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Siebentes Kapitel.
Der Dom

Im ersten Jahre ihrer Ehe, bevor Ursula geboren wurde, fuhren Anna Brangwen und ihr Mann zu Besuch zu ihrer Mutter Freund, Baron Skrebensky. Dieser hatte stets eine oberflächliche Verbindung mit Annas Mutter aufrechterhalten, und hatte eine gewisse amtliche Teilnahme an dem jungen Mädchen bewiesen, weil sie ja reine Polin war.

Als Baron Skrebensky ungefähr vierzig Jahre alt war, starb seine Frau und ließ ihn in trostloser Raserei zurück. Lydia hatte ihn damals besucht und hatte Anna mitgenommen. Da war sie ein Kind von vierzehn Jahren gewesen. Seit der Zeit hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie erinnerte sich seiner als eines kleinen, scharfen Priesters, der immer schrie und redete und sie bange machte, während ihre Mutter ihm in einer fremden Sprache auf ganz seltsame Weise Trost zusprach.

Der kleine Baron war nie recht mit Anna zufrieden, weil sie nicht polnisch sprach. Aber er hielt sich doch in gewisser Hinsicht für ihren Vormund, Lenskys wegen, und schenkte ihr einen alten, schweren, russischen Schmuck, das wenigst wertvolle Stück aus seiner Frau Nachlaß. Dann verlor er sich aus dem Leben der Brangwens, obwohl er nur dreißig Meilen entfernt von ihnen lebte.

Drei Jahre später kam die aufsehenerregende Mitteilung, er habe eine junge Engländerin aus guter Familie geheiratet. Alles wunderte sich. Dann traf ein Buch ein: »Geschichte des Kirchspiels Briswell, von Rudolf Baron Skrebensky, Vikar zu Briswell.« Es war ein merkwürdiges Buch, unzusammenhängend, aber voll bemerkenswerter Ausgrabungen. Gewidmet war es: »Meiner Frau Millicent Maud Pearse, in der ich den Geist des edelmütigen England umarme.«

»Wenn er weiter nichts zu umarmen hat als den Geist Englands,« sagte Tom Brangwen, »denn hat er man schlechte Aussichten.«

Aber bei einem förmlichen Besuch mit seiner Frau fand er in der neuen Baronin ein sahnefarbiges, hinterhältiges kleines Ding mit rotbraunem Haar und einem Mund, den man immerfort ansehen mußte, weil er sich unaufhörlich zu einem unbegreiflichen, seltsamen Lachen verzog und dabei ihre reichlich vorstehenden Zähne freiließ. Schön war sie nicht, und doch lag Tom Brangwen sofort in ihrem Banne. Sie schien sich sogleich wie ein kleines Kätzchen in seiner Wärme zusammenzukugeln, während sie zu gleicher Zeit hinterlistig und spöttisch blieb, so daß man immer an den feinen Stahl ihrer Krallen denken mußte.

Der Baron war beinahe bis zur Lächerlichkeit höflich und aufmerksam gegen sie. Fast ein wenig spöttisch, aber doch recht glücklich, gestattete sie ihm seine Vernarrtheit. Ein sonderbares kleines Ding war sie, mit der weichen, sahnenzarten, nicht zu greifenden Schönheit eines Wiesels. Tom Brangwen war gänzlich verloren, vollkommen in ihren Händen, und sie lachte etwas atemlos, als fühle sie sich zu Grausamkeiten geneigt. Sie erlegte dem ältlichen Baron fein ersonnene Folterqualen auf.

Als sie ein paar Monate später einen Sohn gebar, war Baron Skrebensky in hellem Entzücken.

Allmählich versammelte sie einen Kreis von Bekanntschaften in der Grafschaft um sich. Denn sie war von gutem Herkommen, eine halbe Venezianerin, in Dresden erzogen. Der kleine fremde Vikar erreichte damit eine gesellschaftliche Stellung, die seinen wahnsinnigen Stolz fast befriedigte.

Daher waren die Brangwens ganz überrascht, als die Einladung für Anna und ihren jungen Gatten kam, das Pfarrhaus zu Briswell zu besuchen. Denn es ging den Skrebenskys jetzt recht gut, da Millicent Skrebensky etwas eigenes Vermögen besaß.

Anna suchte ihre besten Kleider hervor, legte ihr feinstes Benehmen aus der Schulzeit wieder an und ging mit ihrem Gatten hin. Will Brangwen, rosigglänzend, mit langen Gliedmaßen und seinem kleinen Kopfe, wie ein ungeschlachter Vogel, war nicht im geringsten verändert. Die kleine Baronin lächelte und zeigte ihre Zähne. Sie hatte wirklich etwas Reizvolles, eine Art kühler Fröhlichkeit, lachend, über alles entzückt wie ein Wiesel. Anna bekam sofort große Achtung vor ihr und war vor ihr auf der Hut; sie wurde gefühlsmäßig von der seltsam kindlichen Sicherheit der Baronin angezogen und mißtraute ihr doch, trotz ihres Zaubers. Der kleine Baron war jetzt ganz weißhaarig, aber gebrechlich. Er war trocken und runzelig geworden, aber dabei doch feurig und unbändig geblieben. Anna sah seinen mageren Körper an, seine kleinen dünnen Beine und mageren Hände, während er mit ihr im Gespräch dasaß, und errötete. Sie fühlte heraus, daß er doch noch ein Mann geblieben war, mit seinem dürren, gesammelten Alter, seinem kenntnisreichen Feuer, seiner Befähigung zu scharfen, wohlüberlegten Antworten. Er war so losgelöst, so völlig sachlich. Das Weib stand vollkommen außerhalb seines Sinnens. Es gab keine Verwirrung für ihn. Daher konnte er so feine, überlegte Antworten geben.

