Vorschlag gemacht wurde, er möge sich um eine der von dem Erziehungsausschuß zu Nottingham eingerichteten Stellen als Handfertigkeitslehrer bewerben, da war es ihm, als werde ihm Spielraum gegeben, in den er aus seinem heißen, düsteren Gefängnis hinausfliegen könne. Voller Vertrauen und Erwartung reichte er seine Bewerbung ein. Er glaubte in gewisser Weise an ein übernatürliches Schicksal. Die unvermeidliche Anspannung infolge seiner täglichen Arbeit hatte einige seiner Muskeln ganz steif werden lassen und auf seinem rötlichen, gespannten Gesicht eine gewisse Starrheit hervorgerufen. Nun winkte die Freiheit.

Er war voller neuer Möglichkeiten, und seine Frau bestärkte ihn darin. Sie war ganz mit einem Wechsel einverstanden. Sie hatte Cossethay auch satt. Das Haus war für die heranwachsenden Kinder zu klein. Und da sie jetzt nahezu vierzig Jahre alt war, erwachte sie langsam aus dem Schlafe ihrer Mutterschaft, ihre Tatkraft strebte mehr in die Weite. Der Lärm heranwachsenden Lebens weckte sie aus ihrer Stumpfheit auf. Auch sie mußte Hand anlegen und Leben formen. So war sie ganz mit einem Umzug einverstanden, bei dem sie ihre ganze Brut mitnehmen konnte. Der würde eine Verpflanzung in diesem Zeitpunkt recht gut bekommen. Denn sie hatte grade ihr letztes Kind geboren, das nun heranwachsen sollte.

So besprach sie also mit ihrem Gatten allerlei Vorbereitungen, in Wirklichkeit völlig gleichgültig gegen die Art und Weise, wie sie umziehen wollten, da sie ja doch unter allen Umständen umziehen würden; ginge es nicht auf diese Weise, dann ginge es eben auf eine andere.

Das ganze Haus war in Gärung. Ursula war wild vor Aufregung. Endlich würde ihr Vater es nun mal zu etwas bringen, gesellschaftlich. Bis jetzt war er gesellschaftlich doch nur eine reine Null gewesen, ohne Gestaltung oder Stellung. Nun würde er Lehrer für Kunst und Handfertigkeitsunterricht für die Grafschaft Nottingham werden. Das war doch eine Stellung. Auf seine Weise war er ein Fachgelehrter. Und er war ein ganz ungewöhnlicher Mensch. Ursula fühlte, jetzt würden sie alle festen Fuß fassen. Jetzt würde er anerkannt werden. Wer unter ihren Bekannten konnte mit eigener Hand so wundervolle Sachen hervorbringen wie ihr Vater? Sie fühlte, er war seiner neuen Stellung völlig gewachsen.

Sie wollten also umziehen. Sie würden das Häuschen in Coffethay verlassen, das ihnen zu klein geworden war; sie würden Cossethay verlassen, wo sie sämtlich geboren waren und wo man an sie alle stets denselben Maßstab anlegte. Denn die Leute, die sie mit den übrigen Dorfkindern hatten heranwachsen sehen, würden und könnten niemals begreifen, daß sie nun zu etwas anderem heranwüchsen. Sie hatten »Ursler Brangwen« immer als die ihrige angesehen und ihr in ihrem Geburtsdorfe einen Platz als zu ihnen gehörig angewiesen. Und das war ein starkes Band. Nun aber, wo sie sich zu etwas auswuchs, das Cossethay nicht zulasten oder nicht verstehen konnte, wurde dies Band zwischen ihr und ihren alten Spielgefährten zu einer Fessel.

