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Sechstes Kapitel.
Anna Victrix

Will Brangwen hatte sich nach seiner Hochzeit für ein paar Wochen freigemacht, und so verlebten die beiden ihren Honigmond in vollen Zügen allein in ihrem Häuschen.

Und wie die Tage so hingingen, war es ihm, als wäre der Himmel eingefallen, und als wären sie die beiden einzigen Überlebenden und säßen unter den Trümmern in einer neuen Welt, alle andern waren begraben, und sie konnten alles vergeuden, wie sie nur Lust hatten. Zuerst konnte er für sein Teil ein gewisses Schuldgefühl nicht loswerden, als wäre er pflichtvergessen. Gab es für ihn denn gar keine Pflichten mehr zu erfüllen da draußen, die ihn riefen, und er kam nicht?

Nachts war es ja ganz schön, wenn die Türen verschlossen waren und die Dunkelheit sie beide umfing. Dann waren sie wirklich die beiden einzigen Bewohner ihrer sichtbaren Welt, die übrigen lagen unter den Wassern. Und da sie nun mal allein auf der Welt waren, waren sie auch nur sich selbst Gesetz und durften unbedenklich fröhlich sein und vergeuden und verschwenden wie Götter.

Aber morgens, wenn die Wagen vorbeiratterten und die Kinder auf der Straße zu rufen begannen; wenn die Höker ihre Ware auszurufen anfingen und die Kirchenuhr elf schlug und er und sie noch nicht aufgestanden waren, selbst noch nicht um zu frühstücken, dann konnte er nicht anders, er mußte sich schuldig fühlen, als bräche er das Gesetz – er schämte sich, daß er noch nicht auf und bei der Arbeit war.

»Bei der Arbeit?« fragte sie. »Was hast du denn zu tun? Du willst nur herumbummeln.«

Immerhin war selbst Herumbummeln doch noch ganz anständig. Man stand dadurch wenigstens in gewisser Verbindung mit der Welt. Jetzt aber, wo man so still und friedlich dalag, wo das Tageslicht nur gedämpft durch die herabgelassenen Vorhänge schien, war man doch von der Welt abgeschieden, man schloß sich selbst in stummer Verneinung von der Welt ab. Und das beunruhigte ihn.

Aber es gewährte eine süße Befriedigung, so still neben ihr zu liegen und ganz zusammenhanglos mit ihr zu reden. Das war süßer als Sonnenschein, und nicht so vergänglich. Selbst das stetige Schlagen der Turmuhr reizte ihn: zwischen den einzelnen Stunden schien gar kein Zwischenraum zu liegen, nur ein Augenblick, golden und still, in dem sie mit der Spitze ihres Fingers seine Gesichtszüge umfuhr, gänzlich sorglos und glückselig, und das liebte er.

Aber er kam sich seltsam und ungewohnt vor. So plötzlich war alles, was zuvor gewesen war, dahin und vergangen. Da war er eines Tages noch Junggeselle gewesen und hatte als solcher in der Welt gestanden. Am nächsten Tage lebte er mit ihr, und der Welt so fern, als wären sie alle beide wie ein Saatkorn im Dunkeln verborgen. Wie wenn eine reife Kastanie plötzlich aus ihrer Samenhülle fällt, war er nackend und gleißend auf den weichen, fruchtbaren Erdboden gefallen und hatte die harte Schale weltlichen Wissens und weltlicher Erfahrung hinter sich gelassen. Die nahm er nur noch in den Rufen der Höker und dem Gerumpel der Wagen, dem Schreien der Kinder wahr. Und all dieses war wie die gesprengte Rinde, überflüssig. Drinnen, in der Weichheit und Stille des Zimmers lag der nackte Kern, der in stummer Geschäftigkeit erbebte, in Wirklichkeit versunken.

Drinnen im Zimmer herrschte die große Stetigkeit, der Wesenskern ewigen Lebens. Nur weit draußen ging der tägliche Lärm weiter, die Vernichtung. Hier im Mittelpunkt des großen Rades herrschte Bewegungslosigkeit, es ruhte in sich selbst. Hier herrschte ausgeglichene, fleckenlose Stille, die außerhalb von Zeit und Raum stand, weil sie immer die gleiche blieb, unerschöpflich, unwandelbar, unerschöpft.

Wenn sie so dicht aneinandergeschmiegt dalagen, vollkommen und unberührt von Zeit oder Wandel, dann war es, als wären sie selbst der Mittelpunkt des langsam sich drehenden Raumes und des hastenden Lebens, als lägen sie hier tief, tief in ihrem Innern, im Mittelpunkt, wo es nur strahlende Helle gibt und ein ewiges Dasein, und das Schweigen hingerissenen Lobpreisens: der ruhende Mittelpunkt aller Bewegung, der ununterbrochene Schlaf allen Wachens. Hier fanden sie sich selbst und lagen still einander im Arm; für den Augenblick lagen sie am Herzen der Ewigkeit, während die Zeit fernab, fernab dem Rande zurauschte.

Dann gerieten sie allmählich vom innersten Mittelpunkt aus über die Kreise des Lebens, der Freude und Fröhlichkeit weiter und weiter nach draußen, dem Lärm und der Bewegung entgegen. Aber ihre Herzen waren im Feuer der innersten Wirklichkeit zusammengeschweißt, sie waren unabänderlich froh.

Allmählich erwachten sie, die Geräusche der Außenwelt wurden mehr zur Wirklichkeit. Sie verstanden und beantworteten den Ruf von draußen. Sie zählten die Glockenschläge. Und als sie zwölf zählten, da begriffen sie, daß es Mittag war, draußen in der Welt und für sie selbst auch.

Es dämmerte ihr auf, daß sie hungrig sei. Schon seit langem war sie immer hungriger geworden. Aber auch jetzt war das noch nicht wirklich genug, um sie in die Höhe zu bringen. Ganz in der Ferne konnte sie die Worte hören »ich sterbe vor Hunger«. Und doch lag sie still, abgesondert, in tiefem Frieden, und die Worte blieben unausgesprochen. Und wieder rann die Zeit weiter.

Und dann fühlte sie sich plötzlich ganz ruhig, jedoch ein wenig verwundert ganz in der Gegenwart und sagte:

»Ich sterbe vor Hunger.«

»Ich auch«, sagte er ruhig, als wäre das völlig bedeutungslos.

Und wieder versanken sie in die warme, goldene Stille. Und unbeachtet liefen die Minuten draußen am Fenster vorbei.

Dann plötzlich rührte sie sich wieder und faßte ihn an.

»Liebling, ich sterbe vor Hunger«, sagte sie.

Das Zusichkommen verursachte ihm einen leichten Schmerz.

»Wir wollen aufstehen«, sagte er, aber noch ohne sich zu bewegen.

Und sie ließ ihren Kopf auf ihn niedersinken, und sie lagen still versunken. Mit halbem Bewußtsein hörte er die Glocke die Stunde schlagen. Sie hörte nichts.

»Steh doch auf,« sagte sie endlich, »und hol mir was zu essen.«

»Ja«, sagte er und schlang seine Arme um sie, und sie blieb mit ihrem Gesicht auf ihm liegen. Sie wunderten sich beide ein wenig, daß sie sich gar nicht rührten. Die Minuten rasselten lauter gegen die Fenster.

»Dann laß mich los«, sagte er.

Widerstrebend hob sie den Kopf. Mit einer ganz kleinen Anstrengung stand er vom Bett auf und griff nach seinem Zeug. Sie streckte die Hand nach ihm aus.

»Du bist so entzückend«, sagte sie, und er glitt für einen oder zwei Augenblicke wieder hinein.

Dann aber schlüpfte er tatsächlich in einen Teil seines Zeuges und war mit einem raschen Blick auf sie aus dem Zimmer. Sie lag aufs neue in einen blassen, klareren Frieden überführt da. Als wäre sie ein Geist, lauschte sie auf jedes Geräusch, das er unten machte, als gehöre sie der stofflichen Welt gar nicht mehr an.

Es war halb zwei. Er blickte in die stille Küche, noch unberührt von gestern abend, in dem undeutlichen Licht der geschlossenen Läden. Rasch öffnete er sie, damit die Leute doch merkten, daß sie nicht länger mehr im Bett lägen. Aber schließlich war dies ja sein Haus, und das ging niemand was an. Rasch warf er Holz auf den Rost und machte Feuer an. Er freute sich innerlich wie ein Abenteurer auf einer unerforschten Insel. Das Feuer schlug empor, er setzte den Kessel dran. Wie glücklich fühlte er sich! Wie still und abgeschieden das Haus dalag. Nur er und sie waren auf der Welt.

Aber als er die Haustür aufschloß und halbangezogen wie er war hinaussah, überschlich ihn ein Gefühl, als müsse er sich schuldbewußt verbergen. Schließlich war die Welt doch noch da. Und er war sich so sicher vorgekommen, als wäre sein Haus die Arche auf der Flut, und alles übrige wäre ertrunken. Da lag die Welt: und es war Nachmittag. Der Morgen war dahin und vorbei, der Tag war schon alt. Wo war der helle, frische Morgen geblieben? Er fühlte sich als Angeklagter. War der Morgen vergangen, und hatte er hinter geschlossenen Vorhängen gelegen und ihn unbeachtet vorübergehen lassen?

Wieder sah er sich in dem kühlen, grauen Nachmittag um. Und er selbst war so warm und weich und glühend. Zwei blühende Zweige gelber Jasmin lagen auf der Untertasse, mit der der Milchtopf zugedeckt war. Er wunderte sich und dachte, wer wohl dagewesen sein könne und dies Zeichen zurückgelassen hätte. Er nahm den Topf und machte die Tür schnell wieder zu. Mochten Tag und Tageslicht ausgestrichen sein, ungesehen versinken. Das kümmerte ihn nicht. Was machte denn ein Tag mehr oder weniger für ihn aus. Wenn es ihm Spaß machte, mochte er ungenutzt in die Vergessenheit versinken, dieser eine Tageslauf.

»Es ist jemand dagewesen und hat die Tür verschlossen gefunden«, sagte er, als er mit dem Teebrett nach oben kam. Er gab ihr die beiden Jasminzweige. Sie lachte, als sie sich im Bett aufsetzte und in kindischer Weise die einzelnen Blüten sich vorn in ihr Nachthemd zu stecken begann. Ihr braunes Haar stand ihr in vollster Unordnung wie ein Heiligenschein um das sanft erglühende Gesicht, ihre dunklen Augen beobachteten gespannt das Teebrett.

»Wie gut!« rief sie, als sie die kalte Luft einsog. »Ich bin so froh, daß du so fleißig gewesen bist.« Und sie streckte ihre Hand gierig nach ihrem Teller aus. – »Komm rasch wieder zu Bett, rasch – es ist so kalt.« Sie rieb die Hände scharf aneinander.

Er zog das bißchen Zeug, das er anhatte, rasch aus und setzte sich neben sie aufs Bett.

»Wie ein Löwe siehst du aus, mit deiner struppigen Mähne, und die Nase so über deinem Futter«, sagte er.

Sie lachte laut auf und aß glückselig ihr Frühstück.

Der Morgen war versunken, der Nachmittag glitt ebenso stetig weiter, und er ließ ihn vergehen. Ein ganzer, heller Tageslauf unbeachtet dahingegangen! Es lag etwas Unmännliches, Abstoßendes darin. Er konnte sich mit dieser Tatsache nicht völlig abfinden. Er fühlte, er müßte aufstehen, müßte rasch nach draußen ins Tageslicht und arbeiten oder sich kräftig in der frischen Luft des Nachmittags ergehen, und so wenigstens wieder einbringen, was ihm vom Tage noch auszunutzen blieb.

Aber er ging nicht. Schön, man konnte sich schließlich genau so gut um ein Schaf wie um ein Lamm hängen lassen. Hatte er diesen Tag seines Lebens verloren, dann hatte er ihn eben verloren. Er gab ihn preis. Er hatte keine Lust, seine Verluste nachzuzählen. Sie machte sich ja auch nichts draus. Sie machte sich ganz und gar nichts draus. Warum sollte er es denn? Sollte er ihr an Sorglosigkeit und Unabhängigkeit nachstehen? Stolz war sie in ihrer Gleichgültigkeit. Er wollte wie sie werden.

Sie nahm es leicht mit ihrer Verantwortlichkeit. Wenn sie Tee über ihr Kopfkissen goß, wischte sie leicht mit dem Taschentuch darüber und drehte das Kissen um. Er hätte sich schuldig gefühlt. Sie tat es nicht. Und das gefiel ihm. Es gefiel ihm ungeheuer, wenn er sah, wie solche Sachen sie gar nicht kümmerten.

Als ihre Mahlzeit beendet war, wischte sie sich rasch den Mund mit dem Taschentuch, zufrieden und glücklich, und rückte sich wieder in den Kissen zurecht, ihre Finger in seinem dichten, seltsamen, pelzartigen Haar.

Der Abend brach herein, das Licht war nur noch halb am Leben, bleich. Er barg das Gesicht an ihrem Körper.

»Ich mag das Zwielicht nicht«, sagte er.

»Ich liebe es«, erwiderte sie.

Er verbarg sein Gesicht an ihr, die so warm, so wie Sonnenschein war. Sie schien Sonnenlicht in sich zu haben. Ihr Herzschlag schien ihm Sonnenlicht. In ihr lag ein wirklicheres Tageslicht, als der Tag ihm geben konnte; so warm und beständig und erfrischend. Solange das Zwielicht hereinfiel, verbarg er sein Gesicht bei ihr, während sie mit nichtssehenden, dunklen Augen dalag und nach draußen starrte, als wandere sie ungehindert durch unbestimmte Weiten. Die Weite war ihr Ziel und machte sie frei.

Wie er so ruhig an ihrem Herzschlag dalag, kam ihm alles so still und warm und schwül vor wie ein heißer Mittag. Er war froh, daß er nun diesen warmen, vollen Mittag kannte. Der ließ ihn reifen und nahm ihm sein Verantwortlichkeitsgefühl, etwas von seinem Gewissen.

Sie standen auf, als es schon ganz dunkel war. Sie band sich hastig das Haar in einem Knoten zusammen und war im Augenblick angezogen. Dann gingen sie nach unten, setzten sich dicht ans Feuer und saßen stumm da, nur ganz selten fielen ein paar Worte.

Ihr Vater sollte kommen. Sie setzte rasch die Schüsseln fort, flog im Zimmer umher und brachte es in Ordnung, nahm selbst ein ganz anderes Aussehen an und setzte sich wieder hin. Er saß da und dachte an seine geschnitzte Eva. Er beschäftigte sich im Geiste immer gern mit seiner Schnitzerei und verweilte bei jedem Schnitt, bei jedem Stich. Wie er sie jetzt erst liebte! Sobald er wieder an sein Schöpfungsbild ging, wollte er seine Eva fertig machen, die zarte, funkelnde. Bis jetzt befriedigte sie ihn noch nicht. Der Herr sollte sich um sie in der stummen Leidenschaft seiner Schöpfung bemühen, und Adam sollte gespannt daliegen, als träume er von Unsterblichkeit, und Eva sollte eine flimmernde, schattenhafte Gestalt bekommen, als ringe der Herr um sie mit seiner eigenen Seele, und doch sollte sie strahlen.

»Worüber denkst du nach?« fragte sie.

Er fand das schwer zu sagen. Seine Seele scheute zurück, wenn er hierüber sprechen sollte.

»Ich dachte, meine Eva wäre doch zu hart und lebendig.«

»Wieso?«

»Ich weiß nicht. Sie könnte mehr – –«, er machte eine unendlich zärtliche Handbewegung.

Dann trat eine Stille ein mit ein wenig Freude vermischt. Er konnte ihr nicht mehr darüber sagen. Warum nicht? Sie fühlte sich von trostloser Traurigkeit gestreift. Aber das war ja nichts. Sie trat zu ihm.

Ihr Vater kam und fand sie beide in höchster Glut, wie eben erschlossene Blüten. Er saß gern bei ihnen. Wo der Duft der Liebe herrscht, da muß jeder ihn einatmen, der kommt. Sie waren beide sehr lebendig und beweglich, von der andern Welt erleuchtet, so daß es für sie eine ganz neue Erfahrung bedeutete, daß auch außer ihnen noch jemand da war.

Aber es beunruhigte Will Brangwen in seinem Sinn für Ordnung und Überlieferung doch ein wenig, die festgesetzte Ordnung der Dinge so gänzlich über den Haufen geworfen zu sehen. Man mußte doch morgens aufstehen und sich waschen und ein anständiger Mensch werden. Statt dessen blieben sie beide im Bett, bis die Nacht wieder hereinbrach, und standen dann erst auf; sie wusch sich das Gesicht überhaupt nicht, sondern saß da und redete mit ihrem Vater so strahlend und ohne Scham wie ein Tausendschönchen, das sich gerade eben im Tau öffnet. Oder sie stand auch mal um zehn auf und ging um drei ganz vergnügt wieder zu Bett, oder halb vier, und zog ihn bei hellem Tageslicht nackend aus, und das alles so glückselig und vollkommen ruhig, als ahnte sie nichts von seinen Gewissensbissen. Er ließ sie mit ihm machen was sie wollte, und strahlte vor seltsamem Vergnügen. Sie sollte über ihn verfügen wie sie mochte. Er war ganz hingerissen vor Freude, sich so in ihrer Hand zu befinden. Und fort waren seine Gewissensbisse, seine Grundsätze, seine Regeln, all seine minder wichtigen Glaubenssätze; wie ein erfahrener Kegelspieler warf sie sie um und durcheinander. Er war höchst erstaunt und erfreut darüber, sie umgeworfen zu sehen.

Er stand und starrte und grinste vor Verwunderung, als seine Gesetzestafeln splitternd und springend den Hügel hinuntersausten, für immer ihrer Stellung beraubt. Wirklich, es war richtig, wenn es hieß, der Mensch ist gar nicht geboren, ehe er verheiratet ist. Was für eine Veränderung!

Er beobachtete die Rinde der Außenwelt: Häuser, Werkstätten, Pferdebahnen, die abgelegte Rinde; wie die Leute herumrasten, die Arbeit weiterlief, alles auf der abgelegten Rinde. Ein Erdbeben war aus dem Innern hervorgebrochen und hatte das alles zerstört. Es war, als sei die Erdoberfläche völlig verschwunden: Ilkeston, die Straßen, die Kirche, die Menschen, ihre Arbeit, die Tagesregel, alles war noch ganz geblieben; und doch war es zu etwas Unwirklichem geworden und ließ die Innenseite bloß, die Wirklichkeit: das eigene Ich, seltsame Gefühle und Leidenschaften und Lüste und Glauben und Wünsche, die ihm plötzlich zum Bewußtsein kamen, enthüllt wurden als ewige Grundlage, zu einem Felsen verschmolzen mit dem Weibe seiner Liebe. Das war sinnverwirrend. Die Dinge waren nicht, was sie schienen! Als er noch ein Kind war, hatte er geglaubt, eine Frau wäre nur weil sie Röcke und Unterröcke trug eine Frau. Und siehe da! nun ließ die ganze Welt sich ihrer Kleider entledigen, das Kleid mochte wohl als Ganzes liegenbleiben, und man stand da in einer neuen Welt, auf einer neuen Erde, nackend im neuen, nackten Weltall! Das war zu wunderbar, zu erstaunlich.

Also das war die Ehe! Alles Alte galt nicht mehr. Man stand um vier Uhr auf, und aß Suppe zur Teezeit, und machte um Mitternacht Kandiszuckerwerk. Man zog sich an oder auch nicht. Es war ganz gleich. Er war sich noch nicht ganz sicher, ob das nicht ein Verbrechen sei. Aber eine Entdeckung war es, zu finden, wie gänzlich weltvergessen man sein konnte. Alles, worauf es ankam, war, daß er sie liebte und sie ihn, und daß sie in ihrer Liebe brannten wie der Herr in den beiden Dornbüschen, die nicht verzehrt wurden. Und so lebten sie für den Augenblick.