Er war ein abgesondertes, reizvolles Wesen; seine Innerlichkeit war durch das Alter zu einer beinahe todesgleichen Schärfe und Offenheit abgeschliffen, grausam, und war dabei so unfehlbar sicher in ihrer Richtung, so klar in ihrer Sicherheit, daß sie sich zu ihm hingezogen fühlen mußte. Bezaubert beobachtete sie sein kühles, hartes, abgeklärtes Feuer. War ihr das wohl lieber oder ihres Gatten weitschweifige Hitze, seine blinde, heiße Jugend?

Es kam ihr vor, als atme sie scharfe Höhenluft, als käme sie grade aus einem heißen Raume. Die Skrebenskys machten sie durch ihre Seltsamkeit auf das Vorhandensein eines anderen, freieren Zustandes aufmerksam, in dem jeder Einzelne für sich dastehen konnte. War das nicht ihr angeborener Zustand? Mußte sie in der engen Brangwenschen Lebensanschauung nicht ersticken?

Mittlerweile spielte die kleine Baronin, fortwährend ein schwaches Leuchten in ihren großen, schimmernden haselnußbraunen Augen, mit Will Brangwen. Er war nicht rasch genug, um all ihre Bewegungen zu erspähen. Aber er beobachtete sie doch unausgesetzt, mit unveränderlichen, helleuchtenden Augen. Sie war für ihn ein seltsames Geschöpf. Aber sie besaß keine Gewalt über ihn. Sie errötete, wurde gereizt. Und doch sah sie wieder und wieder in sein dunkles, lebhaftes Gesicht, voller Neugierde, als verachte sie ihn. Sie verachtete sein gläubiges, spottloses Wesen, es bot ihr nichts. Und doch ärgerte es sie, als fühlte sie sich eifersüchtig. Er beobachtete sie mit ehrerbietiger Anteilnahme, als sähe er dem Spiel eines Hermelins zu. Aber er ließ sich nicht von ihr umgarnen. Er war zu verschiedener Art. Sie war völlig leckende, beißende Flamme, er ein stetig rotglühendes Feuer. Sie konnte nichts aus ihm machen. Darum machte sie ihn durch Annahme einer scharfen, beißenden Standesüberlegenheit dunkel erröten. Er errötete, aber erhob keinen Einspruch. Er war von zu verschiedener Art.

Ihr kleiner Junge kam mit seiner Wärterin herein. Er war ein aufgewecktes, schmächtiges Kind, von rascher Auffassung und einer oberflächlichen Kälte gegen alles, was seine Aufmerksamkeit erregte. Will Brangwen behandelte er von vornherein als abseits stehend. Bei Anna blieb er einen Augenblick, erkannte sie offenbar an, war dann aber gleich wieder fort, rasch, aufmerksam, rastlos, alles sofort auf den ersten Blick erfassend.

Sein Vater betete ihn an und sprach polnisch mit ihm. Es war sonderbar: die steife, vornehme Art des Vaters mit seinem Kinde, der Abstand in ihren Beziehungen, das mustergültige Benehmen des Vaters auf der einen Seite und die Unterordnung des Sohnes auf der andern. Sie spielten miteinander, zwar als zwei in ihren beiderseitigen Stellungen ganz verschiedene, voneinander getrennte Wesen, deren Verschiedenheit eher auf der des Ranges als auf der des verwandtschaftlichen Grades beruhte. Und die Baronin lächelte, lächelte, lächelte, lächelte immerfort, zeigte ihre recht vorstehenden Zähne und übte dabei doch stets eine geheimnisvolle, reizvolle Anziehungskraft aus.

Anna wurde es klar, wie anders auch ihr Leben hätte sein können, wie verschieden ihre Lebenshaltung. Ihre Seele kam in Wallung, sie wurde eine andere. Ihre Vertrautheit mit ihrem Gatten verlor sich, diese sonderbare, alles umhüllende Vertrautheit der Brangwens, so warm, so eng, so erstickend, bei der man sich in steter Berührung mit dem andern fühlte, wie eine Blutsverwandtschaft; sie wurde zu nichts. Sie leugnete sie ab, diese enge Verwandtschaft mit ihrem jungen Gatten. Er und sie waren nicht eins. Seine Hitze sollte sie nicht immerfort überfluten, auf sie, ihren Geist und ihre Wesenheit einströmen, bis sie die gleiche Glut empfände wie er, bis sie kein eigenes Ich mehr besäße. Sie wollte ein eigenes Leben. Er schien sie zu umschließen und mit seinem Wesen zu überströmen, mit seinem heißen Leben, bis sie gar nicht mehr wußte, war sie noch sie selbst, oder war sie eine ganz andere, mit ihm in engster Blutsverwandtschaft lebend, die über ihr zusammenschlug und sie von der kühlen Außenwelt ausschloß.