»Hallo Ursler, wo geiht di dat?« sagten sie, wenn sie sie trafen. Und das verlangte von ihr die alte Antwort in der alten Ausdrucksweise. Und eine Seite ihres Inneren wollte stets mit den Leuten, die sie kannte, wieder anbinden und zu ihnen gehören. Aber eine andere lehnte das voller Bitterkeit ab. Was von ihr vor zehn Jahren gegolten hatte, galt jetzt nicht mehr. Und noch ein anderes, was sie war und sein mußte, konnten sie weder begreifen noch durchgehen lassen. Trotzdem fühlten sie sein Vorhandensein als etwas jenseits von ihnen Stehendes, und fühlten sich dadurch beleidigt. Sie behaupteten, sie wäre stolz und eingebildet, sie wäre jetzt aus ihren Schuhen herausgewachsen. Sie sagten, sie solle sich man nicht dicketun, weil sie wüßte, sie wäre etwas. Sie hätten sie gekannt, seit sie geboren sei. Sie erzählten dies und jenes von ihr. Und sie selbst fühlte sich beschämt wegen ihres so ganz anderen Empfindens als die Leute, unter denen sie ausgewachsen war. Es tat ihr weh, daß sie sich unter ihnen nicht länger wohlfühlen könne. Und doch – und doch – unser Drachen steigt so hoch, als unsre Schnur reicht. Er zerrt und zerrt und möchte fort, und man freut sich, je höher er steigt, selbst wenn die andern sich drüber ärgern. So wurde Cossethay ihr ein Klotz am Bein, und sie wollte gern heraus, sie wollte ihren Drachen steigen lassen, so hoch es ihr paßte. Sie wollte fort, um sich zu ihrer vollen Höhe emporrecken zu dürfen.

Sobald sie also sicher wußte, ihr Vater habe die neue Stellung, und sie würden alle fortziehen, da fühlte sie sich, als möchte sie über die ganze Erde dahinhüpfen und Freudengesänge anstimmen. Coffethay, die alte Fessel, sollte endlich abgestreift werden und sie nun in die blaue Luft hinaustanzen dürfen. Tanzen und singen wollte sie.

Sie träumte von dem neuen Orte, an dem sie leben würden, wo stattliche Leute von feiner Bildung und hohen Gefühlen sich mit ihr anfreunden würden und wo sie mit dem Adel des Landes zusammenleben, wo sie sich zu freiesten Empfindungen ausleben würde. Sie träumte von einer reichen, stolzen und dabei doch schlicht empfindenden Freundin, die nie etwas von Mr. Harby und seinesgleichen erfahren hatte, in deren Stimme nichts von unterwürfiger Verachtung und Furcht lag, wie in Maggies.

Und dann überließ sie sich allem, was ihr in Coffethay lieb gewesen war, leidenschaftlich, weil sie ja nun fortging. Sie durchwanderte all ihre Lieblingsplätze. Da war ein Platz, wo sie verbotenen fremden Grund und Boden betreten mußte, um wildwachsende Schneeglöckchen zu finden. Es war am Abend, und die winterdunklen Wiesen waren voller Geheimnisse. Als sie das Gehölz erreichte, war in der versteckt liegenden kleinen Delle grade ein Eichbaum umgehauen. Wie bleiche Tropfen schimmerten zahlreiche Blumen unter den Haselnußbüschen, und neben den überall herumliegenden scharfen, goldenen Holzsplittern standen die graugrünen Blätter der Schneeglöckchen unbekümmert in die Höhe; die noch sehr kleinen Blüten hatten ihrer gar nicht Acht.

Voller Liebe, wie verzückt pflückte Ursula sich ein paar. Die goldenen Holzsplitter leuchteten wie Sonnenlicht, die Schneeglöckchen standen im Zwielicht da wie die ersten Sterne der Nacht. Und sie war hier in ihrer Einsamkeit ausgelassen glücklich darüber, ihren Weg in dies schimmernde Düster gesunden zu haben, zu den traulichen kleinen Blumen und den Holzsplittern, die wie Sonnenschein über dem Zwielicht des Grundes lagen. Sie setzte sich auf den gefällten Stamm und blieb eine Weile ganz in sich versunken sitzen.

Beim Heimweg verließ sie das Purpurdunkel der Bäume für die offene Straße, aus der Wasserpfützen lange, juwelenglänzende Streifen zogen; das Land um sie her lag bereits im Dunkel, und der Himmel ihr zu Häupten war ein einziges Juwel. O, wie erstaunlich ihr das alles war! Es war fast zu viel. Sie hätte laufen mögen, singen und vor reinster, prickelnder Wildheit laut schreien mögen, aber sie konnte weder laufen noch singen noch so schreien, daß es die tiefsten Tiefen ihres Herzens wiedergegeben hätte; so war sie lieber still und beinahe betrübt über ihre Einsamkeit.