Sie fühlte sich nicht so verlegen wie er, so daß sie auch eher zur Höhe gelangte als er und sich eher auf die Rückkehr in die Außenwelt zu freuen begann. Sie wollte einen Tee geben. Sein Herz sank. Er wollte so weiterleben, so wie sie jetzt lebten. Er wollte mit der Außenwelt nichts mehr zu tun haben, sie sollte ein für allemal für ihn erledigt sein. Mit ängstlicher Sehnsucht wünschte er, sie möchte bei ihm bleiben, wo sie wären, in der zeitlosen Unendlichkeit ihrer freien, vollkommenen Gliedmaßen und ihrer unsterblichen Brust, und dabei bleiben, die frühere Ordnung der Außenwelt habe aufgehört zu bestehen. Die neue Ordnung sollte ewig bestehen bleiben, das lebendige Leben, zitternd vor innerer Glut, zur Tat drängend, ohne Kruste oder Deckschicht oder äußere Lüge. Aber nein, er konnte sie nicht halten. Sie verlangte wieder nach der toten Welt – sie wollte wieder in der Außenwelt umhergehen. Sie wollte ihren Tee geben. Das machte ihn ängstlich und wütend und elend. Er fürchtete, alles würde verlorengehen, was er jüngst erst gewonnen hätte: wie der Junge im Märchen, der einen Tag im Jahre König war und die übrige Zeit ein geprügelter Hütejunge, oder wie Aschenbrödel auf dem Hoffest. Er grollte. Aber sie begann glückselig die Vorbereitungen zu ihrem Tee zu treffen. Seine Furcht war zu stark, er fühlte sich so unruhig, er haßte ihre flachen Vorbereitungen und ihre Vorfreude. Gab sie nicht die Wirklichkeit preis, die eine Wirklichkeit, um lauter Dinge, die oberflächlich und wertlos waren? Legte sie nicht gedankenlos ihre Krone ab, um als gekünstelte Frau mit anderen ebenso gekünstelten Tee zu trinken: während sie doch mit ihm vereint vollkommen hätte sein können, und ihn in Vollkommenheit hätte bewahren können, im Lande ihrer vertrautesten Vereinigung? Nun sollte er entsagen, seine Freude würde zerstört werden, er sollte wieder das gemeine, oberflächliche Totengewand eines äußeren Daseins anlegen.

Er zermürbte seine Seele in Unruhe und Furcht. Aber in ihr brach eine wahre Sucht nach Hausarbeit durch, und sie schob ihn beiseite, wie sie ihre Sachen zum Ausfegen beiseite schob. In tiefem Jammer hing er in ihrer Nähe herum. Er wollte sie wiederhaben. Furcht und die Sehnsucht, sie möchte bei ihm bleiben, sowie Scham über seine Abhängigkeit von ihr trieben ihn allmählich in eine ärgerliche Stimmung hinein. Er begann den Kopf zu verlieren. Sein Wunder würde verschwinden. All ihre Liebe, die ganze prächtige Neuordnung der Dinge würde verlorengehen, sie wollte das alles für ein paar Äußerlichkeiten aufs Spiel setzen. Sie wollte die Außenwelt wieder hereinlassen, wollte die lebendige Frucht für die bloße Rinde hingeben. Er fing an, dies in ihr zu hassen. Von der Furcht vor ihrem Fortgang in einen Zustand von Hilflosigkeit versetzt, fast von Blödsinn ergriffen, wanderte er im Hause umher.

Und sie flog mit aufgeschürzten Röcken ganz hingerissen von ihrer Aufgabe im Hause umher.

»Schüttle wenigstens den Teppich aus, wenn du doch schon mal hier herumstehen mußt«, sagte sie.

Und verärgert und trotzig ging er hin und schüttelte den Teppich aus. Sie bemerkte ihn gar nicht in ihrer Glückseligkeit. Er kam wieder und hing sich wieder an sie.

»Kannst du nicht irgend etwas helfen?« sagte sie ungeduldig zu ihm, als wäre er ein Kind. »Kannst du nicht an deiner Schnitzerei arbeiten?«

»Wo soll ich das denn?« fragte er in bitterem Schmerz.

»Irgendwo.«

Wie rasend ihn das machte.

»Oder geh mal ein bißchen aus«, fuhr sie fort. »Geh mal nach der Marsch hinunter. Steh hier nicht im Wege, als wärst du nur halb bei Sinnen.«

Er fuhr zusammen und war voller Haß. Er ging und wollte lesen. Nie hatte seine Seele sich so geschlagen und unreif gefühlt.

Aber bald mußte er wieder zu ihr nach unten. Sein Herumstehen, seine Sucht, ihr nahe zu sein, seine Unbrauchbarkeit, die Art, wie er die Hände hängen ließ, reizte sie über alle Maßen. Voll blinder Zerstörungswut wandte sie sich gegen ihn, und er wurde wahnsinnig, schwarz vor verhaltener Wut. Ein dunkler Sturm erhob sich in seinem Innern, seine Augen glühten schwarz und unheilverkündend, er war wie ein Teufel in seiner gekränkten Seele.

Zwei schwarze, schreckliche Tage folgten, in denen sie voll Ärger gegen ihn war und er sich fühlte, als lebte er in einer schwarzen, gewalttätigen Unterwelt, und die Handgelenke zitterten ihm vor Mordlust. Und sie widerstand ihm. Er schien ihr ein dunkles, beinahe böses Wesen, das sie verfolgte, sich an sie hängte, sie belastete. Sie hätte alles drum gegeben, ihn los zu werden.

»Du hast Beschäftigung nötig«, sagte sie. »Du solltest irgendeine Arbeit unternehmen. Kannst du denn gar nichts anfangen?«

Seine Seele wurde nur noch finsterer. Sein Zustand hatte nun den Höhepunkt erreicht, die Finsternis seiner Seele war vollkommen. Alles war verschwunden: nur er allein war übriggeblieben, ganz angespannter Wille. Er nahm sie nun nicht weiter wahr. Sie war nicht mehr für ihn da. Seine dunkle, leidenschaftliche Seele hatte sich ganz in sich selbst zurückgezogen und verharrte nun, verbissen und wie um einen Kern von Haß gewunden in Einsamkeit. Auf seinem Gesicht lag eine sonderbare, häßliche Blässe, etwas Ausdrucksloses. Sie schauderte vor ihm zurück. Sie war bange vor ihm. Sein Wille schien sie überfallen zu wollen.

Sie zog sich von ihm zurück. Sie ging nach der Marsch hinunter und trat wieder in den Frieden der fürsorglichen Liebe ihrer Eltern. Er blieb im Eibenhause, schwarz und verbissen, sein Verstand tot. Er war nicht imstande, an seiner Holzschnitzerei zu arbeiten. Er fuhr fort mit seiner eintönigen Gartenarbeit, blind, wie ein Maulwurf.

Als sie nach Hause kam, den Hügel hinauf, und nach der fernen, in bläulichem Dunste verschwommenen Stadt sah, da wurde ihr Herz weich und sie merkte, wie es sich sehnte. Sie wollte nicht länger gegen ihn ankämpfen. Sie sehnte sich nach Liebe – ach, Liebe! Ihre Füße begannen zu eilen. Sie wollte wieder zu ihm. Ihr Herz schnürte sich vor Sehnsucht nach ihm zusammen.

Er hatte den Garten in Ordnung gebracht, hatte den Rasenrand abgestochen und den Weg mit Kies bestreut. Er war ein guter, tüchtiger Arbeiter.

»Wie hübsch du alles gemacht hast«, sagte sie, als sie ihm verlockend den Pfad entgegen ging.

Er beachtete sie gar nicht, hörte sie nicht. Sein Gemüt war fest und hart.

»Hast du nicht wirklich alles sehr hübsch gemacht?« wiederholte sie fast klagend.

Er sah mit dem harten, ausdruckslosen Gesicht und nichtssagenden Augen zu ihr auf, die sie so anwiderten, die sie betäubten und blendeten. Dann wandte er sich wieder ab. Sie sah, wie seine schlanke Gestalt sich nach etwas bückte. Ein Widerwille kam über sie. Sie ging hinein.

Als sie im Schlafzimmer ihren Hut abnahm, fand sie, daß sie bitterlich weinte, fast in ihrer alten, kindlichen, ungeduldigen Trostlosigkeit. Sie saß nieder und fuhr fort zu weinen. Sie wollte nicht, daß er etwas davon merkte. Sie war bange vor seinen harten, häßlichen Bewegungen. Ihr Kopf senkte sich etwas vornüber, steif, in einer schmerzlichen, kriechenden Haltung. Sie hatte Angst vor ihm. Er schien ihre empfindliche Weiblichkeit zu zerreißen. Es war, als wollte er ihren Schoß quälen, er schien Vergnügen darin zu finden, sie zu martern.

Er kam ins Haus. Der Klang seiner Tritte in den schweren Stiefeln erfüllte sie mit Schrecken; ein harter, grausamer, bösartiger Klang. Sie war bange, er möchte nach oben kommen. Aber er kam nicht. Sie wartete voller Furcht. Er ging aus.

Er traf sie an ihrer empfindlichsten Stelle. O, grade wo sie ihm so ganz überliefert war, in ihrer so weichen Weiblichkeit, da schien er sie zerfleischen und entweihen zu wollen! Sie preßte die Hände voll Angst über ihrem Schoße zusammen, während die Tränen ihr übers Gesicht strömten. Und warum, warum? Warum behandelte er sie so?

Plötzlich trocknete sie ihre Tränen. Sie mußte den Tee zurechtmachen. Sie ging hinunter und brachte den Tisch in Ordnung. Als sie damit fertig war, rief sie ihn.

»Ich habe Tee gemacht, Will, kommst du?«

Sie konnte den Klang von Tränen in ihrer eigenen Stimme hören, und so fing sie wieder an zu weinen. Er antwortete ihr nicht, sondern fuhr mit seiner Arbeit fort. Sie wartete ein paar Minuten in Angst. Furcht überfiel sie, sie fühlte sich von jähem Schrecken gepackt wie ein Kind; sie konnte nicht wieder nach Hause zu ihrem Vater; sie mußte in der Macht dieses Mannes bleiben, der sie genommen hatte.

Sie wandte sich wieder ins Haus, damit er ihre Tränen nicht sähe. Sie setzte sich an den Tisch. Da trat er in die Aufwaschküche. Seine Bewegungen quälten sie, als sie sie hörte. Wie gräßlich war seine Art zu pumpen, so erbitternd, so grausam! Wie sie das haßte, dies Geräusch! Wie er sie hassen mußte! Wie sein Haß gleich Schlägen auf sie niederfuhr! Wieder kamen ihr die Tränen.

Mit hölzernem, leblosen Gesicht trat er ein, starr, hartnäckig. Er setzte sich zum Tee, ließ den Kopf über die Tasse sinken, in häßlicher Art. Seine Hände waren vom kalten Wasser gerötet, und unter den Nägeln hatte er schwarze Erdränder. Er fuhr fort, Tee zu trinken.

Seine ihr Dasein verneinende Empfindungslosigkeit war es, die sie nicht vertragen konnte, etwas Lehmiges, Häßliches. Sein Verstand war nur von sich selbst in Anspruch genommen. Wie unnatürlich das war, mit so einem nur mit sich beschäftigten Wesen dazusitzen, als habe sich die Verneinung in dem Gegenüber dort verkörpert. Nichts konnte ihm etwas anhaben, – er konnte nur alle Dinge in sich aufnehmen.

Die Tränen liefen ihr über die Backen. Er mußte irgendwie aufmerksam geworden sein, denn er sah auf und sah sie mit seinen harten, haßerfüllten, hellen Augen an, hart und stetig wie die eines Raubvogels.

»Weshalb weinst du denn?« kam seine krächzende Stimme.

Ihr Schoß zog sich zusammen. Sie konnte nicht aufhören zu weinen.

»Weshalb weinst du denn?« kam die Frage wieder in genau demselben Tonfall. Und dann herrschte wieder Stillschweigen, außer wenn sie ihre Tränen hinunterschluckte.

Seine Augen glitzerten wie vor Boshaftigkeit. Sie schreckte zurück und wurde blind. Sie war wie ein zu Boden geschlagener Vogel. Es schwindelte sie vor Hilflosigkeit. Sie war anders geartet als er, sie besaß keine Waffen, um sich gegen ihn zu verteidigen. Einem derartigen Einfluß gegenüber war sie nur verwundbar, war sie verloren.

Er stand auf und ging aus dem Hause, vom bösen Geiste besessen. Der quälte ihn und brach ihn in Stücke, und kämpfte mit ihm. Und verließ ihn noch, als er so im zunehmenden Zwielicht weiterarbeitete. Plötzlich begriff er, daß sie verletzt war. Bis dahin hatte er sie nur als Siegerin gesehen. Sein Herz wurde plötzlich von Mitleid zerrissen. Er lebte plötzlich in leidenschaftlichem Mitleid für sie wieder auf. Er konnte den Gedanken an ihre Tränen nicht länger ertragen – er war ihm unerträglich. Er wollte zu ihr laufen und ihr sein Herzblut zu Füßen schütten. Alles wollte er ihr geben, sein Blut, sein Leben, bis zum letzten Tropfen, wollte alles für sie vergießen. Er sehnte sich leidenschaftlich danach, sich ihr darzubieten, ganz und gar.

Der Abendstern kam, und dann die Nacht. Sie hatte die Lampe nicht angezündet. Das Herz brannte ihm vor Kummer und Schmerz. Er zitterte davor, zu ihr zu gehen.

Zuletzt ging er, zaudernd, unter der Last seines großen Opfers. Alle Härte hatte ihn verlassen, sein Körper war empfindlich, in leichtem Zittern. Auch seine Hand war sehr empfindlich, sie zauderte, als er die Tür schloß. Er drehte die Klinke beinahe zärtlich.

In der Küche war nur noch schwache Glut auf dem Herde, er vermochte sie nicht zu sehen. Er zitterte vor Angst, sie möchte am Ende fortgegangen sein, – wohin wußte er nicht. In schrecklicher Angst ging er durch das Wohnzimmer bis an den Fuß der Treppe.

»Anna«, rief er.

Keine Antwort. Er ging nach oben, befürchtend, er möchte das Haus leer finden – möchte eine schreckliche Leere finden, die durch sein Herz den Widerhall des Wahnsinns jagte. Er öffnete die Kammertür, und wie ein Blitz durchfuhr sein Herz die Gewißheit, daß sie gegangen wäre, daß er allein sei.

Aber da sah er sie auf dem Bette, sie lag ganz still, kaum bemerkbar, mit dem Rücken ihm zugekehrt. Er ging und legte ihr die Hand auf die Schulter, sehr leise, zaudernd, in großer Furcht und mit dem Wunsche, sich ihr ganz zu opfern. Sie rührte sich nicht. Er wartete. Die Hand, die auf ihrer Schulter lag, schmerzte ihn, als wollte sie sie abschütteln. So stand er in Schmerzen da.

»Anna«, sagte er.

Aber sie lag immer noch ohne Bewegung, wie ein zusammengekauertes, geistesabwesendes Tier. Sein Herz schlug unter seltsamen Schmerzensschauern. Eine schwache Bewegung unter seiner Hand zeigte ihm, daß sie weine und hart an sich halte, um ihn nicht ihre Tränen bemerken zu lassen. Er wartete. Die Spannung hielt an, vielleicht weinte sie gar nicht mehr – dann plötzlich kam wieder ein hartes Aufschluchzen. Sein Herz flammte vor Liebe und Leid um sie empor. Vorsichtig kniete er auf dem Bette nieder, so daß seine schmutzigen Stiefel es nicht berührten; dann schloß er sie in seine Arme, um sie zu trösten. Ihr Schluchzen sammelte sich in ihr, sie schluchzte bitterlich. Aber nicht ihm entgegen. Sie war ihm noch fern.

Er hielt sie gegen seine Brust, während sie weiter schluchzte, noch voller Widerstand gegen ihn, und sein Körper erzitterte an dem ihren.

»Weine doch nicht – weine doch nicht«, sagte er schlicht und einfach. Sein Herz war jetzt ruhig und betäubt vor unschuldiger Liebe zu ihr.

Sie schluchzte immer weiter ohne ihn zu bemerken, ohne zu fühlen, daß er sie hielt. Seine Lippen waren trocken.

»Weine doch nicht, mein Liebling«, sagte er wieder in seiner sonderbaren Weise. Wie eine Fackel brannte ihm das Herz in der Brust vor Weh. Er konnte dies trostlose Weinen nicht ertragen. Gern hätte er sie mit seinem eigenen Blute besänftigt. Er hörte die Uhr auf dem Kirchturm schlagen, als träfe ihn jeder Schlag, und wartete in hangender Pein, daß es vorüberginge. Dann war es wieder still.

»Mein Liebling«, sagte er zu ihr und beugte sich über sie, um ihr feuchtes Gesicht mit dem Munde berühren zu können. Er fürchtete sich, sie zu berühren. Wie naß ihr Gesicht war. Sein Körper erzitterte, wie er sie hielt. Er liebte sie so, daß er fühlte, sein Herz, seine Adern müßten bersten, um sie mit seinem heißen, heilenden Blut zu überfluten. Er wußte, sein Blut würde sie heilen und wieder gesund machen.

Sie wurde ruhiger. Er dankte dem Gott aller Gnaden, daß sie endlich ruhiger wurde. Sein Kopf fühlte sich so seltsam und brennend an. Immer noch hielt er sie dicht an sich, mit zitternden Armen. Sein Blut schien sie mit Macht einzuhüllen.

Und schließlich begann sie sich ihm zuzuwenden, sie schmiegte sich an ihn. Seine Glieder, sein Körper fingen Feuer und schlugen in Flammen empor. Sie hing sich an ihn, klammerte sich an seinen Leib. Die Flammen rissen ihn mit, er hielt sie in Sehnen aus Feuer. Wenn sie ihn doch nur küssen wollte! Er beugte seinen Mund nieder. Und ihr Mund, feucht und weich, nahm ihn auf. Er fühlte, seine Adern müßten vor angstvoller Dankbarkeit bersten, sein Herz wurde wahnsinnig vor Dankgefühl, er hätte sich auf ewig in sie ergießen mögen.

Als sie wieder zu sich kamen, war es schon tiefdunkle Nacht. Zwei Stunden waren vergangen. Sie lagen still und warm und schwach zusammen, wie Neugeborene. Und um sie war Stille, fast wie die der Ungeborenen. Nur sein Herz weinte vor Freude, nach all dem Schmerz. Er begriff es nicht, er hatte nachgegeben, war gewichen. Das war nicht zu begreifen. Das konnte man nur hinnehmen, man konnte sich ihm nur unterwerfen und zitternd die Vollendung anstaunen.

Als sie am nächsten Morgen aufwachten, hatte es geschneit. Er wunderte sich, woher die sonderbare Blässe in der Luft kommen könnte und ein ungewohnter Hall. Schnee lag auf dem Gras und auf den Fensterbänken, er beugte die schwarzen, dürren Äste der Eiben zu Boden und ebnete die Gräber auf dem Kirchhofe ein.

Bald fing es aufs neue an zu schneien, und sie waren ganz eingeschlossen. Er fühlte sich sehr froh, denn nun waren sie unverletzlich in dem schattigen Schweigen, es gab keine Welt mehr, keine Zeit.

Der Schnee hielt ein paar Tage an. Am Sonntag gingen sie zur Kirche. Sie ließen ihre Fußtapfen im Garten hinter sich, er hinterließ den Abdruck seiner flachen Hand auf der Gartenmauer, als er hinübersprang, ihre Spuren zogen sich durch den Schnee über den Kirchhof. Drei Tage lang genossen sie so ihre Unverletzlichkeit in vollkommener Liebe.