Sie wollte ihr eigenes, altes scharfes Ich wiederhaben, losgelöst, losgelöst, tätig, aber nicht sich entäußernd, für sich selbst tätig, empfangend und gebend, aber nicht beschlagnahmt. Er aber, der Sonderbare, wünschte sie ganz mit Beschlag zu belegen, wogegen sie noch immer Widerstand leistete. Aber teilweise war sie doch hilflos dagegen. Sie hatte ehedem so lange in Tom Brangwens Liebe gelebt.

Von Skrebenskys fuhren sie zu Will Brangwens geliebtem Dom zu Lincoln, weil er nicht weit entfernt war. Er hatte ihr versprochen, mit ihr alle Dome in England, einen nach dem andern, zu besuchen. Sie fingen mit Lincoln an, das er gut kannte.

Er wurde allmählich ganz aufgeregt, je näher die Zeit ihrer Abfahrt kam. Was brachte nur diese Veränderung in ihm hervor? Sie war beinahe ärgerlich, da sie eben erst von den Skrebenskys kam. Aber nun ging er wieder seinen eigenen Weg. Seine Brust schien sich zu öffnen und die große, die ganze Stadt überragende Kirche in sich aufzunehmen. Seine Seele lief voran.

Sowie er den Dom in der Ferne sah, dunkelblau, wie ein Wächter gen Himmel ragend, da hüpfte sein Herz hochauf. Das war das Zeichen am Himmel, der Geist, der gleich einer Taube, gleich einem Adler über der Erde schwebte. Er wandte sein glühendes, verzücktes Gesicht zu ihr, sein Mund öffnete sich zu einem seltsam verklärten Grinsen.

»Da ist sie«, sagte er.

Das »sie« regte sie auf. Weshalb denn »sie«? Es war doch »er«. Was war denn der Dom weiter als ein mächtiges Gebäude, ein der Vergangenheit angehöriges Etwas, ganz verwischt bereits, und das sollte ihn derartig aufregen? Sie begann sich zum Kampf zu rüsten.

Sie zogen den Hügel hinauf, er verzückt wie ein Pilger, der den Schrein erreicht hat. Als sie in die nähere Umgebung kamen, mit dem Schlosse auf der einen Seite und dem Dome auf der andern, da schienen seine Adern in feurigen Blüten ausbrechen zu wollen, er war ganz entrückt.

Sie traten durchs Tor, und die große Westseite lag vor ihnen, in ihrer ganzen Ausdehnung und Pracht.

»Die Vorderseite ist nur vorgeklebt«, sagte er und blickte auf den goldenen Stein und die Zwillingstürme, trotz alledem voller Liebe. Unter dem Haupteingang fand er sich sogar gradezu in Verzückung, auf der Schwelle des Unenthüllten. Er blickte zu dem wundervollen Steinwerk empor. Nun würde er in den Schoß der Vollkommenheit eingehen.

Dann stieß er die Tür auf, und die weite, pfeilerdurchsetzte Dämmerung tat sich vor ihm auf; seine Seele erschauerte und erhob sich von ihrem Lager. Hochauf sprang seine Seele und stieg in die mächtige Kirche empor. Sein Körperliches verhielt sich ganz still, ganz hingerissen von ihrer Höhe. Auf fuhr seine Seele in die Dämmerung, ergriff von ihr Besitz; strauchelte, schwindelte bei dem Versuch zu entkommen, erzitterte im Schoße, im schweigenden Dämmer der Fruchtbarkeit, verzückt wie der zeugende Same.

Auch sie war ganz überwältigt vor Bewunderung und Ehrfurcht. Sie folgte seinem Voranschreiten. Hier wurde das Zwielicht zu wirklichem Lebensinhalt, die farbige Dunkelheit war der Keim alles Lichts, ja des Tages. Hier zuerst dämmerte alles Licht empor, hier ging zuletzt die Sonne unter, und die Dunkelheit unvordenklicher Zeiten, aus der des Lebens Tag erblühen und in die er wieder versinken mußte, hallte nur Frieden und tiefes, unergründliches Schweigen wider.

Fort aus der Zeit, heraus aus der Zeit. Zwischen Ost und West, zwischen Dämmerung und Sonnenuntergang lag die Kirche wie ein Samenkorn in Schweigen, dunkel ehe sie aufkeimte, still im Tode. Geburt und Tod umfassend, allen Lärm und alle Vorkommnisse des Lebens enthaltend, blieb der Dom immer schweigend, ein mächtiges eingebettetes Samenkorn, dessen Blüte unfaßbar strahlendes Leben sein muß, dessen Beginn und Ende aber der Kreis des Schweigens war. Vom Regenbogen überwölbt ließ die juwelenstrahlende Dämmerung Musik auf Schweigen folgen, Licht auf Finsternis, Fruchtbarkeit dem Tode, wie das Samenkorn Blatt um Blatt mit Wurzel und Blüte gleichzeitig umschließt, sie insgesamt ins Schweigen des Geheimnisses des Alls einhüllend, den Tod, aus dem es entspringt, das Leben, in das es hineintaumelt, die Unsterblichkeit, die es in sich begreift, und den Tod, dem es wieder anheimfallen wird.

