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Dreizehntes Kapitel.
Die Welt des Mannes

Ursula ging nach Cossethay zurück, um nun den Kampf mit ihrer Mutter auszufechten. Ihre Schulzeit war vorüber. Die Reifeprüfung hatte sie bestanden. Nun kam sie heim, um dem unausgefüllten Zeitraum zwischen der Schule und einer möglichen Heirat ins Auge zu sehen.

Zuerst dachte sie, die ganzen Tage würden wie eine fortlaufende Sommerfrische sein, sie würde sich stets völlig frei fühlen. Ihre Seele lag in Verwirrung, war geblendet, leidend, verstümmelt. Es bestand in ihr kein Wille mehr, an sich selbst zu denken. Sie mußte eine Zeitlang einfach verträumen.

Aber schon nach ganz kurzer Zeit befand sie sich im Gegensatz zu ihrer Mutter. Die Mutter besaß um diese Zeit die Fähigkeit, das Mädchen fortgesetzt zu reizen und rein irrsinnig zu machen. Sieben Kinder waren bereits da, und doch war Mrs. Brangwen schon wieder schwanger, mit dem neunten, das sie gebären wollte. Eins war ganz klein an Diphtherie gestorben.

Schon diese Tatsache, daß ihre Mutter wieder schwanger war, brachte ihre Älteste in Wut. Mrs. Brangwen war so selbstzufrieden, so gänzlich erfüllt von ihrem ewigen Gebären. Einzig und allein aus den unmittelbarsten, allergewöhnlichsten körperlichen Dingen machte sie sich etwas. Ursula mit ihrer entflammten Seele durchlitt alle Ängste der Jugend, die immerfort nach irgendwelchen hohen Zielen greift, die sie gar nicht erfassen kann, die sie nicht einmal erkennen oder auch nur begreifen kann. In ihrem Wahnsinn focht sie gegen alle die Dunkelheit an, die ihr gegenüberstand. Und ein Teil dieser Dunkelheit war ihre Mutter. Alles auf den Ring körperlicher Notwendigkeiten zu beschränken, wie ihre Mutter es tat, und selbstgefällig die Wirklichkeit alles anderen von sich zu stoßen, das war schrecklich. Um rein gar nichts kümmerte sich Mrs. Brangwen als um ihre Kinder, das Haus und ein bißchen Ortsklatsch. Und sie wollte sich einfach nichts nahekommen lassen, sie wollte nichts anderes neben sich leben lassen. So ging sie umher, hochschwanger, schlurig, leichtherzig, mit einer gewissen nachlässigen Würde, ließ sich bei allem Zeit, ganz mit sich selbst zufrieden, immer, immerfort an irgend etwas für die Kinder arbeitend, und dadurch im Gefühl, sie erfülle so vollkommen die Aufgabe der Frau.

Diese lange Bewußtlosigkeit selbstgefälligen Schwangerseins hatte sie jung und unentwickelt erhalten. Sie sah kaum einen Tag älter aus als bei Gudruns Geburt. Alle diese Jahre hatte sie nichts weiter erlebt als die Ankunft neuer Kinder, hatte sie sich um nichts bekümmert als um die Leiber ihrer Kleinen. Sobald ihre Kinder zu Bewußtsein kamen, sobald sie ihre eigene Erfüllung erlitten, stieß sie sie von sich. Aber sie blieb Herrin des Hauses. Brangwen blieb in Verbindung mit seiner Frau in einer reichen Schläfrigkeit körperlicher Hitze. Keiner von beiden besaß eine wirkliche Persönlichkeit, sie waren beide unbestimmt als Einzelwesen, so sehr waren sie von der durch Zeugung und Aufzucht ihrer Kinder hervorgerufenen körperlichen Erhitzung durchdrungen.

Wie Ursula das zuwider war, wie sie gegen dies enge, rein auf Körperliches beschränkte Leben häuslichen Herdentums ankämpfte! Ruhig, milde, unerschütterlich wie immer ging Mrs. Brangwen in ihrem Herrscheramt leiblicher Mutterschaft umher.

Es gab schwere Kämpfe. Ursula verstand es, um Dinge zu kämpfen, die ihr am Herzen lagen. Sie bestand darauf, daß die Kinder weniger ruppig und weniger gewalttätig auftraten, sie verlangte einen Platz für sich im Hause. Aber ihre Mutter zog sie wieder nieder, zog sie immer wieder hernieder. Mit all den schlauen Einfällen eines brütenden Tieres machte Mrs. Brangwen Ursula lächerlich und riß ihre Leidenschaften, ihre Gedanken, ihre Verkündigungen herunter. Ursula versuchte sich im Hause auf das Recht der Frau nach Gleichberechtigung mit dem Manne auf dem Felde der Tätigkeit, der Arbeit, zu versteifen.

»Jawohl,« sagte ihre Mutter dann, »da liegt ein schöner Haufen Strümpfe, die notwendig gestopft werden müssen. Da hast du ein Feld für deine Tätigkeit.«

Ursula war Strümpfestopfen gräßlich, und diese Erwiderung machte sie ganz verrückt. Sie haßte ihre Mutter bitterlich. Nach ein paar Wochen erzwungenen häuslichen Lebens hatte sie von ihrem Heim genug. Die Gemeinheit, die Alltäglichkeit, die offensichtliche Bedeutungslosigkeit des Ganzen brachten sie zum Rasen. Sie redete und stürmte in Gedanken, sie tadelte an den Kindern herum und quälte sie, sie kehrte ihrer schwangeren Mutter verachtungsvoll den Rücken, die sie dafür mit hochnäsiger Gleichgültigkeit behandelte, als wäre sie nur ein anspruchsvolles Kind, das man nicht ernst zu nehmen brauche.

Zuweilen wurde Brangwen in den Rummel hineingezogen. Er liebte Ursula und fühlte sich daher immer beschämt, fast als Verräter, wenn er sich gegen sie wenden mußte. Darum tat er es in doppelt wilder und verletzender Weise, und mit einer billigen Roheit, die Ursula blaß werden ließ, stumm und stumpf. Es schien ihr, als werde alles Gefühl in ihr ertötet, als werde ihr Gemüt hart und kalt.

Brangwen selbst befand sich wieder einmal in einem Zustande beständigen Wechsels. Nach all diesen Jahren begann er ein kleines Schlupfloch in die Freiheit zu erspähen. Zwanzig Jahre war er in seinem Geschäft als Zeichner tätig gewesen, eine Arbeit, die ihn nicht fesselte, weil sie ihm vom Schicksal zugemessen erschien. Das Heranwachsen seiner Töchter, ihr sich immer mehr entwickelndes Widerstreben gegen alte Formen verschaffte nun auch ihm die Freiheit.

Er war ein Mann ruhelosen Fleißes. Blind wie ein Maulwurf trieb er seinen Gang durch die über ihm lagernde Erdschicht, arbeitete er sich immer mehr frei von dem körperlichen Zwang, in dem sein Leben gefangen lag. Langsam, blind, tastend suchte er seinen Weg mit dem Rest von Tatkraft zu einer ihm eigenen Ausdrucksweise, einer eigenen Gestaltung.

Jetzt endlich, nach zwanzig Jahren, kam er auf seine Holzschnitzerei zurück, fast genau zu der Stufe, auf der erste bei seinem Adam-und-Eva-Bort aufgegeben hatte, damals als er auf Freiersfüßen ging. Nun aber besaß er Können und Erfahrung, jedoch ohne geistigen Antrieb. Er sah das Kindliche seiner früheren Entwürfe, er sah, in was für einer unwirklichen Welt sie empfangen waren. In seinem Wirklichkeitsgefühl besaß er jetzt eine neue Kraft. Er fühlte sich als etwas Wirkliches, als handhabe er Gegenstände der Wirklichkeit. Manches Jahr hatte er für Coffethay gearbeitet, er hatte die Orgel wieder instand gesetzt, hatte das Holzwerk ausgebessert und dabei allmählich begriffen, worin die Schönheit schlichter Arbeit beruhe. Nun sehnte er sich darnach, Sachen zu schnitzen, die Äußerungen seines eigenen Ich wären.

Aber er konnte nie recht den Anschluß finden – immer war er zu tätig, zu unsicher, zu verwirrt. Schwankend begann er sich auf das Erlernen körperlichen Nachbildens zu werfen. Zu seiner Überraschung fand er, daß er das könne. In Ton und Gips knetend brachte er wundervolle Nachbildungen hervor, wirklich wundervolle. So machte er sich an die Arbeit, Ursulas Kopf auszuführen, hocherhaben, auf Donatellos Weise. In der ersten Leidenschaft fielen ihm wunderschöne Gedanken für die Durchführung ein. Aber er konnte sich nicht bis zur höchsten Höhe in Spannung erhalten. Mit etwas Asche im Munde gab er es auf. Er fuhr fort mit seinen Nachbildungen oder mit Entwürfen, zu denen er die Einzelheiten klassischen Vorbildern entnahm. Er liebte jetzt Delta Robbia und Donatello ebenso wie er als junger Mann Fra Angelico geliebt hatte. Seine Arbeiten hatten etwas von der Frische, dem kindlichen Schwung der frühen Italiener. Aber sie blieben doch eben nur Nachbildungen.

Nachdem er so im Körperhaften an die Grenzen seines Könnens gelangt war, wendete er sich der Malerei zu. Aber wie jeder andere Liebhaber versuchte er es zunächst mit Wasserfarben. Er kam zu gewissen Ergebnissen, fühlte sich aber nicht ernsthaft gepackt. Eine oder zwei Aufnahmen seiner geliebten Kirche verrieten zwar denselben Schwung wie seine Tonformen, wiesen aber nichts von dem Luftigen heutiger Malweise auf; so stand sein Kirchturm wohl da, stand wirklich da und bestätigte sein Dasein, aber er schien doch über seine eigene Bedeutungslosigkeit beschämt; daher gab er die Malerei wieder auf.

Nun griff er die Goldschmiedekunst auf, las Benvenuto Cellini, grübelte über Nachbildungen von Schmucksachen und fing an, kleine Anhänger zu machen in Silber und Perlen und mit Hilfe von Stempeln. Die ersten Sachen, die er in der Begeisterung des Entdeckens ausführte, waren wirklich wunderhübsch. Die späteren wurden schon wieder bloße Nachahmungen. Aber bei seiner Frau anfangend, machte er für sein ganzes Weibervolk je einen Anhänger. Dann machte er Ringe und Armbänder.

Dann fing er Punzen und Ziselieren von Metallarbeiten an. Als Ursula die Schule verließ, machte er eine silberne Schale von ganz entzückender Gestalt. Wie ihn das entzückte, wie es ihm fast zu einer Wollust wurde!

Diese ganze Zeit über bestand seine einzige Verbindung mit der Außenwelt in seinen Abendklassen, die ihn auch mit dem staatlichen Erziehungswesen in Berührung brachten. Hinsichtlich alles anderen war er vergeßlich und gänzlich gleichgültig – sogar hinsichtlich des Krieges. Das Volk war für ihn gar nicht da. Er lebte in vollkommenster Zurückgezogenheit, die weder völkische noch andere große Anziehungskräfte kennt.

Ursula durchflog die Zeitungen so obenhin mit Rücksicht auf den Krieg in Südafrika. Sie machten sie nur elend, und so versuchte sie sich so wenig wie nur möglich mit ihnen zu beschäftigen. Aber Skrebensky war doch da draußen. Er schickte ihr gelegentlich eine Postkarte. Aber es war, als läge in der Richtung, in der sie ihn zu suchen hätte, eine Brandmauer vor ihr, ohne Fenster oder Durchgänge. Sie klammerte sich an den Skrebensky ihres Gedächtnisses an. Die Liebe zu Winifred Inger hatte ihr Leben anscheinend mit sämtlichen Wurzeln aus dem Mutterboden gerissen, dem Skrebensky angehört hatte, und so war sie in die Dürre verpflanzt. Er war wirklich nur noch ein Gedenken. Mit seltsamer Leidenschaft belebte sie sein Andenken aufs neue, nach Winifreds Ausscheiden. Er wurde ihr gradezu zum Wahrzeichen wirklichen Lebens. Es war ihr, als könnte sie durch ihn, in ihm zu ihrem eigenen Ich zurückfinden, das sie gewesen war, bevor sie Winifred liebte, ehe dieses Tödliche über sie gekommen war, diese mitleidlose Verpflanzung. Aber selbst ihr Gedenken war nur das Werk ihrer Einbildung.

Sie träumte von ihrem Zusammensein mit ihm. Sie konnte von ihm in seinem augenblicklichen Dasein nicht träumen, von dem, was er dort tat, wie seine Beziehungen zu ihr nun wohl sein würden. Nun mußte sie zuweilen weinen, wenn sie daran dachte, welch grausames Leid er ihr beim Abschied zugefügt hatte, – ach, wie hatte sie gelitten! Sie erinnerte sich, was sie damals in ihr Tagebuch geschrieben hatte:

»Wäre ich der Mond, ich wüßte, wo ich niederfiele.«

Ach, trostlose Qual bereitete ihr die Erinnerung an ihr damaliges Sein. Denn es war die Erinnerung an ihr totes Ich. Dies alles war jetzt tot nach Winifred. Sie erkannte den Leichnam ihres jungen liebenden Ich, sie wußte, wo er begraben lag. Und dies junge, liebende Ich, um das sie trauerte, hatte doch kaum bestanden, es war doch nur ein Geschöpf ihrer Einbildung gewesen.

Tief in ihrem Innern herrschte unabänderlich und unverändert kalte Verzweiflung. Niemand würde sie nun wieder liebhaben – auch sie würde nie wieder lieben. Der Leib ihrer Liebe war nach Winifred getötet, nur so etwas wie ihr Leichnam war noch in ihr vorhanden. Sie würde leben, sie würde Fortschritte machen, aber sie würde keinen Liebsten haben, kein Liebhaber würde je wieder von ihr wissen wollen. Sie selbst wollte auch von keinem Liebhaber mehr wissen. Die so lebhafte kleine Flamme der Sehnsucht war in ihr für immer ausgelöscht. Der winzige, lebendige Keim, der die Knospe ihres wirklichen Ich umschloß, ihre wirkliche Liebe, war getötet; sie würde zwar weiter emporwachsen zu einer Pflanze, sie würde ihr Bestes tun, um geringere Blüten zur Entfaltung zu bringen, aber ihre Hauptblüte war tot, ehe sie geboren war, ihr ganzes Wachstum galt nur noch der Beförderung einer toten Hoffnung.

Wochen des Elends in dem engen Hause voller Kinder liefen so hin. Was war nun ihr Leben – ein schmutziges, formloses, zersplittertes Nichts, Ursula Brangwen ein Mensch ohne Wert oder Bedeutung, in dem gemeinen Nest Cossethay lebend, innerhalb des schmutzigen Gesichtskreises Ilkestons. Ursula Brangwen mit ihren siebzehn Jahren wertlos und ungewertet, von niemandem benötigt oder gewünscht und sich selber ihres toten Wertes bewußt. Der Gedanke war nicht zu ertragen.

Aber ihr verbissener Stolz ließ sich doch nicht unterkriegen. Mochten sie sie herunterreißen, mochte sie ein Leichnam sein, den nie wieder jemand lieben konnte, mochte sie ein im Innersten verrotteter Schmarotzer sein und von der für andere bestimmten Nahrung leben; nachgeben würde sie niemand.

Allmählich kam sie zu dem Bewußtsein, sie könne zu Hause nicht so weiter leben wie bisher, ohne Stellung oder Bedeutung oder Wert. Die noch zur Schule gehenden Kinder verachteten sie ja ganz offen wegen ihrer Nutzlosigkeit. Sie mußte etwas anfangen.

Ihr Vater meinte, sie könne sich vollauf mit Hilfeleistungen für ihre Mutter beschäftigen. Von ihren Eltern bekam sie nie etwas anderes als einen Schlag ins Gesicht. Sie war kein Mensch für das werktätige Leben. Sie dachte an ganz wilde Geschichten, an Weglaufen und Dienstmädchenwerden, ja sie wollte einen Mann bitten, sie mitzunehmen.

Sie schrieb an ihre Schulvorsteherin um Rat.

»Ich kann mir nicht ausmalen, was du wohl anfangen könntest, Ursula,« kam die Antwort, »falls du nicht etwa Lehrerin an einer Volksschule werden möchtest. Du hast dein Reifezeugnis, und das befähigt dich, eine Stellung als ungeprüfte Lehrerin an jeder beliebigen Schule einzunehmen, mit einem Gehalt von etwa fünfzig Pfund im Jahr.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie tiefen Anteil ich an deiner Sehnsucht nach irgendwelcher Tätigkeit nehme. Du wirst einsehen lernen, daß die Menschheit einen großen Körper darstellt, an dem du ein nützliches Glied bist, du wirst deine eigene Stelle bei der Erfüllung der großen Aufgabe einnehmen, die der Menschheit gestellt ist. Das wird dir die Befriedigung und Selbstachtung einbringen, die dir nichts anderes geben kann.«

Ursulas Herz sank. Das war eine kalte, trostlose Befriedigung. Aber ihr kalter Wille mußte doch beipflichten. Das war es, was ihr nottat.

»Du hast von Hause aus eine empfindsame Veranlagung,« ging der Brief weiter, »gehst rasch auf alles ein. Wenn du nur Geduld und Selbstzucht lernen könntest, dann sehe ich nicht ein, warum du nicht eine gute Lehrerin abgeben solltest. Das wenigste, was du tun kannst, ist, einen Versuch zu machen. Du brauchst als ungeprüfte Lehrerin nur ein Jahr, höchstens zwei Jahre zu dienen. Dann würdest du auf eine höhere Lehranstalt gehen, wo du, wie ich hoffe, deine akademischen Grade erwerben würdest. Ich kann dir nur dringend zureden und dir raten, dein Lernen immer mit dem Hinblick auf späteres Erwerben der akademischen Grade fortzusetzen. Das gibt dir vor der Welt einen Befähigungsnachweis und eine Stellung, und erweitert deine Fähigkeit, dir deinen eigenen Weg zu wählen.