In der Kirche waren nur wenige Leute, und sie war froh darüber. Sie hatte nicht viel für die Kirche übrig. Sie hatte zwar nie irgendwelche Glaubenssätze angezweifelt und war aus Angewöhnung eine ständige Besucherin des Morgengottesdienstes gewesen. Aber sie hatte es aufgegeben, voller Andacht hinzugehen. Heute aber, wo alles so seltsam war infolge des Schnees und nach so vollkommener Liebe, fühlte sie sich wieder voller Erwartung und Entzücken. Sie lebte noch in der ewigen Welt.

Als sie die höhere Mädchenschule besucht und eine große Dame hatte werden wollen, damals als sie einem hohen Vorbild nachgestrebt hatte, war es ihr zur Gewohnheit geworden, die Predigt anzuhören und zu versuchen, aus ihr Anregungen für sich zu ziehen. Das war eine Zeitlang ganz gut gegangen. Der Vikar hatte ihr gezeigt, wie sie auf diese und jene Weise gut sein könnte. Sie war immer mit dem Gefühl fortgegangen, es müsse ihr höchstes Ziel sein, diese Ermahnungen zu befolgen.

Aber das verlor bald seinen Reiz. Schon nach kurzer Zeit fand sie kein Vergnügen mehr darin, gut zu sein. Ihre Seele verlangte nach etwas, was vielleicht nicht einfach Gutsein oder stets sein Bestes tun bedeutete. Nein, sie verlangte nach etwas anderem: nach etwas, was nicht einfach kurzweg ihre vorgeschriebene Pflicht war. Alles schien ihr lediglich auf Verpflichtungen gegen die Gesellschaft hinauszulaufen und nie auf solche gegen sich selbst. Es wurde wohl von ihrer Seele gesprochen, aber schließlich kam es nie so weit, daß ihre Seele sich erhoben oder ergriffen gefühlt hätte. Bis jetzt war ihre Seele gewissermaßen noch gar nicht zur Sprache gekommen.

Und obwohl sie für Mr. Loverseed, den Vikar, viel übrig hatte und sich ein wenig als Beschützerin der Kirche von Cossethay aufspielte, die sie immer unterstützen und verteidigen wollte, so spielte die Kirche doch nur eine sehr unbedeutende Rolle in ihrem Leben.

Nicht als hätte sie sich mit Bewußtsein unbefriedigt gefühlt. Wenn ihr Mann bei dem Gedanken an Kirchen erhoben wurde, dann fühlte sie so etwas wie Feindseligkeit gegen die sichtbare Kirche, sie haßte sie, weil sie ihr innerlich so gar nichts gab. Die Kirche hieß sie gut sein: schön, sie dachte nicht daran, dem zu widersprechen. Die Kirche redete von ihrer Seele, von der Wohlfahrt des Menschengeschlechts, als läge die Rettung ihrer Seele in dem Vollzug gewisser Handlungen, die sich auf die Wohlfahrt des Menschengeschlechts bezogen. Auch gut – dann mochte auch das sein.

Trotzdem bekam ihr Gesicht, als sie in der Kirche saß, etwas Leidenschaftliches, Prickelndes. Kam sie denn hierher, um dies anzuhören: wie sie ihre Seele retten könnte, indem sie dies täte und jenes ließe? Sie widersprach nicht. Aber das Leid auf ihrem Gesicht strafte sie Lügen. Sie wollte mehr hören, sie verlangte mehr von der Kirche.

Aber wer war sie denn, daß sie so etwas behaupten konnte? Und was hatte sie mit unbefriedigten Wünschen zu tun? Sie schämte sich. Sie verleugnete sie und berücksichtigte sie sowenig als möglich, diese ihr nur halbbewußten Wünsche. Sie ärgerten sie. Sie wollte wie andere Leute sein, anständig, zufrieden.

Er ärgerte sie mehr denn je. Die Kirche besaß eine unwiderstehliche Anziehungskraft für ihn. Aber für den Teil, der für sie die Kirche bedeutete, hatte er nicht mehr Aufmerksamkeit übrig, als hätte da ein Engel oder ein Fabeltier gesessen. Er schenkte der Predigt oder ihrem Inhalt einfach gar keine Beachtung. Es lag etwas Dickes, Dunkles, Dichtes, Mächtiges über ihm, das sie zu tief reizte, als daß sie darüber mit ihm hätte sprechen können. Kirchenlehre an sich bedeutete ihm nichts. »Und vergib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben unsren Schuldigern« – das berührte ihn in keiner Weise. Es hätten für ihn einfach nur Töne sein können, und sie würden auf ihn dieselbe Wirkung ausgeübt haben. Er wollte so etwas gar nicht begreifen. Und um seine Schuld kümmerte er sich nicht, um die seines Nachbarn ebensowenig, wenn er in der Kirche saß. Das mochte dem Alltag vorbehalten bleiben. Wenn er in der Kirche saß, schenkte er seinem Alltagsleben keine Beachtung mehr. Das war eben Alltag. Die Wohlfahrt des Menschengeschlechts – er war sich einfach gar nicht klar darüber, daß es so etwas gab: außer alltags, wo er allerdings ganz gutmütig war. In der Kirche verlangte es ihn nach dunkler, namenloser Erregung, der Erregung durch alle möglichen großen, leidenschaftlichen Geheimnisse.

Der Gedanke an sich selbst oder an sie war ihm völlig gleichgültig: o, wie sie das reizte! Er beachtete die Predigt nicht, er beachtete die Größe des Menschengeschlechts nicht, er gab nicht einmal die Wichtigkeit des Menschengeschlechts unbedingt zu. Um sich selbst als menschliches Wesen kümmerte er sich gar nicht. Weder seinem Leben auf dem Zeichenboden legte er besondere Bedeutung bei, noch dem unter den übrigen Menschen. Das bedeutete für ihn lediglich den Rand um den Text. Die Wahrheit war für ihn nur seine Verbindung mit Anna und seine Verbindung mit der Kirche, sein wirkliches Dasein lag in den dunklen Regungen, die ihm die Unendlichkeit, das Unbedingte verursachte. Und die großen, ausgemalten Anfangsbuchstaben im Text waren seine Gefühle für die Kirche.

Das machte sie über alle Maßen verzweifelt. Sie konnte aus der Kirche nicht die Befriedigung ziehen, die er empfand. Der Gedanke an ihre Seele war durchaus mit dem an sie selbst verknüpft. Tatsächlich waren für sie ihre Seele und sie selbst ein und dasselbe. Er dagegen schien die Tatsache seines Daseins gar nicht zu begreifen, sie fast zu widerlegen. Er besaß eine Seele – ein dunkles, nicht menschliches Ding, das die Menschheit überhaupt gar nichts anging. So faßte sie sie auf. Und im geheimnisvollen Dämmer der Kirche begann diese seine Seele zu leben und frei zu werden, wie ein seltsames, unfaßbares, unterirdisches Wesen.

Er kam ihr ganz sonderbar vor und schien ihr, wenn dieser Kirchengeist über ihn kam und er sich als Seele zu empfinden anfing, zu entrinnen und sich von ihr frei zu machen. Sie beneidete ihn in gewisser Hinsicht um diese dunkle Freiheit, dies Lobsingen seiner Seele, diese fremdartige Wesenheit in ihm. Es bezauberte sie. Und doch haßte sie es auch wieder. Und sie verachtete ihn auch darum, und hätte es zu gern vernichtet.

An diesem schneeigen Morgen saß er mit seinem dunkel leuchtenden Gesicht neben ihr, ohne sie zu gewahren, und doch fühlte sie, wie er die Liebe, die in ihm für sie entstanden war, zu seltsamen, geheimen Orten überführte. Mit dunkel-hingerissenem, halb verzücktem Gesicht saß er da und sah auf ein kleines buntes Fenster. Sie bemerkte das rubinrote Glas, mit dem Schatten, der sich von dem Schnee draußen an seinem unteren Rande hinzog, und der ihr vertrauten, gelben Gestalt des Lammes, das das Banner trägt, zwar ein wenig verdunkelt heute, aber in dem düsteren Innenraum doch seltsam leuchtend, fesselnd.

Sie hatte das kleine rot und gelbe Fenster stets gern gehabt. Das Lamm, sehr dumm und selbstbewußt, hielt einen Vorderfuß empor, und in den Spalt seines Hufes war auf höchst kühne Weise eine kleine Fahne mit rotem Kreuz eingeklemmt. Sehr blaßgelb war das Lamm, mit grünlichen Schatten. Seit ihrer Kinderzeit hatte sie dies Geschöpf gern gehabt, ungefähr ebenso wie die kleinen wolligen Lämmer mit grünen Beinen, die die Kinder alle Jahr vom Jahrmarkt mit nach Hause brachten. Sie hatte dies Spielzeug immer gern gehabt, und für dies Kirchenlamm hatte sie dieselbe kindliche Vorliebe empfunden. Und doch hatte sie sich seinetwegen immer etwas unsicher gefühlt. Sie war nie ganz sicher gewesen, ob dies Lamm mit der Fahne nicht mehr bedeutete als es schien. So mißtraute sie ihm halbwegs, ihrer Zuneigung war auch etwas Abneigung beigemischt.

Durch ein sonderbares Zusammenziehen, ein Runzeln seiner Brauen, einen ganz schwachen Widerschein von Verklärung auf seinem Gesichte versetzte er sie nun in das unbehagliche Gefühl, er befinde sich mit diesem Geschöpf in Gedankenaustausch, mit dem Lamme da im Fenster. Eine kalte Verwunderung kam über sie – ihre Seele verwirrte sich. Da saß er regungslos, zeitlos, mit einer schwachen, hellen Spannung auf dem Gesicht. Was begann er? Welche Verbindung mochte zwischen ihm und dem Lamm auf dem Glase bestehen?

Plötzlich glühte es ihr wie alles beherrschend entgegen, das Lamm mit der Fahne. Plötzlich kam eine mächtige, geheimnisvolle Erfahrung über sie, die Macht der Überlieferung packte sie, sie fühlte sich in eine andere Welt versetzt. Und sie haßte es, widerstrebte ihm.

Sogleich war es nur wieder ein bloßes, dummes Lamm auf dem Glas. Und ein dunkler, heftiger Haß gegen ihren Gatten fuhr in ihr hoch. Was machte er nur, wie er so strahlend, ganz ergriffen, seelenvoll dasaß?

Sie rutschte scharf hin und her, sie stieß ihn an, als wolle sie ihren Handschuh aufheben, sie suchte zwischen seinen Füßen umher.

Verwirrt, schutzlos kam er wieder zu sich. Jedermann außer ihr hätte Mitleid mit ihm gehabt. Sie hätte ihn zerreißen mögen. Er hatte keine Ahnung, was los war, was er getan hatte.

Während sie zu Hause bei Tisch saßen, wurde er durch den kalten Widerstand, der von ihr ausging, ganz betäubt. Sie wußte selbst nicht, warum sie so ärgerlich war. Aber sie war nun einmal entbrannt.

»Warum hörst du eigentlich nicht auf die Predigt?« fragte sie, kochend vor Feindseligkeit und Heftigkeit.

»Die höre ich doch«, sagte er.

»Nein – du hörst nicht ein einziges Wort.«

Er zog sich in sich zurück, um sich seiner eigenen Empfindungen zu erfreuen. Es war etwas Unterirdisches an ihm, als besäße er eine Zufluchtsstätte in der Unterwelt. Die junge Frau haßte es, mit ihm im Hause zusammen zu bleiben, wenn er so war.

Nach dem Essen ging er ins Wohnzimmer, immer in dem gleichen Zustand innerer Zurückgezogenheit, die für sie eine unerträgliche Last bedeutete. Dann ging er zum Bücherbort und holte sich Bücher heraus, um sie durchzusehen. Bücher, die sie bisher kaum überflogen hatte.

Ganz verträumt saß er mit einem Buche über die Bildkunst in alten Meßbüchern da, und dann mit einem andern über Kirchenmalerei: italienische, englische, französische, deutsche. Als er sechzehn war, hatte er eine römisch-katholische Buchhandlung entdeckt, wo er solche Sachen finden konnte.

Wie im Traum schlug er die Blätter um, sah sie wie im Traum an, ohne nachzudenken. Er war wie ein Mensch, der seine Augen in der Brust hat, wie sie später von ihm sagte.

Sie trat herzu, um sich die Sachen mit ihm anzusehen. Halbwegs bezauberten sie sie. Sie fühlte sich wie vor Rätseln, die sie fesselten, wenn auch wider ihren Willen.

Als sie an Abbildungen der Pietà kamen, brach sie los.

»Ekelhaft finde ich sie«, rief sie.

»Was?« sagte er ganz überrascht, verträumt.

»Diese Leiber mit den Schlitzen drin, die man dann auch noch verehren soll.«

»Siehst du, das bedeutet doch das Sakrament, das Brot«, erwiderte er langsam.

»So!« rief sie. »Dann ists noch schlimmer. Ich will deine Brust nicht aufgeschlitzt sehen, oder von deinem toten Leibe essen, selbst wenn du ihn mir darbietest. Kannst du nicht verstehen, wie scheußlich das ist?«

»Ich bins doch nicht, das ist doch Christus.«

»Und wenn auch, du bists doch! Und ich finde es ekelhaft, wie du dich an deinem eigenen toten Leibe begeistern kannst und glauben kannst, du äßest ihn im Sakrament.«

»Aber du mußt es doch als das auffassen, was es bedeuten soll.«

»Es bedeutet deinen irdischen Leib, der aufgeschlitzt und gemordet und dann verehrt werden soll – was sonst?«

Sie verfielen in Schweigen. Seine Seele begann sich zu ärgern und abzusondern.

»Und dann finde ich, dies Lamm da in der Kirche,« sagte sie, »das ist doch gradezu der tollste Unsinn im ganzen Kirchspiel – –«

Sie platzte in ein spöttisches Gelächter aus.

»Mag wohl sein, für die, die nichts drin sehen«, meinte er. »Weißt du, das ist doch das Sinnbild für Christus, für seine Unschuld und seinen Opfertod.«

»Was es bedeutet, ist mir ganz einerlei, es ist eben ein Lamm«, sagte sie. »Und ich habe Lämmer zu gern, als daß ich sie behandelt sehen möchte, als bedeuteten sie etwas. Und diese Weihnachtsbaumfahne – nein –«

Und wieder prustete sie spöttisch los.

»Das ist nur, weil du das nicht verstehst«, sagte er heftig, rauh. »Lach doch, wenn du was davon verstehst, aber nicht über Sachen, die du nicht verstehst.«

»Was verstehe ich denn nicht?«

»Was diese Dinge bedeuten sollen.«

»Und was bedeuten sie denn?«

Es widerstrebte ihm, ihr zu antworten. Er fand es auch schwer.

»Was bedeuten sie denn?« wiederholte sie nachdrücklich.

»Sie bedeuten den Sieg der Auferstehung.«

Überrascht zauderte sie, Furcht überkam sie. Was war mit diesen Dingen los? Etwas Dunkles und Mächtiges schien sich vor ihr zu erstrecken. War es nicht schließlich doch wundervoll?

Aber nein – sie lehnte es ab.

»Und es mag schließlich alle möglichen Bedeutungen vorschützen, es ist am Ende doch nur ein albernes Spielzeug-Lämmchen mit einer Weihnachtsbaumfahne an die Pfote geleimt – und wenn es irgend etwas anderes bedeuten soll, dann muß es erst anders aussehen.«

Er fühlte sich heftig gegen sie erregt. Teils schämte er sich auch seiner Vorliebe für diese Dinge; er verbarg seine Leidenschaft für sie. Er schämte sich der Verzückung, in die ihn diese Sinnbilder versetzen konnten. Und für ein paar Augenblicke haßte er das Lamm und die geheimnisvollen Abendmahlsbilder, mit einem heftigen, aschigen Hasse. Sein Feuer war verlöscht, sie hatte kaltes Wasser drüber gegossen. Das ganze Ding hatte nun für ihn seinen Geschmack verloren, sein Mund war voll Asche. Verärgert ging er nach draußen, kalt wie ein Leichnam, und ließ sie allein. Er haßte sie. Er schritt durch den weißen Schnee, unter dem bleiernen Himmel.

Und wieder weinte sie, wieder kam die Bitterkeit des vergangenen Kummers über sie. Aber ihr Herz war leicht – o, viel leichter.

Sie hatte die beste Absicht, sich mit ihm zu vertragen, als er heimkam. Er war schwarz und mürrisch, aber niedergeschlagen. Sie hatte etwas in ihm zerbrochen. Am Ende war er auch ganz froh darüber, all diese Sinnbilder aus seiner Seele verbannen zu können, wenn sie ihn nur wieder liebhaben wollte. Er hatte es so gern, wenn sie ihren Kopf auf seine Knie legte, ohne daß er sie erst darum bat, er hatte es gern, wenn sie die Arme um ihn schlang und ihm ihre Liebe zeigte, ohne daß er sich verliebt anstellte. Und wieder fühlte er, wie stark das Blut in seinen Gliedern war.

Und sie liebte den gespannten, weit in die Ferne sehenden Blick in seinen Augen, wenn sie auf ihr ruhten: gespannt, und doch weit fort, nicht in der Nähe, nicht auf ihr. Und sie wünschte sie nahe heranzubringen. Sie wünschte seine Augen auf sich zu lenken, daß sie sie erkennten. Und das wollten sie nicht. Sie blieben gespannt, in die Ferne sehend, und stolz wie die eines Habichts, unbefangen und unmenschlich wie die eines Habichts. Sie liebte ihn und liebkoste ihn und zog ihn ja auch auf als ihren Habicht, bis er scharf und drohend wurde, aber ohne Zärtlichkeit. Stolz und hart kam er zu ihr, wie ein Habicht, der sie geschlagen und mitgenommen hatte. Es war nichts Geheimnisvolles mehr an ihm, sie war sein einziges Ziel, sein Gegenstand, seine Beute. Und sie wurde mitgeschleppt, und er war befriedigt, oder wenigstens gesättigt.

Dann aber begann sie sofort Vergeltung an ihm zu üben. Sie konnte auch ein Habicht sein. Wenn sie zuerst den armen Kiebitz spielte, der ihm in die Fänge lief, das gehörte zum Spiel. Wenn er befriedigt mit einer stolzen, hochmütigen Bewegung seines Körpers und einem halbverächtlichen Senken des Kopfes umherging, sie gar nicht mehr beachtend, ihre Gegenwart geradezu verleugnend, nachdem er sich an ihr gesättigt und sich seine Befriedigung an ihr geholt hatte, dann schwoll ihre Seele empor, ihre Schwingen wurden zu Stahl und sie schlug nach ihm. Wenn er stolz auf seinem Aste saß und scharf in seiner stolzen Einsamkeit umherblickte, stolz vor Erhabenheit und Wildheit, dann fuhr sie auf ihn los und warf ihn wütend aus seiner Stellung, sie vertrieb ihn aus seiner steifen Würde als Mann, sie drängte ihn aus seinem unerschütterlichen Stolz heraus, bis er ganz verrückt vor Wut war, bis seine hellbraunen Augen vor Wut brannten; nun sahen sie sie, wie Flammen des Zornes blitzten sie ihr entgegen und erkannten in ihr den Feind.

Schön, dann war sie also sein Feind, sehr schön! Während er um sie herumschlich, beobachtete sie ihn. Sowie er nach ihr schlug, schlug sie wieder.

Er war ärgerlich auf sie, weil sie seine Werkzeuge unordentlich weggelegt hatte, so daß sie rostig geworden waren.

»Denn laß sie mir doch nicht vor den Füßen herumliegen«, sagte sie.

»Ich lasse sie, wo ich will«, rief er.

»Dann schmeiße ich sie hin, wo ich will.«

Sie glühten einander an, er mit Wut in den Händen, sie mit einer Seele stolz vor Siegesgefühl. Sie waren ziemlich gleich stark. Sie mußten es ausfechten.