Hier in der Kirche lagen »Zuvor« und »Nachher« eingeschlossen, alles war in einem inbegriffen. Brangwen kam hier zu seiner Verklärung. Aus der Öffnung des Schoßes trat er hervor, schlug die Flügel beiseite und stand im Licht. Durch Tageslicht und den einförmigen Alltag war er geschritten, durch Erkenntnis auf Erkenntnis, durch Erfahrung auf Erfahrung, immer in Erinnerung des Schoßes und in Vorkenntnis der Dunkelheit nach dem Tode. Dann hatte er zwischendurch die Türen des Domes aufgestoßen und war in das Zwielicht beider Finsternisse eingetreten, in die Stille des doppelten Schweigens, wo Frührot Sonnenuntergang ist, und Anfang und Ende eins.

Hier schoß der Stein von der ebenen Erde in die Höhe, strebte in mannigfaltigem, zusammengedrängtem Sehnen hoch, hoch empor von der ebenen Erde, durch Zwielicht und Dämmerung, über die ganze Stufenleiter aller Wünsche, durch alle erdenklichen Seitensprünge, alle möglichen Abzweigungen, ach! der Verklärung, der Berührung, dem Treffen und der Vollendung, der Umklammerung, der engsten Umarmung entgegen, dem Einswerden, der vollkommensten, schwindelnden Vollendung, zeitloser Verzückung! Dort blieb seine Seele hängen, am Schlußstein des Bogens in zeitloser Verzückung verharrend, vollendet.

Und um ihn war weder Zeit noch Leben oder Tod, nur dies eine, diese zeitlose Vollendung, wo jeder von der Erde emporstrebende Schuß auf einen andern traf und der Bogen sich im Schlußstein der Verzückung vollendet. Dies war alles, dies war das Ganze. Bis er schließlich unten auf der Erde wieder zu sich kam. Dann sammelte er sich wieder vorübergehend, jede Fiber in ihm spannte sich und sprang, sprang empor in die Dunkelheit ihm zu Häupten, empor zu der Fruchtbarkeit und dem einzigen Geheimnis, zur Berührung, zu der Umklammerung, der Vollendung, dem Gipfel des Ewigkeitsgefühls, dem Schlußstein des Bogens.

Auch sie war überwältigt, aber eher auf das Schweigen als den rauschenden Zusammenklang des Ortes gestimmt. Er war ihr lieb als eine ihr nicht gänzlich eigene Welt, aber sie fühlte sich abgestoßen durch ihres Mannes Verzückung und Freude. Seine Leidenschaftlichkeit hier im Dom versetzte sie zuerst in Furcht, dann in Ärger. Schließlich gabs draußen auch noch den Himmel, und hier drinnen in dieser geheimnisvollen Halbnacht, wo seine Seele zu den Pfeilern emporfuhr, geschah es nicht zu den Sternen und dem durchsichtigen, dunklen Raum, sondern nur um sich mit dem ihm zusagenden Antrieb des emporstrebenden Steines zu vereinen, ihn zu umarmen, dort oben im geheimnisvollen Dunkel des Daches. Das himmelhohe Einanderzustreben und Sichschließen der Wölbungen, das Aufstreben und Springen des Steines, das das gewaltige Dach über ihnen trug, versetzte sie in Furcht und Schweigen.

Und doch – und doch mußte sie daran denken, daß der offene Himmel kein blaues Gewölbe war, keine dunkle Kuppel, in der viel funkelnde Lampen hingen, sondern ein Raum, durch den die Sterne frei und ungebunden dahinrasten, und über ihnen immer weitere Räume.

Der Dom erregte auch sie. Aber sie gab sich nicht damit zufrieden, daß all der emporstrebende Stein sich dort oben zu einem großen Dache zusammenschloß und sie einschloß, und daß es darüber hinaus nun nichts mehr gäbe, nichts mehr, daß dies die äußerste Grenze sei. Seine Seele hätte es zwar gern so gesehen: hier, dies hier ist alles, vollkommen, ewig: Bewegung, Verband, Verzückung, und keine Vorstellung von Zeit, von Nacht und Tag, nur Leidenschaft, die ihre gewaltigen Wogen auf den Altar heranwälzt, die Wiederkehr der Verzückung.

Auch ihre Seele fühlte sich zu dem Altar hingezogen, zur Schwelle der Ewigkeit, in Verehrung, zu Furcht und Freude. Aber auf dem Wege dorthin zögerte sie, sie mißtraute dem Altar als Gipfelpunkt. Sie wollte sich nicht zu all diesen leidenschaftlichen Flügen empor und wieder empor reißen lassen, um sich zu guter Letzt nur auf die Altarstufen wie ans Ufer des Unbekannten geworfen zu sehen. Gewiß lag eine große Freude und Wahrheit in ihm. Aber selbst in der schwindelnden Betäubung des Domes verlangte es sie noch nach anderen Rechten. Der Altar war ihr leer, sein Licht erloschen. In diesem Busche brannte Gott nicht mehr. Er lag da, toter Stoff. Sie verlangte das Recht auf freien Raum über ihrem Haupte, höher als das Dach. Sie hatte beständig das drückende Gefühl, ein Dach über sich zu haben.