»Ich würde sehr stolz sein, wenn ich sehen könnte, wie eins meiner Mädchen sich seine wirtschaftliche Unabhängigkeit erränge, was so sehr viel mehr bedeutet, als es den bloßen Anschein hat. Ich werde ganz gewiß sehr froh sein, wenn ich erfahre, daß wieder eins meiner Mädchen sich die Mittel errungen hat, frei für sich selbst wählen zu dürfen.«

Das alles klang so grimm, so verzweifelt. Ursula haßte es gradezu. Aber ihrer Mutter Verachtung und ihres Vaters Härte hatten ihre Empfindlichkeit aufs höchste gesteigert, sie empfand die Schande, ewig ein Anhängsel zu bleiben, sie fühlte die tierische Einschätzung durch ihre Mutter wie einen schwärenden Dorn.

Schließlich mußte sie mit der Sprache heraus. Hart und verschlossen im Innern, schlüpfte sie eines Abends in die Werkstätte. Sie hörte das Tap-tap-tap des Hammers auf irgendwelchem Metall. Ihr Vater hob den Kopf, als sie die Tür öffnete. Sein Gesicht war rötlich und von Gedanken erhellt, wie er als Jüngling ausgesehen hatte, sein schwarzer Schnurrbart war dicht über dem breiten Mund abgeschnitten, sein schwarzes Haar so dicht und fein wie immer. Aber es lag über ihm eine Zerstreutheit, eine Art Losgelöstheit von menschlichen Dingen. Er war ein Arbeitsmensch. Er bemerkte die Härte, die Ausdruckslosigkeit auf seiner Tochter Gesicht. Heißer Ärger fuhr ihm durch Brust und Eingeweide.

»Was gibts?« fragte er.

»Darf ich nicht,« antwortete sie und sah zur Seite, um ihn nicht anzusehen, »darf ich nicht ausgehen und arbeiten?«

»Ausgehen und arbeiten, wozu?«

Seine Stimme hatte etwas so Starkes und Bereites und Zitterndes. Das reizte sie.

»Ich sehne mich nach einem andern Leben als diesem.«

Ein Blitz mächtiger Wut ließ sein Blut einen Augenblick stillstehen.

»Nach einem andern Leben?« wiederholte er. »Wieso, nach was für einem Leben sehnst du dich denn?«

Sie zögerte.

»Nach etwas anderm als Hausarbeit und Herumbummeln. Ich möchte mir etwas verdienen.«

Ihre merkwürdige, rohe Härte beim Sprechen und die wilde, jugendliche Unüberwindlichkeit, die ihn ganz zu übersehen schien, ließ ihn nun auch vor Ärger hart werden.

»Und wie denkst du dir denn eigentlich dies ›etwas Verdienend‹?« fragte er.

»Ich kann ja Lehrerin werden – ich habe ja die Berechtigung dazu durch mein Reifezeugnis.«

Er wünschte ihr Reifezeugnis zur Hölle.

»Und zu wieviel bist du mit deinem Reifezeugnis berechtigt?« fragte er höhnisch.

»Fünfzig Pfund im Jahr«, sagte sie.

Er war still, die Macht war ihm aus der Hand gewunden.

Im geheimen war es immer sein Lieblingsgedanke gewesen, daß seine Töchter nicht nach Arbeit aus dem Hause brauchten. Mit dem Gelde seiner Frau und seinem eigenen hatten sie jetzt vierhundert Pfund im Jahr. Sollte es später notwendig werden, dann konnten sie auch auf ihr Vermögen etwas aufnehmen. Um sein Alter war ihm nicht bange. Seine Töchter sollten Damen sein.

Fünfzig Pfund im Jahr bedeutete ein Pfund in der Woche, – wovon sie unabhängig leben könnte.

»Und was für 'ne Sorte von Lehrerin wirst du denn wohl machen? Mit deinen Brüdern und Schwestern hast du nicht so viel Geduld wie eine Mücke, und nun erst mit einer ganzen Klasse von Gören! Und ich dachte, du möchtest auch so schmierige, kleine Schulbälger überhaupt nicht leiden.«

»Sie sind ja nicht alle schmierig.«

»Wirst schon merken, daß sie nicht alle sauber sind.«

Nun kam Schweigen über die Werkstätte. Das Lampenlicht fiel auf die geätzte Silberschale vor ihm, auf Holzhammer und Brenner und Meißel. Mit einem sonderbaren, katergleichen Leuchten auf seinem Gesicht stand Brangwen da, fast einem Lächeln. Aber es war keins.

»Darf ichs mal versuchen?«

»Versuch, was du willst, zum Deubel noch mal, und geh hin, wo du willst!«

Ihr Gesicht war bestimmt und ausdruckslos und gleichgültig. Es versetzte ihn jedesmal in Raserei, wenn er sie so sah. Er blieb vollkommen stumm.

Kalt, ohne irgendwelche Empfindung zu verraten, wandte sie sich ab und verließ die Werkstatt. Er arbeitete weiter, seine Nerven in einem Mißklang. Dann mußte er sein Werkzeug hinlegen und ins Haus gehen.

Im Tone bittersten Ärgers und vollster Verachtung erzählte er es seiner Frau. Ursula war dabei. Es gab eine kurze Auseinandersetzung, die durch Mrs. Brangwens Bemerkung im Tone beißender Überlegenheit und Gleichgültigkeit beendet wurde:

»Laß sie doch für sich selber herausfinden, wie das geht. Sie wird schon bald genug davon kriegen.«

Dabei blieb die Geschichte stehen. Aber Ursula hielt sich nun für frei in ihrem Handeln. Ein paar Tage lang rührte sie sich nicht. Sie scheute sich vor dem grausamen Schritt, Arbeit zu suchen, denn mit äußerster Empfindlichkeit und Scheu schreckte sie vor jeder Berührung mit etwas Neuem, vor jeder neuen Sachlage zurück. Dann aber trieb sie zuletzt eine Art Verbissenheit doch vorwärts. Ihre Seele war voller Bitterkeit.

Sie ging in die Freie Bücherei nach Ilkeston, schrieb sich ein paar Anschriften aus der »Schullehrerin« ab und bat um Bewerbungsvordrucke. Nach zwei Tagen stand sie früh auf, um den Briefträger zu treffen. Wie sie erwartet hatte, waren drei lange Briefumschläge da.

Ihr Herz schlug schmerzhaft, als sie mit ihnen in ihre Kammer hinaufeilte. Die Finger zitterten ihr, sie konnte sich kaum zwingen, die langen, dienstlichen Vordrucke, die sie auszufüllen hatte, durchzusehen. Die ganze Geschichte war so grausam, so unpersönlich. Aber geschehen mußte es doch. »Name (Vatersname zuerst): ...«

Mit zitternder Hand schrieb sie: »Brangwen, Ursula.«

»Alter und Geburtstag: ...«

Nach langem Nachdenken füllte sie auch die Reihe aus.

»Befähigungsnachweis, mit Angabe des Prüfungstages: ...«

Mit ein wenig Stolz schrieb sie:

»Reifeprüfung für London.«

»Bisherige Erfahrungen, und wo gesammelt: ...«

Ihr Herz sank, als sie schreiben mußte:

»Keine.«

Aber es war noch eine Menge zu beantworten. Es kostete sie zwei Stunden, die drei Vordrucke auszufüllen. Dann mußte sie die Zeugnisse ihrer Vorsteherin und ihres Geistlichen abschreiben.

Zuletzt war indessen auch dies überstanden. Sie siegelte die drei langen Umschläge. Nachmittags ging sie nach Ilkeston, um sie auf die Post zu bringen. Ihren Eltern sagte sie von alledem nichts. Als sie die Marken auf die langen Briefe klebte und sie in den Kasten steckte, fühlte sie sich, als stände sie bereits außer Reichweite von Vater und Mutter, als habe sie nun Verbindungen mit der äußeren, großen Welt der Tätigkeit angeknüpft, der mann-erschaffenen.

Als sie nach Hause ging, dachte sie sich nach ihrer Gewohnheit in prächtige Träumereien hinein. Eine ihrer Bewerbungen war nach Gillingham gegangen, in Kent, eine nach Kingston an der Themse und eine nach Swanwick in Derbyshire.

Gillingham war so ein reizender Name, und Kent ja der Garten Englands. Also trat sie in Gillingham, einem alten, von Hopfenfeldern umgebenen Dorfe, nachmittags aus der Schule in den Schatten der alten Platanen am Tore hinaus und schritt die schlafende Dorfstraße zu ihrem Häuschen hinunter, wo die Kornblumen ihre Häupter durch den Zaun steckten und Phlox in voller Blüte am Wege stand.

Eine zarte, silberhaarige Dame stand auf, hob ihre zarten, elfenbeinfarbigen Hände empor, als Ursula ins Zimmer trat, und sagte:

»O Liebste, was denken Sie wohl!«

»Was ist denn, Mrs. Wetherall?«

Friedrich war wiedergekommen. Sie hörte im selben Augenblick seinen männlichen Schritt auf der Treppe, sie sah, während er in die Küche hinunterkam, seine starken Stiefel, seine blauen Hosen, seine Gestalt in der Uniform, und dann sein Gesicht, sauber und scharf wie eines Adlers, und mit einem Leuchten in den Augen wie ferne Meere, ach, ferne Meere, die sich in seine Seele gewoben hatten.

Dieser Traum mit allem Drum und Dran dauerte ungefähr einen Weg von zwei Kilometern. Dann gings nach Kingston an der Themse.

Kingston war ein alter, geschichtlicher Ort genau südlich von London. Dort lebten die wohlgeborenen, würdigen Seelen, die zwar beruflich der Hauptstadt angehörten, aber Ruhe und Frieden liebten. Dort fand sie eine ganz wundervolle Sippe von Mädchen vor, die in einem weitläufigen, alten Queen-Anne-Hause lebten, mit zum Flusse abfallenden Rasenflächen, und hier, in diesem Dunstkreise stattlichen Friedens, fand sie verwandte Seelen. Sie liebten sie wie eine Schwester, sie nahmen Anteil an all ihren edlen Gedanken.

Nun war sie wieder glücklich. In ihren Grübeleien spreitete sie ihre armen, beschnittenen Flügel aus und flog in das reine Äthermeer hinaus.

Tag folgte auf Tag. Mit ihren Eltern sprach sie nicht. Dann wurden ihr aus Gillingham ihre Zeugnisse zurückgeschickt. Man konnte sie nicht gebrauchen, in Swanwick auch nicht. Die Bitterkeit der Zurückweisung folgte der Süßigkeit der Hoffnung. Ihre strahlendhellen Schwingen lagen wieder im Staube.

Dann plötzlich nach vierzehn Tagen kam eine Aufforderung aus Kingston an der Themse. Sie möchte am nächsten Donnerstag vor dem Erziehungsamt der Stadt erscheinen, um dem Ausschuß verschiedene Auskünfte über sich zu erteilen. Ihr Herz stand still. Sie wußte, sie würde den Ausschuß dazu bringen, sie zu nehmen. Nun wurde sie bange, nun ihr Fortgang so unmittelbar bevorstand. Ihr Herz zitterte vor Furcht und Widerstreben. Aber darunter lag doch ein fester Entschluß.

Schattengleich verlebte sie den Tag im Warten auf ihren Vater, nicht willens, ihrer Mutter etwas davon zu erzählen. Die Schwebe und die Furcht lagen stark auf ihr. Sie fürchtete sich, nach Kingston zu gehen. Ihre leichten Träume verschwanden vor dem Griffe der Wirklichkeit.

Und doch, als der Nachmittag sich hinzog, kehrte die Süßigkeit ihres Traumes wieder. Kingston an der Themse – es lag etwas so Würdiges in dem Klang. Der Schatten der Geschichte und der Zauber staatlicher Entwicklung umhüllten sie. Wohl waren die Paläste alt und dunkel, die Stätte der Könige undeutlich. Und doch blieb es für sie eine Stätte der Könige – Richard und Henry und Wolsey und Königin Elisabeth. Sie malte sich große Rasenflächen aus unter edlen Bäumen, und Rampen, deren Stufen leise vom Wasser bespült wurden, wo Schwäne zuweilen leise ans Land kamen. Immer wieder mußte sie die stattliche, prächtige Barke der Königin herabtreiben sehen, die Purpurteppiche, die über die Stufen gebreitet wurden, die Herren in ihren purpursamtnen Röcken, barhäuptig, wie sie wartend zu beiden Seiten im Sonnenschein dastanden.

»Fließ leise, sanfte Themse, bis mein Lied zu End'.«

Der Abend kam, ihr Vater kam nach Hause, leichtblütig und frisch und zerstreut wie immer. Er war weniger wirklich als ihre Einbildungen. Sie wartete, bis er zu Abend gegessen hatte. Er nahm große Bissen und aß ohne Bewußtsein mit der gleichen Hingebung, die ein Tier seiner Nahrung widmet.

Gleich nach dem Tee ging er in die Kirche hinüber. Es war Chorübungsabend, und er wollte die Weisen vorher auf der Orgel versuchen.

Der Riegel der großen Tür klappte laut, als sie hinter ihm herkam, aber die große Orgel rollte noch lauter. Er merkte nichts. Er übte die Liturgie. Sie sah seinen kleinen, jettschwarzen Kopf mit dem gespannten Gesicht zwischen den Kerzenflammen, seinen in dem Orgelstuhl versunkenen schmächtigen Körper. Sein Gesicht war so hell und versonnen, die Bewegungen seiner Glieder schienen so seltsam, so losgelöst von ihm. Der Orgelklang schien unmittelbar aus den Pfeilern herzukommen, wie sie durchströmender Saft.

Dann brach die Weise ab, und es folgte Stille.

»Vater!« sagte sie.

Er sah sich nach ihr um, als wäre sie eine Geistererscheinung. Schattengleich stand Ursula im Kerzenlicht.

»Was gibts?« fragte er, noch gar nicht wieder auf der Erde.

Es war schwer, so zu ihm zu sprechen.

»Ich habe eine Stellung«, sagte sie, sich zum Sprechen zwingend.

»Du hast was?« antwortete er, nicht willens, sich aus seiner Orgelspielstimmung herausreißen zu lassen. Er machte das vor ihm stehende Notenbuch zu.

»Ich habe eine Stellung, die ich antreten kann.«

Dann, immer noch ganz zerstreut, wandte er sich unwillig ihr zu.

»So, – wo denn?« sagte er.

»In Kingston an der Themse. Ich soll Donnerstag zu einer Unterredung mit dem Ausschuß hinkommen.«

»Donnerstag sollst du kommen?«

»Ja.«

Und sie reichte ihm den Brief hin. Er las ihn beim Kerzenschein.

»Ursula Brangwen, Eibenhaus, Coffethay, Derbyshire.«

»Geehrtes Fräulein. Sie werden unter Bezugnahme auf Ihre Bewerbung um die Stelle als Hilfslehrerin an der Wellingborough-Green-Schule gebeten, sich nächsten Donnerstag, den Zehnten, 11 Uhr 30 vormittags, zu einer Unterredung mit dem Ausschuß hier im Amtszimmer einzufinden.«

Es wurde Brangwen schwer, dies ihm so fernliegende amtliche Schreiben in sich aufzunehmen, glühend wie er noch war von der Ruhe der Kirche und seiner liturgischen Weise.

»Ja, da brauchst du mich doch auch nicht grade jetzt mit zu quälen, nicht wahr?« sagte er ungeduldig, ihr den Brief zurückgebend.

»Ich soll doch Donnerstag hinkommen«, sagte sie.

Er saß regungslos. Dann griff er nach einem andern Notenbuch, und es kam ein lautes Sausen der Luft, dann eine laute, nachdrückliche Trompetenstimme aus der Orgel, als er die Hände auf die Tasten legte. Ursula wandte sich und ging.

Er versuchte, sich wieder der Orgel zu widmen. Aber es ging nicht. Die ganze Zeit über zerrte etwas an ihm, zerrte ihn jämmerlich, er wußte nicht wohin.

Daher war, als er nach den Chorübungen nach Hause kam, sein Gesicht dunkel und sein Herz schwarz. Er sagte jedoch nichts, bis die jüngeren Kinder im Bette waren. Ursula merkte indessen, was in ihm kochte.

Endlich fragte er sie.

»Wo ist der Brief?«

Sie reichte ihn ihm. Er saß und blickte ihn an. »Sie werden gebeten, sich nächsten Donnerstag ...« Das war eine kalte, amtliche Benachrichtigung Ursulas und ging ihn nichts an. So. Nun war sie ein selbständiges, alleinstehendes Mitglied der Gesellschaft. Sie mußte auf diese Benachrichtigung antworten, ohne Rücksicht auf ihn. Er hatte nicht einmal das Recht, sich dazwischen zu stecken. Sein Herz wurde hart und ärgerlich. »Das mußtest du also so hinter unserm Rücken anfangen, nicht wahr?« sagte er höhnisch. Ihr Herz schwoll vor Schmerzen hoch auf. Sie wußte, sie war frei – sie hatte sich von ihm losgelöst. Er war geschlagen.

»Du sagtest doch ›Laß sie es doch versuchen‹«, erwiderte sie, beinahe wie sich entschuldigend.

Er hörte gar nicht hin. Er saß und starrte auf den Brief.

»Erziehungsamt Kingston an der Themse« – und dann mit der Maschine geschrieben »Miß Ursula Brangwen, Eibenhaus, Cossethay«. Das alles war so endgültig, so abgeschlossen. Er mußte wohl Ursulas neugewonnene Stellung empfinden, als der Empfängerin dieses Briefes. Es ging ein Schwert durch seine Seele.

»Na gut,« sagte er endlich, »du gehst nicht.«

Ursula fuhr auf, unfähig, irgendwelche Worte für den Ausdruck ihres Widerwillens zu finden.

»Wenn du glaubst, du kannst nur einfach so nach dem andern Ende von London 'rübertanzen, dann irrst du dich.«

»Warum denn nicht?« schrie sie, plötzlich hart entschlossen, ihren Willen durchzusetzen.

»Darum nicht!« erwiderte er.

Und dann waren sie still, bis Mrs. Brangwen herunterkam. »Sieh mal her, Anna«, sagte er und reichte ihr den Brief hin. Sie beugte den Kopf zurück beim Anblick des mit der Maschine geschriebenen Briefes, aus dem sie sich nur Unruhe aus der Außenwelt vermutete. Sie zeigte die merkwürdige, zurückrollende Bewegung ihrer Augen, als schließe sie ihr fühlendes, mütterliches Ich aus und lasse eine Art harter, jedes Gefühls barer Bewußtlosigkeit an seine Stelle treten. So durchflog sie ohne jedes Gefühl den Brief und hütete sich, ihn zu verstehen. Mit ihrem verhärteten, oberflächlichen Gemüt ahnte sie den Inhalt voraus. Ihr Gefühl war vollkommen ausgeschaltet.