Sie fuhr mit ihrer Näherei fort. Sobald das Teegeschirr abgenommen war, holte sie ihr Zeug, und dann schwoll seine Seele vor Wut. Er haßte über alles den kreischenden Laut zerreißender Leinwand, wenn sie das Zeug so rasch zerriß, als mache ihr das Spaß. Und das Schnurren der Nähmaschine brachte seine Wut vollends zum Überlaufen.

»Hörst du mit deinem Lärm nicht bald mal auf?« schrie er. »Kannst du das nicht tagsüber machen?«

Scharf, feindselig blickte sie von ihrer Arbeit auf.

»Nein, tagsüber kann ich das nicht machen, dann habe ich was anderes zu tun. Außerdem mag ich gern nähen, und du wirst mich nicht davon abhalten.«

Worauf sie sich ihrer Arbeit wieder zuwandte, einrichtend, feststeckend, drauflos stichelnd, so daß seine Nerven vor Ärger zu hüpfen begannen, während die Nähmaschine wieder anfing zu rattern und zu surren.

Sie fand indessen ein Vergnügen darin, sie fühlte sich als Siegerin und glücklich, wenn die Nadel sausend einen Saum hinunterfuhr, und der Stoff lebhaft, unwiderstehlich unter ihren Stichen dahinzog. Sie ließ die Maschine summen. Dann hielt sie wie befehlend an, ihre Finger waren rasche, geschickte Herrinnen.

Saß er dann steif vor ohnmächtiger Wut hinter ihr, so ließ das nur eine zitternde Lebhaftigkeit in ihre Tatkraft fahren. Sie arbeitete weiter. Endlich ging er dann wütend zu Bett und lag steif, von ihr abgewendet da. Und sie drehte ihm auch den Rücken zu. Und am Morgen wechselten sie dann kein Wort, außer den reinsten Höflichkeits-Redensarten.

Und wenn er dann abends nach Hause kam und sein Herz wieder weich wurde und heiß vor Liebe zu ihr, und er grade anfing sein Unrecht zu empfinden und erwartete, sie möchte ebenso fühlen, dann saß sie da an der Nähmaschine, das ganze Haus war voll zugeschnittener Leinwand, und der Kessel stand noch nicht mal auf dem Feuer.

Sie fuhr empor und tat so, als tue ihr das leid.

»Ists denn schon so spät?« rief sie.

Aber da war sein Gesicht schon steif vor Wut. Er ging ins Wohnzimmer hinüber, kam dann wieder zurück und verließ das Haus. Ihr Herz sank. Ganz schnell fing sie an, ihm Tee zu machen.

Mit schwarzem Herzen schritt er den Weg nach Ilkeston hinunter. Wenn er sich in diesem Zustand befand, dachte er nie nach. Ein dicker Bolzen verriegelte die Türen seines Geistes und schloß ihn als einen Gefangenen ein. Er ging wieder nach Ilkeston und trank ein Glas Bier. Was sollte er nun anfangen? Er mochte keinen Menschen sehen.

Er könnte ja mal nach Nottingham, in seine Heimatstadt fahren. Er ging zum Bahnhof und stieg ein. Als er in Nottingham ankam, wußte er nicht, wohin. Jedoch war es schon eine sehr große Annehmlichkeit, durch altbekannte Straßen zu wandern. In wahnsinniger Ruhelosigkeit durchschritt er sie, als wolle er Amok laufen. Dann wandte er sich einer Buchhandlung zu und fand ein Buch über den Dom zu Bamberg. Das war eine Entdeckung! das war etwas für ihn! Er ging in ein ruhiges Wirtshaus, um sich seinen Schatz anzusehen. Freudenschauer überliefen ihn, als er Bild auf Bild umwandte. Endlich hatte er etwas gefunden, in diesen Holzschnitzereien hier. Seine Seele empfand große Befriedigung. War er nicht auf die Suche gegangen, und hatte er dies hier nicht gefunden! Er war glückselig vor leidenschaftlichem Erfülltsein. Dies waren die feinsten Schnitzereien und Bildsäulen, die er je gesehen hatte. Das Buch, das ihm hier in der Hand lag, war wie ein Torweg. Die Umwelt um ihn war nur eine Umzäunung, ein Raum. Aber er wanderte weiter. Bei den entzückenden weiblichen Bildsäulen machte er halt. Ein wunderbares, fein durchgearbeitetes Weltall baute sich um ihn her auf, als er wieder und wieder auf die Kronen, das wellige Haar, die Gesichter der Frauen sah. Daß der deutsche Text ihm unverständlich war, gefiel ihm nur um so besser. Er zog stets solche Sachen vor, die er mit dem Verstande nicht erfassen konnte. Er liebte das Unentdeckte und Unerforschliche. Angespannt hing er über den Abbildungen. Und dies waren Holzbilder, »Holz –« das Wort begriff er wohl, Holzbilder, die so ganz seiner Seele entsprachen! Millionenfach fühlte er sich beglückt. Wie unerforscht doch die Welt noch war, wie sie sich seiner Seele enthüllte. Was für ein feines, empfindsames Ding doch sein Leben wurde, unter seiner eigenen Hand! Gab hier der Dom zu Bamberg ihm nicht die ganze Welt zu eigen? Er feierte den Sieg seiner Kraft, seines Lebens, seiner Wirklichkeit, und schloß die ungeheuren Reichtümer, die er hier zu erben hatte, an seine Brust.

Aber es wurde allmählich Zeit nach Hause zu gehen. Er sah sich wohl besser nach einem Zuge um. Die ganze Zeit über fühlte er beständig eine Wunde auf dem Grunde seiner Seele, aber die Beständigkeit des Gefühls ließ ihn die Wunde vergessen. Er erreichte gerade noch einen Zug nach Ilkeston.

Es war zehn Uhr, als er mit seinem Buche über den Dom zu Bamberg den Hügel von Cossethay hinaufstieg. Er hatte an Anna noch gar nicht mit Bewußtsein gedacht. Der dunkle Finger, der auf seine Wunde drückte, hatte ihn auch, ohne daß er an ihn dachte, unter seiner Herrschaft.

Anna war schuldbewußt aufgesprungen, als er das Haus verließ. Sie hatte schleunigst Tee zurechtgemacht, in der Hoffnung, er würde zurückkommen. Sie hatte etwas Brot geröstet und alles fertig gemacht. Dann aber kam er nicht. Sie weinte vor Ärger und Enttäuschung. Warum war er fortgegangen? Warum konnte er denn nicht wenigstens jetzt zurückkommen? Warum herrschte stets Streit zwischen ihnen? Sie liebte ihn – sie liebte ihn wirklich – warum konnte er denn nicht freundlicher, gütiger gegen sie sein?

Voll Kummer wartete sie, dann wurde ihre Stimmung härter. Er entglitt ihren Gedanken. Ärgerlich dachte sie darüber nach, mit welchem Recht er sich in ihre Näherei mengte? Unwillig hatte sie seinen Anspruch zurückgewiesen, sich überhaupt um sie zu kümmern. Sie wollte sich nicht bevormunden lassen. War sie denn nicht sie selbst und er nur der Außenstehende?

Und doch durchlief sie ein Angstschauer. Wenn er sie nun verließe? Sie saß da und dachte sich in ihre Befürchtungen und Leiden hinein, bis sie vor lauter Mitleid mit sich selbst weinte. Sie wußte nicht, was sie anfangen sollte, wenn er sie verließe oder sich gegen sie wendete. Der bloße Gedanke daran erkältete sie, machte sie trostlos und hart. Und gegen ihn, den Fremden, den Außenseiter, dies Wesen, das sich eine Oberherrschaft über sie anmaßen wollte, befestigte sie ihr Inneres. War sie denn nicht sie selbst? Wie konnte jemand, der nicht derselben Art war wie sie, sich Oberherrschaft über sie anmaßen? Sie wußte, sie war nicht zu ändern, sie hatte keine Angst um ihr eigenes Ich. Sie hatte nur Angst vor allem, was nicht wie sie war. Die fremde Art umdrängte sie, sie kam ihr näher und immer näher und nahm ihr Teile ihres eigenen Ich in Form ihres Mannes, diese weite, widerhallende, fremde Welt, die nicht sie selbst war. Und er besaß so vielerlei Waffen, er konnte von so vielen Seiten her auf sie einschlagen.

Als er in die Tür trat, flammte sein Herz in Mitleid und Zärtlichkeit empor, so verloren und verlassen und jung sah sie aus. Sie blickte voller Furcht auf. Und sie war überrascht, ihn strahlenden Antlitzes, mit klaren, schönen Bewegungen eintreten zu sehen, als wäre er verklärt. Und schmerzlicher Schreck und Scham durchfuhren sie.

Jeder erwartete vom andern das erste Wort.

»Möchtest du etwas zu essen haben?« sagte sie.

»Ich werde es mir schon selbst holen«, sagte er, denn er wollte nicht, daß sie ihn bediente. Aber sie brachte schon allerlei. Und es tat ihm wohl, daß sie das tat. Er war wieder der strahlende Herr.

»Ich bin in Nottingham gewesen«, sagte er milde.

»Bei deiner Mutter?« fragte sie mit aufblitzender Verachtung.

»Nein – zu Hause bin ich nicht gewesen.«

»Wen hast du denn besucht?«

»Niemand habe ich besucht.«

»Warum bist du denn nach Nottingham gefahren?«

»Weil es mir Spaß machte.«

Er fing an, sich über ihr fortwährendes Zurückstoßen zu ärgern, nun er doch wieder so klar und strahlend war.

»Und wen hast du getroffen?«

»Niemand.«

»Niemand?«

»Nein – wen hätte ich denn wohl treffen sollen?«

»Du hast keinen Bekannten getroffen?«

»Nein, keinen«, erwiderte er gereizt.

Sie glaubte ihm, und ihre Stimmung kühlte sich ab.

»Ich habe ein Buch gekauft«, sagte er und reichte ihr das Sühnebuch hin.

Sie sah nachlässig die Abbildungen durch. Wundervoll, diese reinen Frauengestalten mit den schlicht herabfallenden Gewändern. Ihr Herz wurde immer kälter. Was konnten die ihm denn bedeuten?

Er saß und wartete. Sie beugte sich über das Buch.

»Sind die nicht fein?« sagte er mit erhobener, fröhlicher Stimme.

Ihr Blut wallte auf, aber sie hob den Kopf doch nicht.

»Ja«, sagte sie. Gegen ihren Willen fand sie sich von ihm fortgerissen. Er war so seltsam, so anziehend, wenn er seine Macht über sie ausübte.

Er ging zu ihr hinüber und berührte sie ganz zart. In wilder, wahnsinniger Leidenschaft schlug ihr Herz empor. Aber noch leistete sie Widerstand. Immer war es das Unbekannte, das Unbekannte, und wild klammerte sie sich an ihr bekanntes Ich. Aber die emporsteigende Flut riß sie mit sich fort.

Bis zum höchsten Entzücken, leidenschaftlich und erschöpfend liebten sie sich aufs neue.

»Ist es nicht schöner als je?« fragte sie ihn strahlend wie eine eben erschlossene Blume, mit Tränen als Tautropfen.

Er zog sie dichter an sich. Er war seltsam und abwesend.

»Es wird immer schöner«, bekräftigte sie nochmals, mit einer fröhlich-kindlichen Stimme, indem sie an ihre Furcht dachte, von der sie sich noch nicht ganz frei fühlte.

So ging das immer weiter, die Wiederholung von Liebe und Kampf zwischen ihnen. Einen Tag schien es, als wäre alles zertrümmert, das ganze Leben dahin, verwüstet, trostlos und verödet. Am nächsten Tage war es wieder wundervoll, einfach wundervoll. Den einen Tag dachte sie, sie würde durch seine bloße Gegenwart noch wahnsinnig, das Geräusch, das er beim Trinken machte, war ihr abscheulich. Am nächsten Tage freute sie sich schon über die Art, wie er über den Vorplatz ging, er war ihr Sonne, Mond und Sterne zugleich.

Schließlich begann sie sich aber über den Mangel an Beständigkeit zu grämen. Bei jeder Wiederkehr der Stunden der Vollkommenheit vergaß ihr Herz nicht, daß sie vorübergehen würden. Sie fühlte sich beunruhigt. Die Gewißheit, die Gewißheit, das Vertrauen auf die Beständigkeit ihrer Liebe: das wars, was sie ersehnte. Und das wurde ihr nicht zuteil. Sie wußte auch, daß er sie ebenfalls nicht besäße.

Trotz alledem war die Welt wundervoll, und sie verlor sich meistens ganz in ihren Wundern. Selbst ihre großen Schmerzen waren ihr wundervoll.

Sie konnte sehr glücklich sein. Und sie wollte auch glücklich sein. Sie empfand es sehr bitter, wenn er sie unglücklich machte. Dann hätte sie ihn morden können, ihn von sich schleudern mögen. Manchen Tag wartete sie nur auf den Augenblick, wo er zur Arbeit ging. Dann ließ sie die so lange zurückgestaute Flut ihres Lebens los und fühlte sich frei. Sie war frei, sie war froh. Alles entzückte sie. Sie nahm den Teppich auf und ging damit in den Garten, um ihn auszuschütteln. Einzelne Flecken von Schnee lagen noch auf den Feldern, die Luft war so leicht. Sie hörte die Enten auf dem Teiche, sah sie aufsteigen und über das Wasser dahinsegeln, als ginge es fort zum Einbruch in eine neue Welt. Sie beobachtete, wie die zottigen Pferde, von denen eins am Bauche ganz glatt geschoren war und eine Jacke und ein Paar langer Strümpfe von braunem Pelz trug, in dem Wintermorgen an der Kirchhofsmauer standen und sich küßten. Alles entzückte sie, nun er fort war und mit ihm das Trennende, das Hinderliche aus dem Wege geschafft war, die ganze Welt nur ihr gehörte, mit ihr allein in Verbindung stand.

Sie war voll fröhlicher Tätigkeit. Nichts machte ihr mehr Vergnügen als Wäsche aufzuhängen, wenn der Wind so mit vollen Backen über den Hügel herblies, die nassen Zeugstücke ihr aus den Händen riß und die wehenden Sachen flap-flap-flappen ließ. Sie lachte dann und kämpfte gegen ihn an und wurde schließlich ärgerlich. Aber sie liebte die Tage ihrer Einsamkeit.

Dann aber kam er abends heim, und sie runzelte die Brauen wegen der endlosen Streitigkeiten zwischen ihnen. Sobald er in der Türe stand, ging mit ihrem Herzen eine Veränderung vor. Es stählte sich. Das Lachen, der Eifer des Tages verschwand. Sie wurde steif.

Sie fochten einen unbekannten Kampf aus, ohne es zu wissen. Trotzdem liebten sie sich, ihre Leidenschaft hielt an. Aber auch die Leidenschaft wurde allmählich durch den Kampf aufgezehrt. Und der tiefe, wilde, namenlose Kampf ging weiter. Alles glühte in Spannung um sie her, die Welt hatte sich entkleidet und stand schrecklich, in neuer, ursprünglicher Nacktheit da.

Sonntag kam heran, und dann wurde ein merkwürdiger Zauber durch ihn über sie geworfen. Halb liebte sie das. Sie wurde ihm dann ähnlicher. An allen Wochentagen glitzerten Himmel und Felder, und die kleine Kirche schien den umliegenden Häuschen den ganzen Morgen lang etwas vorzubabbeln. Aber Sonntags, wenn er zu Hause blieb, dann schien eine dunkelfarbige, satte Dämmerung sich auf dem Angesichte der Erde zu sammeln, die Kirche schien sich mit Schatten zu füllen, weit, ein Weltall für sie zu werden, ein brennendes Blau und Rubinrot, der Widerhall des Gottesdienstes erfüllte sie. Und wenn die Türen dann geöffnet wurden und sie wieder in die Welt hinaustrat, dann war es eine neugeschaffene Welt, sie trat in die wieder auferstandene hinaus, das Herz klopfend im Gedanken an die Dunkelheit und den Leidensweg des Herrn.

Wenn sie, wie das sehr häufig der Fall war, nachmittags zum Tee nach der Marsch hinuntergingen, so gewann sie eine andere, leichtere Welt wieder, die nie etwas von dem Dämmer und dem gemalten Glas und der Verzückung der Psalmen gekannt hatte. Ihr Gatte war beiseitegesetzt, sie war wieder bei ihrem Vater, der so frisch und frei und ganz und gar Tageslicht war. Ihr Gatte in seiner Spannung und seiner Dämmerung war ganz abgetan. Da ließ sie ihn, sie vergaß ihn, sie griff nach ihrem Vater.

Und doch, wenn sie dann mit dem jungen Manne wieder nach Hause ging, dann legte sie verstohlen ihre Hand auf seinen Arm, ein klein wenig beschämt; ihre Hand bat ihn, er möge sie das nicht entgelten lassen, ihre Loslösung. Aber er war ganz weltvergessen. Er schien blind geworden, gar nicht bei ihr zu sein.

Dann bekam sie Angst. Sie wollte ihn haben. Wenn er sie so vergaß, dann wurde sie fast verrückt vor Angst. Denn sie war so leicht verwundbar, so angreifbar geworden. Sie kam so leicht mit den Dingen in Fühlung. Sie alle waren ihr so vertraut geworden, sie hatte sie in der Nähe als so liebreizend erkannt, wie Geisterchen, die sie umspielten. Wenn sie nun alle hart würden und sich von ihr absonderten, was dann? wenn sie sich alle von ihr fern hielten, schrecklich und deutlich, und sie, die sie erkannt hatte, ihrer Gnade überliefert würde?

Das ängstigte sie. Ihr Gatte blieb für sie stets das Unbekannte, dem sie sich zu überliefern hatte. Sie war eine Blume, die es aufzublühen verlockt hatte und die nun keine Zuflucht besaß. Er hatte ihre Blöße ganz in seiner Gewalt. Und wer war er, was war er? Ein blindes Etwas, eine dunkle Macht, ohne Bewußtsein. Sie wünschte sich selbst zu erhalten.

Dann riß sie ihn wieder an sich und war für einen Augenblick zufrieden. Aber je längere Zeit verstrich, desto deutlicher sah sie, es würde sich nicht ändern, er würde ihr dunkel und fremd bleiben. Sie hatte ihn nur für den hellen Widerschein ihres eigenen Ich gehalten. Als aber Wochen und Monate vergingen, da wurde es ihr klar, daß er ihr dunkles Gegenteil sei, daß sie Gegensätze wären, nicht sich ergänzten.

Er änderte sich nicht, er verharrte in seiner Absonderung und schien anzunehmen, sie solle ein Teil seines Ich werden, ein Ausläufer seines Willens. Sie fühlte, wie er versuchte, Einfluß auf sie zu gewinnen, ohne daß sie es begriff. Was wollte er denn? Wollte er sie quälen?

Was wollte denn aber sie selbst? Sie gab sich zur Antwort, sie wollte glücklich sein, unverfälscht, wie das Sonnenlicht und der geschäftige Tag. Und auf dem Grund ihrer Seele merkte sie, er wolle sie dunkel, unnatürlich. Zuweilen, wenn er sie wie die Dunkelheit zu überfallen und zu ersticken schien, dann leistete sie ihm fast mit Abscheu Widerstand und schlug nach ihm. Sie schlug nach ihm und machte sein Blut fließen, und er wurde schlecht. Weil sie sich vor ihm fürchtete und ihn verabscheute, wurde er schlecht, zerstörungswütig. Und dann wurde der Kampf zwischen ihnen grausam.

Sie begann zu zittern. Er wollte sich ihr gewaltsam aufdrängen. Und sie fing an zu schaudern. Sie wollte ihn verlassen, wollte ihn der Öde als Beute vorwerfen und die unreinen Hunde der Dunkelheit auf ihn hetzen, damit sie ihn verschlängen. Er mußte sie schlagen, um sie bei sich zu behalten. Sie dagegen kämpfte, um sich frei von ihm zu halten.