So hielt sie sich an Kleinigkeiten, um sich davor zu bewahren, Hals über Kopf in den Strom der Leidenschaft hineingerissen zu werden, der, in gewaltiger Stärke siegreich seinen eigenen Lauf nehmend, in die Unendlichkeit dahinstürzt. Sie wünschte dieser bestimmten, emporstrebenden, weiterschiebenden Bewegung zu entrinnen, sich aus ihr wie ein Vogel zu erheben, der sich mit nassen, schlaffen Füßen aus der See emporschwingt, wie ein Vogel Brust und Körper aus dem atmenden Pulse der See emporzuheben, die ihn nur zu ungewollten Zielen trägt, wie ein beschwingter Vogel sich loszureißen und sich im freien Raume, in dem Klarheit herrscht, über die feste, überlastete Bewegung hinaus zu schwingen, ein kleiner, freihängender Fleck für sich, der sich hierhin und dorthin bewegt, sieht und antwortet, bevor er wieder sinkt, nachdem er die Richtung gewählt oder gefunden hat, die ihn vorwärts bringt.

Und es war ihr, als müsse sie irgend etwas fest erfassen, als seien ihre Schwingen zu schwach, als daß sie sie ohne weiteres aus diesem Auf und Ab emportragen könnten. Dabei erfaßte ihr Blick zufällig die scheußlichen kleinen, in Stein gehauenen Fratzen, und wie gefangen blieb sie vor ihnen stehen.

Ihre schlauen, kleinen Gesichter lugten aus der gewaltigen Woge des übrigen Domes wie Wesen hervor, die besser Bescheid wußten. Sie wußten ganz genau, diese kleinen Kobolde, die die Einbildungskraft des Menschen widerspiegelten, der Dom sei nicht vollkommen. Sie zwinkerten und lauerten und deuteten auf die vielerlei Dinge, die aus dem großen Plane der Kirche weggelassen worden waren. »Wieviel hier auch drinsteckt, eine ganze Menge haben sie doch nicht hineingekriegt«, spotteten die kleinen Gesichter.

Sie hatten ihren eigenen Willen, jenseits von dem großen Grundzug auf den Altar zu, ihre besondere Bewegung, ihr eigenes Wissen, diese kleinen Gesichter, die trotzig der allgemeinen Strömung entgegenliefen, und siegreich lachten sie der eigenen Winzigkeit.

»O sieh doch mal!« rief Anna, »o sieh doch mal, wie wunderbar, diese Gesichter! Sieh die hier mal an!«

Unwillig sah Brangwen hin. Das war die Stimme der Schlange in seinem Eden. Sie wies auf ein dickes, schlaues, bösartiges kleines Gesicht, in Stein gehauen.

»Der muß die gekannt haben, der Mann, der die ausgehauen hat«, sagte Anna. »Ich glaube sicher, das war seine Frau.«

»Das ist ja überhaupt gar keine Frau, das ist ja ein Mann«, sagte Brangwen kurz.

»So? – Nein! Das ist kein Mann. Das ist kein Männergesicht.« Ihre Stimme klang sehr spöttisch. Er lachte kurz auf und schritt weiter. Aber sie wollte nicht weiter mit. Sie blieb bei den Steinbildern stehen. Und er konnte ohne sie nicht weiter vorwärts. Sie verdarb sein ganzes leidenschaftliches Einvernehmen mit dem Dome. Seine Brauen begannen sich zusammenzuziehen.

»O, dies ist gut!« rief sie wieder. »Hier ist dieselbe Frau – sieh! nur hier hat er sie ärgerlich gemacht. Ist das nicht entzückend? Hat er sie nicht so scheußlich als möglich gemacht?« Sie lachte vor Vergnügen. »Wie der die gehaßt hat! Das muß ein netter Kerl gewesen sein! Sieh sie doch mal an – ist sie nicht furchtbar gut – genau wie ein bösartiges altes Weib. Muß ihm das Spaß gemacht haben, die hier so anzubringen! Da hat ers ihr fein gegeben, nicht wahr?«

»Das ist ein Männergesicht, das ist ja gar keine Frau – ein Mönch – ohne Bart«, sagte er.

Sie prustete vor Lachen los.

»Das ist dir wohl gräßlich, der Gedanke, daß der seine Frau hier in deinen Dom hineingebracht hat, nicht wahr?« höhnte sie, mit unheilig schallendem Gelächter. Es lag boshafte Siegesfreude darin.

Sie hatte sich von dem Dome freigerungen, sie hatte sogar seine Leidenschaft zerstört. Sie war froh. Er ärgerte sich bitterlich. Trotz allen Bemühens konnte er den Dom nicht länger in seiner alten Wunderbarkeit auffassen. Er war enttäuscht. Was früher das Unbedingte für ihn gewesen war, was Erde und Himmel in sich schloß, das war für ihn nur noch dasselbe wie für sie, ein stattlicher Haufen toten Stoffes – tot, tot.

Der Mund war ihm voll Asche, seine Seele voller Wut. Er haßte sie, weil sie ihm abermals eine seiner lebensnotwendigen Einbildungen zerstört hatte. Bald mußte er gänzlich starr werden, erstarren, ohne irgendeine Stelle, auf der er fußen könnte, ohne irgendwelchen Glauben, der ihm einen Ruhepunkt böte.

An einer Stelle seines Innern ging er jedoch tiefer auf das verschmitzte kleine Gesicht ein, das so viel besser Bescheid wußte, tiefer als er zuvor auf den wunderbaren Aufschwung seines ganzen Domes eingegangen war.