»Wo kommt er her?« fragte sie.

»Sie will los und in Kingston an der Themse Lehrerin werden, mit fünfzig Pfund im Jahr.«

»Ach, wahrhaftig!«

Die Mutter sprach, als handele es sich um irgend etwas Feindseliges, das einen ganz Fremden beträfe. Bei ihrer Gemütsverhärtung würde sie sie ja schließlich doch ziehen lassen. Mrs. Brangwen fing wieder einmal an, mit ihrem jüngsten Kinde aufzuwachsen. Ihre Älteste war ihr dabei nur im Wege.

»Sie soll nicht so weit weg«, sagte der Vater.

»Ich muß doch hingehen, wo man mich haben will«, schrie Ursula. »Und außerdem ist es eine schöne Stellung.«

»Was weißt du denn von der Stellung?« fragte ihr Vater rauh. »Und schließlich ist es doch ganz einerlei, ob die dich haben wollen oder nicht, wenn dein Vater sagt, du gehst nicht«, sagte die Mutter ruhig.

Wie Ursula sie haßte!

»Ihr sagtet doch, ich könnte es ja versuchen«, rief das Mädchen. »Nun habe ich eine Stellung, und ich gehe hin.«

»Du gehst nicht so weit weg«, sagte ihr Vater.

»Warum suchst du dir denn nicht eine Stellung in Ilkeston, wo du zu Hause leben kannst?« fragte Gudrun, die Streitigkeiten haßte, die aber auch Ursulas Unruhe nicht begreifen konnte und ihrer Schwester doch beizustehen wünschte.

»In Ilkeston gibts doch keine Stellen«, rief Ursula. »Dann gehe ich lieber gleich weg.«

»Wenn du gefragt hättest, hätten wir wohl eine Stelle für dich in Ilkeston finden können. Aber du mußtest ja Fräulein Allmacht spielen und deiner eigenen Nase nachlaufen«, sagte der Vater.

»Ich zweifle gar nicht, daß du am liebsten gleich wegliefest«, sagte die Mutter sehr beißend. »Und ich zweifle auch gar nicht, daß du sehr bald herausfinden wirst, andere Leute lassen sich deine Witze nicht sehr lange gefallen. Du besitzt eine zu hohe Meinung von dir selbst, als dir gut ist.«

Zwischen dem Mädchen und der Mutter bestand ein Gefühl reinen Hasses. Ein verbissenes Schweigen trat ein. Ursula wußte, sie müsse es brechen.

»Ja, sie haben mir nun mal geschrieben, und ich muß also hin«, sagte sie.

»Wo willst du denn das Geld herkriegen?« fragte ihr Vater.

»Das wird Ohm Tom mir schon geben«, sagte sie.

Wieder schwieg alles. Diesmal empfand sie den Sieg.

Endlich hob dann ihr Vater den Kopf. Sein Gesicht war zerstreut, er schien ganz von sich abzusehen, um eine vollkommen reine Feststellung machen zu können.

»Na schön, so weit weg gehst du einfach nicht,« sagte er, »ich will Mr. Burt nach einer Stellung hier fragen. Ich will dich nicht da so ganz für dich allein aus der andern Seite von London wissen.«

»Aber ich muß doch nach Kingston«, sagte Ursula. »Sie wollen mich doch haben.«

»Werden wohl auch noch ohne dich fertig werden«, sagte er. Nun folgte ein zitterndes Schweigen, und die Tränen kamen ihr nahe.

»Gut,« sagte sie gespannt und leise, »diese könnt ihr mir ja verderben, aber eine Stellung will ich haben. Ich bleibe eben nicht zu Hause.«

»Kein Mensch wünscht ja, daß du zu Hause bleibst«, brüllte er sie plötzlich an, blaß vor Wut.

Sie sagte nichts weiter. Ihr Gemüt war verhärtet, sie lächelte anmaßlich, in Gleichgültigkeit und Gegensatz gegen alle die andern. Dies war so ein Zustand, in dem er sie am liebsten umgebracht hätte. Singend ging sie aus dem Wohnzimmer:

»C'est la mère Michel, qui a perdu son chat,
Qui cri' par la fenêtre qu'est-ce qui le lui rendra ...«

Hell und hart ging Ursula die nächsten Tage umher, zu sich selbst singend, die Kinder liebkosend, aber gegen ihre Eltern hart und kalt. Vier Tage dauerte diese helle Härte an. Dann begann sie sich zu lösen. So sagte sie abends zu ihrem Vater:

»Hast du schon wegen einer Stelle für mich gesprochen?«

»Ja, mit Mr. Burt.«

»Was sagte er denn?«

»Morgen ist Ausschuß-Sitzung, Freitag will er mir Bescheid geben.«

So wartete sie bis Freitag. Kingston war ein aufregender Traum gewesen. Hier konnte sie jetzt die harte, rauhe Wirklichkeit verspüren. So wußte sie also, die würde sich nicht erfüllen. Weil es eben schließlich nie zu etwas kam, fand sie, ausgenommen in der harten, begrenzten Wirklichkeit. Sie sehnte sich nicht darnach, Lehrerin in Ilkeston zu werden, weil sie Ilkeston kannte und es haßte. Aber sie sehnte sich nach Freiheit, und so mußte sie eben ihre Freiheit nehmen, wo sie sie fassen konnte.

Am Freitag erzählte ihr Vater ihr, an der Brinsley-Street-Schule wäre eine Stelle frei. Die könnten sie ihr vermutlich zusichern, ohne daß sie sich erst zu bewerben brauche.

Ihr Herz stand still. Die Brinsley-Street-Schule lag im Armenviertel, und von den gewöhnlichen Kindern von Ilkeston konnte sie allerlei erzählen. Sie hatten oft genug hinter ihr her geschrien und sie mit Steinen geworfen. Immerhin würde sie als Lehrerin ja wohl in Ansehen bei ihnen stehen. Das konnte niemand wissen. Sie wurde erregt. Dieser Wald trockenen, unfruchtbaren Backsteins bekam etwas Bezauberndes für sie. Er war so hart und häßlich, so erbarmungslos häßlich; da würde sie ein wenig von ihrer sanft fließenden Gefühlsduselei frei kommen.

Sie begann zu träumen, wie sie die häßlichen kleinen Kinder dazu bringen wollte, sie lieb zu haben. Sie wollte ihnen so menschlich gegenübertreten. Lehrerinnen waren immer so hart und unmenschlich. Sie standen nie in lebendiger Beziehung zu ihren Schülern. Alles sollte bei ihr lebendig und persönlich sein, sie wollte ganz sich selbst geben, sie wollte geben, geben, den Kindern all ihren gewaltigen Reichtum geben, sie wollte sie glücklich machen, sie sollten sie lieber haben als irgendeine Lehrerin auf Erden.

Weihnachten wollte sie ihnen so allerliebste Karten aussuchen, und dann wollte sie ihnen ein so frohes Fest in einer der Klassen geben.

Der Vorsteher, Mr. Harby, war ein untersetzter, dicker, ziemlich gewöhnlicher Mensch, fand sie. Aber dem gegenüber wollte sie das Licht ihrer Anmut und Feinheit erstrahlen lassen, binnen kurzem sollte er sie ganz besonders hochachten. Sie wollte die strahlende Sonne der Schule werden, die Kinder sollten wie kleine Pflanzen aufblühen, die Lehrer wie große, harte Pflanzen seltene Blüten treiben.

Der Montagmorgen kam heran. Es war Ende September, und ein feiner Regenschleier verhüllte alles, so daß sie sich wie eine kleine Welt für sich vorkam. Sie schritt von dannen, hinein in ein neues Land. Das alte war ausgelöscht. Der Schleier, der die neue Welt verbarg, würde bald zerreißen. Als sie mit ihrem Frühstückskörbchen im Regen den Hügel hinabschritt, wurde sie hart von Spannung gepackt.

Durch den Regen sah sie die Stadt, einen schwarzen, sich flach hindehnenden Berg. Dort mußte sie hinein. Sofort hatte sie eine Empfindung von Widerstreben und aufregender Erfüllung. Aber sie zauderte doch.

An der Haltestelle wartete sie auf eine Elektrische. Dies war der Anfang. Vor ihr lag der Nottinghamer Bahnhof, von dem Therese vor einer halben Stunde zur Schule gefahren war; hinter ihr lag die kleine Kirchschule, die sie besucht hatte, als sie noch ein kleines Kind war und ihre Großmutter noch lebte. Ihre Großmutter war zwei Jahre tot. Auf der Marsch lebte jetzt eine andere Frau mit ihrem Ohm Fred, und ein kleines Kind. Hinter ihr lag Cossethay, und die Brombeeren in den Hecken waren reif.

Während sie so an der Haltestelle wartete, flog ihr Geist rasch in die Jugendzeit zurück; der Großvater, der sie immer neckte, mit seinen blauen Augen und seinem Hellen Barte und seinem mächtigen, stattlichen Körper, war ertrunken; die Großmutter, von der Ursula zuweilen zu sagen pflegte, sie habe sie mehr geliebt als irgendeinen andern Menschen; die kleine Kirchschule, die Phillipsjungens; einer von ihnen war Soldat in der Leibgarde, einer Bergmann. Mit Leidenschaft hing sie an der Vergangenheit.

Aber während sie noch von ihr träumte, hörte sie die Bahn knirschend mit dumpfem Gepolter um eine Ecke biegen, sah sie auf sich zu und summend immer näher kommen. Sie fuhr durch die Schleife an der Endhaltestelle und kam dann, sie hoch überragend, zum Halten. Ein paar schattengraue Menschen stiegen am andern Ende aus, der Fahrer setzte durch ein paar Pfützen watend die Leitstange um.

Sie stieg in den feuchten, unbequemen Wagen, dessen Fußboden schwarz vor Nässe war, alle Fenster beschlagen, und saß voller Spannung da. Nun hatte es seinen Anfang genommen, ihr neues Dasein.

Noch ein Fahrgast stieg ein – eine Art Scheuerfrau in einem nassen, grauen Umschlagetuch. Ursula wurde das Warten der Bahn unerträglich. Die Glocke ertönte, mit einem Ruck ging es vorwärts. Vorsichtig fuhr der Wagen die feuchte Straße hinab. Sie wurde ihrem neuen Dasein entgegengeführt. Ihr Herz brannte vor Pein und Spannung, als schnitte jemand ihr ins lebende Fleisch.

Sehr oft, ach, zu oft schien ihr die Bahn zu halten, feuchte, eingemummelte Menschen stiegen ein und saßen stumm und grau in steifen Reihen ihr gegenüber, ihre Schirme zwischen den Knien. Die Fenster beschlugen immer mehr, wurden ganz und gar undurchsichtig. Sie fand sich mit diesen unlebendigen, geisterhaften Leuten eingeschlossen. Aber auch jetzt wurde es ihr nicht klar, daß sie doch nur einer von ihnen war. Der Führer kam und gab Fahrscheine aus. Jeder Knips seiner Zange durchfuhr sie mit einem Stich von Angst. Aber ihr Fahrschein war sicher ganz anders als die übrigen.

Alle gingen sie an ihre Arbeit; auch sie ging an die ihre. Ihr Fahrschein war den andern ganz gleich. Nun versuchte sie sich ihnen anzupassen. Aber sie empfand Furcht in ihren Eingeweiden, sie fühlte eine unbekannte, schreckliche Faust über sich.

An der Badstraße mußte sie heraus und umsteigen. Sie sah den Hügel hinauf. Dort schien es in die Freiheit zu gehen. Sie dachte daran, wie manchen Sonnabendnachmittag sie in die Läden dort oben gegangen war. Wie frei und sorglos sie gewesen war!

Ach, da kam ihr Wagen sachte die Straße hinabgeglitten. Sie fürchtete sich vor jedem Schritt ihrer Fahrt. Der Wagen hielt, sie stieg hastig ein.

Fortwährend drehte sie den Kopf, weil sie sich der Straßen nicht sicher war. Zuletzt, das Herz eine wahre Flamme vor Spannung, stand sie zitternd auf. Der Führer klingelte barsch.

Nun schritt sie eine kleine, gewöhnliche, nasse, ganz menschenleere Straße hinab. Die Schule lag niedrig auf einem umgitterten, asphaltierten Hof, der im Regen schwarz glänzte. Das Gebäude war schmutzig, und ein paar scheußliche vertrocknete Pflanzen waren durch die Fensterscheiben sichtbar.

Sie trat in den überwölbten Eingang. Der ganze Ort schien ihr einen so drohenden Ausdruck anzunehmen, mit seiner Nachahmung kirchlicher Bauformen, um etwas Beherrschendes auszudrücken, wie eine Gebärde billiger Machtbefugnis. Sie sah, daß bereits vor ihr ein paar Füße über die Fliesen des Torwegs gepatscht waren. Der Ort war still, verlassen, wie ein leeres Gefängnis auf die Rückkehr trampelnder Füße wartend.

Ursula schritt vorwärts auf das Lehrerzimmer zu, das sich in einem düsteren Loche verbarg. Sie klopfte furchtsam an. »Herein!« rief eine überraschte männliche Stimme, wie aus einer Gefängniszelle. Sie trat in ein kleines Zimmer, das nie einen Sonnenstrahl zu sehen bekam. Das Gas brannte ohne Kuppel, roh. Am Tische strich ein magerer Mann in Hemdärmeln ein Blatt Papier aus eine Abziehschicht. Er sah mit seinem dünnen, scharfen Gesicht zu Ursula auf, sagte »Guten Morgen!« und wandte sich dann wieder ab, nahm das Blatt Papier von der Platte und blickte einen Augenblick auf die bläuliche Vervielfältigung, bevor er das zusammengerollte Blatt auf einen Haufen neben sich warf.

Ganz gefesselt sah Ursula ihm zu. In dem Gaslicht und der Dämmerung und der Enge des Zimmers kam ihr alles so unwirklich vor. »Ist das nicht ein häßlicher Morgen«, sagte sie.

»Ja,« sagte er, »kein besonderes Wetter.«

Aber hier drinnen schien es ihr weder einen wirklichen Morgen noch Wetter zu geben. Dieser Raum stand außerhalb der Zeit. Er sprach mit sehr geschäftiger Stimme, wie ein Echo. Ursula wußte nicht, was zu sagen. Sie zog ihren Regenmantel aus.

»Komme ich zu früh?« fragte sie.

Der Mann blickte zuerst auf eine kleine Uhr, dann auf sie. Seine Augen schienen sich zu Nadelspitzen zusammenzuziehen.

»Fünfundzwanzig Minuten nach«, sagte er. »Sie sind heute morgen die zweite. Ich war zuerst da heute morgen.«

Zimperlich setzte sich Ursula auf eine Stuhlecke und beobachtete seine dünnen roten Hände, wie sie über die weiße Fläche des Papiers dahinglitten, dann innehielten, eine Ecke des Bogens aufhoben und dann, nachdem er daruntergespäht hatte, wieder drauflos rieben. Ein großer Haufen zusammengerollter weißer, schon bedruckter Bogen lag auf dem Tische.

»Müssen Sie so viele machen?« fragte Ursula.

Wieder sah der Mann scharf auf. Er war etwa dreißig oder dreiunddreißig Jahre alt, dünn, grünlich, mit einer langen Nase und scharfem Gesicht. Seine Augen waren blau und scharf wie Stahlspitzen, wirklich schön, dachte das Mädchen.

»Dreiundsechzig«, gab er zur Antwort.

»So viele«, sagte sie sanft. Dann fiel ihr etwas ein.

»Aber die sind doch nicht alle für Ihre Klasse, nicht wahr?« setzte sie hinzu.

»Warum denn nicht?« erwiderte er mit einer gewissen Wildheit in der Stimme.

Ursula fühlte sich durch seine maschinenmäßige Nichtbeachtung ihrer Anwesenheit und die Unmittelbarkeit seiner Antworten etwas beängstigt. Das war ihr etwas Neues. So war sie noch nie behandelt worden, so als zähle sie überhaupt gar nicht mit, als wende sie sich an eine Maschine.

»Das ist wirklich zu viel«, sagte sie voller Mitgefühl.

»Sie haben ungefähr ebenso viel«, sagte er.

Das war alles, was sie von ihm herausbekam. Ziemlich verdutzt saß sie da und wußte nicht, was sie empfinden sollte. Und doch gefiel er ihr. Es war so etwas sonderbar Scharfes, Schneidiges an ihm, das sie anzog und doch zugleich auch ängstigte. Es war so kalt, und so gegen seine Natur.

Die Tür öffnete sich, und ein junges, gänzlich farbloses Frauenzimmer von etwa achtundzwanzig Jahren trat herein.

»O Ursula!« rief der Ankömmling. »Du bist aber früh da! Wahrhaftig, das führst du nicht durch, sage ich dir. Das ist Mr. Williamsons Haken! Dies ist deiner. Die Lehrerin der fünften hat immer diesen Haken. Willst du deinen Hut nicht absetzen?«

Miß Violet Harby nahm Ursulas Regenmantel von dem Haken, an dem er hing, und hängte ihn an einen andern etwas weiter in der Reihe. Sie hatte bereits die Nadeln aus ihrem Zeughut gezogen und durch ihren Mantel gesteckt. Nun wandte sie sich wieder zu Ursula, während sie ihr krauses, niedriges, staubfarbiges Haar zurechtschob.

»Ist das nicht ein biestiger Morgen?« rief sie aus, »einfach biestig! Und wenn es etwas gibt, was ich mehr hasse als alles andere, dann ists ein nasser Montagmorgen; – Horden von Krabben kriechen von überall und nirgends herein, da gibts kein Halten –«

Sie hatte eine schwarze Schürze aus einem Zeitungsbogen genommen und band sie sich um die Hüfte.

»Du hast dir doch eine Schürze mitgebracht, nicht wahr?« sagte sie sprungweise, auf Ursula blickend. »O – du mußt aber eine haben. Du hast keine Ahnung, wie du aussiehst, ehe es halb fünf ist, mit all der Kreide und der Tinte und den dreckigen Krabbenfüßen! – Na, ich kann dir durch einen Jungen eine von Mutter holen lassen.«

»Ach, das macht ja nichts«, sagte Ursula.

