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Drittes Kapitel.
Anna Lenskys Kindheit

Tom Brangwen hatte seinen Jungen nie so lieb wie sein Stiefkind Anna. Als sie ihm erzählten, es wäre ein Junge, überlief ihn ein Schauer der Freude. Er freute sich der Bestätigung seiner Vaterschaft. Es verursachte ihm Befriedigung, zu wissen, daß er einen Jungen habe. Aber er fühlte sich nicht sehr zu dem Kleinen hingezogen. Er war sein Vater, das genügte.

Er freute sich, daß seine Frau Mutter seines Kindes geworden war. Sie war heiter, ein wenig überschattet, als sei sie verpflanzt. Durch die Geburt des Kindes schien sie jede Verbindung mit ihrem früheren Ich verloren zu haben. Jetzt wurde sie eine richtige Engländerin, Mrs. Brangwen. Ihre Lebenskraft indessen schien herabgesetzt.

Für Brangwen war sie immer noch unsagbar schön. Sie war immer noch leidenschaftlich, mit einer Flamme in ihrem Wesen. Aber diese Flamme war nicht länger gleichmäßig stark. Ihre Augen glänzten, ihr Antlitz glühte ihm entgegen, aber wie eine Blume, die im Schatten steht und volles Sonnenlicht nicht aushalten kann. Sie liebte ihren Säugling. Aber selbst dies in einer Art Unbestimmtheit, einer leichten Geistesabwesenheit; selbst über ihrer Mutterliebe lag ein gewisser Schatten. Wenn Brangwen sie dasitzen und ihr Kind nähren sah, überlief ihn ein Schmerzgefühl wie eine dünne Flamme. Denn es wurde ihm klar, wie sehr er sich ihr unterordnen müsse, um sich ihr wieder nähern zu können. Und er verlangte wieder nach dem kräftigen, tödlichen Austausch von Liebe und Leidenschaft, wie er ihn im Anfang hin und wieder mit ihr genossen hatte, als ihre Verbindung auf dem Höhepunkt ihrer Innigkeit stand. Dies war für ihn nun seine Erfahrung. Und nach der verlangte er, stets, in mitleidloser Selbstsucht.

Sie kam wieder zu ihm, mit dem gleichen Darbieten ihres Mundes, das ihn das erstemal so verrückt gemacht hatte vor unterdrückter Leidenschaft. Sie kam wieder zu ihm, und das Herz wie im Wahnsinn aufhüpfend vor Freude und Verlangen nahm er sie hin. Und es war fast wie früher.

Vielleicht war es ganz wie früher. Jedenfalls ließ es ihn erkennen, was Vollkommenheit sei, es erfüllte ihn mit ewigem, beständigem Wissen.

Aber es starb wieder hin, bevor er es gewünscht hätte. Sie war zu Ende, sie konnte nicht mehr. Und er war nicht erschöpft, er verlangte nach mehr. Aber das konnte nicht sein.

So hatte er die bittere Lehre hinunter zu schlucken, daß er sich beschränken müsse, daß er mit weniger vorliebnehmen müsse, als er haben wollte. Denn sie war für ihn das Weib, alle anderen Frauen waren bloße Schatten. Sie hatte ihm Genüge geleistet. Und er hätte so gern mehr gehabt. Aber das konnte nicht sein. In seiner Raserei, erfüllt von einem allmählich heiß und bitter werdenden Gefühl von Verzicht, haßte er sie in innerster Seele, weil sie nicht mehr nach ihm verlangte; manchmal hatte er reine Ausbrüche von Tobsucht und betrank sich und führte häßliche Auftritte herbei, bis er merkte, er löcke damit nur wider den Stachel. Er mußte einsehen lernen, daß es nicht das war, daß sie nicht mehr von ihm wollte, wie er es gern gesehen hätte, sondern daß sie nicht mehr von ihm nehmen konnte. Sie konnte ihn nur nach eigenem Vermögen aufnehmen. Sie hatte zu viel von ihrem Leben dahingegeben, bevor er sie als die Frau kennen lernte, die ihm Erfüllung abnehmen und geben konnte. Sie hatte ihm Erfüllung gegeben und abgenommen. Und das würde sie auch noch tun, aber zu ihrer Zeit und nach ihrem Vermögen. Er mußte sich eben selbst im Zaume halten, sich nach ihr richten.

Er wollte ihr seine ganze Liebe, seine ganze Leidenschaft, allen Tätigkeitsdrang seines Wesens geben. Aber das durfte nicht sein. Dafür mußte er etwas anderes als sie finden, andere Mittelpunkte seines Lebens. Sie saß verschlossen und unzugänglich mit ihrem Kinde da. Und er wurde eifersüchtig auf das Kind.

Aber er liebte sie, und die Zeit kam, wo der unruhige Strom seines Lebens einen gewissen Abfluß fand, so daß er nicht überschäumen und durch Überflutung Elend anrichten konnte. Er bildete sich einen anderen Zielpunkt seiner Liebe in ihrem Kinde, in Anna. Allmählich wurde ein Teil seiner Lebensflut nach dem Kinde hin abgelenkt und dadurch der Hauptstrom zu seiner Frau erleichtert. Er suchte auch die Gesellschaft von Männern wieder auf und trank dann und wann schwer.