Trotzdem fühlte seine Seele sich im Augenblick elend und heimatlos, und er konnte den Gedanken daran nicht ertragen, wie Anna ihn aus seiner geliebten Wirklichkeit vertrieben hatte. Er verlangte nach seinem Dom; er verlangte nach Befriedigung seiner blinden Leidenschaft. Und die konnte er nun nicht mehr erlangen. Es war ein Hindernis dazwischen getreten.

Sie fuhren wieder heim, beide verändert. Sie fühlte eine Art neuer Verehrung für das, wonach es ihn verlangte; er wußte, daß seine Dome für ihn nie wieder das werden würden, was sie ihm gewesen waren. Früher hatte er sie für das Unbedingte gehalten. Nun sah er sie unter dem Himmel dahinkriechen, zwar immer noch die dunkle, geheimnisvolle Welt der Wirklichkeit umfassend, aber als Welt in der Welt, eine Art Schaustellung nebenher, während sie früher die Welt im Nichts gewesen waren: eine Wirklichkeit, eine Ordnung, ein Unbedingtes inmitten sinnloser Verwirrung.

Früher war ihm so gewesen, als brauche er nur durch die große Tür zu treten und auf das ferne, abschließende Wunder des Altars zu schauen, um dann, während die Fenster als Eigenlicht ausstrahlende Juwelenbilder neben ihm schwebten, am Ziele zu sein. Hier trat ihm die Befriedigung nahe, nach der er sich sehnte, auf dies Ziel, den Durchgang zum großen Unbekannten hin steuerte alles, was wirklich war, und dort, der Altar war die geheimnisvolle Pforte, durch die alles und jedes auf seinem Wege zur Ewigkeit hindurch mußte.

In trauriger Enttäuschung wurde es ihm nun aber klar, daß dieser Durchgang kein Durchgang war. Er war zu eng, er war unwahr. Draußen um den Dom flogen zu viele Geister herum, die sich nie durch die juwelenfunkelnde Dämmerung durchsieben lassen würden. Er hatte sein Unbedingtes verloren.

Er lauschte auf die Drosseln in den Gärten und hörte einen Ton heraus, den kein Dom besaß: etwas Freies und Sorgloses und Fröhliches. Auf dem Wege zur Arbeit überschritt er ein Feld, ganz gelb von Löwenzahn, und das Baden in diesem glühenden Gelb war etwas zu gleicher Zeit so Kostbares und so Erfrischendes, daß er sich freute, seinem düsteren Dome fern zu sein.

Auch außerhalb der Kirche war Leben. Vieles, was die Kirche nicht zu umschließen vermochte. Er dachte an Gott und das ganze blaue Rund des Tages. Das war etwas Großes, Freies. Er dachte an die Trümmer griechischen Gottesdienstes, und es schien ihm, ein Tempel werde nie wirklich ein Tempel, bevor er nicht in Trümmern läge und sich dem Winde, dem Himmel, den Kräutern vermähle.

Und doch liebte er seine Kirche noch. Er liebte sie als ein Wahrzeichen. Er betrachtete sie mehr als das, was sie vorzustellen versuchte, denn als das, was sie wirklich vorstellte. Aber lieben mußte er sie. Die kleine Kirche jenseits seiner Gartenmauer zog ihn an, liebevoll widmete er ihr seine Aufmerksamkeit. Er ließ sich ihre Obhut übertragen, ihre Unterhaltung. Sie war für ihn ein altes, geheiligtes Wesen. Er sah nach dem Stein- und Holzwerk, besserte die Orgel aus und flickte ein Stück zerbrochener Schnitzerei, ebenso die ganze innere Einrichtung. Späterhin wurde er auch Vorsteher des Chores.

Sein Leben wechselte seinen Schwerpunkt, es trat mehr an die Oberfläche. Es war ihm nicht gelungen, zu wirklicher Ausgesprochenheit zu kommen, seine wirkliche Ausdrucksweise zu finden. Er mußte in der alten Form weiterleben. Aber im Geiste blieb er unerschaffen.

Anna wurde jetzt ganz durch das Kind in Anspruch genommen, sie ließ ihren Gatten seinen eigenen Weg gehen. Sie war jetzt damit einverstanden, alle Abenteuer ins Unbekannte einstweilen aufzuschieben. Sie hatte ihr Kind, ihre greifbare und unmittelbare Zukunft war das Kind. Wenn ihre Seele auch keinen Ausdruck gefunden hatte, ihrem Schoße war es gelungen.

Die an sein Haus stoßende Kirche wurde ihm sehr vertraut und lieb. Er hegte sie, er hatte sie völlig in seiner Obhut. Konnte er keine neue Tätigkeit finden, so wollte er wenigstens sein Glück im Hegen der alten, lieben Form des Gottesdienstes finden. Er kannte die kleine, weißgetünchte Kirche so genau. In ihrem schattigen Innern sank er in sein altes Sein zurück. Er liebte in ihrem Schweigen zu versinken wie ein Stein im Wasser.

Er durchschritt seinen Garten, stieg auf den kleinen Stufen über die Mauer und trat in das Schweigen, den Frieden der Kirche. Sobald die schwere Tür hinter ihm zuschlug und sein Schritt in dem Mittelgang widerhallte, dann hallte auch sein Herz mit einer schwachen Leidenschaft zarten und geheimnisvollen Friedens wider. Er fühlte sich ein wenig beschämt, wie jemand, der nach dem ersten, mißglückten Versuch es aufs neue unternimmt, zur Vollendung zu gelangen.