»O ja, – ich kann leicht eben hinschicken«, rief Miß Harby. Ursulas Herz sank. Jeder schien hier so selbstverständlich, so herrisch. Was sollte sie nur mit solchen dickköpfigen, sprunghaften, herrischen Menschen anfangen? Und mit dem Manne am Tische hatte Miß Harby kein Sterbenswörtchen gesprochen. Sie übersah ihn völlig. Ursula empfand die dickfellige, ruppige Rauhigkeit zwischen den beiden Lehrern.

Die beiden Mädchen traten hinaus auf den Vorplatz. Ein paar Kinder kamen schon zum Torweg hineingeklappert.

»Jim Richards«, rief Miß Harby, hart und befehlend. Ein Junge kam schafsdämlich auf sie zu.

»Willst du mal für mich nach Hause gehen, was?« sagte Miß Harby in einer zugleich befehlenden und doch überredenden, herablassenden Stimme. Sie wartete keine Antwort ab. »Geh mal hinunter und bitte meine Mutier um eine von meinen Schulschürzen, für Miß Brangwen – nicht?«

Der Junge stotterte ein dämliches »Ja, Fräulein« hervor und wollte umdrehen.

»He«, rief Miß Harby. »Komm mal her – was sollst du nun also holen? was sollst du meiner Mutter sagen?«

»Eine Schulscho – – – « stotterte der Junge.

»Bitte, Mrs. Harby, Miß Harby sagt, ob Sie ihr wohl eine von ihren Schulschürzen schicken wollten, für Miß Brangwen, weil die sich keine mitgebracht hat.«

»Ja, Fräulein«, stotterte der Junge wieder mit eingezogenem Kopfe und wollte weg. Miß Harby fing ihn wieder ein und hielt ihn an der Schulter fest.

»Was sollst du also sagen?«

»Bitte, Mrs. Harby, Miß Harby möchte gern eine Schorten für Miß Brangwin«, stotterte der Junge nun ganz schafig heraus.

»Miß Brangwen!« lachte Miß Harby und stieß ihn vorwärts. »Hier, nimm man lieber meinen Schirm – warte mal einen Augenblick.«

Der widerwillige Bengel wurde mit Miß Harbys Schirm ausgestattet und zog los.

»Mach aber nicht zu lange«, rief ihm Miß Harby nach. Dann wandte sie sich zu Ursula und sagte strahlend:

»O, das ist ein Schlieker, der Bengel – aber nicht schlecht, weißt du.«

»Nein«, stimmte Ursula ihr etwas schwächlich zu.

Das Türschloß klickte, und sie traten in den großen Klassenraum. Ursula sah das Zimmer hinab. Sein starres, langes Schweigen hatte etwas so Dienstliches und Erkältendes. Etwa in der Mitte war eine Scheidewand aus Glas, deren Türen offen standen. Eine Uhr tickte mit lautem Widerhall, und Miß Harbys Stimme klang gleichfalls doppelt, als sie sagte:

»Dies ist das große Zimmer – Klasse Fünf – Sechs und Sieben. – Hier ist dein Platz – Fünf – – –«

Sie stand am oberen Ende des großen Zimmers. Ein schmales, hohes Lehrerpult stand vor einem Haufen langer Bänke, zwei hohe Fenster befanden sich in der Wand ihnen gegenüber.

Das war Ursula anziehend und schrecklich zugleich. Das merkwürdig leblose Licht im Zimmer veränderte ihre ganze Wesensart. Sie dachte, es wäre das Regenwetter. Dann sah sie wieder auf, da ihr ein gräßliches Gefühl von Eingeschlossensein kam in dieser starren, unnachgiebigen Luft, von allen gewöhnlichen Tagesgefühlen ausgeschlossen; und nun bemerkte sie, daß die Fenster aus geriffeltem, undurchsichtigem Glas bestanden.

So umschloß sie nun das Gefängnis ganz und gar! Sie blickte auf die blaßgrün und schokoladenbraun gestrichenen Wände, auf die weiten Fenster mit den schmutzigen Geranien vor dem bleichen Glas, auf die langen Reihen der regelmäßig aufgestellten Bänke, und Furcht erfüllte sie. Dies war eine neue Welt, ein neues Leben, von dem sie hier bedroht wurde. Aber doch voller Aufregung erklomm sie den hohen Stuhl hinter ihrem Pult. Er war sehr hoch, und ihre Füße erreichten den Boden nicht, sondern mußten auf dem Tritt stehenbleiben. So hoch über den Boden erhoben fühlte sie sich ganz im Amt. Wie sonderbar, wie sonderbar das alles war! Wie verschieden von dem Regenschauer, der über Cossethay dahinzog. Als sie an ihr Dorf dachte, überkam sie eine leidenschaftliche Sehnsucht, es erschien ihr so fern, so auf ewig verloren.

Nun war sie also hier in dieser starken Wirklichkeit – der Wirklichkeit. Sonderbar war es, daß sie etwas Wirklichkeit nennen sollte, was sie bis heute gar nicht gekannt hatte, und das sie derart mit Furcht und Abscheu erfüllte, daß sie am liebsten weggelaufen wäre. Dies war also die Wirklichkeit, und Cossethay, ihr geliebtes, schönes, so wohlbekanntes Cossethay, das ihr wie ihr eigenes Ich erschien, das war nur von geringerer Wirklichkeit. Dies Gefängnis von einer Schule Wirklichkeit! Hier also sollte sie in ihrem Staate sitzen, eine Königin über ihre Schüler! Hier sollte sie ihren Traum verwirklichen und die geliebte Lehrerin werden, die ihren Kindern nur Erleuchtung und Freude brachte! Aber die Bänke vor ihr hatten etwas so unwirklich Eckiges, das ihrem Gefühl wehtat und sie zurückschaudern machte. Sie hatte ihre Gefühle und ihren Edelsinn an einen Ort gebracht, wo weder Edelsinn noch Empfindsamkeit am Platze waren. Und sie fühlte sich bereits zurückgestoßen, beunruhigt durch diesen neuen Dunstkreis, nicht am Platze.

Sie glitt herunter, und dann gingen sie wieder ins Lehrerzimmer. Das Gefühl, seine Wesenheit ändern zu müssen, war so sonderbar. Sie war einfach niemand, in ihr lag keine Wirklichkeit, die Wirklichkeit befand sich nur außer ihr selbst, und sie mußte sich ihr anpassen.

Mr. Harby war im Lehrerzimmer und stand vor einem großen, geöffneten Schranke, in dem Ursula Haufen von rosa Löschpapier, Stapel neuer, glänzender Bücher, Kasten mit Kreide und Flaschen mit bunter Tinte entdecken konnte. Er sah aus wie die reine Schatzkammer.

Der Schulvorsteher war ein kurzer, handfester Mann, mit einem schönen Kopfe, aber schwerem Unterkiefer. Trotzdem war er hübsch mit seinen kräftigen Brauen und Nase und dem großen, herabhängenden Schnurrbart. Er schien ganz in seine Arbeit versunken und nahm Ursulas Eintritt gar nicht wahr. In der Art, wie er bei seiner beruflichen Tätigkeit einen andern Menschen so vollkommen übersehen konnte, lag etwas Beleidigendes. Als er mal einen Augenblick zu sich kam, wandte er sich dem Tische zu und bot Ursula Guten Morgen. In seinen braunen Augen lag ein angenehmes Licht. Er kam ihr sehr männlich und unanfechtbar vor, wie etwas, das sie gern hätte überkopf stürzen mögen.

»Sie hatten einen nassen Weg«, sagte er zu Ursula.

»O das macht nichts, daran bin ich gewöhnt«, erwiderte sie mit einem schwachen, etwas ängstlichen Lachen.

Er hörte aber bereits gar nicht mehr hin. Ihre Worte klangen so lächerlich und babbelig. Er beachtete sie gar nicht mehr.

»Hier müssen Sie Ihren Namen hinschreiben«, sagte er zu ihr, als wäre sie ein kleines Kind – »und die Zeit Ihrer Ankunft und Ihres Weggangs.«

Ursula schrieb ihren Namen in das Zeitbuch und trat zurück. Niemand beachtete sie weiter. Sie zermarterte ihr Gehirn, um irgend etwas zu sagen, aber vergeblich.

»Ich würde sie jetzt hereinlassen«, sagte Mr. Harby zu dem mageren Manne, der rasch seine Papiere in Ordnung brachte. Der Hilfslehrer tat so, als habe er nichts gehört, und fuhr mit seiner Arbeit fort. Die Luft im Zimmer geriet in Spannung. Im letzten Augenblick schlüpfte Mr. Brunt in seinen Rock.

»Sie gehen nach dem Mädcheneingang«, sagte der Vorsteher zu Ursula mit einer bezaubernden, beleidigenden Offenheit, rein dienstlich und befehlend.

Sie ging nach draußen und fand dort Miß Harby und noch eine andere Lehrerin im Torweg. Der Regen platschte auf den Asphalt des Hofes nieder. Eine tonlose Glocke tack-tack-tackte über ihren Köpfen trostlos, eintönig, unaufhörlich. Schließlich hörte sie auf. Dann wurde Mr. Brunt sichtbar, barhäuptig am andern Eingang des Schulhofes stehend und schrill auf einer kleinen Pfeife blasend, wobei er die verregnete, traurige Straße hinabsah.

In Gruppen und langen Fäden trabten die Jungens heran, liefen an ihrem Lehrer vorbei und mit lautem Geklapper von Füßen und Stimmen über den Hof zu dem Eingang für Jungens. Mädchen gingen und liefen durch den andern Eingang.

Zudem Torweg, wo Ursula stand, herrschte lauter Lärm unter den Mädchen, die sich ihre Mäntel und Hüte abrissen und sie auf eine Reihe Pflöcke hängten. Es roch nach nassem Zeug, nasses, zerzaustes Haar wurde hin und her geschwenkt, laut lärmten Stimmen und Füße.

Die Masse der Mädchen wurde immer größer, die Hast um die Pflöcke immer dringender, die Schüler bemühten sich, sich in der Eingangshalle zu kleinen lärmenden Gruppen zusammen zu schließen. Dann klatschte Violet Harby in die Hände, und dann noch einmal lauter, mit einem schrillen: »Ruhig, ihr Mädchen, ruhig!«

Eine Unterbrechung entstand. Der Lärm erstarb, aber hörte doch nicht ganz auf.

»Was habe ich gesagt?« rief Miß Harby schrill.

Nun entstand fast vollkommene Stille. Zuweilen sauste ein zu spät kommendes Mädchen durch das Tor und warf ihre Sachen ab.

»Führer vor!« befahl Miß Harby schrill.

Ein paar Mädchen in Schürzen und langen Haaren traten abseits unter den Torweg.

»Klasse Vier, Fünf und Sechs – antreten!« rief Miß Harby. Der große Wirrwarr löste sich allmählich in drei Reihen von Mädchen auf, die zu zwei und zwei grinsend auf dem Gange standen. Zwischen den Kleiderständern brachten andere Lehrer die unteren Klassen in Reih und Glied.

Ursula stand neben ihrer fünften. Sie stießen sich mit den Schultern, warfen die Köpfe umher, schubsten sich, wriggelten, starrten sie an, grinsten, flüsterten und wandten sich hin und her.

Eine scharfe Pfeife ertönte, und Klasse Sechs, die ältesten Mädchen zogen los, geführt von Miß Harby. Ursula mit ihrer Klasse Fünf folgte. Wartend stand sie neben der grinsenden Reihe affiger Mädchen auf dem engen Gange. Was sie da vorstellte, wußte sie selbst nicht.

Plötzlich ertönte ein Klavier, und Klasse Sechs schob sich unordentlich in das große Klassenzimmer. Die Jungens waren durch eine andere Tür eingetreten. Das Klavier spielte weiter, einen Marsch, Klasse Fünf ging ebenfalls auf die Tür des großen Zimmers los. Mr. Harby wurde weit drüben an seinem Pult sichtbar, Mr. Brunt paßte an der andern Tür des Zimmers auf. Ursulas Klasse drängte sich herein. Sie stand dicht neben ihnen. Sie guckten und grinsten und schubsten sich.

»Geht zu«, sagte Ursula.

Sie gnickerten.

»Geht zu«, sagte Ursula, denn das Klavier spielte immer weiter.

Die Mädchen brachen ungeordnet ins Zimmer. Mr. Harby, der an einem Pulte drüben in irgendeine Arbeit vertieft schien, hob den Kopf und donnerte:

»Halt!«

Sie standen still, und das Klavier hielt inne. Die Jungens, die sich grade durch die andere Tür hereindrängten, zwängten sich zurück. Hart, unterdrückt wurde Mr. Brunts Stimme hörbar, dann der dröhnende Ruf Mr. Harbys weit durch den Raum hin:

»Wer hat den Mädchen von Klasse Fünf erlaubt, so hereinzukommen?«

Ursula wurde puterrot. Ihre Mädchen sahen zu ihr auf, ihr Grinsen wurde zur Anklage.

»Ich habe sie hineingeschickt, Mr. Harby«, sagte sie, in einer klaren, etwas widerstrebenden Stimme. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann brüllte Mr. Harby aus der Ferne:

»Zurück nach draußen, die Mädchen von Klasse Fünf!«

Die Mädchen sahen wieder Ursula an, anklagend, gradezu spöttisch, wenn auch verstohlen. Sie drängten wieder nach draußen. Ursulas Herz wurde hart vor schimpflichem Schmerz.

»Vorwärts – marsch!« kam Mr. Brunts Stimme, und die Mädchen zogen in Reih und Glied mit den Jungens ab.

Ursula sah ihre Klasse an, einige fünfundfünfzig Jungens und Mädchen standen in Reihen neben ihren Plätzen. Sie fühlte sich gar nicht anwesend. Hier besaß sie weder Raum noch Wesenheit. Sie sah auf die Menge Kinder.

Weiter unten im Zimmer hörte sie ein lebhaftes Fragenfeuer. Sie stand vor ihrer Klasse und wußte nicht, was sie anfangen sollte. Sie wartete gepeinigt. Die Menge ihrer Kinder, fünfzig unbekannte Gesichter, beobachteten sie feindselig, bereit, sie zu verhöhnen. Sie kam sich vor, als würde sie über einem Feuer von Gesichtern geröstet. Und von allen Seiten stand sie nackt vor ihnen da. Unendlich lang und qualvoll zogen die Sekunden sich hin.

Dann faßte sie Mut. Sie hörte Mr. Brunt Fragen im Kopfrechnen stellen. Sie stand dicht neben ihrer Klasse, so daß sie ihre Stimme nicht besonders zu erheben brauchte, und schwankend, ungewiß fragte sie:

»Sieben Hüte zu fünfundzwanzig Pfennig?«

Ein Grinsen flog bei diesem Anfang über die Gesichter ihrer Klasse. Sie errötete und litt. Dann schossen ein paar Hände wie Schwerterklingen in die Höhe, und sie ließ sich antworten.

Unglaublich langsam zog sich der Tag hin. Sie wußte nie, was nun anfangen, gräßliche Unterbrechungen traten ein, in denen sie den Kindern vollkommen überantwortet war; und als sie, sich auf ein fixes kleines Mädchen verlassend, schließlich eine Aufgabe durchzugehen anfing, da wußte sie bald nicht weiter damit. Die Kinder beherrschten sie vollständig. Sie mußte auf sie warten. Sie konnte fortwährend Mr. Brunt hören. Wie eine Maschine, immer mit derselben harten, hohen, menschenunähnlichen Stimme fuhr er in seinem Unterricht fort, alles um sich her vergessend. Und vor dieser unmenschlichen Anzahl von Kindern fühlte sie sich immer wie ein gestelltes Wild. Sie konnte nicht von ihnen loskommen. Da war sie, die Klasse von fünfzig Kindern alles in allem, von ihrem Befehl abhängig, von einem Befehl, den sie haßten und verachteten. Das gab ihr ein Gefühl, als könne sie nicht länger atmen: sie mußte ersticken, so unmenschlich war es. Sie waren so zahlreich, daß sie gar keine Kinder mehr für sie waren. Sie waren eine Horde. Sie konnte nicht zu einem einzelnen Kinde sprechen, wie sie gewünscht hätte, weil sie eben gar keine Einzelkinder waren, sie waren nur ein Sammelbegriff, ein unmenschliches Etwas.

Die Essenszeit kam, und betäubt, verwirrt, einsam ging sie ins Lehrerzimmer zum Frühstück. Nie zuvor war sie sich so lebensfremd vorgekommen. Sie kam sich vor, als wäre sie grade aus einem gräßlichen, seltsamen Zustand ans Land gestiegen, in dem alles wie in der Hölle gewesen war, alles so hart und böswillig eingerichtet. Und sie war noch nicht wirklich frei. Der Nachmittag brachte wieder dieselbe Sklaverei.

In blinder Verwirrung ging die erste Woche hin. Sie verstand nicht zu unterrichten, und sie merkte, sie würde es nie können. Mr. Harby kam dann und wann in ihre Klasse herüber, um zu sehen, was sie anfinge. Sie fühlte sich so unfähig, wenn er neben ihr stand, mit seinem Drohen und Schimpfen, so unwirklich, daß sie dann anfing zu schwanken und selbst unwirklich wurde. Aber er stand da mit dem gutmütig-lauschenden Ausdruck in seinen Augen, der in Wirklichkeit so drohend war; er sagte nichts, er ließ sie mit dem Unterricht fortfahren, und sie fühlte, sie habe keine Seele mehr im Leibe. Dann ging er, und sein Fortgehen war wie Spott. Die Klasse war die seine, sie war eine schwankende Aushilfe. Er prügelte und drohte, so daß er verhaßt war. Aber er war ihr Herr. Obwohl sie mit ihrer Klasse stets sanft und nachsichtig war, gehörten sie doch Mr. Harby an, und nicht ihr. Wie eine unversiegbare Quelle von Triebkraft behielt er alle Macht in Händen. Und die Klasse erkannte ihn als Macht an. In der Schule aber war es Macht, und Macht allein, auf die es ankam.

Sehr bald war Ursula so weit, daß sie ihn fürchtete, und auf dem Grunde ihrer Furcht lag der Same des Hasses, denn sie verachtete ihn, obwohl er ihr Vorgesetzter war. Dann aber ging es mit ihr vorwärts. Auch alle übrigen Lehrer haßten ihn und fachten ihren Haß gegenseitig an. Denn er war ihr und der Kinder Oberherr, wie ein Steuermann stand er da, um seine Obmacht über die ganze Herde als eine unbedingte auszuüben. Das schien sein einziger Lebenszweck zu sein, diese blinde Obmacht über seine Schule. Seine Lehrer waren ihm ebensogut untertan wie die Schüler. Nur war es für ihn eine Gefühlsnotwendigkeit, sie, weil sie doch auch eine gewisse Herrschaft ausübten, zu verachten.