Das Kind hatte aufgehört, sich immer so sehr um seine Mutter zu ängstigen, nachdem der Säugling angekommen war. Als Anna zuerst ihre Mutter mit dem Kleinen gesehen hatte, beseligt und heiter und sicher, fühlte sie sich wie vor einem Rätsel, dann fing sie allmählich an sich zu ärgern, und schließlich fand ihr kleines Leben seinen eigenen Wendepunkt: sie war nicht länger voller quälender Unruhe um ihre Mutter. Sie wurde kindlicher, war nicht mehr so frühreif, so mit Sorgen überladen, die sie noch nicht verstehen konnte. Die Sorge um ihre Mutter, die Befriedigung ihrer Mutter hatte sich auf andere Schultern gelegt. Das Kind in ihr wurde allmählich frei. Sie wurde eine unabhängige, vergeßliche kleine Seele und liebte nach eigenen Gesichtspunkten.

So liebte sie nach eigener Wahl Brangwen am meisten, oder doch am offensichtlichsten. Denn sie beide führten ein kleines Leben für sich allein, sie besaßen ein gemeinsames Tätigkeitsfeld. Er fand sein Vergnügen darin, ihr abends Zählen oder Buchstabieren beizubringen. Er holte für sie alle seine kleinen Kinderstubenverschen wieder aus dem Gedächtnis hervor und Kinderlieder, die lange vergessen auf dem Boden seines Gehirnes gelegen hatten.

Zuerst meinte sie, das wäre ja alles Unsinn. Aber er lachte, und sie lachte auch. Dann wurden sie ihr sehr spaßhaft. Der alte King Cole, meinte sie, wäre Brangwen. Mutter Hubbard war Tilly, ihre Mutter die alte Frau, die in einem Schuh lebte. Zu einer mächtigen, ja wahnsinnigen Freude wurde dem Kinde dieser Unsinn, nach den Jahren mit seiner Mutter, nach den aufregenden Volkssagen, die es von dieser gehört hatte, die ihre Seele nur beunruhigt und gequält hatten.

Sie hatte mit ihrem Vater eine Art Sorglosigkeit gemein, eine vollkommene, auserlesene Unbefangenheit, zu der das Lachen über alles Spaßhafte gehörte. Es machte ihm Freude, ihre Stimme in den höchsten Tönen erschallen zu hören, toll vor Lachen. Der Säugling war dunkelhäutig und dunkelhaarig wie die Mutter und hatte braune Augen. Brangwen nannte ihn die Amsel.

»Hallo!« rief Brangwen dann, wenn er mit einem Satz auffuhr, weil das Klagegeschrei seines Jungen ihm anzeigte, daß er aus der Wiege genommen werden wollte, »da legt die Amsel wieder los!«

»Die Amsel singt,« rief Anna oft in hellem Entzücken, »die Amsel singt!«

»Und als die Schüssel abgedeckt,« brüllte Brangwen mit seinem hallenden Baß in die Wiege, »da sangen die Vögel all.«

»War das nicht für den König ein wunderschönes Mahl?« rief Anna mit freudeblitzenden Augen, wenn sie die geheimnisvollen Zeilen zu Ende führte und Brangwen wie um Bekräftigung bittend dabei ansah. Er setzte sich mit dem Kleinen nieder und sagte laut:

»Nu leg mal los, mein Junge, nu leg mal los!«

Und der Kleine schrie dann, und Anna rief laut dazwischen und tanzte vor Entzücken wie wild herum:

»Sing mir 'n Lied für 'n Groten,
Die Taschen voll von Riemels,
Ascha! Ascha! – – –«

Dann blieb sie plötzlich ganz still stehen und rief, Brangwen mit blitzenden Augen ansehend, in hellem Entzücken:

»Das war ja ganz verkehrt! Das war ja ganz verkehrt!«

»Och Herrens!« rief die hereintretende Tilly. »Wat'n Larm!«

Brangwen beruhigte den Kleinen, und Anna hüpfte und tanzte weiter. Sie liebte diese Ausbrüche von Wildheit mit ihrem Vater. Tilly dagegen haßte sie, Mrs. Brangwen waren sie gleichgültig.

Um andere Kinder bekümmerte Anna sich nicht viel. Sie beherrschte sie, sie behandelte sie, als wären sie noch sehr klein und unselbständig; für sie waren sie eben die Kleinen, ihr nicht ebenbürtig. So war sie meistens allein, flog auf dem Hofe umher, unterhielt sich mit den Leuten und Tilly und der Dienstmagd, immer in einem nie nachlassenden Wirbel.

Sehr gern fuhr sie mit Brangwen in dem kleinen Wagen aus. Wenn sie da so hoch oben saß und die Straße entlang sauste, dann fühlte sich ihr Sinn für Erhabenheit und Herrschaft befriedigt. In ihrer Anmaßung war sie wie eine kleine Wilde. Ihren Vater hielt sie für einen höchst bedeutenden Mann, wenn sie da hoch oben neben ihm saß. Und so sausten sie an den blühenden Heckenköpfen entlang und übersahen das ganze Bild ländlicher Tätigkeit. Wenn jemand ihm vom Wege aus seinen Gruß zurief und Brangwen freundlich antwortete, ließ sich bald auch ihre schrille kleine Stimme neben der seinigen hören, dem dann ein glucksendes Lachen folgte, wenn sie mit glänzenden Augen zu ihrem Vater aufsah und sie einander anlachten. Und sehr bald wurde es für die Vorübergehenden zur Gewohnheit auszusingen: »Wo geiht't, Tom? Go'n Dag, junge Fru!« oder: »Mor'n Tom, Mor'n, min Deern!« oder auch mal: »Na, willt ji tosamen utrieten?« oder auch: »Ji seht jo nett tosamen ut, ji beide!«

Anna rief mit ihrem Vater zusammen als Antwort: »Wo geiht't, John? Goo'n Mor'n, Willem! Jo, wi willt na Derby«, so laut sie konnte. Obwohl sie manchmal auf ein »Na, 'n beeten utkneepen?« zur größten Freude aller auch antworten konnte: »Je, grode!« Leute, die ihn grüßten und sie unbeachtet ließen, mochte sie nicht leiden.