Ostern ging sie noch einmal für ein paar Tage zu Maggie. Sie war jedoch scheu und fluchtbereit. Sie sah Anton, sah die Verführung, die in ihm lag, wie in seine Augen ein flehendes Leuchten trat, das so schön war. Sie sah ihn wieder und wieder an, um ihn zur Wirklichkeit werden zu lassen. Aber ihr eigenes Ich war zu sehr anderswo beschäftigt. Sie schien ein anderes Wesen geworden.

So wandte sie sich dem Frühling und den sich öffnenden Knospen zu. An einer Mauer stand ein großer Birnbaum, übersät mit unzähligen winzigen, graugrünen Knospen. Es verschlug ihr den Atem vor Entzücken, als sie vor ihm stand, und eine große Erfahrung sank ihr tief ins Herz. Hinter dieser Wolke blassen, schwachen Grüns lag eine ganze Heeresmacht verborgen, die jeden Augenblick losbrechen konnte – eine Flut von Sonnenschein, bereit herniederzuströmen.

So liefen die Wochen hin, wie ein Traum, inhaltvoll. Der Birnbaum an seiner Mauer in Cossethay brach in Blüten aus, wie eine Woge in Gischt. Dann kamen allmählich die Fingerhüte, blau wie Wasser in flachen Pfützen unter Bäumen oder Büschen, höher und höher fluteten sie empor, bis eine azurne Flut sich ausbreitete, aus der die blaßgrünen Blätter hervorbrannten und winzige Vögel mit schrillen Liedern hervorflatterten. Dann sank die Flut plötzlich in sich zusammen und war verschwunden; es war Sommer.

Die schulfreien Wochen über wollten sie an die See gehen. Sie bedeuteten gleichzeitig auch den Abschied von Coffethay.

Sie wollten in Willey Green leben, einem Ort, der für Brangwen am günstigsten gelegen war. Es war ein altes, stilles Dörfchen am Rande des übervölkerten Kohlengruben-Bezirkes. Daher diente es mit seinem putzigen, altertümlichen, in ihren Gärten versteckt liegenden kleinen Häuschen der rasch sich ausdehnenden Grubenstadt Beldover als Ausflugs- oder Vergnügungsort, der den Bergleuten Gelegenheit zu einem hübschen Spaziergang bot, ehe die Wirtshäuser Sonntagmorgens geöffnet wurden.

In Willey Green lag die Schule, an der Brangwen jetzt zwei Tage in der Woche beschäftigt war und wo man Ausbildungsversuche unternehmen wollte. Ursula hätte in Willey Green lieber nach der abgelegeneren Seite hinüber gewohnt, nach Southwell und Sherwood zu. Da war es so entzückend, so märchenhaft. Aber hinaus in die Welt hieß nun einmal hinaus in die Welt. Will Brangwen aber wollte sich der Neuzeit anpassen.

Mit dem Gelde seiner Frau kaufte er ein ziemlich großes Haus in dem neuen Backsteinteile von Beldover. Es war ein Landhaus, das die Witwe eines verstorbenen Grubenbesitzers sich gebaut hatte, und lag in einer ruhigen, kleinen Seitenstraße dicht bei der großen Kirche.

Ursula war recht betrübt. Anstatt nun mal sich emporzuschwingen, landeten sie in der Backsteinvorstadt einer kleinen, schmutzigen Stadt.

Mrs. Brangwen war glücklich. Die Zimmer waren prächtig geräumig – ein wunderschönes Eßzimmer, ein Wohnzimmer und die Küche, sowie ein sehr nettes Arbeitszimmer, alles zu ebener Erde. Alles war ausgezeichnet eingerichtet. Die Witwe hatte es sich etwas kosten lassen. Sie war in Beldover geboren und hatte dort wie eine Königin leben wollen. Ihr Badezimmer war weiß und silber, die Treppen waren rein eichen, die Kaminüberbauten durchweg eichen mit ausladenden, säulenartigen Stützen.