Ursula konnte es nicht dahinbringen, daß sie sein Günstling wurde. Vom ersten Augenblicke an fühlte sie sich gegen ihn verhärtet. Auch gegen Violet Harby. Mr. Harby war ihr indessen doch über, sie konnte ihn nirgends ordentlich anpacken, er war für sie zu stark. Sie näherte sich ihm in der Weise, wie ein junges Mädchen es bei Männern gewöhnlich versucht, nämlich in der Erwartung einer gewissen ritterlichen Höflichkeit. Aber grade die Tatsache, daß sie ein Mädchen war, eine Frau, wurde von ihm übersehen oder gar als etwas Verächtliches gegen sie verwendet. Sie wußte nicht mehr, was sie war, noch was sie denn eigentlich sein sollte. Sie wünschte nur ihr verantwortliches, persönliches Dasein weiter zu führen.

So lehrte sie weiter. Sie freundete sich mit der Lehrerin der dritten Klasse an, Maggie Schofield. Miß Schofield war ungefähr zwanzig Jahre alt, ein sanftes Mädchen, und hielt sich von den übrigen Lehrern fern. Sie war wunderhübsch, nachdenklich, und schien in einer andern, lieblicheren Welt zu leben.

Ursula nahm sich ihr Essen immer mit in die Schule und verzehrte es die zweite Woche in Miß Schofields Zimmer. Die dritte Klasse lag für sich allein und hatte Fenster auf zwei Seiten, die auf den Spielplatz hinausgingen. Es war ihr eine leidenschaftliche Erlösung, eine derartige Zufluchtsstelle in dem mißtönigen Schulgetriebe zu finden. Denn hier fand sie Töpfe mit Astern und bunten Blattgewächsen und eine große Vase mit Beeren; nette kleine Bilder hingen an den Wänden, Lichtdrucke nach Greuze und Reynolds »Alter der Unschuld«, und verbreiteten Traulichkeit um sich her; der Raum mit seinem Fensterplatz, seinen kleineren, saubereren Bänken, dem Hauch von Bildern und Blumen machte Ursula daher auf einen Schlag glücklich. Hier fand sie doch einen einigermaßen persönlichen Anstrich, auf den sie eingehen konnte.

Es war am Montag. Sie war nun eine Woche in der Schule und hatte sich an ihre Umgebung leidlich gewöhnt, wenn sie sich in ihr innerlich auch noch völlig fremd vorkam. Sie sah der Essenszeit mit Maggie entgegen. Das war der einzige helle Augenblick am Tage. Maggie war so stark, so für sich stehend, ging mit so langsamen, sicheren Schritten ihren harten Weg, als trage sie immer einen Traum bei sich. Ursula machte ihre Unterrichtszeit durch, als wäre sie völlig betäubt.

Mittags stolperte ihre Klasse holterdiepolter nach draußen. Sie machte sich noch gar nicht recht klar, was für Kräfte sie durch ihre überlegene Duldsamkeit gegen sich entfesselte, durch ihre Güte und ihr laissez-aller. Weg waren sie, und sie war sie los, und das war alles. Sie selbst lief schleunigst ins Lehrerzimmer.

Mr. Brunt kauerte vor dem kleinen Ofen, in den er einen kleinen Reispudding hineinschob. Dann stand er auf und stocherte mit einer Gabel aufmerksam in einer kleinen Schüssel auf dem Vorsetzer herum. Dann setzte er einen Deckel drauf.

»Sind sie noch nicht gar?« fragte Ursula fröhlich, ihn in seiner gespannten Aufmerksamkeit unterbrechend.

Sie behielt ihr Helles, fröhliches Wesen stets bei und benahm sich freundlich gegen alle übrigen Lehrer. Denn sie kam sich als das häßliche junge Entlein vor, von besserer Herkunft und Erziehung. Und noch war ihr Stolz über ihre Schwanenrolle in der häßlichen Schule nicht gebrochen.

»Noch nicht«, antwortete Mr. Brunt einsilbig.

»Soll mich mal wundern, ob meine Schüssel schon heiß ist«, sagte sie und beugte sich zu dem Ofen nieder. Halb erwartete sie, er würde für sie nachsehen, aber er schien sie gar nicht weiter zu bemerken. Sie war hungrig und steckte ihren Finger voreilig in die Schüssel, um zu sehen, ob ihr Rosenkohl und Kartoffeln und Fleisch schon fertig wären. Noch nicht.

»Finden Sie es nicht ganz spaßhaft, sich sein Essen so mitzubringen?« sagte sie zu Mr. Brunt.

»Na, ich weiß doch nicht«, sagte er und breitete ein weißes Tuch über eine Tischecke, sah sie aber gar nicht an.

»Ich vermute, es ist für Sie wohl zu weit, um nach Hause zu gehen?«

»Ja«, sagte er. Dann stand er auf und sah sie an. Er hatte die blanksten, schärfsten, wildesten Augen, die sie je gesehen hatte. Mit zunehmendem Grimm starrte er sie an.

»Wenn ich Sie wäre, Miß Brangwen,« sagte er drohend, »dann würde ich versuchen, meine Klasse etwas fester in die Hand zu bekommen.«

Ursula fuhr zurück.

»Wieso?« sagte sie sanft, aber erschreckt. »Bin ich nicht streng genug?«

»Weil«, erwiderte er, ohne sie anzusehen, »sie Sie runterreißen werden, wenn Sie sie nicht ordentlich anpacken. Sie werden Sie runterreißen und quälen, bis Harby Sie versetzen läßt – das wird das Ende vom Liede sein. Sie bleiben hier keine sechs Wochen mehr« – und er nahm einen Mund voll Essen – »wenn Sie nicht ordentlich zupacken, und das rasch.«

»O, aber – – –« meinte Ursula reuig und doch verletzt. Tief sank der Schrecken in ihr Herz.

»Harby hilft Ihnen nicht. Er wird es so machen – er wird Sie weiter laufen lassen, bis es schlimmer und schlimmer wird, bis entweder Sie von selbst weggehen oder er Sie wegschickt. Mir ists ja ganz einerlei, abgesehen davon, daß Sie eine Klasse hinterlassen, mit der ich hoffentlich in meinem Leben nichts zu tun kriegen werde.«

Sie hörte die Anklage aus der Stimme des Menschen heraus und fühlte sich verurteilt. Aber immerhin war das Schulleben ihr noch nicht zur Wirklichkeit geworden. Sie wich ihr noch aus. Es war wohl Wirklichkeit, aber eine, die außerhalb ihrer selbst lag. Und so kämpfte sie gegen Mr. Brunts Darstellung an. Sie wollte die Wirklichkeit nicht erkennen.

»Wird es wirklich so schrecklich werden?« sagte sie bebend, wobei sie reizend aussah, aber doch etwas Herablassendes hatte, weil sie ihr eigenes Zittern nicht verraten wollte.

»Schrecklich?« sagte der Mann und wandte sich wieder seinen Kartoffeln zu. »Von Schrecken sehe ich da nichts.«

»Ich fürchte mich aber«, sagte Ursula. »Die Kinder scheinen so – – –«

»Was?« sagte Miß Harby, die in diesem Augenblick hereinkam.

»Ach«, sagte Ursula, »Mr. Brunt meint, ich müßte meine Klasse mal ordentlich anpacken«, und dann lachte sie etwas unruhig.

»O ja, wenn du Lehrerin sein willst, mußt du auf Ordnung halten«, sagte Miß Harby, hart, überlegen, abgedroschen.

Ursula antwortete nicht. Sie besaß ihnen gegenüber noch keine Stellung.

»Wenn Sie am Leben bleiben wollen, werden Sie wohl müssen«, sagte Mr. Brunt.

»Ja, wenn du sie nicht in Ordnung halten kannst, wozu bist du denn da?« sagte Miß Harby.

»Und Sie müssen es aus sich selbst tun«, – seine Stimme klang wie der bittere Ruf alter Weissagungen. »Von keiner Seite wird Ihnen geholfen werden.«

»Ganz gewiß nicht!« sagte Miß Harby. »Manchen Leuten kann man eben nicht helfen.« Und damit ging sie hinaus.

Der Geruch von Feindseligkeit und Auflösung, von Willen, die voller Widerstreben sich unterordnen mußten, um zu arbeiten, war abscheulich. Mr. Brunt mit seiner Unterwürfigkeit, seiner Furcht, seiner Bitterkeit aus Schamgefühl versetzte sie in Angst. Ursula wäre am liebsten weggelaufen. Sie wollte nur fort, wollte nichts verstehen.

Dann trat Miß Schofield herein, und mit ihr kam ein anderer, beruhigenderer Ton. Ursula wandte sich sofort um Bekräftigung an die Eintretende. Inmitten all dieser ganzen unsauberen Ordnung von Obmacht blieb Maggie immer sie selbst.

»Ist der große Anderson hier?« fragte sie Mr. Brunt. Und dann besprachen sie kalt, dienstlich eine Schülerangelegenheit.

Miß Schofield nahm ihre braune Schüssel, und Ursula folgte ihr mit der ihrigen. In der hübschen dritten Klasse legten sie sich ein Tischtuch auf, und ein Glas mit zwei oder drei Monatsrosen stand auch auf dem Tische.

»Es ist so hübsch hier, Sie haben sich alles so ganz anders eingerichtet«, sagte Ursula froh. Aber sie hatte doch Angst. Der Dunstkreis der Schule lag noch auf ihr.

»Der große Klassenraum«, sagte Miß Schofield, »ach, es ist ja ein reiner Jammer, da drin zu sein.«

Auch sie sprach voller Bitterkeit. Auch sie lebte in der beschämenden Stellung eines bessergestellten Dienstboten, der von oben von seiner Herrschaft und von unten von seinen eigenen Standesgenossen gehaßt wird. Jeden Augenblick, das wußte sie recht wohl, war sie Angriffen von einer dieser Seiten ausgesetzt, oder auch von beiden gleichzeitig, denn die Oberen schenkten den Klagen der Eltern Gehör, und beide wandten sich dann gegen die Scheinherrschaft der Lehrer.

So lag auch über Maggie Schofield harte, bittere Zurückhaltung, als sie sich ihr schmackhaftes Gericht dicker, goldiger Bohnen und brauner Tunke auffüllte.

»Das ist reine Pflanzenkost«, sagte sie. »Möchten Sie mal versuchen?«

»Furchtbar gern«, sagte Ursula.

Neben diesem schmackhaften, sauberen Gericht erschien ihr ihr eigenes Essen grob und häßlich.

»Ich habe noch nie reine Pflanzenkost gegessen«, sagte sie. »Aber ich kann mir wohl denken, sie muß sehr gut sein.«

»Ich bin keine wirkliche Anhängerin der Pflanzenkost«, sagte Maggie, »ich mag mir nur kein Fleisch mit in die Schule bringen.«

»Nein«, sagte Ursula, »ich glaube, ich auch nicht.«

Und wieder erschloß sich ihre Seele einer neuen Verfeinerung, einer neuen Freiheit. Wenn alle Pflanzengerichte so angenehm wie dies hier waren, wollte sie froh sein, wenn sie der Unsauberkeit der Fleischnahrung entrinnen könnte.

»Wie gut!« rief sie.

»Ja«, sagte Miß Schofield, und erzählte ihr dann, wie sie es machte. Die beiden Mädchen erzählten sich dann weiter über ihre eigenen Angelegenheiten. Ursula erzählte alles mögliche aus ihrer Schulzeit und von ihrer Reifeprüfung, wobei sie etwas ins Prahlen kam. Sie fühlte sich hier so armselig an diesem greulichen Orte. Miß Schofield hörte ihr mit einem sehr düsteren, brütenden Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht zu.

»Hätten Sie denn keine bessere Stellung finden können als diese?« fragte sie endlich.

»Ich wußte ja nicht, wie sie ausfallen würde«, antwortete Ursula etwas zweifelnd.

»Ach!« sagte Miß Schofield und wandte den Kopf mit einer Bewegung voller Bitterkeit zur Seite.

»Ist es denn wirklich so scheußlich hier, wie es scheint?« fragte Ursula furchtsam, die Brauen etwas runzelnd.

»Jawohl!« sagte Miß Schofield. »Ha! – es ist einfach greulich!«

Ursulas Herz sank, als sie sehen mußte, wie selbst Miß Schofield in diese tödliche Sklaverei verstrickt war.

»Mr. Harby ist es«, sagte Maggie Schofield losbrechend. »Ich glaube, in dem großen Raum könnte ich einfach nicht leben – Mr. Brunts Stimme und Mr. Harby seine – ah – – –«

Tiefverletzt wandte sie den Kopf zur Seite. Gewisse Dinge konnte sie eben nicht ertragen.

»Ist Mr. Harby wirklich so greulich?« fragte Ursula und wagte sich vorwärts auf ihren eigenen Schrecken zu.

»Der! – ja wieso, der ist ja gradezu ein Ruppsack«, sagte Miß Schofield und hob ihre dunklen, schamerfüllten Augen mit qualvoller Verachtung.

»Solange Sie sich gut mit ihm stehen, ist er nicht so schlimm, solange Sie sich an ihn wenden und alles so machen, wie er es haben will – aber das ist alles so gemein! Es ist doch schließlich nur eine Frage des Kämpfens von beiden Seiten – und diese großen Lümmel – – –«

Sie sprach schwierig und mit wachsender Bitterkeit. Sie hatte augenscheinlich sehr zu leiden gehabt. Ihre Seele blutete noch unter der Schande. Ursula litt mit ihr.

»Aber warum ist es denn nur so gräßlich?« sagte sie hilflos.

»Sie können einfach nichts tun«, sagte Miß Schofield. »Er steht Ihnen gegenüber auf der einen Seite und hetzt die Kinder gegen Sie auf von der andern. Die Kinder sind einfach fürchterlich. Alles müssen Sie ihnen beibringen. Alles, alles muß von Ihnen ausgehen. Was sie auch lernen, Sie müssen es ihnen einhämmern – so liegt die Sache.«

Ursula fühlte ihr Herz in der Brust schwach werden. Warum mußte sie sich dies alles aneignen, warum mußte sie fünfundfünfzig widerhaarigen Kindern ihren Lernstoff einpauken und es dabei die ganze Zeit über hinter ihrem Rücken noch mit häßlicher, roher Eifersucht zu tun haben, die jeden Augenblick bereit war, sie der Gnade dieser Horde von Kindern auszuliefern, die sie als die schwächere Vertreterin der Oberherrschaft sofort in Stücke reißen würden. Große Angst vor ihrer Aufgabe nahm von ihr Besitz. Sie sah Miß Harby, Mr. Brunt, Miß Schofield, kurz alle Lehrer sich unwillig der undankbaren Aufgabe unterziehen, einen Haufen Kinder zu einer gehorsamen, fleißigen Gesellschaft umzuwandeln, die ganze Bande in einen Zustand willenlosen Gehorchens und Aufmerkens hineinzuzwängen und dann über ihr Aufnahmevermögen für die verschiedensten Wissensgebiete zu verfügen. Die erste große Aufgabe war, sechzig Kinder zu einer einzigen Art von Auffassung, zu einem Wesen umzuwandeln. Diese Auffassung mußte ganz willenlos sein, mußte völlig auf dem Willen des Lehrers beruhen, auf dem Willen der ganzen Schulherrschaft, der sich über den Willen der Kinder ausdehnte. Der springende Punkt war der, daß Vorsteher und Lehrer nur einen gemeinsamen Herrschaftswillen besitzen durften, der den Willen der Kinder zum Einklang mit sich bringen sollte. Aber der Vorsteher war engherzig und schloß sich gegen die Lehrer ab. Der Wille der Lehrer war mit dem seinen nicht in Übereinstimmung zu bringen, ihre an sich verschiedenen Willen wollten sich nicht derart unterordnen. So herrschte ein Zustand von Gesetzlosigkeit, und das Endurteil, wessen Herrschaft auf die Dauer bestehen bleiben sollte, blieb den Kindern überlassen.

So bestanden also verschiedene Willen nebeneinander, und jeder einzelne bemühte sich aufs äußerste, den seinen zur Geltung zu bringen. Kinder können naturgemäß aus sich selbst heraus nie dazu gebracht werden, auf einem Haufen still zu sitzen und sich Wissen eintrichtern zu lassen. Dazu müssen sie durch einen stärkeren, verständigeren Willen gezwungen werden. Gegen diesen werden sie selbstverständlich anzulöcken suchen. Daher sollte die erste große Bemühung jedes Lehrers einer großen Klasse die sein, den Willen der Kinder mit seinem eigenen in Einklang zu bringen. Und dies kann nur durch Verleugnung des eigenen Ich geschehen und die Anwendung von Gesetzen zum Zwecke der Erzielung eines gewissen meßbaren Ergebnisses, der Vermittelung eines bestimmten Wissens. Ursula dagegen gedachte der erste weise Lehrer zu sein, der die ganze Geschichte zu einer reinen Personenfrage umgestalten würde und keinerlei Zwang anzuwenden brauchte. Sie glaubte eben vollkommen an ihre Persönlichkeit.

So saß sie denn bald sehr tief im Sumpf. In erster Linie bot sie der Klasse Beziehungen an, die höchstens ein oder zwei der Kinder verständig genug waren richtig einzuschätzen, so daß die Menge draußen davor stehen blieb und daher gegen sie war. Zweitens brachte sie sich in einen allerdings leidenden Widerspruch gegen die einzige anerkannte Obrigkeit, Mr. Harby nämlich, so daß die Schüler sie um so ungestrafter ärgern konnten. Das wußte sie zwar nicht, aber ihr Gefühl warnte sie doch mit der Zeit. Die Stimme Mr. Brunts quälte sie. Immer weiter lief sie, mißtönig, rauh, haßerfüllt, aber so eintönig, daß sie sie fast wahnsinnig machte: immer dieselbe feste, rauhe Eintönigkeit. Der Mann war zu einer Maschine geworden, die immer weiterlief, weiter, weiter, immer weiter. Aber der eigentliche Mensch rieb sich währenddessen durch innere Widerstände auf. Das war gräßlich – überall nur Haß! Sollte sie auch so werden? Sie konnte die schauerliche Notwendigkeit empfinden. Sie mußte wohl auch so werden – ihr eigenes Ich ablegen, ein Werkzeug werden, ein Begriff, der sich mit einem gegebenen Stoffe, der Klasse, dahin abmühte, ihm jeden Tag so und so viel Wissen einzupauken. Und dem konnte sie sich nicht unterwerfen. Aber dennoch fühlte sie allmählich das Eisen sie unwiderstehlich umschließen. Die Sonne war ihr genommen. Oft ging sie während der Spielzeit nach draußen, um den leuchtenden Himmel anzusehen mit seinen veränderlichen Wolken; dann kam er ihr wie ein Wahngebilde vor, wie ein Stück gemalter Bühnenausstattung. Ihr Herz war so schwarz und hatte sich so in die Lehrtätigkeit verwickelt, daß ihr eigenes Ich wie im Gefängnis saß, völlig kaltgestellt war durch diese Unterordnung unter einen schlechten, vernichtenden Willen. Wie sollte da der Himmel noch leuchten können? Es gab keinen Himmel mehr, draußen umgab sie keine leuchtende Luft mehr. Nur das Innere der Schule war Wirklichkeit – harte, greifbare, bösartige Wirklichkeit.