Überschattet und mit Blut besudelt gingen sie nun ihrer Wege, sie fühlten die Welt so fern, unfähig ihnen Hilfe zu bringen. Bis sie es schließlich müde wurde. Von einem gewissen Punkt an wurde sie gleichgültig, schied sich völlig von ihm. Er war stets zu mörderischen Ausfällen gegen sie bereit. Ihre Seele erhob sich und ließ ihn, sie ging ihres Weges. Und dabei zitterte sie in ihrer anscheinenden Glückseligkeit, die seine Seele schwarz vor Widerspruchsgeist machte, als verblute sie sich.

Und immer wieder aufs neue fiel die reine Liebe wie ein Sonnenstrahl zwischen sie, wenn sie ihm wie eine Blume im Sonnenschein vorkam, so schön, so glänzend, so unsagbar lieb, daß er es kaum ertragen konnte. Dann stand seine Seele, als hätte sie sechs Schwingen der Seligkeit, in Lobpreisung versunken, er fühlte, wie die Strahlen des Allmächtigen ihn wie sein eigenes Lebensblut durchfluteten, als stände er da, eine aufrechte Flamme des Preises, den Pulsschlag der Schöpfung verkündend.

Und immer und immer wieder kam er ihr wie die verzehrende Flamme der Gewalt vor. Zuweilen, wenn er in der Tür stand und sein Gesicht leuchtete, schien er ihr wie der Engel der Verkündigung, und ihr Herz klopfte schneller. Und hingerissen beobachtete sie ihn. Er hatte ein dunkles, brennendes Wesen, vor dem sie sich fürchtete, dem sie widerstrebte. Sie war unterwürfig gegen ihn, als wäre er der Engel des Herrn. Sie wartete ihm auf und nahm seinen Willen entgegen, und sie zitterte in seinen Diensten.

Dann ging auch das vorüber. Er liebte sie wegen ihrer Kindlichkeit und weil sie ihm so fremd war, wegen des Wunders ihrer Seele, die der seinen so fremd war, und die ihn wieder ehrlich machte, wenn er falsch werden wollte. Und sie liebte ihn, weil er so leicht in seinem Stuhle saß, oder wegen der Art, wie er mit so eifriger, offener Miene zur Tür hereintrat. Sie liebte seine hallende, eifrige Stimme und den Einschlag des Unbekannten in ihm, seine völlige Schlichtheit.

Und doch war keiner von ihnen ganz zufrieden. Er fühlte irgendwie, daß sie keine Achtung vor ihm habe. Sie achtete ihn nur insoweit, als er zu ihr in Beziehung trat. Was er außerhalb ihrer selbst war, das war ihr gleichgültig. Es war ihr auch ganz gleichgültig, was er an sich bedeutete. Allerdings wußte er selbst nicht, was er bedeute. Aber das mochte nun sein wie es wollte, jedenfalls achtete sie es nicht aufrichtig. Sie besaß keine Anerkennung für seine Tätigkeit als Spitzenzeichner, oder für ihn als Brotverdiener. Daß er alle Tage in sein Geschäft ging und arbeitete – das berechtigte ihn zu keiner besonderen Achtung oder Verehrung ihrerseits, das wußte er wohl. Sie verachtete ihn eher deswegen. Und er liebte sie beinahe eben deswegen, obwohl es ihn zuerst fast verrückt gemacht hatte, wie eine Beleidigung.

Etwas viel Tiefergehendes war es, daß sie bald anfing, seine tiefsten Gefühle zu bekämpfen. Was er über das Leben oder die Gesellschaft oder die Menschheit dachte, das kümmerte sie nicht so sehr: vielleicht war er da so im Rechte, daß es für sie bedeutungslos wurde. Das ärgerte ihn nun wieder. Sie gab ihre Ansichten hierüber ganz ohne Rücksicht auf ihn ab. Aber schließlich nahm er ihre Ansichten an, er entdeckte sie, als wären sie seine eigenen. Hier lag auch nicht seine schwerste Sorge. Die tiefste Wurzel seiner Feindseligkeit lag in der Tatsache verborgen, daß sie sich über seine Seele lustig machte. Er hatte etwas Unausgesprochenes, Unfertiges in seinen Gedankengängen. Aber an einzelnen Gegenständen klammerte er sich voller Leidenschaft fest. Er liebte die Kirche. Sobald sie versuchte aus ihm herauszukriegen, was er denn eigentlich glaubte, dann waren sie bald in Weißglut vor Wut.

Glaubte er denn wirklich, das Wasser wäre zu Kana in Wein verwandelt? Sie trieb ihn dazu, den Vorgang als geschichtliche Tatsache anzusehen: hier das Regenwasser – sieh her – kann das zu Traubensaft werden, zu Wein? Einen Augenblick sah er es mit den klaren Augen des Verstandes an und sagte: nein; der klare Verstand, der einen Augenblick ihre Frage beantwortete, wies den Gedanken von sich. Aber sofort schrie seine Seele auf in wahnsinnigem, aufsteigendem Hasse gegen diese Vergewaltigung seines Ich. Es war für ihn reine Wahrheit. Sein Verstand war sogleich wieder ausgelöscht, sein Blut wallte. In seinem Fleisch und Blut wollte er diesen Vorgang behalten, die Hochzeit, das Wasser, das als Wein aus dem Fäßchen floß: und wie Christus zu seiner Mutter sagte: »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? – meine Stunde ist noch nicht gekommen.«

Und dann:

»Seine Mutter aber sprach zu den Dienern: ›Was er euch auch sage, das tuet.‹«

Brangwen liebte das, liebte es in Fleisch und Blut, er konnte es nicht fahren lassen. Und doch zwang sie ihn, es fahren zu lassen. Sie haßte seine blinde Anhänglichkeit.

Wasser, gewöhnliches Wasser, konnte das denn wohl plötzlich auf besondere Weise in Wein verwandelt werden, aus seinem ganz bestimmten Wesen heraus aufs Geratewohl zu etwas anderem werden? Ach nein, er wußte recht gut, da war er im Unrecht.

Wieder wurde sie das zitternde Kind, das feindselige, haßerfüllte, das alles zerstören wollte. Er wurde stumm und tot. Sein eigenes Wesen strafte ihn Lügen. Er wußte doch, es war so: Wein war Wein, und Wasser war Wasser, für ewig: das Wasser war nicht zu Wein geworden. Das Wunder war keine wirkliche Tatsache. Sie schien ihn vernichten zu wollen. Dunkel und vernichtet, mit blutender Seele ging er aus. Und er bekam einen Vorgeschmack des Todes. Weil sein Leben nun einmal auf diesen für ihn fraglosen Vorstellungen aufgebaut war.

Sie ging wieder so trostlos umher wie als Kind und schluchzte und seufzte. Es war ihr ja ganz einerlei, es war völlig einerlei, ob das Wasser sich in Wein verwandelt hatte oder nicht. Laß ihn das doch glauben, wenn er es wollte. Aber sie wußte, sie hätte gewonnen. Und eine aschgraue Trostlosigkeit kam über sie.

In aschgrauem Elend lebten sie eine Zeitlang dahin. Dann begann das Leben zurückzukommen. Wenn er sonst nichts weiter war, verbissen war er. Er dachte wieder an das Kapitel aus Sankt Johannes. Das war ein großer, stechender Schmerz für ihn. »Du hast den guten Wein bis jetzt zurückbehalten.« »Den besten Wein.« In Sehnsucht, in Siegesgefühl antwortete das Herz des jungen Mannes hierauf, obgleich das Bewußtsein, daß es nicht so wäre, ihn wie ein Wiesel ins Herz biß. Was war stärker, der Schmerz der Verneinung oder der Wunsch der Bejahung? Er war hartnäckiger Gemütsart und hielt an seinem Wunsche fest. Aber er wollte doch nicht länger behaupten, die Wunder seien wahr.

Na schön denn, dann war es eben nicht wahr, das Wasser war nicht zu Wein verwandelt. Das Wasser hatte sich nicht in Wein verwandelt. Aber trotzdem, in seiner Seele wollte er so weiterleben, als habe sich das Wasser in Wein verwandelt. Tatsächlich hatte es das nicht getan. Für seine Seele aber doch.

»Ob es sich in Wein verwandelte oder nicht,« sagte er, »ist mir ganz gleichgültig. Ich nehme es als das, was es ist.«

»Und was ist es denn?« fragte sie rasch, hoffnungsvoll.

»Es ist die Bibel«, sagte er.

Diese Antwort machte sie wütend, und sie verachtete ihn. Sie zog die Bibel an sich nicht in Frage. Aber er zwang sie, ihn zu verachten.

Und doch lag ihm gar nichts an der Bibel, dem geschriebenen Buchstaben. Obwohl er sie nicht zufriedenstellen konnte, wußte sie doch, daß er etwas Wirkliches besäße. Er war kein Buchstabengläubiger. Er glaubte gar nicht wirklich, daß das Wasser in Wein verwandelt worden sei. Er wollte das ja auch gar nicht zu einer Tatsache machen. Seine Haltung der Bibel gegenüber war tatsächlich vollkommen vorbehaltlos. Sie war ganz persönlich. Er entnahm dem geschriebenen Wort, was für ihn von Wert war, und legte es seinem Gemüte zu. Seinen Verstand ließ er schlafen.

Und sie fühlte sich gegen ihn erbittert, gerade weil er seinen Verstand schlafen ließ. Das was an ihm menschlich war, der ganzen Menschheit gehörte, das wollte er nicht ausnutzen. Er dachte nur an sich selbst. Er war gar kein Christ. Christus hatte allem andern doch die Brüderlichkeit der Menschen vorangestellt.

Sie klammerte sich, fast gegen ihren Willen, an die Verehrung des menschlichen Wissens. Der Mensch mußte einen körperlichen Tod sterben, aber in seinem Wissen war er unsterblich. So etwa war ihr Glauben, ganz dunkel und ungeformt. Sie glaubte an die Allmacht des Menschenverstandes.

Er auf der andern Seite wollte, blind wie ein unterirdisches Wesen, vom Menschenverstand nichts wissen und lief nur seinen eigenen dunkel beseelten Wünschen nach, er folgte dem Weg, den seine Nase ihm grub. Sie dachte manchmal, sie müsse ersticken. Und dann schlug sie ihn ab.

Dann kämpfte er in der Erkenntnis seiner Blindheit wütend dagegen an, toll vor sinnlicher Furcht. Er benahm sich ganz närrisch. Er nahm alle Rechte für sich in Anspruch, sogar seine frühere Stellung als Herr des Hauses.

»Dein Recht ist, zu tun, was ich will«, schrie er.

»Narr!« antwortete sie. »Narr!«

»Ich will dir schon beibringen, wer hier Herr im Hause ist«, schrie er.

»Narr!« antwortete sie; »Narr, ich kenne doch auch meinen Vater, der könnte sich ein Dutzend solche Kerls wie dich in die Pfeife stecken und sie mit der Fingerspitze reinstopfen. Meinst du, ich wüßte nicht, was für ein Narr du bist!«

Er wußte selbst recht gut, was für ein Narr er war, und diese Erkenntnis wirkte auf ihn wie Geißelhiebe. Und doch machte er weitere Versuche, das Schiff ihres Doppellebens zu lenken. Er nahm für sich die Stellung des Führers in Anspruch. Und Führer und Schiff waren ihr so furchtbar langweilig. Er wollte sich als Führer eines der unzählbaren Fahrzeuge, die die Flotte der heutigen Gesellschaft ausmachen, einen Anstrich von Wichtigkeit geben. Ihr erschien diese Flotte als ein lächerlicher Haufen Waschtubben, die sich um nichts und wieder nichts in die Rippen fuhren. Sie fühlte keinen Glauben daran in sich. Sie verspottete ihn als Herrn des Hauses, als Führer ihres Doppellebens. Und dann wurde er schwarz vor Wut und Scham. Voller Scham dachte er daran, wie ihr Vater sich als Mann hatte zeigen können, ohne irgendwelche hohe Stellung in Anspruch zu nehmen.

Er war in ein falsches Fahrwasser geraten und fand es nun schwierig, die ganze Fahrt aufzugeben. Das führte zu einem großen Aufstand und viel Scham. Dann gab er nach. Er gab den »Herr des Hauses«-Gedanken auf.

Und doch gab es etwas, was er gern gesehen hätte: eine Art von Herrschaft. Immer aufs neue versuchte er, nach seinen Rückfällen ins Kleinliche und Schämenswürdige in seiner Hartnäckigkeit und seinem Kraftgefühl doch noch mal seinen Männerstolz darein zu setzen, die verborgenen Leidenschaften seiner Seele zu befriedigen.

Anfangs ging es immer ganz gut, aber es endete stets in Kampf zwischen ihnen, bis sie beide ungefähr an den Rand des Wahnsinns gebracht waren. Er behauptete, sie achte ihn nicht. Sie lachte hierüber voller Verachtung. Für sie genügte es, daß sie ihn liebte.

»Was soll ich denn an dir achten?«

Aber er gab ihr auch jedesmal eine verkehrte Antwort. Und wenn sie ihr Gehirn noch so marterte, sie konnte nicht darauf kommen.

»Weshalb gehst du nicht wieder an deine Holzschnitzerei?« sagte sie. »Warum machst du nicht deinen Adam und Eva fertig?«

Aber sie machte sich gar nichts aus seinem Adam und Eva, und er tat keinen Schnitt mehr daran. Sie spottete über die Eva und sagte: »Sie sieht aus wie 'ne kleine Gliederpuppe. Warum ist sie denn so klein? Adam hast du so groß gemacht wie Gott, und Eva wie eine Puppe.«

»'ne Unverschämtheit ist das, wenn ihr behauptet, das Weib wäre aus dem Körper des Mannes gemacht,« fuhr sie fort, »wenn doch jeder Mann vom Weibe geboren wird. Was für 'ne Unverschämtheit diese Männer besitzen, was für 'ne Frechheit!«

Eines Tages in einem Wutanfall, als er wieder versucht hatte an dem Bort zu arbeiten und es nicht gehen wollte, so daß er sich rein seekrank fühlte vor Aufregung, da hackte er das ganze Ding in Stücke und warf es ins Feuer. Sie wußte nichts davon. Er ging nachher ein paar Tage lang sehr ruhig und bedrückt umher.

»Wo ist das ›Adam und Eva‹-Bort?« fragte sie ihn.

»Verbrannt.«

Sie sah ihn an.

»Deine Schnitzerei, meine ich.«

»Die hab ich verbrannt.«

»Wann?«

Sie glaubte ihm nicht.

»Freitag abend.«

»Als ich auf der Marsch war?«

»Ja.«

Sie sagte nichts weiter.

Sowie er dann zur Arbeit gegangen war, weinte sie den ganzen Tag lang, und fühlte ihren Geist sehr gereinigt. So daß eine neue, gebrechliche Liebesflamme auch aus der Asche dieser letzten Pein wieder entsprang.

Jetzt fühlte sie auch mit einem Male, daß sie mit einem Kinde ging. Eine mächtige, zitternde Verwunderung und Freude durchlief ihre Seele. Sie sehnte sich nach einem Kinde. Nicht als hätte sie kleine Kinder besonders liebgehabt, obwohl alles Junge für sie etwas Rührendes hatte. Aber sie wollte selbst Kinder kriegen. Und ein gewisser Hunger ihres Herzens wünschte die Vereinigung ihres Gatten mit ihr durch ein Kind.

Sie wünschte sich einen Sohn. Sie fühlte, ein Sohn würde alles bedeuten. Sie hätte es gern ihrem Gatten erzählt. Aber es war so etwas Zitterndes, Vertrauliches, was sie ihm da erzählen sollte, und er war grade wieder sehr hart und wenig entgegenkommend. So ging sie fort und weinte. Da verlor sie nun eine so schöne Gelegenheit, dieser Frost zerfraß die Knospe eines der schönsten Augenblicke ihres Lebens. Schwer und zitternd schlich sie mit ihrem Geheimnis umher, sie hätte ihn so gern angefaßt, o so zart, und in sein Gesicht gesehen, das dunkle, empfindsame, wenn es auf ihre Mitteilung einginge. Sie wartete und wartete, daß er wieder zart und ruhig gegen sie werden sollte. Aber er blieb immer rauh und machte sie ängstlich.

So vertrockneten die Knospen ihres Vertrauens, sie wurde kalt bis tief ins Innere. Sie ging nach der Marsch hinunter.

»Na,« sagte ihr Vater, nachdem er ihr auf den ersten Blick etwas angemerkt hatte, »wo fehlts denn wieder?«

Die Tränen kamen ihr bei der Wiederberührung mit seiner fürsorglichen Liebe.

»Nichts«, sagte sie.

»Könnt ihr euch wieder mal nicht vertragen, ihr beiden?« sagte er.

»Er ist so bockig«, stotterte sie; aber ihre Seele war auch widerspenstig.

»Tja, aber ich kenne sonst noch wen, der das auch ist«, sagte ihr Vater.

Sie war still.

»Ihr wollt euch doch nicht elend machen,« sagte ihr Vater; »und das alles um rein gar nichts.«

»Er ist gar nicht elend«, sagte sie.

»Ich will meinen Kopf drauf wetten, wenn du nichts weiter kannst, du kannst ihn so elend machen wie einen Köter. Das geht dir höllisch fix von der Hand, mein' Deern.«

»Ich tue aber ja gar nichts, um ihn elend zu machen«, erwiderte sie.

»I nein – i nein! Week as Bottermelk bist du!«

Sie lachte ein wenig.

»Du mußt nicht glauben, ich bin gerne elend,« rief sie, »gar nicht!«

»Das glauben wir gern«, gab Brangwen zurück. »Du willst aber ebensowenig, daß er vor Vergnügen springt wie der Hecht im Karpfenteich.«

Das gab ihr zu denken. Sie war fast überrascht, herauszufinden, sie wünschte ihren Gatten gar nicht vor Vergnügen wie einen Hecht im Karpfenteiche springen zu sehen.

Ihre Mutter kam, und dann setzten sie sich alle zum Tee und sprachen so zwischendurch.

»Denke immer daran, mein Kind, daß nicht grade alles nur darauf wartet, daß deine Hand es nimmt oder liegen läßt. Das darfst du nicht erwarten. Zwischen zwei Menschen ist die Liebe das einzig Wichtige, und weder du noch er allein. Es ist ein Drittes, das ihr euch erst schaffen müßt. Du mußt nicht immer denken, alles müsse nach deiner Nase gehen.«

»Ha – will ich doch auch gar nicht! Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich wohl bald meinen Irrtum eingesehen. Aber sobald ich die Hand nach irgendwas ausstrecke, kriege ich schnell einen drauf, kann ich dir sagen!«

»Denn mußt du 'n bißchen drauf achten, wo du deine Hand hinstreckst«, sagte ihr Vater.

Anna war fast böse darüber, daß sie das Trauerspiel ihres jungen Ehelebens mit solchem Gleichmut ansahen.

»Du hast den Mann ja doch lieb genug«, sagte ihr Vater und zog vor Kummer die Stirn in Falten. »Und das ist schließlich das einzige, worauf es ankommt.«

»Ich habe ihn auch lieb, um so scheußlicher von ihm«, rief sie; »ich möchte ihm so gern erzählen – seit vier Tagen warte ich nun schon drauf, ihm zu sagen – –« Ihr Gesicht begann zu zucken und die Tränen kamen ihr. Ihre Eltern beobachteten sie im Schweigen. Sie fuhr nicht fort.

»Was wolltest du ihm denn sagen?« sagte ihr Vater.