Sie ging mit ihm ins Wirtshaus, wenn er dort jemand aufzusuchen hatte, und saß oft neben ihm im Schankzimmer, während er sein Bier oder seinen Schnaps trank. Die Wirtinnen machten ihr alle den Hof mit der Landwirtinnen eigenen Unterwürfigkeit.

»Na, mein' kleine Dame, wie heißt du denn?«

»Anna Brangwen«, kam sofort die hochmütige Antwort.

»Och warraftig! Und machste denn auch gern mit Vater ausfahren?«

»Ja,« sagte Anna scheu, aber gelangweilt durch dies nichtssagende Gewäsch. Mit ihrer Blümelein-rühr-mich-nicht-an-Miene hatte sie eine besondere Art, gleichgültige Fragen Erwachsener im Keime zu ersticken.

»Warraftig, das is 'n helles kleines Ding«, sagte einmal die Wirtin zu Brangwen.

»Jo«, sagte er, ohne eine weitere Unterhaltung über das Kind zu ermutigen. Dann erfolgte das Anbieten eines Kuchens oder eines Zwiebacks, die Anna als ihr gebührend entgegennahm. »Was sagt sie, ich bin ein helles kleines Ding?« fragte das kleine Mädel nachher.

»Sie meint, du hättest 'ne scharfe Zunge.«

Anna zögerte. Sie verstand das nicht. Dann lachte sie über irgend etwas Spaßhaftes, was sie grade sah.

Bald nahm er sie jede Woche mit zum Markt. »Ich darf mit, nicht?« fragte sie jeden Sonnabend oder Donnerstag morgen, wenn er sich für den Markt fein machte. Und wenn er es ihr abschlagen mußte, umwölkte sich sein Gesicht.

Zuletzt aber überwand er doch seine Scheu und packte sie neben sich. Sie fuhren nach Nottingham hinein und kehrten im Schwarzen Schwan ein. So weit ging alles gut. Dann aber wollte er sie im Wirtshause lassen. Aber beim ersten Blick auf ihr Gesicht merkte er, das war unmöglich. So raffte er seinen ganzen Mut zusammen und zog mit ihr an der Hand los zum Viehmarkt.

Sie starrte in Verwirrung umher und hüpfte schweigend an seiner Seite vorwärts. Aber auf dem Markte selbst schreckte sie vor dem Gedränge der Leute zurück, alles Männer, alle in schweren, schmutzigen Stiefeln oder Ledergamaschen. Und unten die Straße war fürchterlich dreckig von all dem Kuhdünger. Und der Anblick des Viehs in den viereckigen Hürden erschreckte sie, all die vielen Hörner und so dünne Hürden bloß, und so ein wahnsinniges Geschrei von all den Menschen und Viehtreibern. Sie merkte auch, daß ihr Vater ihretwegen verlegen und unruhig wurde.

In einer Erfrischungsbude kaufte er ihr einen Kuchen und setzte sie auf einen Stuhl. Ein Mann rief ihn an.

»Goo'n Mor'n, Tom. Is dat dine denn?« – und der bärtige Bauer zeigte mit dem Kopfe zu ihr hinüber.

»Jo«, sagte Brangwen mißbilligend.

»Ick wuss' jo gor nich, dat du all so 'ne ole harrst.«

»Ne, dat 's min Fru ehre.«

»Och so!« Und damit sah der Mann Anna an, als wäre sie ein eigenartiges kleines Stück Vieh. Sie glühte ihn mit ihren schwarzen Augen an.

Brangwen ließ sie unter der Obhut des Schankwirts sitzen und ging weiter, um sich um den Verkauf von einem Paar jungen Stieren zu bekümmern. Bauern, Schlachter, Treiber, dreckige grobe Kerls, vor denen sie gefühlsmäßig zurückwich, starrten sie an, wie sie da auf ihrem Stuhl saß, und wandten sich dann ihrem Trunk zu und redeten ganz rücksichtslos miteinander. Alles um sie her war riesig und gewaltdrohend.

»Wen sin Kind kunn dat weesen?« fragten sie den Schankwirt.

»Dat hürt Tom Brangwen to.«

Voller Geringschätzung blieb das Kind sitzen und achtete auf die Tür nach ihrem Vater. Er kam und kam nicht; viele, viele Leute kamen, nur er nicht, und sie saß da wie ein Schatten. Sie wußte, an solchen Orten weinte man nicht. Und jeder Mann sah sie fragend an; sie aber schloß sich gänzlich gegen sie ab.

Eine tiefe, immer zunehmende Kälte umfaßte sie in ihrer Vereinsamung. Er würde nie mehr wiederkommen. Sie saß da wie aus Eis, unbeweglich.

Als es in ihr schon ganz leer und zeitlos geworden war, kam er. Und sie rutschte von ihrem Stuhl herunter wie eine ins Leben zurückgerufene Tote. Er hatte sein Vieh so rasch wie möglich verkauft. Aber noch waren nicht alle Geschäfte abgewickelt. Er mußte sie aufs neue in die Drängelei des Viehmarktes mitnehmen.

Dann endlich wandten sie sich nach draußen und gingen wieder durch das Tor. Er hatte fortwährend diesem oder jenem zuzurufen, mußte alle Augenblicke anhalten, um über Land oder Vieh und Pferde und andere Dinge, die sie nicht begriff, zu klönen, wobei sie aber in dem Gestank und dem Dreck zwischen den Beinen und den großen Stiefeln der Männer stillstehen mußte. Und immer wieder hörte sie die Frage:

»Was ist das denn für 'n Deern? Ick wuss' nich, du harrst all so 'ne ole!«

»De hürt min Fro to.«

Anna war sich der Abstammung von ihrer Mutter sehr wohl bewußt, am Ende, und daß sie aus der Fremde gekommen waren.