Er liebte es, die Kerzen auf der Orgel anzuzünden und dann, allein in ihrem schwachen Lichtschein dasitzend, die Weisen und Gesänge für den Gottesdienst zu üben. Die weißgetünchten Gewölbe sanken in Finsternis zurück, der Klang der Orgel und das Geräusch ihrer Fußtasten erstarben in der unveränderlichen Stille der Kirche, schwache, gespensterhafte Geräusche tönten aus dem Turme hernieder, und dann schwollen die Klänge wieder laut, sieghaft an. Er hörte auf, über sein Leben nachzugrübeln. Sein Wille erschlaffte, er ließ allem seinen Gang. Was zwischen ihm und seinem Weibe stand, war etwas Großes, wenn nicht alles. Sie hatte in Wahrheit den Sieg davongetragen. Er wollte warten und fest bleiben, warten und fest bleiben. Sie und das Kleine und er selbst waren eins. Laut rief die Orgel seinen Einspruch dagegen in die Weite. Seine Seele lag in Finsternis gefangen, während er die Tasten der Orgel niederdrückte.

Für Anna bedeutete das Kleine vollständige Seligkeit und Erfüllung. Ihre Wünsche sanken in Unentschiedenheit hinab, ihre Seele war voller Entzücken über das Kleine. Es war ein recht zartes Kind, und sie hatte Sorgen genug, es aufzuziehen. Daß es sterben könnte, dachte sie keinen Augenblick. Es war ein zartes Kind, daher war es ihre Pflicht, es stark zu machen. Sie stürzte sich in diese Aufgabe hinein, das Kind bedeutete für sie alles. Ihre Einbildungskraft fand hier volle Beschäftigung. Sie war Mutter. Es war für sie genug, die jungen winzigen Glieder, den jungen winzigen Körper in die Hand zu nehmen, die junge schwache Stimme in die Stille hinausschreien zu hören. Eine ganze Zukunft klang für sie aus dem Schreien und Stammeln der Kleinen, sie wog kommende Lebensjahre auf der Hand, wenn sie das Kleine nährte. Ein leidenschaftliches Gefühl der Erfüllung, der Zukunft keimte in ihr empor, machte sie lebhaft und stark. Eine ganze Zukunft lag in ihren Händen, in den Händen einer Frau. Und ehe dies Kleine zehn Monate alt war, fühlte sie bereits ein neues Kind. Sie schien in einem Sturme von Fruchtbarkeit zu leben, jeder ihrer Augenblicke war ausgefüllt und beansprucht durch Neuschöpfung. Sie kam sich vor wie die Erde, die Mutter des All.

Brangwen beschäftigte sich mit der Kirche, er spielte die Orgel, übte die Sängerknaben ein und unterrichtete eine Sonntagsschulklasse von Jungens. Er fühlte sich ganz glücklich. Eine eifrige, sehnsüchtige Art von Glücksgefühl lag über ihm, wenn er Sonntags die Jungens lehrte. Die ganze Zeit über fühlte er sich aufgeregt durch die Nähe eines Geheimnisses, dem er noch nicht auf den Grund gekommen war.

Im Hause stand er in Diensten seiner Frau und ihrer kleinen Weiberherrschaft. Sie liebte ihn als Vater ihrer Kinder. Und sie behielt auch immer eine rein körperliche Leidenschaft für ihn. So gab er es denn schließlich auf, die geistige Oberherrschaft und Leitung zu erlangen oder selbst sie dazu zu bringen, daß sie sein bewußtes oder öffentlich sichtbares Leben für etwas Besonderes hielt. Er lebte lediglich von ihrer sinnlichen Liebe zu ihm. Und er betrachtete sich als Diener der kleinen Mutterherrschaft, er pflegte das Kind mit und half bei der Hausarbeit, völlig gleichgültig gegen seine eigene Würde und Bedeutung. Aber durch dies Aufgeben seiner Ansprüche vereinsamte seine Teilnahme am Leben, er wurde scheinbar unwirklich, unbedeutend.

Anna war vor der Öffentlichkeit nicht stolz auf ihn. Aber sie lernte auch sehr bald gegen das öffentliche Leben gleichgültig zu werden. Er war nicht, was man männlich nennt: er trank nicht, er rauchte nicht und erhob keinen Anspruch auf Bedeutung. Aber er war ihr Mann, und seine Gleichgültigkeit gegen alle Ansprüche an Männlichkeit schob sie an die erste Stelle ihrer gemeinsamen Welt. Sie liebte ihn mit den Sinnen, und diese fanden ihre Befriedigung in ihm. Er ging stets für sich allein umher oder half ihr. Zuerst hatte sie das gereizt, daß die äußere Welt für ihn so gar nicht da war. Wenn sie ihn nur mit den Augen des Körpers ansah, dann fühlte sie sich geneigt, über ihn zu spotten. Aber ihr Spott verwandelte sich bald in eine Art Hochachtung. Sie achtete ihn, weil er ihr so schlicht und unbedingt zu dienen verstand, über alles aber liebte sie, seine Kinder zu gebären. Sie liebte es, die Quelle von Kindern zu werden.