»Daß wir ein Kleines haben,« schluchzte sie, »und nie, nie will er es mich sagen lassen, nicht ein einziges Mal, wenn ich zu ihm komme, immer ist er greulich gegen mich, und ich wollte es ihm doch so gern sagen, wirklich! Und er läßt mich nicht – er ist so grausam gegen mich.«

Sie schluchzte, als wollte ihr das Herz zerbrechen. Ihre Mutter trat zu ihr, um sie zu trösten, sie schlang ihre Arme um sie und hielt sie dicht an sich. Ihr Vater saß mit einem merkwürdig gefurchten Gesicht dabei und war etwas blasser als gewöhnlich. Sein Herz schwoll vor Haß gegen seinen Schwiegersohn.

So kam es, daß, als nun die ganze Geschichte unter Schluchzen herausgebracht, als ihr Trost zugesprochen und der Tee getrunken und wieder etwas wie Ruhe über den kleinen Kreis gekommen war, der Gedanke an Will Brangwens Kommen nicht grade mit Freuden überlegt wurde.

Tilly wurde angestellt, um aufzupassen, wenn er auf seinem Nachhausewege vorbeikäme. Die kleine Gesellschaft am Tische hörte mit einem Male den schrillen Ruf der Magd:

»Se scheet rinkamen, Will! Anna is hier.«

Nach ein paar Augenblicken trat der junge Mann ein.

»Bleibst du noch hier?« fragte er mit seiner harten, rauhen Stimme.

Wie das Schwert der Vernichtung schien er dazustehen. Sie erschauerte unter Tränen.

»Setz dich mal hin«, sagte Tom Brangwen, »und mach dich 'n Ende kürzer.«

Will Brangwen setzte sich. Er fühlte etwas Seltsames in der Luft. Seine Brauen waren düster, aber seine Augen hatten den gespannten, harten, scharfen Ausdruck, als sähen sie nur ganz Entferntes; das stand ihm besonders gut und machte Anna immer so böse.

»Weshalb verleugnet er mich nur immer?« fragte sie sich. »Warum ist ihm das so gar nichts, was ich eigentlich bin?«

Und Tom Brangwen, so blauäugig und warm, saß da, hart gegen den Jungen.

»Wie lange bleibst du noch?« fragte der junge Gatte seine Frau.

»Nicht sehr lange«, sagte sie.

»Trink deinen Tee, Bengel«, sagte Tom Brangwen. »Kribbelt es dich denn so, den Augenblick wieder loszuziehen, wo du hereinkommst?«

Sie sprachen über gleichgültige Dinge. Durch die offene Tür fielen die Sonnenstrahlen schräg herein und beleuchteten den Fußboden. Ein graues Huhn erschien und lief schnell über die Schwelle, drauflos pickend, das durch seinen Kamm und die Kehllappen fallende Licht hüpfte wie ein Flämmchen hierhin und dorthin bei seinem Lauf, sein grauer Körper hatte etwas Gespenstisches.

Anna beobachtete es und warf ihm Stückchen Brot hin, und fühlte dabei das Kind in ihrem Schoße brennen. Sie schien sich längst vergessener, brennender, weitab liegender Dinge zu erinnern.

»Wo bin ich geboren, Mutter?« fragte sie.

»In London.«

»Und war mein Vater« – sie sprach von ihm, als wäre er für sie lediglich ein fremder Name: sie konnte sich auch nie mit ihm innerlich in Verbindung setzen – »war mein Vater dunkel?«

»Er hatte dunkelbraunes Haar und dunkle Augen und frische Farben. Er wurde kahl, sehr kahlköpfig, als er noch ganz jung war«, erwiderte die Mutter, ebenfalls als erzähle sie etwas, was mehr auf alter Einbildung beruhte.

»War er hübsch?«

»Ja – er war sehr hübsch – aber sehr klein. Ich habe nie einen Engländer gefunden, der ihm ähnlich gesehen hätte.«

»Wieso?«

»Er war« – die Mutter machte eine rasche, gleitende Bewegung mit den Händen – »sein Gesichtsausdruck war sehr lebhaft und veränderlich – nie in Ruhe. Er hatte nichts Beständiges an sich, er war wie fließendes Wasser.«

Den Jungen durchfuhr es wie ein Blitz – Anna war auch wie fließendes Wasser. Sofort kam seine Liebe für sie wieder zum Durchbruch.

Tom Brangwen wurde ängstlich. Sein Herz erfüllte sich immer mit Furcht, Furcht vor dem Unbekannten, wenn er sein Weibervolk von ihrem früheren Mannsvolk wie von Fremden sprechen hörte, die sie so im Vorbeigehen kennen gelernt und dann wieder verabschiedet hätten.

Stillschweigen und Absonderung breitete sich im Zimmer über aller Herzen. Sie waren Sonderwesen mit gesonderten Schicksalen. Wozu sollten sie versuchen, jeder für sich mit Gewalt ihre gegenseitigen Ansprüche durchzusetzen?

Die jungen Leute gingen heim, während eine scharfe, kleine Mondsichel grade in der Frühlingsdämmerung unterging. Baumgruppen standen ruhig hoch in der Luft, die kleine Kirche streckte oben auf dem Hügel ihren Turm schattenhaft in den Himmel, die Erde lag in tiefblauem Schatten.

Leicht legte sie ihre Hand auf seinen Arm, aus ihrer weiten Ferne. Und aus dieser Ferne fühlte er ihre Berührung. Sie gingen Hand in Hand weiter durch die Dämmerung, ihre Gesichtskreise getrennt. Sie konnten Drosseln durch das tiefblaue Zwielicht rufen hören.

»Ich glaube, wir werden ein Kleines kriegen, Bill«, sagte sie von weit her.

Er zitterte, seine Finger umschlossen die ihren fester.

»Wieso?« fragte er mit klopfendem Herzen. »Du weißt doch nicht –?«

»Doch«, sagte sie.

Sie schritten weiter, ohne mehr zu sagen, mit getrennten Gesichtskreisen, Hand in Hand durch den weiten Raum, zwei ganz verschiedene Wesen. Und er zitterte, als träfen ihn heftige Windstöße aus dem Unsichtbaren. Er hatte Angst. Er hatte Angst davor, zu erfahren, daß er allein stünde. Denn sie schien ganz hingenommen und abgesondert und selbstgenügsam in ihrer Hälfte der Welt. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er allein sein sollte. Warum konnte er nicht immer eins mit ihr sein? Er war es doch, der ihr das Kind gegeben hatte. Warum konnte sie da nicht bei ihm, eins mit ihm sein? Warum mußte er so in die Verbannung geschickt werden; warum konnte sie nicht bei ihm bleiben, dicht, ganz dicht, eins mit ihm? Sie mußte eins mit ihm bleiben.

Er hielt ihre Finger eng umschlossen. Sie wußte nicht, woran er dachte. Das strahlende, von der Empfängnis ihres Schoßes herrührende Licht, das ihr Herz traf, war zu wundervoll, zu betäubend. Wie verklärt schritt sie einher, und der Drosselruf, das Geräusch der Züge im Tale, der schwache Lärm aus der Stadt wurden ihr zu einem Lobgesang.

Aber er kämpfte schweigend weiter. Es kam ihm vor, als erhebe sich ein fester Wall von Finsternis vor ihm, der ihn hinderte, der ihn zu ersticken, irrsinnig zu machen drohte. Er wünschte, sie möchte zu ihm kommen, um ihn zu vervollkommnen, vor ihm zu stehen, so daß seine Augen die nackte Finsternis nicht zu sehen brauchten, nicht sehen sollten. Nichts hatte für ihn noch Bedeutung, als daß sie käme und ihn vollkommen mache. Denn er war von dem schrecklichen Bewußtsein seiner eigenen Beschränktheit besessen. Es war ihm, als müsse er unvollendet zugrunde gehen, unerschaffen, und er sehnte sich danach, daß sie käme und ihn zur Vollkommenheit führe.

Aber sie war ja schon vollkommen in sich selbst, und er schämte sich seines Bedürfnisses, seiner bedürftigen Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit und die Scham darüber wuchteten wie Wahnsinn auf ihm. Und doch blieb er still und sanft in Verehrung ihrer Empfängnis, und weil sie sein Kind trug.

Und sie war glückselig in Schauern von Sonnenschein. Sie liebte ihren Gatten als Gesellschaft, wegen seiner Dankbarkeit. Aber für den Augenblick waren alle ihre Wünsche erfüllt, und nun wollte sie nichts, als ihren Gatten ruhig bei der Hand halten in reinstem Glück, ohne weiter nachzudenken, nur froh sein.

Er besaß verschiedene Mappen mit Bildern, darunter auch einen billigen Farbendruck von Fra Angelicos »Eintritt der Seligen ins Paradies«. Dieser erfüllte Anna immer mit Entzücken. Die schöne, unschuldige Art, mit der die Seligen einander bei den Händen hielten, wie sie dem Strahlenschein entgegenschritten, die wirkliche, wahrhaftige Engelsmusik darin machten sie vor Glücksgefühl weinen. Die Blüten, die Lichtstrahlen, das Verschränken der Hände war beinahe zuviel für sie, zu unschuldig.

Tag für Tag kam strahlend durch das Paradiesestor herauf, tagaus, tagein schritt sie in die strahlende Helle. Das Kind in ihr leuchtete, bis sie selbst wie ein Sonnenstrahl wurde; und wie entzückend war draußen der über allem hängende und umherwandernde Sonnenschein, in dem die Kätzchen an den dicken Haselbüschen am Ende des Gartens in leichtem, schwebendem Strahlenkranz hingen, wo von den schwarzen Eibenbäumen kleine Rauchwölkchen wie Feuer hervorbrachen, wenn sich ein Vogel zur Rast auf einen Zweig niederließ. Eines Tages standen plötzlich unten an den Hecken entlang überall blaue Glockenblumen, dann funkelten Schlüsselblumen wie Manna, golden und flüchtig, auf den Wiesen empor. Sie fühlte sich voll einer reichen Schläfrigkeit und Einsamkeit. Wie glücklich sie war, wie prächtig das Leben: sich selbst gekannt zu haben, ihren Gatten, die Leidenschaft von Liebe und Zeugung; und zu wissen, daß alles dies um sie her weiterlebte und wartete und brannte, in einem schrecklichen, reinigenden Feuer, durch das sie ein für allemal hindurchgeschritten war, um zum Frieden dieses golden strahlenden Lichtes zu gelangen, nun sie ein Kind hatte und unschuldig in Liebe mit ihrem Gatten und all den vielen Engeln Hand in Hand vereint war. Sie hob ihre Kehle der leichten über das Feld daherstreichenden Brise entgegen, und es war ihr, als liebkose sie eine Schwester; tief sog sie sie mit dem Duft der Schlüsselblumen und Apfelblüten ein.

Aber durch all diese Glückseligkeit strich ein schwarzer Schatten, scheu, wild, wie ein Raubtier, und verschwand wieder aus ihrem Gesichtskreise; und als wehten ihr Fäden von Altweibersommer über die Augen, kam die Furcht über sie.

Sie fürchtete sich, wenn er des Abends nach Hause kam. Bis jetzt blieb diese Furcht noch ohne Worte, der Schatten hatte sich noch nicht über sie hergeworfen. Er war sanft, demütig, hielt sich zurück. Seine Hände lagen zart auf ihr, und sie liebte sie. Aber doch durchlief sie ein Schauder, scharf wie ein Schmerz, denn sie fühlte die Dunkelheit und die andere Welt aus seinen weichen, verhüllten Händen heraus.

Aber der Sommer schwebte herbei mit dem Schweigen des Wunders, sie war fast stets allein. Die ganze Zeit über hielt die lange, entzückende Schläfrigkeit an; die zartblassen Rosen waren fast schon abgeblüht, in einem Regengusse davongeschwemmt, der Sommer ging in den Herbst über, und der lange, goldene, unbestimmte Tag begann sich zu neigen. Purpurner Wolkendunst erhob sich im Westen, und wenn die Nacht hereinbrach, dampfte und wallte der ganze Himmel, und der Mond hing bleich, hoch über den rasch dahinsegelnden Dünsten; die Nacht war unruhig. Plötzlich trat dann der Mond an ein hellerleuchtetes Fenster am Himmel und sah von hoch droben hernieder, wie ein Gefangener. Und Anna schlief nicht. Über ihrem Gatten lag eine seltsame, dunkle Spannung.

Sie fing an zu fühlen, daß er ihr seinen Willen aufzuzwingen suchte, in irgend etwas, es war etwas vorhanden, was er von ihr wollte, während er so dunkel und gespannt dalag. Und ihre Seele seufzte vor Müdigkeit.

Alles war so unbestimmt und reizvoll, und er wollte sie wieder zur harten, feindlichen Wirklichkeit erwecken. Widerstrebend zog sie sich zurück. Noch sagte er nichts. Aber sie fühlte, wie sein Wille auf ihr lag, sie empfand ihn als eine Last und schrie gegen die Überbürdung auf. Er tat ihr Gewalt an, er tat ihr Gewalt an. Und sie sehnte sich so sehr nach Freude und Unbestimmtheit und Unschuld in ihrer Schwangerschaft. Sie wollte seine bitter-ätzende Liebe nicht länger, sie wollte sie nicht in sich ergossen, um sie zu verbrennen. Wozu auch? Warum, o warum konnte er nicht zufrieden sein, nicht Maß halten?

Viele Stunden lang saß sie an solchen Tagen am Fenster, wenn er sie am meisten mit dem schwarzen Zwang seines Willens bedrohte, und sah, wie der Regen auf die Eibenbäume niederfiel. Sie war nicht traurig, nur nachdenklich, blaß. Das Kind unter ihrem Herzen war ihr ein Quell ewiger Wärme. Und sie fühlte sich sicher. Der auf ihr lastende Druck kam nur von außen, ihre Seele wies noch kein Mal auf.

Und doch lag auf ihrem Herzen immer die gleiche Last, Spannung, Angst. Sie war nicht sicher, sie war immer angreifbar, wurde auch stets angegriffen. In ihr währte das Sehnen nach vollkommenem Frieden und Seligkeit. Wie schwer war dies Sehnen – wie schwer!

Sie empfand undeutlich, daß er sich die ganze Zeit über nicht befriedigt fühlte, daß er die ganze Zeit über versuchte, ihr etwas abzuringen. Ach, wie sehr wünschte sie, sie könnte auf ihre eigene Weise mit ihm fertig werden. So unvermeidlich stand er da. Sie lebte ja doch auch in ihm. Und wie gern hätte sie Frieden mit ihm gehabt, wie gern! Sie wollte ihm ja ihre Liebe schenken, reine Liebe. Mit seltsam verzücktem Blick erwartete sie diesen Abend seine Heimkehr.

Als er dann kam, erhob sie sich, die Hände voller Liebe, wie voller Blumen, strahlend, unschuldig. Ein dunkler Hauch fuhr über sein Gesicht. Während sie ihn strahlenden Antlitzes, blütengleich in ihrer unschuldigen Liebe beobachtete, wurde sein Gesicht dunkler und gespannter, Grausamkeit sammelte sich über seinen Brauen, seine Augen wandten sich ab, sie sah das Weiße in ihnen, als er sie von der Seite her ansah. Sie wartete und berührte ihn mit ihren Händen. Aber aus seinem Körper strömte durch ihre Hände der bitter-ätzende Sturm seiner Leidenschaft in sie über und vernichtete sie in der Blüte. Sie schrak zurück. Sie erhob sich von den Knieen und ging von ihm weg, um sich selbst zu erhalten. Und das war ihr sehr schmerzlich.

Für ihn waren es Todesqualen. Er sah die blütengleiche Liebe auf ihrem Gesichte erglänzen, und sein Herz wurde schwarz, weil er nach dieser nicht verlangte. Nicht nach dieser, nicht nach dieser! Er wollte keine blumenhafte Unschuld. Er fühlte sich unbefriedigt. Wut und stürmische Unzufriedenheit quälten ihn unaufhörlich. Warum befriedigte sie ihn nicht? Er hatte sie doch befriedigt! Sie war befriedigt, hatte Frieden, hing voller Unschuld an der Tür ihres Paradieses.

Und er blieb unbefriedigt, unausgefüllt, er wütete unter Qualen vor Sehnsucht, vor Sehnsucht! Bei ihr lag es, ob sie ihn nun befriedigen wolle: also mußte sie es doch tun. Aber mit den Blumen unschuldiger Liebe in den Händen brauchte sie ihm nicht zu kommen. Er hätte sie zurückstoßen und die Blumen zertreten mögen. Ihre blumengleiche, unschuldige Seligkeit wollte er vernichten. Stand ihm denn nicht das Recht auf Befriedigung durch sie zu, und tobte nicht sein Herz vor Sehnsucht, war nicht seine Seele ein schwarzer Qualenpfuhl von Unausgefülltheit? Laß ihn sich doch auch ausgefüllt fühlen, wie sie es tat. Er hatte ihr doch zu ihrer Vollkommenheit verholfen. Mochte sie nun aufstehen und ihr Teil leisten.

Er war grausam gegen sie. Aber die ganze Zeit über fühlte er sich auch beschämt. Und je mehr er sich schämte, um so grausamer wurde er. Denn er schämte sich, daß er ohne sie nicht zur Vollkommenheit gelangen könne. Und das konnte er nicht. Und sie wollte ihn nicht beachten. Gefesselt lag er in dunklen Qualen.

Sie flehte ihn an, doch wieder etwas zu arbeiten. Aber seine Seele war zu schwarz. Seine Wandleiste mit Adam und Eva hatte er zerstört. Eine neue konnte er nicht anfangen, am wenigsten jetzt, während er sich in einem solchen Zustande befand.

Für sie gab es keine endgültige Erlösung, da er nicht von sich selbst zu befreien war. Seltsam und formlos mußte sie mit ihrer Sehnsucht durch diese Unruhe hindurch, wie eine warme, glühende Wolke, die der Sturm dahinbläst. Sie fühlte sich so reich in ihrer unbestimmten Wärme, daß ihre Seele ihm entgegenschrie, weil er sie quälte und zu vernichten strebte.

Immer noch empfand sie Augenblicke ausbrechender Freude, Wiedergeburt ihres alten Frohlockens. Wenn sie an ihrem Kammerfenster saß und den ständig fallenden Regen beobachtete, dann weilte ihr Geist in weiter Ferne.

Voller Stolz und sonderbarem Vergnügen saß sie dann da. Wer niemand besaß, um an seiner Freude teilzunehmen, und wes unbefriedigte Seele tanzen und frohlocken mußte, der tanzte vor dem Unbekannten.

Plötzlich wurde es ihr klar, daß dies es war, wonach sie sich sehnte. Schwerfällig, wie sie durch ihr Kind war, tanzte sie dort in ihrer Kammer ganz für sich allein, Hände und Leib hob sie zu dem Unsichtbaren empor, zu dem unsichtbaren Schöpfer, der sie auserwählt hatte, dem sie nun angehörte.

Niemand durfte darum wissen. Sie tanzte im verborgenen, und ihre Seele schwang sich in Glückseligkeit empor. Im geheimen tanzte sie vor ihrem Schöpfer, sie zog ihre Kleider aus und tanzte voller Stolz auf ihre Fülle.

Als es vorbei war, überraschte es sie. Sie schrak zusammen und wurde ängstlich. Wem setzte sie sich da aus? Halb wünschte sie, sie könnte es ihrem Gatten erzählen. Aber sie schrak doch vor ihm zurück.

Die ganze Zeit lief sie so allein für sich umher. Sie liebte die Erzählung von David, der vor dem Herrn tanzte und sich in seiner Freude entblößte. Weshalb hätte er sich wohl vor Michal, einem gewöhnlichen Weibe, entblößen sollen? Vor dem Herrn entblößte er sich.

»Mit Schwert und Lanze und Schild kommest du zu mir, aber ich komme zu dir im Namen des Herrn: – denn der Sieg ist des Herrn, und er wird dich in meine Hände geben.« Laut tönten diese Worte in ihrem Herzen wider. Voll Stolz schritt sie einher. Und ihr Sieg war auch des Herrn, ihr Gatte ebenfalls in ihre Hände gegeben.