Endlich aber waren sie fertig, und Brangwen ging mit ihr in ein kleines, altes, dunkles Gasthaus beim Bridlesmith-Tor. Sie aßen Ochsenschwanzsuppe und Fleisch und Kohl und Kartoffeln. Auch andere Männer und sonstige Leute kamen in dies dunkle Gewölbe, um zu essen. Anna saß still, die Augen weit offen vor Verwunderung.

Dann gingen sie auf den großen Markt, zur Kornbörse und dann in allerlei Läden. In einem kaufte er ihr ein kleines Buch. Er mochte gern einkaufen, allerlei sonderbares Zeugs, von dem er glaubte, es könnte ihm mal zunutze kommen. Dann gingen sie wieder in den Schwarzen Schwan, und sie trank Milch und er Branntwein, und endlich schirrten sie das Pferd an und fuhren auf der Straße nach Derby von dannen.

Sie war vor Verwunderung und Staunen müde geworden. Als sie aber am nächsten Tag drüber nachdachte, da flitzte sie sofort in ihrem merkwürdigen Tanzschritt los, bei dem sie so mit einem Bein hintenaus schlug, und redete die ganze Zeit von alle dem, was ihr zugestoßen war und was sie gesehen hatte. Das dauerte die ganze Woche an. Und am nächsten Sonnabend brannte sie darauf, wieder mitzukommen.

Sie war bald allgemein bekannt auf dem Viehmarkt, auf ihrem Stuhl in der kleinen Bude. Aber am liebsten ging sie mit nach Derby. Da hatte ihr Vater mehr Freunde. Und das Anheimelnde der kleineren Stadt war ihr lieber, die Nähe des Flusses und alles, was ihr fremd war, ängstigte sie doch nicht, es war so viel kleiner. Sie hatte die Markthalle gern und die alten Frauen. Gern war sie im Wirtshaus zum Georg, wo ihr Vater ausspannte. Der Wirt war Brangwens alter Freund, und Anna wurde hier sehr verzogen. Manchen Tag saß sie in dem kleinen gemütlichen Wohnzimmer bei Wigginton, einem dicken, rothaarigen Manne, dem Wirt, und redete mit ihm. Und wenn die Landleute sich um Zwölf zum Essen versammelten, wurde sie rein eine kleine Heldin.

Zuerst konnte sie all diese fremden Leute mit ihren groben Ausdrücken nur wütend angucken oder anzischen. Aber sie waren sehr gutmütig. Sie war für sie ein seltsames kleines Wesen mit ihrem wilden hellen Haar wie aus gesponnenem Glas, das wie ein flammender Heiligenschein um ihr Apfelblütengesichtchen mit den schwarzen Augen herumstand, und die Männer hatten so etwas Besonderes gern. Sie regte ihre Aufmerksamkeit an.

Sie war sehr ärgerlich, als Mariott, ein Gutsbesitzer aus Ambergate, sie einen kleinen Iltis nannte.

»Was, du bist ja der reine kleine Iltis!« sagte er zu ihr.

»Bin ich gar nicht«, blitzte sie ihn an.

»Bist du doch! Genau so läuft ein Iltis.«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Ja, und du bist – du bist –« fing sie an.

»Na, was bin ich?«

Sie sah an ihm auf und nieder.

»Du bist ein Krummbein-Mann.«

Und das war er auch. Brüllendes Gelächter ertönte. Sie liebten sie wegen ihrer Unbezähmbarkeit.

»Ach,« sagte Mariott, »so was kann auch nur ein Iltis sagen!«

»Ja, und ich bin auch ein Iltis«, blitzte sie ihn wieder an.

Wieder lautes Gelächter bei den Männern.

Sie zogen sie gern auf.

»Na, min lüttje Deern,« pflegte Braithwaite zu ihr zu sagen, »wie is es denn man noch mit die Lämmerwolle?«

Und damit zupfte er sie an einer hellen Strähne ihres glänzenden Haares.

»Ist keine Lämmerwolle«, sagte Anna und strich ärgerlich die entweihte Locke wieder zurecht.

»Na, wo seggst du denn dorto?«

»Haar ist das.«

»Hoor! Wo ward de Ort woll trocken?«

»Wo ward de woll trocken?« fragte sie in seiner Mundart, von Neugier überwältigt.

Anstalt ihr zu antworten, schrie er laut vor Vergnügen. Das war das Höchste, sie dazu zu bringen, Platt zu sprechen.

Einen Feind hatte sie, einen Mann, den sie Nuß-Nat oder Nat-Nuß nannten, einen Schwachsinnigen mit einwärts stehenden Füßen, der mit bei jedem Schritt in die Höhe fahrenden Schultern einherwatschelte. Dies arme Geschöpf verkaufte in den Wirtshäusern, wo man ihn kannte, Nüsse. Er hatte keinen Gaumen, und die Leute machten sich über seine Sprache lustig.

Das erstemal, als er in den Georg kam, während Anna dasaß, fragte sie nach seinem Weggehen mit runden Augen:

»Warum macht er so beim Gehen?«

»Dat kann he nich helpen, Putthöneken, he is nu mol so mookt.« Sie dachte darüber nach, und dann fing sie an nervös zu lachen. Und dann dachte sie weiter nach, ihre Backen röteten sich, und sie rief:

»Das ist ein gräßlicher Mann!«

»Ne; he is gor nich gräsig; he kann dat doch nich helpen, dat he dormit slogen is.«

Und als der arme Nat das nächstemal hereingewatschelt kam, schlich sie hinaus. Sie wollte auch keine von seinen Nüssen essen, wenn die Männer ihr welche kauften. Und als die Landleute Domino drum spielten, wurde sie ärgerlich.