Indessen wollte sie sich durch die Schule doch nicht völlig unterkriegen lassen. Sie sagte sich immer, »es dauert ja nicht ewig, es muß auch mal zu Ende gehen«. Sie konnte sich immer schon jenseits der Schule sehen, konnte immer schon die Zeit sehen, wann sie sie verlassen haben würde. An Sonn- und Feiertagen, wenn sie in Coffethay oder in den Wäldern war, wo die Buchenblätter schon abgefallen waren, konnte sie an die St. Philipps-Schule nur mit großer Willensanstrengung als ein sich niedrig hinziehendes Gebäude denken, eine Art Maulwurfshügel unter Gottes Himmel, während die großen Buchenwälder sich so unermeßlich um sie her ausdehnten und der Nachmittag lang und wundervoll war. Und mehr noch die Kinder, die Schüler, wurden zu ganz unbedeutenden kleinen Wesen, ganz weit weg, o so weit weg! Und welche Macht besaßen sie denn über ihre freie Seele? Nur ein flüchtiges Gedenken, während sie durch die Buchenblätter ihren Weg dahinschuffelte, und sie waren fort. Aber ihr Wille befand sich in Spannung gegen sie, die ganze Zeit über.

Die ganze Zeit verfolgten sie sie. Nie hatte sie eine so leidenschaftliche Liebe zu den Schönheiten um sie her gefühlt. Wenn sie abends oben auf der Bahn saß, war die Schule manchmal wie weggeblasen beim Anblick eines schönen Sonnenuntergangs vor ihr. Und ihre ganze Brust, ihre Hände selbst sehnten sich nach dem entzückenden Aufflammen eines Sonnenuntergangs. Es verursachte ihr beinahe bittere Todesqualen, dies Sehnen darnach. Sie konnte durch die Schönheit eines Sonnenuntergangs fast zum Weinen gebracht werden.

Denn sie wurde ihm ja ferngehalten. Es nützte nichts, daß sie sich vorsagte, die Schule bestehe ja gar nicht länger für sie, sobald sie nur draußen wäre. Sie bestand doch weiter. Wie etwas Dunkles, Wuchtendes war sie doch in ihr und überwachte jede ihrer Bewegungen. Es war umsonst, daß das hochgemute, junge Geschöpf die Schule und jede Verbindung mit ihr hinter sich warf. Sie blieb Miß Brangwen, Lehrerin der Klasse Fünf, der wichtigste Bestandteil ihres Daseins war nun ihre Arbeit.

Wie ein ewiges Gespenst, wie etwas Dunkles, das sich über ihr Gemüt lagerte und jeden Augenblick herabzustoßen drohte, hatte sie stets die Empfindung, daß sie irgendwie, irgendwie heruntergerissen würde. Voller Bitterkeit bestritt sie sich selbst, wirklich Lehrerin zu sein. Das mochte Violet Harby überlassen bleiben. Mit der Anklage wollte sie nichts zu schaffen haben. Aber sie bestritt es vergeblich.

In ihrem Inneren schien eine überwachende Hand ganz unbewußt auf eine Verneinung hinzuweisen. Sie war unfähig, ihre Aufgabe zu erfüllen. Nicht einen Augenblick konnte sie sich dem verhängnisvollen Gewicht dieser Tatsache entziehen.

Und damit fühlte sie sich Violet Harby unterlegen. Miß Harby war eine prächtige Lehrerin. Mit bemerkenswertem Erfolg konnte sie ihre Klasse in Ordnung halten und ihr das nötige Wissen eintrichtern. Daß Ursula sich immer wieder, immer wieder entgegenhielt, sie stände doch unendlich viel höher als Violet Harby, half nichts mehr. Sie wußte, Violet Harby hatte Erfolg errungen, wo sie versagt hatte. Die ganze Zeit über fühlte sie, es zöge sie etwas hernieder, zöge sie hernieder. Wo sie in diesen ersten Wochen ging und stand, versuchte sie das abzuleugnen und sich vorzusagen, sie wäre so frei wie nur je. Sie versuchte, sich Miß Harby gegenüber durchaus nicht im Nachteil zu fühlen, die Wirkung ihrer Überlegenheit aufrechtzuerhalten. Aber ein großes Gewicht lag auf ihr, das eine Violet Harby tragen konnte, sie aber nicht.

Obwohl sie hierin nie nachgab, hatte sie doch auch nie Erfolg. Ihre Klasse geriet in einen immer schlechteren Zustand, sie fühlte sich beim Unterricht immer weniger sicher. Sollte sie sich zurückziehen und wieder nach Hause gehen? Sollte sie sagen, sie wäre an die unrechte Stelle gekommen, und sich damit heraushelfen? Ihr ganzes Leben stand auf dem Spiele.

Verbissen, blind, auf eine Wendung vertrauend fuhr sie fort. Mr. Harby begann jetzt offen sie zu verfolgen. Ihre Furcht vor ihm und ihr Haß wuchsen und breiteten sich weiter und weiter aus. Sie fürchtete, er werde sie einschüchtern, sie vernichten wollen. Er begann sie zu verfolgen, weil sie ihre Klasse nicht in Ordnung halten konnte, weil ihre Klasse das schwache Glied der Kette bildete, aus der seine Schule bestand.

Eins ihrer Verbrechen war, daß ihre Klasse laut war und Mr. Harby beim Unterricht der siebenten Klasse am andern Ende desselben Raumes störte. So ließ sie eines Morgens kleine Aufsätze schreiben, wobei sie zwischen den Schülern umherging. Ein paar Jungens hatten schmutzige Ohren und Hälse, ihr Zeug roch widerlich, aber darüber konnte sie noch hinweg. Sie verbesserte die Sätze im Umhergehen.

»Wenn du sagst, ›sein Kleid ist braun‹, wie schreibst du dann ›sein‹?« fragte sie.

Eine kleine Pause; die Jungens hielten aus Ulk immer mit ihren Antworten zurück. Sie hatten bereits angefangen, ihre Herrschaft überhaupt zu verulken.

»Bitte, Fräulein, ›s-e-i-n‹«, buchstabierte ein Junge mit offenbarem Hohn.

Gerade in diesem Augenblick ging Mr. Harby vorbei.

»Steh mal auf, Hill«, rief er mit seiner mächtigen Stimme.

Alles fuhr auf. Ursula beobachtete den Jungen. Er war augenscheinlich arm, aber recht schlau. Ein Büschel Haare stand ihm auf der Stirn steil in die Höhe, im übrigen lag es glatt an dem mageren Kopfe. Er war blaß und farblos.

»Wer hat dir erlaubt zu schreien?« donnerte Mr. Harby.

Der Junge sah mit schuldbewußter Miene und schlauer, spöttischer Zurückhaltung auf und nieder.

»Ich hab doch nur geantwortet«, erwiderte er mit frecher Unschuldsmiene.

»Geh mal zu meinem Pult.«

Der Junge zog die Klasse entlang, seine zu große schwarze Jacke hing ihm in trostlosen Falten um die Glieder, seine dünnen Beine mit den Kälberknieen hatten bereits das richtige Kriechen der Armut, seine Füße hoben sich kaum in den mächtigen Schuhen. Ursula beobachtete ihn, wie er so kriechend den Gang hinunterschlich. Das war einer ihrer Jungens! Als er bei Harbys Pult ankam, sah er sich halb verstohlen mit schlauem Grinsen und einem mitleidheischenden Blick auf die großen Jungens der siebenten Klasse um. Dann blieb er blaß, trostlos in seinem jämmerlichen Anzug neben dem drohenden Pulte des Vorstehers stehen, das eine Knie ganz verkrümmt, so daß der Fuß seitwärts abstand, die Hände in den Taschen seiner Männerjacke.

Ursula versuchte, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Klasse zurück zu lenken. Der Junge hatte ihr Schrecken eingejagt, und zugleich war sie voll heißen Mitleids für ihn. Sie hätte am liebsten laut geschrieen. Sie trug die Verantwortung für die Bestrafung des Jungen. Mr. Harby sah sich ihre Handschrift an der Tafel an. Dann wandte er sich der Klasse zu.

»Federn hinlegen.«

Die Kinder legten ihre Federn hin und sahen auf.

»Hände falten.«

Sie schoben ihre Bücher weg und falteten die Hände.

Ursula hatte sich in den hinteren Bänken verheddert und konnte nicht heraus.

»Worüber schreibt ihr?« fragte der Vorsteher. Alle Hände schossen empor. »Das – – –« stotterte eine eifrige Stimme.

»Ich rate euch, wartet, bis ihr gefragt werdet!« sagte Mr. Harby. Seine Stimme hätte wohlklingend genannt werden können, hätte nicht beständig etwas so abscheulich Drohendes in ihr gelegen. Unbeweglich stand er da, seine Augen zwinkerten unter den starken Brauen und der klaren Stirn, während er die Klasse beobachtete. Es lag etwas Bezauberndes in ihm, wenn er so dastand, und wieder hätte sie am liebsten laut aufgeschrieen. Sie litt unter einem fürchterlichen Mißklang, und wußte doch nicht recht, was sie eigentlich empfand.

»Na, Alice?« sagte er.

»Das Kaninchen«, piepte eine Mädchenstimme.

»Das ist recht leicht für die fünfte Klasse.«

Ursula fühlte sich beschämt über ihre Unzulänglichkeit. Sie wurde hier vor der ganzen Klasse bloßgestellt. Und das Widersprechende in allem und jedem quälte sie unsagbar. Mit seinen dicken, schwarzen Brauen und der klaren Stirn stand Mr. Harby so stark, so männlich da, mit seinem gewaltigen Kinn und dem dicken, überhängenden Schnurrbart: ein wirklicher Mann, voller Kraft und männlicher Stärke und einer gewissen blinden, angeborenen Schönheit. Rein als Mann hätte sie ihn gern haben können. Aber hier stand er noch in einer anderen Eigenschaft, er quälte sie wegen einer solchen Kleinigkeit, weil ein Junge ohne Erlaubnis gesprochen hatte. Und doch war er kein schwächlicher Kleinigkeitskrämer. Er schien ihr einen grausamen, hartnäckigen, üblen Sinn zu haben; er fühlte sich in einer für ihn zu kleinen und unwichtigen Aufgabe gefangen, die er aber doch in knechtischer Dienstwilligkeit auszufüllen suchte, weil er sich eben durch sie seinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Es fehlte ihm an feinerer Selbstprüfung, er besaß nichts als diesen blinden verbissenen, wohlfeilen Willen. Er wollte seinen Kram in Gang halten, weil er eben mußte. Und seine ganze Aufgabe bestand darin, den Kindern beizubringen, das Wort »Vorsicht« richtig zu buchstabieren und nach jedem Punkt mit einem großen Buchstaben wieder anzufangen. Darauf hämmerte er also mit unterdrücktem Hasse los, stets sich selbst unterdrückend, bis er ganz außer sich geriet. Ursula litt fürchterlich, wenn er so untersetzt und kräftig dastand und ihre Klasse unterrichtete. Es kam ihr so jämmerlich von ihm vor, so etwas zu tun. Er hatte eine ehrliche, kräftige, rauhe Seele. Was machte er sich aus dem Aufsatz über »Das Kaninchen«? Und doch ließ sein Wille ihn hier vor ihrer Klasse stillestehen und auf diesem elenden Gegenstand herumdreschen. Es war ihm zur zweiten Gewohnheit geworden, sich so klein und gemein zu benehmen, so unangebracht. Sie sah das Beschämende seiner Stellung, sie empfand die gefesselte Bosheit in ihm nach, die schließlich in Tobsucht ausbrechen mußte, so daß er ihr wie ein gefesseltes, hartnäckiges Tier vorkam. Das war wirklich unerträglich. Dieser Mißklang wurde ihr zur Qual. Sie blickte über ihre stille, aufmerksame Klasse hin, die völlig zu Ordnung, zu einer unbeweglichen, unempfindlichen Masse erstarrt schien. Das zu vollbringen lag also in seiner Macht, die Kinder so zu harten, stummen, ganz unter seinem Willen stehenden Bruchstücken erstarren zu machen: seinem rohen Willen, den er ihnen rein durch überlegene Kraft aufzwang. Auch sie mußte lernen, sie ihrem Willen zu unterjochen; sie mußte. Denn das war ihre Pflicht, da die Schule nun einmal so war. Er hatte ihre Klasse zu Ordnung erstarren lassen. Aber ihn hierbei zu sehen, den starken, kräftigen Mann, wie er zu einem solchen Zweck seine ganze Kraft aufwenden mußte, das war gradezu schrecklich. Es lag etwas Abscheuliches darin. Das seltsame, geistreiche Licht in seinen Augen war in Wirklichkeit bösartig und häßlich, sein Lächeln das eines Gefolterten. Er konnte gar nicht unpersönlich sein. Er konnte gar keinen klaren, reinen Zweck vor sich sehen, er vermochte nur seinen rohen Willen durchzusetzen. In keiner Weise glaubte er selbst an die Erziehung, die er den Kindern jahrein, jahraus eintrichterte. Er mußte sie einschüchtern, lediglich einschüchtern, selbst wenn er bei seiner starken, ursprünglich gesunden Veranlagung sich vor Qual darüber wand wie unter einem ewig stechenden Sporn. Er war so blind und häßlich und so gar nicht am Platze, daß Ursula es nicht länger ertragen konnte, als er so dastand. Die ganze Lage war so unecht und häßlich.

Die Aufgabe war erledigt, Mr. Harby ging fort. Am andern Ende des Raumes hörte sie das Pfeifen und Klatschen seines Rohrstockes. Ihr Herz stand still. Sie konnte es nicht ertragen, sie konnte es nicht ertragen, daß der Junge geprügelt wurde. Es machte sie elend. Sie fühlte, sie müsse die Schule verlassen, diese Folterkammer. Und sie haßte den Schulmeister, gründlich und endgültig. Hatte das Biest denn gar kein Schamgefühl? Das durfte ihm nie wieder gestattet werden, so roh und so grausam vorzugehen. Dann kam Hill wieder angekrochen, jämmerlich schluchzend. In seinem Schluchzen lag etwas so Trostloses, daß es ihr fast das Herz brach. Denn schließlich, hätte sie ihre Klasse in gehöriger Ordnung gehalten, dann wäre dies nie vorgekommen, Hill wäre nicht vorlaut gewesen und hätte keine Prügel bekommen.

Sie fing mit dem Rechenunterricht an. Aber sie war zerstreut. Hill saß auf seinem Platze ziemlich hinten, zusammengekauert, schluchzend und seine Finger lutschend. Das dauerte eine ganze Zeit. Sie wagte nicht zu ihm zu gehen und mit ihm zu reden. Sie schämte sich vor ihm. Und doch konnte sie es dem Jungen nicht vergeben, daß er die zusammengekauerte, schluchzende Ursache dafür war, so verheult und tränenfeucht er auch dasaß.

Sie fuhr mit dem Verbessern der Ergebnisse fort. Aber es waren zu viele Kinder. Sie konnte nicht durchkommen. Und Hill lag ihr auf dem Gewissen. Er hatte schließlich aufgehört zu weinen und sah nun ganz vergnüglich spielend auf seine Hände. Dann sah er zu ihr empor.

Sein Gesicht war schmutzig vor Tränen, seine Augen hatten ein sonderbar verwaschenes Aussehen, wie der Himmel nach einem Regenschauer, eine Art Blässe. Er war ihr nicht böse. Er hatte schon alles vergessen und wartete nur darauf, wieder in Gnaden angenommen zu werden.

»Mach weiter mit deinen Arbeiten, Hill«, sagte sie.

Die Kinder spielten mit ihrem Rechnen und mogelten gründlich, wie sie ganz genau wußte. Sie schrieb eine andere Aufgabe an die Tafel. Sie konnte nicht mit der ganzen Klasse fertig werden. So ging sie wieder nach vorne, um aufzupassen. Ein paar waren fertig. Ein paar noch nicht. Was sollte sie anfangen?

Schließlich kam die Pause. Sie ließ sie mit ihren Arbeiten aufhören und brachte sie auf die eine oder andere Weise aus der Klasse. Dann sah sie sich den unordentlichen Haufen schmutziger, verkleckster Bücher an, den Wust zerbrochener Kanthölzer und abgekauter Federhalter. Und ganz krank sank ihr Herz zu Boden. Das Elend drang tiefer.

Tag für Tag ging dieser Jammer so weiter. Immer hatte sie Haufen Hefte durchzusehen, unzählige Fehler zu verbessern, eine herzzerbrechende Aufgabe, die ihr schrecklich zuwider war. Und ihr Werk wurde schlechter und schlechter. Schmeichelte sie sich damit, daß der Ausdruck lebendiger würde, mehr Anteil verriete, so mußte sie gleichzeitig sehen, wie die Handschrift immer unsauberer wurde, die Bücher mehr und mehr verschmutzten. Sie versuchte, was sie nur konnte, aber alles vergeblich. Aber sie wollte es nicht zu ernst nehmen. Warum auch? Warum sollte sie sich Vorhaltungen machen, es sei höchst bedauerlich, wenn sie nicht imstande wäre, ihrer Klasse eine gleichmäßig hübsche Handschrift beizubringen? Was sollte sie sich deswegen selbst tadeln?