In diesen Tagen übersah sie ihn völlig. Wer war er denn, daß er gegen sie aufstehen sollte? Nein, er war nicht einmal der Philister, der Riese. Er war wie Saul, der sich selbst zum König ernannte. Sie lachte in ihrem Herzen. Wer war er, daß er sich zum König ernannte? Sie lachte in ihrem Herzen voller Stolz.

Und wieder mußte sie tanzen ihm zum Trotz. Gerade weil er zu Hause war, mußte sie vor ihrem Schöpfer tanzen, wegen der Befreiung von ihrem Manne. Eines Sonnabend-Abends, als sie Feuer in ihrem Schlafzimmer angemacht hatte, zog sie sich wieder aus und tanzte, hob ihre Kniee und Hände mit langsamen, frohlockenden Bewegungen. Er war zu Hause, ihr Stolz war daher um so größer. Sie wollte zum Hohne seiner Nichtigkeit tanzen, ihrem unsichtbaren Herrn. Sie frohlockte über ihn vor dem Herrn.

Sie hörte ihn die Treppe heraufkommen und wich zurück. Mit dem Feuerschein auf ihren Knöcheln und Füßen, nackt stand sie im Schatten des Spätnachmittags da und band sich das Haar auf. Er fuhr zurück. Er blieb mit dunkel zusammengezogenen Brauen in der Tür stehen.

»Was machst du denn da?« sagte er rauh. »Du wirst dich erkälten.«

Und wieder hob sie die Hände, um ihn zu vernichten, der Widerschein glänzte auf ihren Knieen, als sie mit feinen, langsamen Bewegungen die gegenüberliegende Seite des Zimmers im Feuerschein durchmaß. Er war an der Tür im Schatten stehen geblieben, ganz Aufmerksamkeit, ganz durchbohrt. Und in langsamen, schwerfälligen Bewegungen schwankte sie vor- und rückwärts, wie eine reife Kornähre, bleich im schattigen Nachmittagslicht, vor den Feuerschein tretend, seine Nichtigkeit tanzend, voller Frohlocken ihrem Herrn tanzend.

Er wartete, und seine Seele brannte in ihm. Er wandte sich zur Seite, er vermochte es nicht anzusehen, es tat seinen Augen weh. Ihre feinen Glieder hoben und hoben sich, ihr Haar stand wild umher, und ihr Leib, dick, seltsam, erschreckend, hob sich dem Herrn entgegen. Ihr Gesicht war verzückt und schön, frohlockend tanzte sie vor dem Herrn, und wußte von keinem Manne.

Als er sie so beobachtete, fühlte er einen Schmerz, als stände er auf dem Scheiterhaufen. Es war ihm, als würde er lebendig verbrannt. Die Seltsamkeit, die in ihrem Tanze liegende Macht verzehrten ihn, er wurde verbrannt, er konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Ganz in sich versunken wartete er. Dann wurden seine Augen für sie blind, er sah sie nicht länger. Und durch diesen undurchsichtigen Schleier zwischen ihnen rief er mit seiner knarrenden Stimme:

»Wozu tust du das?«

»Geh weg«, sagte sie. »Laß mich tanzen, allein.«

»Das ist kein Tanzen«, sagte er rauh. »Was soll das bedeuten?«

»Nichts für dich«, sagte sie. »Geh du nur weg.«

Ihr seltsam hüpfender Leib, schwer von seinem Kinde! Hatte er etwa kein Recht, dabei zu sein? Er empfand, daß er sie durch seine Gegenwart vergewaltige. Und doch hatte er ein Recht, dabei zu sein. Er ging und setzte sich aufs Bett.

Sie hörte auf zu tanzen und trat ihm gegenüber, wobei sie wieder die Arme hob und an ihrem Haar zu flechten begann. Ihre Nacktheit, während er da war, tat ihr weh.

»Ich kann in meinem Schlafzimmer doch wohl machen, was ich will«, rief sie. »Warum mischst du dich da hinein?«

Damit schlüpfte sie in einen Morgenrock und kauerte vor dem Feuer nieder. Nun sie angezogen war, fühlte er sich ruhiger. Ihre vorige Erscheinung quälte ihn für den Rest der Tage seines Lebens, dies seltsame, verzückte Wesen, das keinerlei Beziehung mehr zu ihm hatte.

Von diesem Tage an schien die Tür seines Verstandes geschlossen. Seine Brauen blieben zusammengezogen und unzugänglich. Seine Augen hörten auf zu sehen, seine Hände hatten keine Kraft mehr. Sein Wille lag in ihm zusammengekauert wie ein Tier, im Finstern verborgen, aber immer voller Kraft, voller Spannung.

Zuerst fühlte sie sich mit ihm neben sich in dieser Abgeschlossenheit ganz glücklich. Aber dann begann sein Bann auf sie zu wirken. Seine dunkle, aufwallende Kraft, wie die Willenskraft des wilden Tieres, das verborgen daliegt und seinen Willen auf die Vernichtung des frei vorbeilaufenden anderen Geschöpfes lenkt, wie der Tiger in der Finsternis der Blätter verborgen durch seinen Willen den Fall und Tod leichterer Geschöpfe herbeizwingt, die morgens am Quell trinken wollen, so begann sein Wille allmählich seinen Einfluß auf sie geltend zu machen. Obgleich er regungslos im Dunklen lag, fühlte sie doch, daß er ihrer wartete. Sie fühlte, wie sein Wille sich an ihr festklammerte und sie niederzog, obwohl er völlig stumm und verborgen dalag.

Sie fand, daß er sie einengte, ob sie nun ausging oder hereinkam. Allmählich wurde es ihr klar, sie werde niedergezogen, niedergezogen durch sein sich an sie anklammerndes, schweres Gewicht, daß er sie niederziehe wie der Leopard eine Wildkuh anfällt, sie erschöpft und endlich niederreißt.

Allmählich wurde es ihr klar, wie ihr Leben, ihre Freiheit unter dem schweigsamen Griff seines körperlichen Willens dahinsank. Er wollte sie in seine Gewalt bekommen. Er wollte sie nach Gutdünken verzehren, besitzen. Endlich wurde es ihr klar, daß ihr Schlaf nur ein langer Schmerz und eine Müdigkeit und Erschöpfung war, weil sein Wille sich an ihr festsaugte, während er in der Nacht neben ihr lag.

Alles das wurde ihr klar, und damit trat ein augenblicklicher Stillstand ein, ein Einhalten in ihrem raschen Lauf, ein Augenblick der Schwebe in ihrem Leben, wo sie sich verloren fühlte.

Da wandte sie sich wild gegen ihn und rang mit ihm. Er sollte ihr dies nicht antun, es war abscheulich. Welche gräßliche Macht verlangte er über ihren Körper? Warum wollte er sie niederziehen und ihren Geist töten? Warum wollte er ihren Geist verleugnen? Warum leugnete er überhaupt ihre Geistigkeit ab, hielt sie nur für ein körperliches Wesen? Beanspruchte er etwa auch noch ihren toten Leib?

Er schien ihr etwas Ungeheures, Häßliches, Dunkles darzustellen.

»Was tust du mir?« rief sie. »Warum willst du mir Schande antun? Einen schrecklichen Druck legst du mir auf den Kopf, du läßt mich nicht schlafen, du läßt mich nicht leben! Jeden Augenblick deines Lebens tust du mir irgend etwas an, etwas Greuliches, das mich vernichtet. Es ist etwas Schreckliches in dir, etwas Dunkles, Tierisches in deinem Willen. Was willst du denn von mir? Was willst du mir antun?«

Alles Blut seines Körpers wurde schwarz und mächtig und ätzend, wenn er sie so sprechen hörte. Schwarz und blind vor Haß gegen sie wurde er. Er lebte in einer schwarzen Hölle, aus der es kein Entrinnen gab.

Er haßte sie wegen ihrer Worte. Gab er ihr denn nicht alles, war sie nicht sein alles? Und bitter brannte die Scham in ihm, daß sie ihm alles war, daß er außer ihr nichts besäße. Und dann verhöhnte sie ihn noch damit, daß er dem nicht entrinnen könne. Schwarzes Feuer tobte durch seine Adern. Denn wie oft ers auch versuchte, er konnte nicht heraus. Sie war sein alles, sie war sein Leben und sein Stamm. Er hing völlig von ihr ab. Würde sie ihm genommen, dann müßte er zusammenbrechen wie ein Zelt, dem man seine Stütze genommen hat.

Und sie haßte ihn, grade weil er so völlig von ihr abhing. Er war ihr gräßlich. Sie wollte ihn abschütteln, ihn beiseite schieben. Es war gräßlich, wie er sich an sie hängte, so dicht, so dicht, wie ein Leopard, der sie angefallen hatte und festhielt.

Tagaus, tagein ging er so in schwarzer Wut und Scham vor Nichtigkeitsgefühl herum. Wie er sich quälte, um von ihr freikommen zu können! Aber er konnte nicht. Sie war wie der Fels, auf dem er stand, tiefe, wogende Wasser ringsumher, und er konnte nicht schwimmen. Er mußte auf ihr fußen, er mußte von ihr abhängig bleiben.

Was hatte er denn vom Leben, außer ihr? Nichts. Der Rest war nichts als wogende Flut. Die Angst vor der Nacht mit ihrer wogenden, alles verschlingenden Flut, die ihm das Leben ohne sie bedeutete, war zu viel für ihn. Wild und besinnungslos klammerte er sich an sie an.

Und sie stieß ihn zurück, sie stieß ihn zurück. Wohin sollte er sich wenden, wie der Schwimmer auf nachtdunkler See, der seinen Halt verloren hat, wohin sollte er sich wenden? Er wollte ja von ihr lassen, er wünschte, er wäre imstande, sie zu verlassen. Um seiner Seele willen, um seiner Männlichkeit willen mußte er dazu imstande sein.

Aber wofür? Sie war die Arche, alles übrige die Flut. Das einzig greifbare, faßbare Ding war das Weib. Er könnte sie nur um ein anderes Weib verlassen. Und wo war dies andere Weib, und wer war sie? Außerdem würde er ja doch wieder nur in ganz denselben Zustand geraten. Ein anderes Weib war doch eben auch wieder ein Weib, die Geschichte müßte auf ganz dasselbe hinauslaufen.

Warum war sie denn sein alles, sein einziges, warum konnte er nur durch sie leben, warum mußte er versinken, sobald er von ihr losgelöst war? Warum mußte er sich so blödsinnig an sie anklammern, als ginge es ums Leben?

Der einzige andere Weg von ihr zu lassen war zu sterben. Der einzig grade Weg von ihr zu lassen führte zum Tode. Das wußte seine dunkle, tobende Seele. Aber er sehnte sich nicht nach dem Tode.

Warum konnte er denn nicht von ihr lassen? Warum konnte er sich nicht in die verborgenen Wasser stürzen, um darin zu leben oder umzukommen, wie es nun kam? Es ging nicht, es ging nicht. Aber angenommen er ginge fort, gleich fort, und fände Arbeit, und eine Unterkunft. Dann könnte er doch wieder leben wie zuvor.

Aber er wußte, auch das ginge nicht. Ein Weib, er mußte ein Weib haben. Und wenn er eins hatte, dann mußte er frei von ihr sein. Das aber würde wieder die gleiche Lage ergeben. Denn frei würde er nicht von ihr sein können.

Denn wie kann ein Mann dastehen, sobald er keinen festen Grund unter den Füßen hat. Kann ein Mensch sein Leben lang das flüchtige Wasser mit den Füßen treten und das einen festen Standpunkt nennen? Besser sich ergeben und gleich ertrinken.

Und worauf sollte er fußen, wenn nicht auf dem Weibe? War er denn wie der Alte vom Meere, der sich nur auf dem Rücken eines anderen Lebendigen fortbewegen konnte? War er denn so gebrechlich, solch ein Krüppel, so unzurechnungsfähig, ein bloßes Bruchstück?

Schwarze, wahnsinnige, schandbare Qualen waren es, die Raserei der Furcht, die Raserei der Sehnsucht und das schreckliche, fesselnde Saugen der Scham.

Wovor fürchtete er sich denn? Warum kam ihm das Leben ohne Anna lediglich wie ein greulicher Wirrwarr vor, als jage alles auf einer sinnlosen, dunklen, bodenlosen Flut umher? Warum schien er sich, wenn Anna ihn auch nur mal für eine Woche verließ, wie ein Wahnsinniger an den Rand der Wirklichkeit anzuklammern, als müsse er sicher, sicher in die Flut der Unwirklichkeit hinabsinken und in ihr ertrinken? Dies schreckliche Hinabsinken in die Unwirklichkeit trieb ihn in den Wahnsinn, seine Seele schrie auf vor Angst und Qual.

Und doch stieß sie ihn von sich, stieß ihn fort, brach ihm die Finger von dem Halt an ihr los, hartnäckig, ohne Reue. Er hoffte, sie würde Mitleid mit ihm haben. Und zuweilen überkam sie auch das Mitleid mit ihm für einen Augenblick. Aber stets begann sie ihn dann wieder zurückzustoßen, in das tiefe Wasser, in die Raserei und die Qual der Ungewißheit.

Wie eine Rachegöttin wandte sie sich gegen ihn, ohne jedes Gefühl. Ihre Augen glänzten in kaltem, unbeweglichem Haß. Dann schien sein Herz in letzter Furcht dahinzusterben. Sie hätte ihn in die Tiefe stürzen können.

Sie wollte nicht länger mit ihm zusammen schlafen. Sie behauptete, er zerstöre ihren Schlaf. Sofort brach seine Raserei, seine wahnsinnige Furcht, sein Leid aufs neue aus. Sie trieb ihn fort. Wie ein feiger, kriechender Teufel wurde er ausgetrieben, sein Geist wühlte schlau gegen sie, plante Übeles für sie. Und sie trieb ihn fort. In den Augenblicken seines schärfsten Leidens kam sie ihm unfaßlich, ein Ungeheuer, der Grundzug aller Grausamkeit, vor.

Mochte aber auch für Augenblicke ihr Mitleid einmal nachgeben, sie war doch hart und kalt wie ein Edelstein. Er mußte von ihr vertrieben werden, sie mußte allein schlafen. Sie machte ihm sein Bett in dem kleinen Zimmer.

Wie ein Geprügelter lag er da, seine Seele zu Tode gepeitscht, und doch unverändert. In Todesqualen lag er da, wieder in die Unwirklichkeit zurückgeworfen, wie ein über Bord Geworfener, der schwimmen soll bis er untergeht, weil er keinen Halt findet, nur die weite, wogende See.

Er fand keinen Schlaf außer dem Halbschlummer, in dem sich ein dünner Schleier über den Geist zieht. Schlaf war das nicht. Er wachte und war doch nicht wach. Er konnte nicht allein sein. Er mußte imstande sein, den Arm um sie zu schlingen. Er konnte den leeren Platz an seiner Brust nicht ertragen, wo sie zu ruhen pflegte. Das konnte er nicht ertragen. Er kam sich vor, als hinge er im leeren Raum, nur durch seinen eigenen Willen dort gehalten. Ließ der nach, so mußte er fallen, fallen durch den unendlichen Raum, in bodenlose Tiefen, immer fallen, willenlos, hilflos, ein Nichts, das der Vernichtung anheimfiel, fallen bis das Feuer der Reibung sich verzehrt hätte, wie ein fallender Stern, dann ein Nichts, ein Nichts, rein gar nichts.

Morgens stand er grau und unwirklich auf. Und sie schien ihn wieder so gern zu haben, sie schien etwas wieder gut machen zu wollen.

»Ich habe so gut geschlafen«, sagte sie, mit einer etwas unechten Fröhlichkeit. »Du auch?«

»Ja, ganz gut«, antwortete er.

Er hätte ihr das nie erzählt.

Drei oder vier Nächte lang lag er so im Halbschlaf, sein Wille unverändert, unverändert, immer noch gespannt, fest auf sein Ziel gerichtet. Dann, als fühlte sie sich nun neubelebt und wieder imstande, ihn lieb zu haben, aber auch getäuscht durch sein Schweigen und seine anscheinende Ruhe, schließlich auch von Mitleid gedrängt nahm sie ihn wieder zu sich.

Trotz aller Scham hatte er jeden Abend, wenn die Zeit zum Zubettgehen herankam, unter Todesqualen darauf gewartet, ob sie ihn wohl ausschließen würde. Und jeden Abend, wenn sie ihm mit ihrer vorgespiegelten Fröhlichkeit Gute Nacht sagte, dann fühlte er, er müsse sie oder sich selbst umbringen. Aber sie bat ihn so rührend, so reizend um ihren Kuß. So küßte er sie denn, sein Herz aber war wie Eis.

Und zuweilen ging er auch aus. Einmal saß er lange Zeit, bevor er zu Bett ging, unter der Kirchtür. Es war dunkel, und der Wind blies. Unter der Kirchtür fühlte er sich beim Sitzen etwas in Schutz, in Sicherheit. Aber es wurde zu kalt, und er mußte hinein und zu Bett gehen.

Dann kam der Abend, an dem sie sagte, ihre Arme um ihn schlingend und ihn zärtlich küssend:

»Bleib bei mir heute nacht, willst du?«

Und ohne zu zögern blieb er bei ihr. Aber sein Wille hatte sich nicht geändert. Er wollte sie an sich gefesselt wissen.

Und so mußte sie ihm bald wieder sagen, sie müsse allein bleiben.

»Ich möchte dich ja lieber nicht wegschicken. Ich möchte viel lieber mit dir zusammen schlafen. Aber ich kann nicht schlafen, du läßt mich nicht schlafen.«

Das Blut in seinen Adern wurde schwarz.

»Was meinst du damit? Das ist eine unverschämte Lüge. Ich lasse dich nicht schlafen – –«

»Nein, wirklich nicht. Ich schlafe so gut, sowie ich allein bin. Und ich kann nicht schlafen, wenn du bei mir bist. Du tust mir etwas, du legst mir einen Druck auf den Kopf. Und ich muß doch schlafen, nun das Kind kommt.«

»Das liegt nur an dir selbst,« erwiderte er, »in dir ist was nicht in Ordnung.«

Schrecklich im höchsten Grade waren diese nächtlichen Kämpfe, wenn alle Welt schlief und sie beide allein waren, allein in der Welt, und sich gegenseitig abstießen. Es war kaum zu ertragen.

Er ging und lag wieder allein. Und schließlich, nach einer grauen leichenfarbigen, scheußlichen Zeitspanne gab er nach, etwas in seinem Innern gab nach. Er ließ locker, es wurde ihm gleichgültig, was aus ihm würde. Merkwürdig und undeutlich wurde er sich selbst, wurde er für sie, für jedermann. Etwas Unklares breitete sich über sein Wesen, wie ein Ertrinken. Und es war eine wahre Erlösung zu ertrinken, eine Erlösung, eine große, große Erlösung.

Er wollte nicht mehr in sie dringen, wollte sie nicht weiter zwingen. Er wollte sich ihr nicht länger aufdrängen. Er wollte sie fahren lassen, wollte nachgeben, ausscheiden, und was kommen mußte, mochte kommen.

Und doch verlangte er nach ihr, immer, immer verlangte er nach ihr. Seine Seele war wie die eines trostlosen Kindes, so hilflos war er. Wie das Kind von der Mutter, so hing er mit seinem ganzen Leben von ihr ab. Das wußte er, und wußte auch, daß er daran nichts ändern könnte.

Und doch mußte er imstande sein, allein zu bleiben. Er mußte imstande sein, die leere Stelle neben sich zu ertragen und sich damit zufrieden zu geben. Er mußte imstande sein, sich der Flut zu überlassen, zu leben oder unterzugehen, wie es nur kommen mochte. Denn schließlich kam ihm das Bewußtsein seiner Beschränktheit und der Schranken seiner Macht. Er mußte nachgeben.