»Das sind Dreckmannsnüsse!« rief sie.

Damit leitete sie eine allgemeine Abneigung gegen den armen Nat ein, der nicht lange nachher ins Arbeithaus wandern mußte.

In Brangwens Herzen entstand nun der geheime Wunsch, sie zu einer Dame zu machen. Sein Bruder Alfred hatte in Nottingham großen Anstoß dadurch hervorgerufen, daß er der Liebhaber einer gebildeten Frau, einer Dame, der Witwe eines Arztes, geworden war. Sehr häufig ging Alfred Brangwen zu freundschaftlichem Besuch zu ihr in ihr Landhaus in Derbyshire, ließ seine Frau und Kinder einen Tag oder zwei allein und kam dann wieder. Und niemand wagte ihm zu widersprechen, denn er war ein Mann von starkem Willen, immer gradeaus, und behauptete, er wäre mit der Witwe befreundet.

Eines Tages traf Brangwen seinen Bruder am Bahnhof.

»Wo willst du denn hin?« fragte der jüngere Bruder.

»Ich gehe nach Wirksworth.«

»Hast ja wohl Freunde da unten, höre ich.«

»Ja.«

»Muß doch auch mal hereingucken, wenn ich da mal vorbeikomme.«

»Bitte, wenns dir Spaß macht.«

Tom Brangwen war so neugierig auf die Frau, daß er das nächstemal, als er wieder in Wirksworth war, sich nach dem Hause erkundigte.

Er fand ein wunderhübsches Häuschen am steilen Abhang eines Hügels, das frei über die auf dem Boden des Talkessels liegende Stadt hinwegschaute und weit hinüber nach den alten Steinbrüchen auf der andern Seite des Tales. Frau Forbes war im Garten. Sie war eine stattliche Frau mit weißen Haaren. Als sie den Gartenpfad herunterkam, zog sie ihre dicken Handschuhe aus und legte ihre Baumschere beiseite. Es war im Herbst. Sie trug einen breitrandigen Hut.

Brangwen wurde rot bis unter die Haarwurzeln und wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ich dachte, ich könnte wohl mal hereingucken,« sagte er, »weil ich doch wußte, Sie wären gut Freund mit meinem Bruder. Ich hatte hier in Wirksworth zu tun.«

Sie sah sofort, daß er ein Brangwen war.

»Wollen Sie nicht hereinkommen?« sagte sie. »Mein Vater liegt noch.«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer, das voll von Büchern war, mit einem Klavier und einem Notenständer. Und sie unterhielten sich, sie ganz schlicht und fließend. Sie war durchaus würdevoll. Das Zimmer war auf eine Art eingerichtet, die Brangwen nie gesehen hatte; es schien so luftig und geräumig, als stände man oben auf einem Berge.

»Liest mein Bruder gern?« fragte er.

»Manches. Er hat Herbert Spencer gelesen. Und zuweilen lesen wir Browning zusammen.«

Brangwen war voller Bewunderung, tief erregter, fast verehrungsvoller Bewunderung. Er sah sie mit lichterfüllten Augen an, als sie sagte: »wir lesen«. Zuletzt platzte er heraus, sich im Zimmer umsehend:

»Ich wußte gar nich, daß unser Alfred so was gern hätte.«

»Er ist ein ganz ungewöhnlicher Mensch.«

Erstaunt sah er sie an. Sie hatte augenscheinlich eine ganz andere Meinung von seinem Bruder: sie schätzte ihn offenbar sehr hoch. Wieder sah er die Frau an. Sie war ungefähr vierzig, hielt sich straff aufrecht, eher etwas hart, ein merkwürdiges, verschlossenes Wesen. Er für sein Teil mochte sie nicht, es war etwas Erkältendes an ihr. Aber er war von grenzenloser Bewunderung erfüllt.

Beim Tee wurde er ihrem Vater vorgestellt, einem Kranken, der beim Gehen gestützt werden mußte, aber ein rotbäckiger, schöner alter Mann war, mit schneeweißem Haar und hellen, wasserblauen Augen, sowie einem höflich-einfältigen Benehmen, das Brangwen auch wieder neu und seltsam vorkam, so milde, so fröhlich, so unschuldig.

Und sein Bruder war der Liebhaber dieser Frau! Das war zu erstaunlich. Brangwen ging nach Hause voller Verachtung gegen sich selbst und seine armselige Lebensweise. Ein Klutenpetter war er und ein Bauer, stumpf, im Dreck versunken. Sehnlicher als je wünschte er, er könnte herausklettern in diese ihm wie eine Erscheinung vor Augen schwebende feinere Welt.

Er war ja wohlhabend. Er war ebenso wohlhabend wie Alfred, der alles in allem nicht über sechshundert Pfund haben konnte. Er nahm ungefähr vierhundert ein und konnte es auf mehr bringen. Seine Einlagen verbesserten sich von Tag zu Tag. Warum unternahm er nicht irgend etwas? Seine Frau war doch auch eine Dame.

Aber als er dann in die Marsch kam, merkte er, wie fest da alles stand, wie fern diese andere Lebensweise ihm lag, und zum erstenmal tat es ihm leid, daß er den Hof übernommen hatte. Er fühlte sich als Gefangener, wie er so sicher geborgen, ohne Sorgen und Abenteuer zu erleben dasaß. Hätte er etwas wagen wollen, dann hätte er vielleicht mehr aus sich herausholen können. Er konnte weder Browning noch Herbert Spencer lesen, noch konnte er je Zutritt zu Räumen wie Frau Forbes ihren erlangen. Diese Lebensweise lag ihm zu fern.