Sie konnte ihn nicht begreifen mit seinen seltsamen, dunklen Wutanfällen und seiner Hingebung an die Kirche. Es war die Kirche als Bauwerk, aus der er sich etwas machte; und doch besaß seine Seele Leidenschaft für irgend etwas. Er arbeitete an der Reinigung ihres Mauerwerks, er stellte ihr Holzwerk wieder her, er besserte die Orgel aus und machte den Gesang so vollkommen, wie es nur ging. Das greifbare Gefüge der Kirche und das Äußerliche des Gottesdienstes aufrecht zu erhalten, das war seine ganze Beschäftigung: das ihm so vertraute, heilige Bauwerk so gänzlich in seiner Hand zu haben und die Form des Gottesdienstes zu vervollkommnen. Auf seinem Gesicht lag schwach leuchtend etwas wie Besorgnis und Spannung, ebenso wie in seinen behutsamen Bewegungen. Er war wie ein Liebhaber, der weiß, daß er betrogen wird, und dessen Liebe nur um so heißer wird. Die Kirche war falsch, aber er diente ihr nur um so aufmerksamer.

Bei seiner Berufsarbeit hing er den Tag über in der Schwebe. Da war er gar nicht er selbst. Er arbeitete vollkommen triebmäßig, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen.

Mit heißem Herzen liebte er die kleine Ursula, und er wartete nur darauf, daß das Kind Bewußtsein erlange. Jetzt belegte die Mutter das Kind noch völlig mit Beschlag. Aber sein Herz wartete im Dunklen. Auch seine Stunde würde kommen.

Auf die Dauer lernte er es auch, sich Anna zu unterwerfen. Sie zwang ihm den Geist ihrer Gesetze auf, und ließ ihm den Buchstaben der seinigen. Sie bekämpfte die Teufel in ihm. Sie litt sehr unter seinen unerklärlichen und unberechenbaren, dunklen Wutanfällen, wenn Dunkelheit ihn erfüllte und ein schwarzer Wind alles fortzufegen schien, was mit ihm zu tun hatte. Sie konnte fühlen, wie dann sie selbst, wie alles von ihm vernichtet wurde.

Zuerst kämpfte sie dagegen an. Wenn er sich in diesem Zustand befand, pflegte er abends niederzuknien, um zu beten. Sie blickte auf seine kauernde Gestalt.

»Was kniest du da und tust, als ob du betest?« sagte sie rauh; »glaubst du, man kann beten, wenn man in so scheußlicher Stimmung ist wie du jetzt?«

Er blieb zusammengekauert still neben dem Bett liegen.

»Scheußlich ist es«, fuhr sie fort, »und so falsch! Was sagst du denn da? Und zu wem bildest du dir ein zu beten?«

Er blieb immer noch regungslos, kochend stieg die Wut in ihm empor, sein ganzes Sein schien sich in seine Bestandteile aufzulösen. Er schien unter einer schweren Last zu leben, und zuweilen kamen dann diese dunklen, ungestalten Wutanfälle über ihn, voller Zerstörungslust. Dann kämpfte sie mit ihm, und ihre Kämpfe wurden schrecklich, mörderisch. Und dann wurde die Leidenschaft zwischen ihnen grade so schwarz und furchtbar.

Aber ganz allmählich, als sie ihn mehr lieben lernte, trat sie beiseite, und wenn sie fühlte, einer seiner Anfälle lag über ihm, dann bemerkte sie ihn gar nicht, sie überließ ihn, und zwar mit Erfolg, ganz seiner Welt und blieb für sich in der ihren. Er hatte dann einen schwarzen Kampf mit sich selbst auszufechten, um wieder zu ihr zu gelangen. Denn schließlich begriff er, es hieße für ihn in der Hölle leben, falls er den Weg nicht zu ihr zurück fände. So kämpfte er, um sich ihr zu unterwerfen, und sie erschrak vor der häßlichen Spannung in seinen Augen. Sie kam ihm voller Liebe entgegen und nahm ihn zu sich. Dann war er dankbar für ihre Liebe, voller Demut.

Er baute sich eine Werkstätte, in der er zerbrochene Sachen aus der Kirche wieder in Ordnung bringen konnte. So hatte er reichlich zu tun: seine Frau, sein Kind, die Kirche, das Holzwerk und sein Beruf, sie alle nahmen ihn in Anspruch. Wenn ihm doch gar keine Schranken gesteckt wären, wenn ihm doch nicht diese Dunkelheit über den Augen lagerte! Aber schließlich mußte er sich dem wohl fügen. Er mußte sich seiner Unzulänglichkeit fügen, der Beschränktheit seiner Fähigkeiten. Er mußte sogar erst sein schwarzes, heftiges Gemüt selbst kennen lernen und sich mit ihm auseinandersetzen. Aber da sie milder gegen ihn wurde, wurde auch dieses ruhiger.

Wenn er zuweilen so ganz still dasaß, das Gesicht ausdruckslos hell, dann konnte Anna doch das Leid unter dieser Helle erkennen. Er wurde sich über die Grenzen seiner Fähigkeiten klar, über das Unausgebildete in seinem eigenen Wesen, über ein paar noch nicht gereifte Knospen, über gewisse dunkle, noch geschlossene Gebilde, die sich auch niemals erschließen und entwickeln würden, so lange er noch im Körper lebte. Er war noch nicht reif für die Vollendung. Etwas Unentwickeltes in ihm setzte ihm Grenzen, es lag eine Dunkelheit in ihm, die er nicht entfalten konnte, die sich nie in ihm entfalten würde.


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