Eine Stille, eine Blässe entstand zwischen ihnen. Halb war die Schlacht zu Ende. Zuweilen weinte sie im Umhergehen, ihr Herz war so schwer. Aber das Kind in ihrem Schoße war immer warm.

Sie wurden wieder Freunde, neue, mildere Freunde. Aber zwischen ihnen lagerte Blässe. Sie schliefen noch einmal zusammen, sehr ruhig und getrennt, nicht als ein einziges Wesen wie früher. Und zuerst war sie ganz vertraut gegen ihn. Er aber war sehr ruhig und gar nicht vertraulich. Er freute sich zwar in seiner Seele, aber die ganze Zeit über war er nicht lebendig.

Er konnte also bei ihr schlafen und sie in Ruhe lassen. Er konnte jetzt allein bleiben. Er hatte nun endlich gelernt, daß er imstande sei, allein zu bleiben. Das war recht und friedevoll. Sie hatte ihm eine neuere, tiefere Freiheit gegeben. Mochte die Welt ein Wirrwarr von Unsicherheit sein, er war jetzt er selbst. Er war zu einem neuen Dasein gelangt. Er war zum zweiten Male geboren, endlich sich selbst geboren aus dem großen Körper der Menschheit. Nun hatte er endlich sein Eigenwesen gefunden, er bestand für sich allein, selbst wenn er nicht völlig für sich allein war. Zuvor hatte er eigentlich nur insofern bestanden, als er Beziehungen zu einem andern Wesen besaß. Nun hatte er aber sein unbedingtes eigenes Ich – ebensogut wie das auf andere bezogene.

Aber es war sehr stumm, schwach, hilflos, dieses Ich, ein kriechender Säugling. Sehr ruhig ging er umher, fast unterwürfig. Er besaß endlich ein unveränderliches Ich, frei, selbständig, abgesondert.

Sie fühlte sich erleichtert, nun sie von ihm befreit war. Sie hatte ihn sich selbst geschenkt. Sie weinte zuweilen vor Müdigkeit und Hilflosigkeit. Aber er war ein Gatte. Und in dem kommenden Kinde schien sie alles zu vergessen. Es machte sie so warm und schläfrig. Sie verlor sich in langes Nachdenken, undeutlich, warm, unklar, nicht willens, sich aus ihrer Unklarheit herausreißen zu lassen. Und auch über ihn fühlte sie sich beruhigt. Zuweilen trat sie mit einem sonderbaren Licht in den Augen auf ihn zu, reizvoll, rührend, als wolle sie ihn um etwas bitten. Er sah sie an und konnte sie nicht verstehen. Sie war so schön, so einer Erscheinung gleich; aus seiner Brust schienen Strahlen hervorzubrechen und zu ihr hinüberzuschießen. Er war ja nur für sie da, nur für sie. Und dann konnte sie seine Brust umschlingen und küssen, küssen, neben ihm niederknieend, sie, die auf die Stunde ihrer Niederkunft wartete. Und er lag dann da und sah auf seine Brust nieder, bis es ihm schien, als wäre die gar nicht sein eigen, als hätte er sie dort liegen lassen. Und doch war sie sein eigen, und schön und strahlend von ihren Küssen. Er war glücklich im Gefühl einer seltsamen, strahlenden Pein. Und währenddem kniete sie neben ihm nieder und küßte seine Brust in langsamer, verzückter, halb anbetender Weise.

Er wußte, sie wünschte etwas. Sein Herz sehnte sich danach, es ihr zu geben. Sein Herz bemitleidete sie. Und wenn sie ihr Antlitz zu ihm hob, strahlend und rosig wie ein Wölkchen, dann bemitleidete sein Herz sie um so mehr und betete sie an, aber nun aus der Ferne. Sie glich so sehr einer Blume, die er anbetete, nun er fernab von ihr stand, ein Fremder.

Die Wochen glitten hin, die Zeit kam näher, sie waren sehr zart, sehr glücklich in ihrer Zartheit miteinander. Die drängende, leidenschaftliche, dunkle Seele, das mächtige Unbefriedigtsein in ihm schien gestillt, gebändigt, der Löwe in ihm legte sich neben dem Lamme nieder.

Sie liebte ihn in der Tat sehr, und er wartete neben ihr. Sie war ein kostbares, fernes Ding für ihn geworden zu dieser Zeit, nun sie das Kind erwartete. Ihre Seele war in froher Verzückung über das kommende Kind. Sie wünschte sich einen Jungen: o wie gern hätte sie einen Jungen gehabt!

Aber sie schien so jung und gebrechlich. Sie war ja wirklich noch ein Mädchen. Wenn sie am Feuer stand und sich wusch – sie war sehr stolz darauf, sich auch jetzt noch selbst zu waschen – und er sie ansah, dann füllte sich sein Herz mit höchster Zärtlichkeit. So feine, feine Gliedmaßen, ihre schmächtigen, runden Arme wie fliehende Lichtstrahlen, und ihre Beine so schlicht und kindlich, und dabei doch so stolz. O, sie stand auf stolzen Füßen, und entzückend sorglos wiegte sie ihren schweren Leib und die anbetungswürdigen kleinen Rundungen, und die Brüste, die jetzt solche Wichtigkeit bekamen. Und über alle dem strahlte ihr Gesicht wie ein Rosenwölkchen.

Wie stolz sie war, und was für ein stolzes, entzückendes Ding ihr junger Leib! Und sie liebte es, wenn er seine Hand auf ihre reife Fülle legte, so daß er auch von dem Sich-Regen-und-Bewegen dort gepackt wurde. Er war ängstlich und still, sie aber schlang ihre Arme um seinen Nacken in schamloser, stolzer Freude.

Die Wehen begannen, und o, wie sie schrie! Sie verlangte, er solle bei ihr bleiben. Und wenn sie dann lange geschrieen hatte, dann sah sie ihn mit Tränen in den Augen an und sagte mit einem schluchzenden Lachen auf ihrem Gesicht:

»Wirklich du, es macht mir gar nichts aus.«

Aber es war schlimm genug. Für sie jedoch war es nicht tödlich. Selbst die schrecklichen, zerreißenden Schmerzen machten sie immer wieder heiter. Sie schrie und litt, aber war dabei die ganze Zeit über merkwürdig lebhaft und kräftig. Sie fühlte sich so mächtig lebendig und in der Hand einer so gewaltigen Lebenskraft, daß ihr tiefstes Gefühl doch immer eine gewisse Heiterkeit blieb. Sie wußte sie gewann, sie gewann, sie würde stets gewinnen, mit jedem Schmerzanfall kam sie dem Siege näher.

Er litt wahrscheinlich mehr als sie. Er fühlte sich nicht abgeschreckt oder angeekelt. Aber der Schraubstock des Leides hielt ihn sehr fest umklammert.

Es war ein Mädchen. Das sekundenlange Schweigen auf ihrem Gesicht, als sie ihr das sagten, zeigte ihm, wie tief sie sich enttäuscht fühlte. Und eine leidenschaftliche Flamme von Mitleid und Widerspruch schlug in seinem Herzen empor. Von diesem Augenblicke an beanspruchte er das Kind für sich.

Als aber dann die Milch kam und das Kleine ihre Brust zu saugen begann, da jauchzte sie in höchstem Entzücken auf.

»Es saugt, es saugt, es hat mich lieb – o, es hat mich lieb!« rief sie und bedeckte das Kind an ihrer Brust mit beiden Händen, voller Leidenschaft.

Und nach ein paar Augenblicken, als sie sich an ihr Glück gewöhnt hatte, sah sie ihren Gatten mit glühenden, nichts sehenden Augen an und sagte:

»Anna Victrix.«

Er ging zitternd fort, um zu schlafen. Für sie waren ihre Wundschmerzen die eines Siegers, und sie fühlte sich um so stolzer.

Sobald sie wieder wohl war, fühlte sie sich sehr glücklich. Sie nannte das Kleine Ursula. Anna sowohl wie ihr Gatte fühlten, sie müßten einen Namen haben, der sie beide im Innersten befriedigte. Das Kleine hatte eine dunkle Hautfarbe, eine sonderbar flaumige Haut, und Strähne von bronzefarbigem Haar, und gelbgraue Augen, die die Farbe wechselten und dann goldigbraun wie die ihres Vaters wurden. Sie nannten sie also Ursula nach dem Bilde der Heiligen.

Das Kleine war zuerst sehr zart, wurde aber bald kräftiger und lebhaft wie ein junger Aal. Anna war von dem den ganzen Tag dauernden Ringen mit seiner jungen Kraft ganz erschöpft.

Wie ein kleines Tier liebte und betete sie es an und war glücklich dabei. Sie liebte ihren Gatten und küßte seine Augen und seine Nase und Mund, und verhätschelte ihn sehr, sie behauptete, seine Glieder seien so schön, sie war von seiner äußeren Form ganz bezaubert.

Und sie war tatsächlich Anna Victrix. Er konnte nicht länger gegen sie ankämpfen. Er war draußen in der Wildnis mit ihr, allein mit ihr. Als er gelegentlich einmal nach London mußte, wunderte er sich bei der Rückkehr, wie ein Haufen nackter, auf einer Insel herumschleichender Wilder die Riesenmasse von Oxfordstreet oder Piccadilly hätte aufbauen und erschaffen können. Wie hatten hilflose Wilde, die mit ihren Speeren am Flußufer hinter Fischen herliefen, so weit kommen können, dies riesige London zu errichten, den gewichtigen, massigen, häßlichen Oberbau einer Welt des Menschen auf einer Welt der Natur. Es erschreckte und ängstigte ihn. Schrecklich, furchtbar war der Mensch in seinen Werken. Die Werke des Menschen waren schrecklicher als der Mensch selbst, fast ungeheuerlich.

Und doch, soweit er selbst, er als Einzelwesen in Frage kam, fühlte Brangwen, daß die Welt des Menschen, als Ganzes genommen, seinem wirklichen Leben mit Anna als etwas Äußerliches, Fremdes gegenüberstand. Fegt den ganzen riesigen Oberbau der heutigen Welt weg, Städte, Gütererzeugung und Gesittung, und laßt nur die bloße Erde mit ihren blühenden Pflanzen und ihrem fließenden Wasser übrig, und es sollte ihm gleichgültig sein, solange er nur gesund blieb, solange er Anna und das Kind und die neue, seltsame Sicherheit seiner Seele behielte. Und wäre er dann auch nackt und bloß, er würde schon Kleidung finden, er würde ein Obdach bauen und seinem Weibe Nahrung bringen.

Und weiter? Was weiter wäre dann noch notwendig? Die Tätigkeit, in der sich die Menschheit zum größten Teile erging, bedeutete für ihn gar nichts. Er hatte seiner Veranlagung nach keinen Teil an ihr. Wozu lebte er denn? Nur für Anna und rein um zu leben? Was wollte er denn hier auf Erden? Nur Anna und seine Kinder und sein Leben mit den Kindern und ihr? War denn weiter nichts da?

Das Gefühl von etwas mehr, etwas Höherem, das ihn überkam, war es, das ihm sein unbedingtes Wesen verlieh. Es war, als bestände er nun für die Ewigkeit, mochte die Zeit sein, was sie wollte. Was gab es denn noch außerdem? Die künstliche Welt, an die er nicht glaubte? Was konnte er ihr von draußen mitbringen? Nichts? War es genug an dem, was schon da war? Er fühlte sich beunruhigt in seiner Ergebung. Sie war nicht bei ihm. Und er glaubte doch kaum an sein Ich, soweit es von ihr getrennt war, obwohl das ganze Weltall mit ihm war. Laß die ganze Welt abstürzen, über den Rand der Vergessenheit versinken, er würde allein bleiben. Aber er fühlte sich ihrer unsicher. Und er bestand doch auch in ihr. So war er unsicher.

Er ging in ihrer Nähe herum, nie ganz imstande, die undeutliche, peinigende Unsicherheit zu vergessen, die ihn herauszufordern schien, und der er doch kein Gehör schenken wollte. Ein Stich von Furcht, fast von Schuldgefühl, wie wenn er irgendwie nicht genüge, konnte ihn überkommen, wenn er sie zu der Kleinen sprechen hörte. Sie stand am Fenster mit dem einen Monat alten Säugling auf dem Arme und redete auf ihn in einem lieblichen, kindlichen Singsang ein, den er noch nie vernommen hatte, und der in seinem Herzen wie aus weiter Ferne widerhallte, oder wie die Stimme einer andern Welt, die ihn für sich beanspruchte. Er stand in der Nähe und hörte zu, und sein Herz schwoll, schwoll empor, um sich zu unterwerfen. Dann schreckte er wieder zurück und hielt sich abseits. Er konnte sich nicht bewegen, ein Nein lag über ihm, er konnte sich nicht selbst verleugnen. Er mußte, er mußte er selbst bleiben.

»Kuck mal die dummen Blaukäppchen an, mein Schönstes«, murmelte sie und hielt das Kind ans Fenster, durch das der weiße Garten hineinleuchtete, wo die Blaumeisen durch den Schnee hüpften: »Kuck mal die dummen Blaukäppchen an, mein Liebling, wie sie sich da im Schnee balgen! Kuck mal, mein Vögelchen, wie sie den Schnee mit den Flügeln schlagen und die Köpfe schütteln. O, was für Bösewichter sind das, was für Bösewichter! Kuck mal, ihre gelben Federn da im Schnee! Nachher haben sie dann keine mehr, nicht wahr, und dann sind sie kalt.«

»Wollen wir ihnen mal sagen, sie sollen aufhören, wollen wir mal Halt! rufen, mein Vögelchen? Aber sie sind so ungezogen, so ungezogen! Sieh mal!« Mit einem Male brach ihre Stimme laut und herrisch los, scharf klopfte sie an die Fensterscheibe:

»Hört auf!« rief sie, »hört auf, ihr kleinen Nichtsnutze! Wollt ihr wohl aufhören!« Sie rief immer lauter und klopfte schärfer an die Scheiben. Ihre Stimme klang wild und herrisch.

»Wollt ihr wohl vernünftig sein!«

»Da, nun sind sie weg. Wo sind sie nun hin, die dummen Dinger? Was erzählen sie sich nun wohl? Was sagen sie nun wohl, mein Lämmchen? Sie vergessen es, nicht wahr, sie vergessen gleich alles wieder mit ihren kleinen dummen Köpfchen und ihren blauen Käppchen.«

Nach einer Weile wandte sie ihr leuchtendes Gesicht ihrem Gatten zu.

»Sie stritten sich wirklich, sie waren wirklich ganz böse miteinander!« sagte sie, ihre Stimme scharf vor Aufregung und Verwunderung, als gehöre sie der Vogelwelt an, fühlte sich ihnen stammverwandt.

»Ja, die müssen sich immer zanken, die Blaumeisen«, sagte er, froh, als sie sich mit dieser aus einer andern Welt stammenden Glut ihm zuwandte. Er trat herbei und sah neben ihr stehend nach den Spuren im Schnee, wo die Vögel sich gebalgt hatten, und nach den schwarzen Eibenbäumen mit ihrer weißen Last. Was riefen sie ihm zu, welche Frage lag auf ihrem hellen Gesicht, welcher Aufforderung sollte er Rede stehen? Das war ihm nicht klar. Aber als er so neben ihr stand, fühlte er eine Verantwortung, die ihn froh, wenn auch besorgt machte, als müßte er sein eigenes Licht auslöschen. Und er konnte sich noch nicht bewegen.

Anna liebte das Kind sehr, o sehr! Und doch war sie noch nicht vollkommen. Sie hatte noch immer ein Gefühl von Erwartung, als stünde eine Tür halb offen. Hier saß sie still und sicher in Cossethay. Aber sie fühlte sich, als wäre sie gar nicht in Cossethay. Sie strengte ihre Augen an zu weiterem Ausblick. Und was konnte sie denn sehen vom Berge ihrer Verheißung aus, den sie erklommen hatte? Weit, weit weg einen schwach glimmenden Umkreis, und einen Regenbogen wie ein großes Tor, ein schattenhaftes Tor mit schwachgetöntem Gewölbe darüber. Mußte sie dorthin?

Etwas hatte sie noch nicht begriffen, konnte sie nicht begreifen, sich nicht erklären. Es lag etwas noch jenseits von ihr. Aber warum erst die Reise dorthin antreten? Sie stand so sicher auf dem Berge der Verheißung.

Im Winter, wenn sie mit der Sonne aufstand und aus den Hinterfenstern den Osten gelb und rot über dem grünfunkelnden Gras aufflammen sah, während ihr großer Birnbaum schwarz und mächtig als Wahrzeichen davorstand und unter seiner dunklen Masse die kleine Wasserfläche sich in brennendem Gelb leuchtend abhob, dann sagte sie sich: »Es ist hier.« Und brach dann am Abend der Sonnenuntergang mit roter Glut durch eine Wolkenöffnung, so sagte sie sich wieder: »Es ist drüben.«

Sonnenaufgang und -untergang waren die Füße des Regenbogens, der den Tag überspannte, und sie sah die Hoffnung, die Verheißung. Wozu sollte sie noch weiterziehen?

Und doch stellte sie sich diese Frage fortwährend. Wenn die Sonne in feuriger Winterhast unterging, stand sie dem letzten glastenden Augenblick gegenüber, in dem sie ihre bedeutendste Rolle noch nicht gespielt hatte, und stellte wieder ihre Frage: »Was machst du da, wenn du diesen glänzenden Aufruhr anstiftest? Wozu bist du so geschäftig, daß du uns nicht in Ruhe lassen kannst?«

Sie wandte sich nicht um Führung an ihren Gatten. Er stand ihr fern oder nah, je nachdem sie ihn grade auffaßte. Das Kind konnte sie hochheben, sie konnte es kopfüber in den feurigen Ofen werfen, das Kind mochte dort durch die brennenden Kohlen und die brausende Glut wandeln, wie die drei Männer mit dem Engel das Feuer durchschritten hatten.

Bald fühlte sie sich ihres Gatten gewiß. Sie kannte sein dunkles Gesicht und die Größe seiner Leidenschaft. Sie kannte seinen schlanken, kräftigen Körper und hieß ihn ihr eigen. Dann konnte er sie nicht verleugnen. Eine reiche Frau war sie und erfreute sich ihres Reichtums.

Und bald hatte sie wieder ein Kind, was sie zufrieden machte und ihre Unrast beseitigte. Sie vergaß, wie sie die Sonne hatte aufsteigen und ihren Lauf nehmen sehen, einen prächtigen Wanderer, der immer vorwärts strebte. Sie vergaß, wie der Mond ihr aus einem Fenster in der hohen, dunklen Nacht geschaut hatte und ihr ein Zauberwort als Erkennungszeichen zugerufen, ihr bedeutet hatte ihm zu folgen. Sonne und Mond hatten sie verlassen, waren weitergezogen, an ihr, der reichen Frau, die sich ihrer Schätze erfreute, vorüber. Aber nun konnte sie ihnen auch nicht mehr folgen, wenn sie riefen, denn jetzt mußte sie zu Hause bleiben. Mit Befriedigung ließ sie das Abenteuer des Unbekannten im Stich. Sie hatte ja ihre Kinder.

Wieder kam ein Kind, und Anna versank in wohlige Zufriedenheit. Aber ob sie nun auch nicht länger mehr der Wanderer ins Unbekannte war, auch nun sie sich in ihrem selbstgebauten Hause niedergelassen hatte, eine reiche Frau, immer noch öffneten sich die Tore unter dem Regenbogen, die Schwelle spiegelte Sonne und Mond in ihrem Laufe wider, die großen Wanderer und ihr Haus waren erfüllt vom Widerhall ihrer Wanderung.

Sie auch war eine Tür, und eine Schwelle, sie selbst. Aus ihr entstand eine neue Seele, die auf ihr als einer Schwelle fußen würde, ausspähend, sich die Augen beschattend, um den richtigen Weg zu finden.


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