Der Zahltag kam, und sie erhielt vier Pfund zwei Schilling und einen Penny. Den Tag war sie sehr stolz. Noch nie hatte sie so viel Geld besessen. Sie saß oben auf der Elektrischen und fingerte mit ihrem Geld herum aus Furcht, es zu verlieren. Sein Besitz ließ sie sich so sicher, so fest untergebracht fühlen. Und als sie nach Hause kam, sagte sie zu ihrer Mutter:

»Heute ist Zahltag, Mutter.«

»So«, sagte die Mutter kühl.

Da legte Ursula ihr fünfzig Schilling auf den Tisch.

»Das ist mein Kostgeld«, sagte sie.

»So«, sagte die Mutter und ließ es liegen.

Ursula fühlte sich verletzt. Und sie hatte doch ihren Schoß bezahlt. Sie war frei. Sie bezahlte alles, was sie bekam. Zudem blieben ihr noch zweiunddreißig Schilling für sich selbst. Sie, die von Haus aus so Verschwenderische, wollte aber nichts davon ausgeben, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, ihr schönes Gold anbrechen zu müssen.

Nun hatte sie einen festen Fußpunkt neben ihren Eltern gefunden. Sie war noch etwas anderes als nur die Tochter William und Anna Brangwens. Sie war unabhängig. Sie verdiente sich ihren Lebensunterhalt selbst. Sie war ein wichtiges Mitglied der arbeitenden Gemeinde. Sie war sich darin sicher, daß fünfzig Schilling ihren monatlichen Unterhalt vollkommen deckten. Würde ihre Mutter fünfzig Schilling für jedes ihrer Kinder im Monat bekommen, so würde sie im Monat zwanzig Pfund haben und davon noch nicht einmal Kleider zu bezahlen brauchen. Das wäre doch sehr schön.

Ursula war also unabhängig von ihren Eltern geworden. Sie hing nun von einer anderen Stelle ab. Das Erziehungsamt wurde jetzt für sie ein Wort von hochtönender Bedeutung, und sie empfand Whitehall, das ferne, als ihr wirkliches Heim. Sie wußte, welcher Minister in der Regierung die Aufsicht über die öffentliche Erziehung führte und fühlte sich auf irgendeine Weise mit ihm verbunden, etwa wie auch ihr Vater mit ihr verbunden war.

Nun hatte sie ein anderes Ich, eine andere Verantwortlichkeit. Sie war nicht mehr bloß Ursula Brangwen, Tochter William Brangwens. Sie war auch Lehrerin der fünften Klasse an der St. Philipps-Schule. Das war eine Tatsache, mit der zu rechnen war, daß sie nämlich Lehrerin der fünften Klasse war, und damit holla. Wieder heraus konnte sie nicht.

Aber Erfolge erzielen konnte sie auch nicht. Das war ein großer Schrecken für sie. Als die Wochen sich weiter hindehnten, gab es keine Ursula Brangwen mehr, die freie, fröhliche. Da gab es nur noch ein Mädchen dieses Namens, das von dem Gedanken besessen war, sie könne ihre Klasse nicht in Ordnung halten. Am Wochenschluß kamen jedesmal Tage fürchterlicher Rückschläge, wenn der Geschmack der Freiheit sie ganz wahnsinnig machte, wenn allein schon morgens das Gefühl, frei zu sein, sich mit ihrer Stickerei hinsetzen zu können und mit den bunten Seidenfäden drauflos sticheln zu dürfen, ihr leidenschaftliche Freude erregte. Denn das Gefängnis wartete ihrer ja stets! Ihre Strafe war ja nur aufgeschoben, das wußte ihr in Ketten geschmiedetes Herz ganz genau. So ergriff sie die flüchtigen Stunden am Wochenschluß und preßte ihnen in grausamer Hast den letzten Tropfen Süßigkeit aus.

Sie erzählte niemand, welche Qualen ihr dieser Zustand bereitete. Niemand, weder Gudrun noch ihren Eltern vertraute sie an, wie gräßlich ihr dies Lehrerinnendasein war. Aber wenn der Sonntagabend herankam und der Montagmorgen ihr bevorstand, dann war ihr die Kehle wie zugeschnürt von schauerlichen Ahnungen, denn nun begann die Hetze, die Quälerei von neuem.

Sie glaubte nicht, daß sie je die große, ruppige Klasse werde unterrichten können in dieser scheußlichen Schule: niemals, niemals. Und doch, gelang es ihr nicht, dann mußte sie auf irgendeine Weise zugrunde gehen. Sie mußte dann zugeben, die Welt des Mannes wäre ihr zu stark, sie finde in ihr keinen Platz; sie mußte sich vor Mr. Harby erniedrigen. Und fortan müßte sie ihr ganzes Leben lang so fortfahren, ohne sich die Freiheit in der Welt des Mannes, ohne sich die Freiheit in der großen Welt verantwortungsvoller Tätigkeit errungen zu haben. Maggie hatte sich ihren Platz dort errungen, war sogar zu gleicher Höhe mit Mr. Harby gelangt und hatte sich von ihm frei gemacht: und nun durfte ihre Seele immerfort in den abgelegensten Tälern und Gründen der Dichtung umherwandern. Maggie war frei. Und doch lag auch in Maggies Freiheit etwas wie Unterwerfung. Mr. Harby, der Mann, mochte das zurückhaltende Mädchen, Maggie, nicht. Mr. Harby, der Schulmeister, war voller Achtung vor seiner Lehrerin, Miß Schofield.

Im Augenblick jedoch hatte Ursula für Maggie nur Neid und Bewunderung. Sie mußte erst noch erreichen, was Maggie sich schon errungen hatte. Sie mußte sich erst noch einen Fußpunkt erobern. Sie hatte auf Mr. Harbys Eigentum Fuß gefaßt und mußte ihn dort behalten. Denn jetzt begann er sie ganz regelrecht anzugreifen, sie aus seiner Schule zu vertreiben. Sie konnte keine Ordnung halten. Ihre Klasse war eine lärmende Bande und der wunde Punkt der ganzen Schule. Daher mußte sie fort und jemand mit mehr Wirkungskraft an ihre Stelle treten, jemand, der Zucht aufrecht zu halten verstand.

Der Vorsteher hatte sich in wahnsinnige Wut gegen sie hineingearbeitet. Er wollte sie los sein. Sie war eingetreten, war von Woche zu Woche immer schwächer geworden, war vollkommen nichts nutz. Sein Verfahren als Schulmann, sein wahres Lebensblut, das Ergebnis seiner rein körperlichen Bewegung fand sich bedroht und angegriffen an der Stelle, wo Ursula eingegliedert war. Sie war die Gefahr, die seinem Leben mit einem Fall, einem Schlage drohte. Und blind, gründlich machte er sich an die Arbeit sie herauszubringen, aus schierer, gefühlsmäßiger Abneigung.

Hatte er eins ihrer Kinder wegen eines Vergehens gegen ihn selbst zu bestrafen wie etwa den Jungen Hill, so erschwerte er die Strafe ganz außerordentlich und gab jedem Zusatzhieb die Bedeutung, er werde nur deshalb verabfolgt, weil die Lehrerin so schwach war, ihnen alles zu erlauben. Strafte er wegen eines Vergehens gegen sie, so war es sehr milde, als hätten Vergehen gegen sie keinerlei Bedeutung. Das merkten die Kinder und benahmen sich dementsprechend.

Hin und wieder pflegte Mr. Harby niederzustoßen und die Hefte nachzusehen. Eine ganze Stunde lang konnte er dann in der Klasse herumgehen, Seite um Seite vergleichen, während Ursula dabeistehen mußte, um sich alle möglichen Bemerkungen und Fehler durch die Schüler aufmutzen zu lassen. Es war richtig, seit ihrem Eintritt waren die Hefte ein gut Teil unordentlicher, lodderiger, schmieriger geworden. Mr. Harby zeigte auf Seiten, die vor ihrer Leitung geschrieben waren und verglich sie mit späteren, um dann rasend wütend zu werden. Eine ganze Menge Kinder ließ er mit ihren Heften vortreten. Und nachdem er die schweigende, zitternde Klasse gründlich vorgenommen hatte, verprügelte er die schlimmsten Verbrecher gehörig vor allen übrigen und ließ ein leidenschaftliches Donnerwetter von Wut und Arger über sie ergehen.

»So ein Zustand in einer von meinen Klassen, das ist ja nicht zu glauben! Das ist ja einfach schauderhaft! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ihr so habt herunterkommen können! Jeden Montagmorgen komme ich jetzt und sehe eure Hefte nach. Glaubt also nicht, es kümmere sich kein Mensch um euch, und ihr könntet ruhig alles wieder vergessen, was ihr früher gelernt habt, und könntet so weit zurückkommen, daß ihr wieder in die dritte Klasse paßtet. Jeden Montag werde ich all eure Bücher nachsehen – – –«

Wütend zog er dann mit seinem Rohrstock von dannen und ließ Ursula angesichts einer bleichen, zitternden Klasse stehen, deren Kindergesichter ausdruckslos vor Furcht und Erbitterung waren; ihre Seelen waren mit viel mehr Ärger und Verachtung gegen sie erfüllt als gegen den Vorsteher, dessen Augen sie aus der kalten, unmenschlichen Anklage der Kinder anblickten. Sie konnte nur mit Mühe ein paar Worte herausbringen. Trug sie ihnen etwas auf, so gehorchten sie mit einer unverschämten Ungezwungenheit, wie um zu sagen: »Meinst du, wir würden dir gehorchen, wenn wir nicht wüßten, der Vorsteher ist auch noch da?« Sie schickte die schluchzenden Jungens, die Prügel gekriegt hatten, an ihre Plätze im vollsten Bewußtsein, daß sie sie und ihre Herrschaft doch nur verspotteten und es ihrer Schwäche anrechneten, daß sie bestraft worden waren. Und so erkannte sie die ganze Sachlage; selbst ihr Abscheu vor körperlicher Züchtigung mit ihren Schmerzen verursachte ihr tiefere Pein und wurde für sie gradezu zu einer sittlichen Verurteilung, schlimmer als jede Verletzung.

Während der nächsten Woche mußte sie die Hefte überwachen und jedes Vergehen bestrafen. Kalt entschloß sich ihre Seele hierzu. Ihre persönlichen Wünsche waren für diesen Tag wenigstens tot. In die Schule dürfte sie nichts mehr von ihrem eigenen Ich hineinbringen. Da dürfte sie nur Lehrerin der fünften Klasse sein. Das war ihre Pflicht. In der Schule war sie ausschließlich Lehrerin der fünften Klasse. Ursula Brangwen mußte ausgeschlossen bleiben.

Blaß, verschlossen, endlich ganz abseitsstehend und unpersönlich sah sie also nicht länger einen Jungen vor sich, dessen Augen umhertanzten, oder daß auch er eine sonderbare kleine Seele besitze, die sich nicht darum quälte, ob er schön schriebe, wenn es ihm überhaupt nur gelang, einen Gedanken hinzuschmieren. Sie sah keine Kinder mehr, nur noch die zu vollbringende Aufgabe. Und indem sie ihre Augen derart auf die Aufgabe geheftet hielt und nicht auf die Kinder, wurde sie unpersönlich genug, dort zu strafen, wo sie früher Mitgefühl und Verständnis gezeigt hatte, und zu vergeben, wo sie früher überhaupt nichts bemerkt haben würde. Aber lebenden Anteil an ihnen empfand sie nicht mehr.

Für das lebhafte, aufgeweckte Mädchen mit seinen siebzehn Jahren war es eine Todesqual, so überlegen und dienstlich handeln zu müssen, so gar keine persönlichen Beziehungen mehr zu den Kindern haben zu sollen. Ein paar Tage lang ging es nach jenem Montag ganz gut, und sie kam mit ihrer Klasse etwas weiter. Aber dieser Zustand war unnatürlich für sie, und sie begann wieder nachzulassen.

Dann kam ein neuer Schicksalsschlag. Es waren nicht genügend Federn für die ganze Klasse da. Sie schickte zu Mr. Harby um mehr. Er kam selbst.

»Nicht Federn genug, Miß Brangwen?« sagte er mit einem Lächeln und einer Ruhe, die höchste Wut auf sie verrieten.

»Nein, mir fehlen sechs«, sagte sie bebend.

»Ach, wie kommt denn das?« sagte er drohend. Dann warf er einen Blick auf die Klasse und fragte:

»Wie viel sind heute da?«

»Zweiundfünfzig«, sagte Ursula, aber er schenkte ihr gar keine Beachtung, sondern zählte für sich.

»Zweiundfünfzig«, sagte er. »Und wie viele Federn sind da, Staples?«

Ursula schwieg nun. Er beachtete sie ja doch nicht, wenn sie auch antwortete, da er ja den Ordner gefragt hatte.

»Das ist ja ganz merkwürdig«, sagte Mr. Harby und blickte mit einem leichten Grinsen der Wut über die Klasse hin. Alle die Kindergesichter sahen ausdruckslos und hilflos zu ihm auf. »Vor ein paar Tagen waren sechzig Federn für die Klasse da – nun sind nur noch achtundvierzig da. Wie viel sind achtundvierzig von sechzig, Williams?« Ein übler Hintergedanke lag in dieser Frage. Ein dünner Junge in einem Matrosenanzug mit einem Gesicht wie ein Wiesel fuhr übertrieben diensteifrig hoch.

»Bitte, ich!« sagte er. Dann flog ein langsames, schlaues Grinsen über sein Gesicht. Er wußte es nicht. Nun folgte ein gespanntes Schweigen. Der Junge ließ den Kopf hängen. Dann sah er wieder auf, mit einem gerissenen Aufleuchten seiner Augen. »Zwölf«, sagte er.

»Ich rate dir, paß auf!« sagte der Vorsteher mit gefahrdrohender Miene. Der Junge setzte sich wieder hin.

»Achtundvierzig von sechzig sind zwölf: es müssen also noch zwölf Federn aufzutreiben sein. Hast du genau nachgesehen, Staples?«

»Ja, Herr Harby.«

»Dann sieh noch mal nach.«

Die Geschichte zog sich weiter hin. Zwei Federn wurden noch gefunden: also fehlten noch zehn. Da brach der Sturm los.

»Muß ich hier auch noch Diebereien erleben, außer eurer Dreckigkeit und eurem schlechten Arbeiten und niederträchtigen Benehmen?« begann der Vorsteher. »Seid ihr noch nicht zufrieden damit, die schlechteste und schmutzigste Klasse der ganzen Schule zu sein, daß ihr nun obendrein auch noch Spitzbuben werden müßt? Das ist doch wirklich spaßhaft! Federn zerschmelzen doch nicht in der Luft: Federn verkrümeln sich für gewöhnlich nicht so ohne weiteres. Wo sind sie geblieben? Irgendwo müssen sie sein. Wo sind sie geblieben? Gefunden werden müssen sie, und zwar hier von der fünften Klasse. Sie sind von der fünften Klasse verloren, also müssen sie auch von ihr wiedergefunden werden.«

Ursula stand dabei und hörte zu, ihr Herz kalt und hart. Sie war so außer sich, daß sie fast wahnsinnig wurde. Etwas in ihrem Innern versuchte sie dazu zu bringen, sich an den Vorsteher zu wenden und ihm zu sagen, er solle doch endlich mal mit seinem Gerede über die elenden Federn aufhören. Aber sie tat es nicht. Sie konnte nicht.

Jedesmal nach dem Unterricht, morgens und abends ließ sie nun die Federn nachzählen, und doch fehlten immer welche. Und Bleistifte und Gummis verschwanden auch. Sie ließ die Klasse nachsitzen, bis die Sachen wieder da waren. Aber sobald Mr. Harby aus dem Zimmer war, fingen die Jungens an umherzuspringen und zu schreien, und zu guter Letzt liefen sie einfach alle zusammen weg.

Nun spitzte sich die Sache auf eine Wendung zu. Mr. Harby konnte sie das nicht erzählen, weil er bei jeder Bestrafung ihrer Klasse sie als deren Ursache hinstellte und die Klasse es ihr durch Ungehorsam und Hohn vergolten hätte. Es war jetzt schon eine tödliche Feindschaft zwischen den Kindern und ihr herangewachsen. Als sie einmal die Klasse abends hatte nachsitzen lassen, um noch zu arbeiten, hörte sie nachher ein paar Jungens hinter ihr herlaufen und ihr nachschreien:

»Brangwen, Brangwen-Dicksteert!«

Als sie eines Sonnabendmorgens mit Gudrun nach Ilkeston hineinging, hörte sie hinter sich gellende Stimmen:

»Brangwen, Brangwen.«

Sie tat so, als merkte sie es nicht, aber sie verfärbte sich doch vor Scham, derart auf offener Straße verspottet zu werden. Sie, Ursula Brangwen aus Coffethay, konnte sich von der Lehrerin der fünften Klasse, die sie doch nun mal war, nicht losmachen. Selbst nicht, wenn sie ausging, um sich Band für einen Hut zu kaufen. Sie riefen hinter ihr her, dieselben Jungens, die sie lehren sollte.

Und eines Abends, als sie an den letzten Häusern der Stadt vorbei ins Freie ausgehen wollte, kamen sogar Steine hinter ihr hergeflogen. Da kam eine leidenschaftliche Wut über sie. Ohne die Steine zu beachten, ging sie weiter, ganz außer sich. Wegen der Dunkelheit konnte sie nicht sehen, wer sie geworfen hatte. Aber sie wollte es auch gar nicht wissen.

Aber in ihrer Seele hatte sich eine Änderung vollzogen. Nie wieder, aber auch nicht ein einziges Mal mehr wollte sie ihrer Klasse als Mensch gegenübertreten. Nie würde sie, Ursula Brangwen, das Mädchen, das sie war, der Mensch, der sie war, mit diesen Jungens in Fühlung kommen. Sie würde Lehrerin der fünften Klasse sein, ihrer Klasse persönlich so fernstehend wie nur möglich, als hätte sie nie vorher einen Fuß in die St. Philipps-Schule gesetzt. Sie wollte sie einfach alle vergessen und sich ihnen fernhalten, sie nur noch als Schüler ansehen.

So wurde ihr Aussehen verschlossener und verschlossener, und über ihre zergeißelte, wunde Jungmädchenseele, die sich den Kindern warm und offen hatte hingeben wollen, lagerte sich ein hartes, gefühlloses Ding, das völlig wie ein Uhrwerk nach auferlegten Regeln arbeitete.

Am nächsten Tage sah sie ihre Klasse scheinbar gar nicht. Sie konnte nur ihren Willen fühlen und was sie aus dieser Klasse, die sie sich unterwerfen mußte, herausholen wollte. Keine Berufung an die edleren Gefühle der Klasse nützten mehr. Ihre rasch auffassende Seele hatte das begriffen.