Aber dann sagte er sich, er wünsche sie sich auch gar nicht. Die Aufregung nach dem Besuche ging vorüber. Am nächsten Tage war er wieder er selbst, und wenn er überhaupt noch an die andere Frau dachte, dann geschah es wegen etwas an ihr oder ihrer Wohnung, was er nicht leiden mochte, wegen etwas Kaltem, Fremdartigem, als wäre sie gar keine Frau, sondern ein übermenschliches Wesen, das menschliches Leben für seine kalten, leblosen Zwecke mißbrauchte.

Der Abend brach herein, er spielte mit Anna und saß dann allein mit seiner Frau. Sie nähte. Er saß sehr still, rauchend, verstört. Er nahm seiner Frau ruhige Gestalt wahr und ihren ruhigen, dunklen, über ihre Nadel gebeugten Kopf. Das war ihm zu ruhig. Es war zu friedlich. Er hätte am liebsten die Wände eingerissen und die Nacht hereingelassen, damit seine Frau nicht so ruhig und sicher dasitzen könnte. Er wollte, die Luft wäre nicht so benommen, so verdorben gewesen. Seine Frau war ihm entfremdet, sie ruhte in ihrer eigenen Welt, ruhig, sicher, unbeachtet, selbst nicht beachtend. Er war von ihr ausgeschlossen.

Er stand auf, um auszugehen. Er konnte nicht länger still sitzen. Er mußte aus diesem niederdrückenden, verschlossenen Weiberbann heraus.

Seine Frau hob den Kopf und sah ihn an.

»Gehst du aus?« fragte sie.

Er sah nieder und traf ihre Augen. Sie waren dunkler als gewöhnlich, wie die Finsternis selbst, und hatten weitere Räume als diese hinter sich. Er fühlte, wie er sich vor ihr in eine Verteidigungsstellung zurückzog, während ihre Augen ihn verfolgten und aufspürten.

»Ich wollte grade mal nach Cossethay«, sagte er.

Sie setzte ihre Beobachtung fort.

»Warum gehst du?« fragte sie.

Sein Herz begann rascher zu schlagen, und er setzte sich langsam wieder hin.

»Keinen besonderen Grund«, erwiderte er und fing an, sich gedankenlos eine Pfeife zu stopfen.

»Warum gehst du so oft aus?« fragte sie weiter.

»Ja, du willst doch nichts mehr von mir wissen«, erwiderte er. Sie saß eine Weile still.

»Du magst nicht mehr bei mir sein«, sagte sie.

Da fuhr er überrascht auf. Wie konnte sie die Wahrheit wissen? Er hatte geglaubt, das wäre ganz geheim.

»Tja«, sagte er.

»Du möchtest was anderes finden«, sagte sie.

Er antwortete nicht. Möchte er das wirklich? fragte er sich.

»Du solltest nicht so viel Aufmerksamkeit verlangen«, sagte sie; »du bist doch kein kleines Kind mehr.«

»Ich brumme ja auch gar nicht«, sagte er. Und er wußte, daß er das doch täte.

»Du denkst, du kriegst nicht genug«, sagte sie.

»Wieso, genug?«

»Du denkst, du hast nicht genug an mir. Aber was weißt du denn von mir? Was tust du denn, damit ich dich lieben könnte?« Er war verblüfft.

»Ich habe ja nie gesagt, ich kriegte nicht genug von dir«, antwortete er. »Ich wußte ja nich, daß du erst lernen müßtest, mich lieb zu haben. Was willst du denn?«

»Du hältst dein Versprechen nicht länger, du nimmst keinen Teil mehr an mir. Du machst mich nicht mehr nach dir verlangen.«

»Und du machst mich nicht mehr nach dir verlangen, nicht wahr?« Dann trat Schweigen ein. Sie waren sich so fremd.

»Möchtest du eine andere Frau haben?« fragte sie.

Seine Augen wurden rund, er wußte nicht, wo er war. Wie konnte sie, seine eigene Frau, so etwas sagen? Aber da saß sie, klein und fremd und für sich. Es dämmerte ihm auf, vielleicht sähe sie sich gar nicht als seine Frau an, außer in den Stücken, wo sie übereinstimmten. Sie fühlte sich gar nicht, als sei sie ihm ehelich angetraut. Jedenfalls war sie imstande, sich in die Lage hineinzudenken, daß er noch eine andere Frau haben möchte. Ein Abgrund, eine Kluft öffnete sich vor seinen Füßen.

»Nein«, sagte er langsam. »Was für 'ne andere Frau sollte ich denn wohl haben mögen?«

»Wie dein Bruder«, sagte sie.

Eine Weile saß er sprachlos, teils auch vor Scham.

»Was ist denn mit der?« sagte er. »Ich mochte die Frau ja nich leiden.«

»Doch, du mochtest sie wohl leiden«, erwiderte sie hartnäckig. Voller Verwunderung stierte er seine Frau an, als sie ihm sein eigenes Herz so ohne jede Empfindlichkeit klarlegte. Und er ärgerte sich auch. Was für ein Recht hatte sie, dazusitzen und ihm so was zu erzählen? Sie war seine Frau, was für ein Recht hatte sie denn, so zu ihm zu sprechen, als wäre sie ihm ganz fremd?

»Nein«, sagte er. »Ich will keine andere.«

»Doch, du möchtest gern so wie Alfred leben.«

Sein Schweigen bewies, wie ärgerlich ihm dieser Querstrich war. Er war erstaunt. Von seinem Besuche in Wirksworth hatte er ihr erzählt, aber nur kurz, ohne ihm irgendwelche Wichtigkeit beizulegen, wie er glaubte.