»Gut und reichlich« war so die Tonart. Aber Ursula war die überall zum Durchbruch kommende protzige Aufgeblasenheit ganz gräßlich. Sie nahm ihrem Vater das Versprechen ab, die ausladenden eichenen Stützen an den Kaminen abzumeißeln, ganz flach wegzumeißeln. Derartige aufgeblasene Wichtigtuern ging ihr gegen den Geschmack. Ihr Vater war so lang und schlotterig gebaut. Was hatte er mit solcher »Gut und reichlich«- Protzerei zu tun?

Sie kauften auch einen ganzen Teil von den Sachen der Witwe. Die waren von gewöhnlichem, aber gutem Geschmack – der große Wilton-Teppich, der große runde Tisch, ein mit farbenprächtigem Kattun überzogenes Sofa mit Rosen und Vögeln. Es war alles wirklich sehr sonnig und hübsch mit den großen Fenstern und dem Blick unmittelbar auf das flache Tal.

Immerhin lebten sie hier doch, wie einer ihrer Bekannten sagte, unter der Auslese von Beldover. Sie würden Geistespflege darstellen. Und da es keine höheren gesellschaftlichen Spitzen gab als den Doktor, die Grubenleiter und die Apotheker, so würden sie mit ihren Della Robbias, ihren prächtigen Bildhauereien nach Donatello und den Nachbildungen Botticellis sehr glänzen. Ja, die großen Lichtbilder vom Frühling und der Aphrodite und von Christi Geburt im Eßzimmer, dem gewöhnlichen Empfangsraum, sollten die Mäuler von Beldover schon zum Verstummen bringen.

Und schließlich war es doch besser, in Beldover Prinzessin zu sein als irgendwo auf dem Lande eine gewöhnliche Null.

Große Vorbereitungen wurden für die Übersiedelung der Brangwens getroffen, zehn in allem. Das Haus in Beldover war fertig, das Haus in Cossethay wurde geräumt. Am Schlusse des Schuljahres würde die Übersiedelung beginnen.

Ende Juli, wenn der Sommerurlaub anfangen würde, sollte Ursula die Schule verlassen. Der Morgen war hell und sonnig, und an diesem letzten Schultage drang die Freiheit sogar in ihr Klassenzimmer. Es war, als sollten die Mauern der Schule dahinschmelzen. Sie kamen ihr bereits schattenhaft und unwirklich vor. Es war ein allgemeiner Aufbruch. Bald würden Lehrer und Schüler draußen sein und jeder seines Weges gehen. Die Ketten waren zerbrochen, bald war die Haft vorbei, das Gefängnis war nur noch ein augenblicklicher Schatten vor ihren Augen. Die Kinder schleppten Bücher und Tintenfässer weg und rollten die Landkarten zusammen. Alle Gesichter leuchteten vor Freude und Gutwilligkeit. Ein allgemeines Getümmel von Wegräumen und Reinmachen herrschte, alle Zeichen der Gefangenschaft sollten weggeräumt werden. Sie brachen alle in die Freiheit aus. Geschäftig, eifrig zog Ursula die Summe ihrer Unterrichtsstunden. Voller Stolz schrieb sie die Tausender nieder: so viel tausend Kindern hatte sie wieder Unterricht erteilt. Es sah gewaltig aus. Die Stunden der Aufregung liefen nur zu langsam dahin. Endlich war es vorbei. Zum letztenmal stand sie vor ihren Kindern, während sie ihr Gebet sprachen und ein Lied sangen. Dann war es aus.

»Lebt wohl, Kinder«, sagte sie. »Ich werde euch nicht vergessen, und ihr müßt mich auch nicht vergessen.«

»Nein, Fräulein«, riefen sie einstimmig und mit glänzenden Gesichtern.