Und da saß sie mit ihrem seltsamen dunklen Gesicht ihm zugekehrt, ihre undurchforschlichen Augen ihn beobachtend und berechnend. Er fing an, sich ihr zu widersetzen. Wieder war sie ein Unbekanntes, das ihm entgegenarbeitete. Mußte er das denn zulassen? Unwillkürlich wurde sein Widerstand rege.

»Weshalb verlangt dich denn nach einer Frau, die dir mehr sein könnte als ich?« sagte sie.

Der Aufruhr tobte in seiner Brust.

»Das tut es ja gar nich«, sagte er.

»Weshalb?« wiederholte sie. »Warum möchtest du mich verleugnen?«

Plötzlich, wie bei einem Blitze, sah er, sie fühle sich vielleicht einsam, verlassen, unsicher. Ihm war sie stets als die so gänzlich Selbstsichere, Zufriedene, Unbedingte, sich Abschließende vorgekommen. Fehlte ihr vielleicht doch etwas?

»Warum hast du nicht an mir genug? – Ich habe nicht genug an dir. Paul pflegte zu mir zu kommen und mich wie ein Mann hinzunehmen. Du läßt mich immer allein und nimmst mich dann mal wie eins von deinen Tieren, rasch, und vergißt mich gleich wieder – grade genug um mich gleich wieder vergessen zu können.«

»Woran soll ich mich denn von dir erinnern?« fragte Brangwen.

»Ich möchte, daß du bedenkst, daß auch außer dir noch jemand da ist.«

»Tue ich das denn nich?«

»Du kommst zu mir, als wäre es rein um gar nichts, als wäre ich nichts. Wenn Paul zu mir kam, so war ich ihm etwas – ein Weib war ich ihm. Dir bin ich nichts – grade wie ein Stück Vieh – oder gar nichts

»Wenn du so redest, komme ich mir vor, als wäre ich gar nichts«, sagte er.

Sie waren still. Sie saß und beobachtete ihn. Er konnte sich nicht rühren, seine Seele war in brodelnder Verwirrung. Sie wandte sich wieder ihrer Näherei zu. Aber ihr Anblick, wie sie so vornübergebeugt dasaß, hielt ihn fest und ließ ihn nicht zu sich selber kommen. Sie war ein seltsames, feindseliges, herrschsüchtiges Wesen. Aber doch nicht gänzlich feindselig. Wie er so dasaß, merkte er, wie fest seine Glieder waren und wie hart; stark saß er da.

Lange Zeit stichelte sie schweigend darauflos. Mit einem Prickeln empfand er die ihm so vertraute, so reizvolle Rundung ihres Kopfes. Sie hob wieder den Kopf und seufzte. Sein Blut kochte, ihre Stimme durchlief ihn wie flüssiges Feuer.

»Komm her«, sagte sie, etwas unsicher.

Ein paar Augenblicke regte er sich nicht. Dann stand er langsam auf und schritt am Kamin vorüber. Es gehörte ein beinahe tödliches Maß von Willensstärke oder Ergebung dazu. Er stand vor ihr und sah zu ihr nieder. Ihr Antlitz leuchtete wieder, ihre Augen erglänzten wieder wie in schrecklichem Lachen. Es war ihm furchtbar, wie sie sich verändern konnte. Er konnte sie nicht ansehen, es versengte ihm das Herz.

»Mein Liebster!« sagte sie.

Und sie schlang ihre Arme um ihn, wie er so vor ihr stand, um seine Schenkel, und drückte ihn fest an ihre Brust. Und ihre auf ihm ruhenden Hände schienen ihm seine eigene nackte Form zu enthüllen, er kam sich über alle Begriffe herrlich vor. Sie konnte er nicht ansehen.

»Mein Liebster!« sagte sie. Er wußte, sie sagte das in einer fremden Sprache. Furcht trat wie eine neue Seligkeit in sein Herz. Er sah nieder. Ihr Antlitz leuchtete, ihre Augen standen voll Licht, sie war furchtbar. Er litt unter dem zwingenden Drang zu ihr hin. Sie war das furchtbar Unbekannte. Schmerzerfüllt beugte er sich zu ihr nieder, unfähig sich loszureißen, unfähig sich ihr selbst zu überlassen und doch zu ihr hingezogen, getrieben. Jetzt war sie eine ganz andere, sie war wundervoll, stand ihm ganz fern. Er wollte zu ihr gehen. Aber noch vermochte er sie nicht zu küssen. Er stand ihr noch fern. Am leichtesten wäre es ihm gewesen, ihr die Füße zu küssen. Aber davor, dies wirklich zu tun, schämte er sich, es hätte ihr wie eine Beleidigung vorkommen müssen. Sie erwartete sein Kommen in Gleichheit, nicht daß er sich vor ihr erniedrigte und ihr diente. Tätig sollte er an ihr teilnehmen, nicht sich ihr unterwerfen. Sie legte ihre Finger auf ihn. Und das war ihm eine Qual, daß er sich ihr mit seiner ganzen Tatkraft hingeben müsse, an ihr teilhaben solle, daß er ihr entgegengehen und sie umarmen und erkennen solle, sie, die doch so anders war als er. Etwas in seinem Inneren bäumte sich vor diesem Nachgeben zurück, widerstand dem Eingehen auf ihre Wünsche, widersetzte sich der Vermengung mit ihr, selbst während er sie aufs heißeste herbeisehnte. Er wurde bange und dachte, wie er sich diesem Zwiespalt entziehen könne.