Lächelnd, bewegt stand sie unter ihnen, als sie an ihr vorüber ins Freie zogen. Dann gab sie den Ordnern ihren Halbjahrsfünfgroschen, und auch sie zogen davon. Die Schränke wurden abgeschlossen, die Tafeln abgewaschen, Tintenfässer und Staubtücher weggepackt. Nackt und bloß lag die Klasse vor ihr. Sie hatte sie überwunden. Nun war sie eine leere Schale. Sie hatte hier einen guten Kampf gekämpft, und er war ihr auch nicht ohne Freuden gewesen. Selbst diesem nackten, leeren Orte, der nun wie ein Denkmal, ein Siegeszeichen vor ihr stand, schuldete sie Dank. Sie hatte um so viel ihres Lebens hier gekämpft, hatte so viel hier gewonnen und verloren. Ein Teil dieser Schule würde von nun an aus immer ihr angehören, ein Teil ihrer selbst der Schule. Das mußte sie zugeben. Und nun kam der Abschied.

Die Lehrer schwatzten im Lehrerzimmer durcheinander, standen umher und redeten aufgeregt von den Orten, die sie besuchen wollten: Insel Man, Llandudno, Yarmouth. Sie waren ganz in Eifer und hingen sich aneinander wie Reisegefährten, die ihr Schiff verlassen sollen.

Nun mußte Mr. Harby eine Rede auf Ursula halten. Er sah so hübsch aus mit seinen silbergrauen Schläfen und den schwarzen Brauen und seiner durch nichts zu störenden männlichen Gelassenheit.

»Na,« sagte er, »nun müssen wir Miß Brangwen Lebewohl sagen und ihr alles Gute für die Zukunft wünschen. Ich denke, wir werden sie doch gelegentlich einmal Wiedersehen und hören, wie sie vorwärts kommt.«

»O ja«, sagte Ursula errötend und stammelnd, während sie lachen mußte. »O ja, ich komme ganz bestimmt mal und besuche Sie.«

Dann wurde ihr klar, daß das zu persönlich klang, und sie kam sich sehr albern vor.

»Miß Schofield schlug uns diese beiden Bücher für Sie vor«, sagte er und legte ein paar Bände auf den Tisch: »Ich hoffe, sie werden Ihnen gefallen.«

Ganz scheu nahm Ursula die Bücher auf. Es war ein Band von Swinburnes Gedichten und ein Band Meredith.

»O, ich werde sie sehr lieb haben«, sagte sie. »Danke Ihnen vielmals – Ihnen allen vielen, vielen Dank – es ist so – –«

Sie stotterte, um zu Ende zu kommen, dunkelrot wendete sie die ersten Blätter der Bücher um, so tuend, als genösse sie ein erstes Vergnügen aus ihnen, in Wirklichkeit aber sah sie nichts.

Mr. Harbys Augen zwinkerten. Er allein fühlte sich im Gleichgewicht, Herr der Lage. Es machte ihm Spaß, Ursula dies Geschenk zu machen und dies eine Mal seinen Lehrern so etwas wie guten Willen zu zeigen. In der Regel war das so schwierig, da jeder sich unter seiner Herrschaft verärgert fühlte.

»Ja,« sagte er, »wir hofften. Sie würden unsere Wahl billigen – – –«

Er blickte mit dem ihm eigenen, herausfordernden Lächeln in die Runde und wandte sich dann wieder seinen Schränken zu.

Ursula fühlte sich sehr verwirrt. Sie liebkoste die Bücher, die sie wirklich sehr gern hatte. Und es war ihr, als hätte sie auch alle die Lehrer hier gern, selbst Mr. Harby. Es war sehr verwirrend. Endlich war sie draußen. Einen hastigen Blick warf sie noch über die niedrigen Schulgebäude auf dem Asphalthof in der heißen, gleißenden Sonne, einen Blick noch die wohlbekannte Straße hinunter, und dann kehrte sie dem allem den Rücken. In ihrem Herzen spannte sich etwas. Nun ging sie.

»Na, viel Glück«, sagte der letzte Lehrer, als sie ihm am Ende der Straße die Hand schüttelte. »Eines Tages werden Sie doch wohl wieder hierherkommen.«

Er meinte das in spöttischem Sinne. Sie lachte und machte sich los. Sie war frei. Als sie im vollen Sonnenschein oben auf ihrer Elektrischen saß, blickte sie in zitternder Freude in die Runde. Sie ließ hier etwas hinter sich, das ihr viel bedeutet hatte. Zur Schule gehen und dort die gewohnten Verrichtungen tun würde sie nun nicht mehr. Sonderbar! In all ihrer Freude fühlte sie plötzlich einen kleinen Stich, wie von Furcht, nicht von Bedauern. Und doch, wie froh war sie diesen Morgen!

Sie zitterte vor Freude und Stolz. Sie liebte ihre beiden Bücher. Sie waren ihr ein paar Wahrzeichen, sie stellten die Frucht, die Siegeszeichen dieser beiden Jahre für sie dar, die ja nun Gott sei Dank vorüber waren.

»Ursula Brangwen mit den besten Wünschen für ihre Zukunft in warmem Andenken an ihre in der St. Philipps-Schule verbrachte Zeit gewidmet«, stand vorne in des Vorstehers hübscher, sorgfältiger Hand geschrieben. Sie konnte seine Hand vorsichtig die Feder führen sehen, seine dicken Finger mit den kleinen Büscheln schwarzen Haares auf jedem einzelnen.

Er und sämtliche Lehrer halten unterschrieben. Sie freute sich darüber, alle ihre Unterschriften zu besitzen. Sie fühlte, sie liebte sie alle. Waren sie doch alle ihre Arbeitsgenossen. Sie brachte aus der Schule einen Stolz mit nach Hause, den sie nie wieder verlieren würde. Sie besaß nun ihre Stellung als Kamerad und Teilhaber am Werk der Schule, ihre Mitlehrer halten ihr das durch ihre Unterschrift als einer der ihrigen bestätigt. Und sie war einer der vielen Arbeiter, sie hatte ihren kleinen Ziegelstein in das gewaltige Bauwerk eingefügt, das die Menschheit errichtet, sie hatte sich als fähiger Mitarbeiter erwiesen.

Dann kam der Tag für den Umzug. Ursula stand frühzeitig auf, um die noch übriggebliebenen Sachen zu packen. Die von ihrem Ohm auf der Marsch geliehenen Wagen kamen; es war grade die stille Zeit zwischen der Heu- und der Kornernte. Als die Sachen auf den Wagen verstaut waren, setzte Ursula sich auf ihr Rad und flog nach Beldover hinüber.

Das ganze Haus gehörte ihr, als sie sein sauber gescheuertes Schweigen betrat. Das Eßzimmer war mit einer dicken Binsenmatte belegt, hart und von der schönen, leuchtend reinen Farbe an der Sonne getrockneten Schilfs. Die Wände waren blaßgrau, die Türen etwas dunkler. Ursula bewunderte es sehr, als die Sonne durch die breiten Fenster hereinströmte.

Stürmisch öffnete sie dem Sonnenschein Fenster und Türen. Um den kleinen Rasenplatz standen rundherum leuchtendhelle Blumen: er lag etwas höher als die Straße und blickte über ein unbebautes Feld auf der andern Seite, das später ausgenutzt werden sollte. Niemand kam. Also wanderte sie durch den Garten nach hinten, an die Mauer. Das Glockenspiel auf der Kirche gab die Stunde an. Sie konnte das mannigfache Geräusch unten in der Stadt hören.

Schließlich wurde der um die Ecke biegende Wagen sichtbar, die ihr so altvertrauten Sachen ganz würdelos übereinander getürmt, Tom, ihr Bruder, und Therese zu Fuß nebenhergehend, stolz auf ihren Marsch von fünfzehn Kilometern oder mehr von der Haltestelle der Elektrischen an gerechnet. Ursula schenkte ihnen Bier ein, und die durstigen Männer tranken es gleich draußen vor der Tür. Ein zweiter Wagen kam. Ihr Vater erschien auf seinem Motorrad. Dann schwankten alle die Sachen die Stufen zu dem kleinen Rasenplatz hinaus, wo sie erst einmal bunt durcheinander im Sonnenschein niedergesetzt wurden, ganz sonderbar und verloren aussehend.