Ein paar Augenblicke herrschte Stille. Allmählich aber ließ die Spannung, die Zurückhaltung in ihm nach, und er begann ihr zuzutreiben. Sie stand ihm fern, eine Unerreichbare. Indessen ließ er den Rückhalt an seinem eigenen Ich fahren, er ließ sich treiben in dem Bewußtsein, wie stark die unterirdische Kraft seiner Sehnsucht nach ihr war, der Wunsch nach dem Zusammensein mit ihr, der Vermengung mit ihr, wenn er sich selbst aufgebe, um sie zu finden, um sich in ihr wiederzufinden. Er fing an sich ihr zu nähern, sich zu ihr hinziehen zu lassen.

Sein Blut wallte in sehnsüchtigen Wogen empor. Er wäre so gern zu ihr gegangen, wäre ihr so gern entgegengekommen. Sie war bereit, wenn er sie erreichen konnte. Die Wirklichkeit ihrer Erscheinung, die nur so wenig abseits von ihm stand, nahm ihn ganz hin. Blind und vernichtet drängte er vorwärts, näher, immer näher, um die Vollendung seiner selbst zu empfangen, von der Dunkelheit aufgenommen zu werden, die ihn verschlingen und ihn sich selbst wiedergeben würde. Konnte er den strahlenden Kern der Finsternis wirklich erreichen, dann konnte er sich wirklich vernichten lassen, verbrannt werden, bis er dann mit ihr zusammen in Vollendung auferstehen würde in höchster, wirklich der allerhöchsten Vollendung.

Ihr Sichfinden nun, nach zwei Jahren ihres Ehelebens, wurde viel wundervoller als das frühere gewesen war. Es wurde zum Eintritt in einen anderen Daseinskreis, die Taufe für ein anderes Leben, es war völlige Bestätigung. Ihre Füße betraten den Grund seltsamer Erkenntnis, ihre Fußspuren leuchteten von Entdeckungen wider. Wohin sie schritten, es war gut, die Welt hallte ringsum von Entdeckungen wider. Sie waren glücklich im Vergessen. Alles war vorüber und alles neu gefunden. Sie hatten die Welt neuentdeckt, sie brauchten sie nur noch zu durchforschen.

Sie hatten das Tor zu weiteren Räumen durchschritten, wo alle Bewegung so mächtig war, daß sie Bande und Zwang und Mühen in sich barg und doch vollkommene Freiheit war. Sie war für ihn dies Tor, er für sie. Endlich hatten sie die Flügel aufgestoßen, jeder für den anderen, und hatten sich in der Öffnung gegenübergestanden, während das Licht ihnen von innen her über das Antlitz flutete; es war die Verwandlung, die Verklärung, der Einlaß.

Und das Licht dieser Verwandlung fuhr fort in ihren Herzen zu leuchten. Er machte seinen Weg wie zuvor, sie ging den ihren, für die übrige Welt wurde keine Veränderung an ihnen sichtbar. Aber für sie beide war es ein ewiges Wunder um diese Verwandlung.

Er kannte sie jetzt, nun er sie vollkommen erkannt hatte, um nichts mehr, um nichts genauer als früher. Polen, ihr Mann, der Krieg – nichts von all diesem verstand er an ihr. Er verstand auch nicht ihr fremdes Wesen, halb Deutsche, halb Polin, noch ihre fremde Sprache. Aber er kannte sie, er wußte, was sie bedeutete, auch ohne sie zu begreifen. Was sie sagte, was sie redete, das alles waren für ihn nur ganz nichtssagende Bewegungen ihrerseits. Sie schritt einher, stark in sich und klar, er kannte sie, er grüßte sie, blieb bei ihr. Was war denn Erinnerung, als daß man eine Anzahl unerfüllter Möglichkeiten wieder hervorholte? Was bedeutete Paul Lensky für sie als eine unerfüllte Möglichkeit, gegenüber der er, Brangwen, die Wirklichkeit und die Erfüllung war. Was lag daran, daß Anna Lensky von Paul und Lydia erzeugt worden war? Gott war ihr Vater und ihre Mutter, er hatte das Ehepaar durchdrungen, ohne sich ihnen völlig zu offenbaren.

Jetzt hatte er sich Brangwen und Lydia Brangwen gezeigt, als sie beieinander standen. Als sie sich endlich die Hände reichten, war das Haus fertig, und der Herr nahm seine Wohnung in ihm. Und sie wurden des froh.

Und die Tage liefen hin wie vormals, Brangwen ging an seine Arbeit, seine Frau nährte ihr Kind und kümmerte sich in gewisser Beziehung auch um den Hof. Sie dachten gar nicht aneinander – warum auch? Nur wenn sie ihn anrührte, dann wußte er sogleich, daß sie bei ihm war, dicht bei ihm, daß sie das Tor für Eingang und Ausgang war, daß sie jenseits von allem stand, und daß er in ihr durch das Jenseits dahinwanderte. Wohin? – Was lag daran? Er ging stets auf sie ein. Wenn sie rief, war er bereit, wenn er sie fragte, kam ihre Antwort sogleich oder doch sehr bald.

Annas Seele kam zwischen ihnen zur Ruhe. Sie sah von einem zum andern und merkte, sie behüteten sie fest, und sie fühlte sich frei. Sie spielte zwischen der Staubsäule und der Feuersäule voller Vertrauen, denn sie fand es zu ihrer rechten Hand so sicher bestätigt wie zu ihrer linken. Nicht länger erging an sie der Hilferuf, mit ihrer kindlichen Kraft den geborstenen Bogen zu stützen. Ihr Vater und ihre Mutter reichten nun an die Wölbung des Himmels, und sie, das Kind, durfte zwischen ihnen beiden im weiten Raume spielen.


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