Mit Brangwen ließ es sich bei seinem Frohsinn und seiner Behaglichkeit sehr gut arbeiten. Zu gern hörte Ursula ihn angeben, wo die schwersten Stücke hingestellt werden sollten. Besorgt sah sie dem Kampf auf der Treppe und in den Türöffnungen zu. Dann waren alle großen Stücke drinnen, und die Wagen zogen wieder los. Ursula und ihr Vater arbeiteten nun an dem Wegbringen der kleineren Sachen, die noch auf dem Rasen geblieben waren, und setzten sie gleich an Ort und Stelle. Die Essenszeit kam. Sie aßen Brot und Käse in der Küche.

»Na, wir kommen ja ganz hübsch weiter«, sagte Brangwen fröhlich.

Zwei weitere Ladungen erschienen. Der Nachmittag verging im Kampfe mit den Sachen im Obergeschoß. Gegen fünf Uhr kamen die letzten Ladungen, die auch Mrs. Brangwen und die jüngeren Kinder umfaßten, und die Ohm Fred in seinem kleinen Wagen heranbrachte. Gudrun war mit Margarete von der Haltestelle aus gegangen. Nun war die ganze Sippe da.

»So!« sagte Brangwen, als seine Frau aus dem Wagen stieg, »nun sind wir alle da.«

»Ja«, sagte sie vergnügt.

Und grade diese Kürze, dies verständnisvolle Schweigen machte das Haus den Herzen der Kinder heimisch, die in dem Gefühl der Fremdheit ihrer neuen Umgebung auf einem Haufen zusammengedrängt standen.

Alles war noch in größter Unordnung. Aber in der Küche wurde Feuer angemacht, die Matte vorm Herde ausgebreitet, der Kessel auf den Fender gesetzt, und gegen Sonnenuntergang konnte Mrs. Brangwen mit den Vorbereitungen zu ihrer ersten Mahlzeit beginnen. Ursula und Gudrun arbeiteten wie ein paar Sklaven in den Schlafzimmern, überall huschten Kerzen umher. Dann stieg aus der Küche der Duft von Schinken und Eiern und Kaffee auf, und beim Lichte des Gasleuchters begann ein buntes Mahl. Sie schienen sich wie am Lagerfeuer in der Wildnis zusammenzudrängen. Ursula fühlte eine große Verantwortung auf ihren Schultern, da sie die nicht mehr ganz Kleinen zu versorgen hatte. Die Kleinsten blieben bei der Mutter.

Es war nun dunkel, und die Kinder gingen müde, wenn auch aufgeregt zu Bett. Aber es dauerte noch lange, bis das Geräusch ihrer Stimmen erstarb. Alle fühlten sich wie in einem wilden Abenteuer.

Am Morgen waren sie alle gleich nach Hellwerden wach, und die Kinder riefen:

»Als ich aufwachte, wußte ich gar nicht, wo ich war.«

Fremdartige Geräusche aus der Stadt drangen herüber und die wiederholten Schläge der großen Kirchenglocken, so viel lauter und dringender als die kleinen in Cossethay. Sie sahen aus den Fenstern an den übrigen neuen roten Backsteinhäusern vorbei nach den bewaldeten Hügeln auf der andern Seite des Tales hinüber. Alle hatten sie ein entzückendes Gefühl von Spielraum und Befreiung, von Raum und Licht und Luft.

Aber dann begaben sie sich allmählich an die Arbeit. Sie waren samt und sonders ein unordentliches, nachlässiges Gesindel. Als sie sich nun aber alle an die Einrichtung des Hauses machten, ging die Sache glücklich und rasch vonstatten. Gegen Abend war das ganze Haus oberflächlich in Ordnung.

Sie wollten keinen Dienstboten im Hause haben, nur eine Frau, die abends wieder nach Hause gehen sollte. Und gleich wollten sie auch die nicht einmal nehmen. Erst wollten sie mal in ihrem Hause tun können, was ihnen paßte, ohne jemand Fremdes in ihrer Mitte.


 << zurück weiter >>