Sie, die Lehrerin, mußte sie sich alle als Schüler unterwerfen. Und das hatte sie sich vorgenommen. Alles andere wollte sie hinter sich liegen lassen. Seit den Steinwürfen war sie hart und unpersönlich geworden, fast rachsüchtig gegen sich selbst sowohl als gegen sie. Nach dieser Demütigung wollte sie länger kein Mensch sein, gar nicht mehr sie selbst. Sie wollte ihre Herrschaft bestätigt sehen, nur noch Lehrerin sein. Ihr Entschluß stand fest. Nun wollte sie kämpfen und unterjochen.

Ihre Feinde in der Klasse kannte sie jetzt. Der, den sie am meisten haßte, war Williams. Er war so etwas wie schwachsinnig, aber nicht genug, um als solcher zu gelten. Er konnte fließend lesen und besaß ein gut Teil gerissener Schlauheit. Aber er konnte nicht stillsitzen. Und er hatte etwas Krankhaftes an sich, das ein empfindsames Mädchen sehr abstoßen mußte, etwas Schlaues, Erblich-Belastetes, Entartetes. Einmal hatte er bereits ein Tintenfaß nach ihr geworfen, in einem seiner Tobsuchtsanfälle. Zweimal war er aus der Klasse nach Hause gelaufen. Er war überall bekannt.

Und er grinste vor sich hin über dies Mädel, diese Lehrerin, obwohl er sich manchmal auch wieder an sie hängte, um sich in ihre Gunst einzuschmeicheln. Er hatte etwas Blutegelhaftes an sich.

Einem der Kinder hatte sie einen schwanken Rohrstock weggenommen, fest entschlossen, ihn bei passender Gelegenheit zu gebrauchen. Eines Morgens, als sie Aufsätze schreiben ließ, sagte sie zu Williams:

»Warum hast du da einen Klecks gemacht?«

»Ach, Fräulein, der fiel mir so aus der Feder«, wimmerte er mit seiner höhnischen Stimme, die er sehr gut zu verwenden verstand. Die Jungens neben ihm prusteten los vor Lachen. Denn Williams war ein Schauspieler und verstand es, die Gefühle seiner Zuhörer zu kitzeln. Ganz besonders verstand er es, die Kinder damit zu kitzeln, daß er die Lehrer verspottete, oder richtiger jede Art von Macht, vor der er keine Angst hatte. Er war ein richtiger Galgenvogel.

»Dann mußt du nachher nachsitzen und noch eine Seite schreiben«, sagte die Lehrerin.

Das war allerdings gegen ihr gewöhnliches Gerechtigkeitsgefühl, und der Junge machte seinem Ärger durch spöttisches Benehmen Luft. Mittags faßte sie ihn ab, als er durchbrennen wollte.

»Setz dich, Williams«, sagte sie.

Und da saß sie, und da saß er, ganz allein ihr gegenüber auf der hintersten Bank, und sah alle Augenblicke verstohlen zu ihr auf.

»Bitte Fräulein, ich sollte noch was besorgen«, rief er unverschämt.

»Zeig mir dein Heft«, sagte Ursula.

Beim Herantreten ließ der Bengel sein Heft über die Bänke flappen. Er hatte nicht eine Zeile geschrieben.

»Setz dich hin und schreib, was ich dir aufgegeben habe«, sagte Ursula. Und sie setzte sich wieder auf ihr Pult und versuchte, Hefte zu verbessern. Sie zitterte und war außer sich. Eine Stunde lang krümmte der elende Bursche sich auf seinem Platze. Dann hatte er glücklich fünf Zeilen fertig gebracht.

»Weil es jetzt zu spät ist, machst du den Rest heute nachmittag«, sagte Ursula.

Frech trabte der Bengel an seinen Platz.

Der Nachmittag kam heran. Da saß Williams, sie verstohlen ansehend, und ihr Herz schlug wild, denn sie wußte, nun käme es zum Kampfe zwischen ihnen. Sie beobachtete ihn.

Während des Erdkunde-Unterrichts steckte der Bengel jedesmal, wenn sie mit dem Stock auf der Karte herumzeigen mußte, seinen weißen Kopf unter die Bank und lenkte so die Aufmerksamkeit der andern Jungens auf sich.

»Williams«, sagte sie, ihren ganzen Mut zusammenfassend, denn nun wurde es gefährlich, ihn anzureden, »was machst du da?«

Er hob den Kopf, seine rotgeränderten Augen halb lächelnd. Er hatte etwas entschieden Unanständiges an sich. Ursula fühlte sich heftig abgestoßen.

»Nichts«, sagte er siegesgewiß.

»Was machst du da?« wiederholte sie; ihr Herz schlug zum Ersticken.

»Nichts«, erwiderte der Junge unverschämt, beleidigt, sie verhöhnend.

»Wenn ich dich nochmal aufrufen muß, gehst du zu Mr. Harby.«

Aber der Bursche war sogar Mr. Harby gewachsen. Er war so beharrlich, so kriechend und biegsam, er heulte so gräßlich bei jedem Schmerz, daß der Vorsteher den Lehrer, der ihn ihm zuschickte, mehr haßte als den Jungen selbst. Der machte ihn durch seinen bloßen Anblick schon krank. Und das wußte Williams. Er grinste also ganz offen.

Ursula wandte sich wieder ihrer Karte zu, um mit dem Unterricht fortzufahren. Aber es gärte in der Klasse. Williams Geist hatte sie alle angesteckt. Sie hörte ein Gewühl und begann innerlich zu zittern. Wenn sich diesmal alle gegen sie wandten, war sie verloren.

»Bitte, Fräulein – – –« rief eine jammernde Stimme.

Sie drehte sich um. Einer von den Jungens, die sie gern hatte, hielt anklagend einen zerrissenen Zelluloidkragen hoch. Sie hörte seine Klage im Gefühle ihrer eigenen Nichtigkeit.

»Komm hierher nach vorn, Wright«, sagte sie.

Sie zitterte in jeder Fiber. Ein großer, verdrossen aussehender Junge, kein Bösewicht, aber schwer zu behandeln, kam nach vorn gekrochen. Sie fuhr mit ihrem Unterricht fort und fühlte, daß Williams Wright Fratzen zuschnitt, und daß Wright hinter ihrem Rücken grinste. Sie wandte sich wieder der Karte zu. Sie hatte Angst.

»Bitte, Fräulein, Williams – – –« kam ein scharfer Aufschrei, und in der hintersten Reihe stand ein Junge auf, die Brauen schmerzlich zusammengezogen, mit einem Grinsen, das halb ihr, halb seinen Schmerzen galt, aber auch wirkliche Wut gegen Williams verriet – »bitte, Fräulein, er hat mich gekniffen«, – und dabei rieb er betrübt sein Bein.

»Komm hierher, Williams«, sagte sie.

Der Bengel saß mit seinem Rattengesicht da und rührte sich nicht.

»Komm hierher«, wiederholte sie, diesmal sehr bestimmt.

»Tue ich nicht«, rief er fauchend, wie eine Ratte, grinsend. In Ursulas Seele schnappte etwas mit einem scharfen Klick zu. Ihr Gesicht, ihre Augen wurden hart, sie schritt gradeaus durch die Klasse. Der Bengel duckte sich vor ihren glühenden, festen Augen zusammen. Aber sie ging auf ihn zu, packte ihn am Arm und zog ihn aus der Bank. Er hielt sich daran fest. Nun war der Kampf zwischen ihr und ihm da. Ihr Gefühl wurde mit einem Male ganz ruhig und rasch. Mit einem Ruck riß sie ihn los und schleppte ihn trotz seines Strampelns und Umsichtretens nach vorn. Er versuchte sie ein paarmal zu treten und sich an den Bänken festzuhalten, aber sie zog ihn weiter. Die ganze Klasse war vor Aufregung auf den Beinen. Sie sah es, ging aber nicht darauf ein.

Sie wußte, ließ sie den Jungen los, dann lief er aus der Tür. Er war schon einmal aus der Klasse nach Hause gelaufen. So riß sie also den Stock von ihrem Pult und ließ ihn auf ihn heruntersausen. Er krümmte sich und trat um sich. Sie sah sein weißes Gesicht unter sich, mit Augen wie die eines Fisches, versteinert, und doch voller Haß und schrecklicher Angst. Er war ihr greulich, dies sich windende, ekelhafte Geschöpf, das ihr so schon über war. Vor Angst, er könne ihr schließlich doch noch entwischen, ließ sie den Stock wieder und wieder heruntersausen, während er sich unter undeutlichem Gewimmer hin und her wand und wütend mit den Füßen nach ihr stieß. Sie brachte es fertig, ihn mit einer Hand festzuhalten und ihm dann und wann eins mit dem Stock zu versetzen. Er wand sich wie wahnsinnig. Aber der Schmerz der Hiebe drang doch allmählich durch seinen bösartigen, sich krümmenden Feiglingsmut, er schnitt immer tiefer, bis ihm endlich nach einem langgezogenen Wimmern ein lauter Schrei entfuhr und er schlaff wurde. Nun ließ sie ihn los; da stürzte er mit gefletschten Zähnen und blitzenden Augen auf sie los. Einen Augenblick fühlte sie Todesangst im Herzen: jetzt war er vollends zum Tier geworden. Aber dann packte sie ihn, und der Stock sauste abermals nieder und nieder. Wie wahnsinnig trat er noch ein paarmal nach ihr, sich windend. Aber der Stock gewann wieder die Oberhand, mit lautem Geheul sank er zu Boden und blieb dort wie ein verprügeltes Tier schreiend liegen.

Gegen Ende dieses Auftrittes kam Mr. Harby hereingestürzt.

»Was ist hier los?« brüllte er.

Ursula war es, als sollte etwas in ihr zerbrechen.

»Ich habe ihn geschlagen«, sagte sie mit wogender Brust, die Worte mit Mühe und Not hervorbringend. Atemlos, hilflos vor Wut stand der Vorsteher da. Sie blickte auf die heulende, sich windende Gestalt am Boden.

»Steh auf«, sagte sie. Das Dings wriggelte sich von ihr weg. Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Einen Augenblick lang war sie die Anwesenheit des Vorstehers gewahr geworden, dann aber hatte sie ihn vollständig wieder vergessen.

»Steh auf«, sagte sie noch einmal. Mit einem kleinen Satz war der Bengel wieder auf den Beinen. Sein Geschrei sank zu einem verzweifelten Geschluchze herab. Er war vor Wut außer sich gewesen.

»Stell dich da neben die Heizung«, sagte sie.

Gedankenlos, schluchzend ging er hin.

Jeder Bewegungs- oder Sprachfähigkeit beraubt stand der Vorsteher da. Sein Gesicht war gelb, seine Hände zuckten krampfhaft. Aber Ursula blieb steif dicht neben ihm stehen. Jetzt konnte sie nichts mehr anrühren: sie war Mr. Harby über. Ihr war, als wäre ihr tödliche Gewalt angetan.

Der Vorsteher brummte etwas vor sich hin, drehte sich um und ging ans andere Ende des Raumes, von wo sie ihn bald in wahnsinniger Wut seine eigene Klasse anbrüllen hören konnte.

Der Junge stand wild schluchzend neben der Heizung. Ursula sah ihre Klasse an. Fünfzig blasse, stille Gesichter beobachteten sie, hundert runde Augen blickten sie fest, unbeweglich in aufmerksamer, ausdrucksloser Starre an.

»Verteilt die Geschichtsbücher«, sagte sie zu den Ordnern.

Totenstille herrschte. Während sie so dastand, konnte sie die Uhr ticken hören und das Klappen der Bücher, als sie aus dem niedrigen Schrank hervorgeholt wurden. Dann kam das schwache Aufschlagen der Bücher auf den Tischplatten. Die Kinder verharrten in Schweigen, ihre Hände arbeiteten ganz gleichförmig. Jetzt waren sie kein Rudel mehr, sondern jedes einzelne war nun zu einem stillen, verschlossenen Ding geworden.

»Schlagt Seite 125 auf, und lest das Stück«, sagte Ursula.

Nun kam das Rauschen vieler sich öffnender Bücher. Die Kinder fanden die Seite und beugten gehorsam ihre Köpfe über den Lesestoff. Gedankenlos lasen sie drauflos.

Heftig zitternd ging Ursula zu ihrem Pult und setzte sich. Das Schluchzen des Jungen tönte fort. Die dünne Stimme Mr. Brunts, das Brüllen M. Harbys tönten gedämpft durch die gläserne Scheidewand herüber. Hin und wieder erhob sich ein Augenpaar von seinem Buch, blieb einen Augenblick auf ihr haften, wachsam, als berechne es sie ganz unbeteiligt, und senkte sich dann wieder.

Ohne sich zu rühren saß sie still, ihre Augen die Klasse überwachend, ohne sie zu sehen, da. Sie war ganz still und schwach. Sie fühlte, sie könne die Hand nicht vom Pult aufheben. Und sollte sie da in Ewigkeit sitzen, sie fühlte, sie könne sich nie wieder bewegen, nie wieder einen Befehl von sich geben. Es war ein Viertel nach vier. Sie fürchtete sich fast vor dem Schulschluß, wo sie allein bleiben würde.

Die Klasse begann ihren Gleichmut wieder zu finden, die Spannung ließ nach. Williams brüllte immer noch. Mr. Brunt befahl aufzuhören. Ursula kam vom Pult herunter.

»Setze dich auf deinen Platz, Williams«, sagte sie.

Er schleifte die Füße durchs Zimmer und wischte sich das Gesicht mit dem Jackenärmel ab. Als er sich hinsetzte, sah er sich verstohlen um, seine Augen noch röter als früher. Er sah jetzt wie eine verprügelte Ratte aus.

Schließlich waren die Kinder draußen. Mr. Harby trottete schwerfällig vorüber, ohne sie anzusehen oder mit ihr zu sprechen. Mr. Brunt zögerte, als sie ihren Klassenschrank abschloß.

»Wenn Sie Clarke und Letts auch noch so zustutzen, dann sind Sie durch. Miß Brangwen«, sagte er, einen Blick seltsamer Genossenschaft in seinen blauen Augen und seine spitze Nase ihr ins Gesicht stoßend.

»Glauben Sie?« lachte sie gereizt. Sie wünschte mit niemand zu reden.

Als sie über das laut klappernde Granitpflaster der Straße ging, merkte sie, wie ein paar Jungens sich hinter ihr herschlichen. Etwas schlug gegen ihre Hand, in der sie ihre Tasche trug. Als es wegrollte, sah sie, daß es eine Kartoffel gewesen war. Die Hand tat ihr weh, sie gab aber kein Zeichen von sich. Sie würde ja gleich in ihre Bahn steigen.

Sie kam sich seltsam vor und fürchtete sich. Es war für sie so seltsam und häßlich, wie ein Traum, in dem sie erniedrigt würde. Sie wäre lieber gestorben, als daß sie das irgend jemand eingestanden hätte. Sie mochte ihre geschwollene Hand nicht ansehen. In ihr war etwas zerbrochen; sie hatte einen Wendepunkt durchschritten. Williams war geschlagen, aber mit welchen Kosten!

Da sie sich zu aufgeregt fühlte, um gleich nach Hause zu fahren, ging sie erst noch etwas weiter in die Stadt und trat in eine kleine Teestube. In einem kleinen, dunklen Zimmer hinter dem Laden trank sie ihren Tee und aß Brot und Butter dazu. Sie schmeckte nichts. Das Teetrinken war eine rein gedankenlose Handlung, ein Verhüllen ihres Daseins. Da saß sie in dem dunklen, finsteren kleinen Loche ohne Bewußtsein. Bewußtlos streichelte sie ihre schmerzende Hand.

Als sie sich schließlich auf den Heimweg machte, flammte ein roter Sonnenuntergang im Westen. Sie wußte nicht, warum sie eigentlich heimging. Dort gabs doch nichts für sie. In Wahrheit mußte sie doch immer nur so tun, als sei alles wie zuvor. Da war niemand, zu dem sie sprechen konnte, nichts, wohin sie hätte gehen können. Aber weiter mußte sie unter diesem roten Sonnenuntergang, allein, im Bewußtsein alles Greulichen im Menschen, das sie vernichten wollte und mit dem sie im Kampfe lag. Und doch mußte es so sein.

Am Morgen mußte sie ja wieder zur Schule. Sie stand auf und ging ohne Murren. Sie lag in der Hand eines mächtigeren, rauheren Willens.

Die Schule war ziemlich ruhig. Aber sie konnte fühlen, wie ihre Klasse sie beobachtete, sprungbereit. Ihr Gefühl zeigte ihr ganz klar, ihre Klasse werde sie beim ersten Anzeichen von Schwäche packen. Aber sie bewahrte ihre Kälte und war auf der Hut.

Williams war nicht da. Mitten am Vormittag klopfte es an die Tür: jemand fragte nach dem Vorsteher. Mr. Harby ging hinaus, schwer, ärgerlich, gereizt. Er hatte Angst vor erzürnten Eltern. Nach einem Augenblick auf dem Vorplatz kam er wieder herein.

»Sturgeß«, rief er einem der größeren Jungens zu. »Hier stell dich her und schreib jeden an die Tafel, der spricht. Wollen Sie mitkommen. Miß Brangwen.«

Voller Rachegelüst schien er sie zu packen.

Ursula ging hinter ihm her und fand auf dem Vorplatz eine magere Frau mit weißlicher Haut, nicht schlecht angezogen in einem grauen Kleide und purpurrotem Hut.

»Ich komme Vernons wegen«, sagte die Frau, die ganz gebildet sprach. Sie hatte überhaupt etwas ganz Feines an sich, etwas Sauberes, das merkwürdig gegen ihr bettlerhaftes Benehmen abstach; sie verursachte einem Unbehagen beim Gedanken an eine Berührung, wie etwas innerlich Verrottetes. Sie war weder Dame noch gewöhnliche Arbeiterfrau, ein Geschöpf, das in der Gesellschaft nicht unterzubringen ist. Ihrem Kleide nach war sie nicht arm.

Ursula wußte sofort, sie sei Williams Mutter und er der Vernon. Sie erinnerte sich, daß er in seinem Matrosenanzug immer sauber aussah. Und er hatte ganz dasselbe sonderbare, halb durchsichtig Krankhafte an sich, so etwas Leichenhaftes.

»Ich konnte ihn heute nicht zur Schule schicken«, fuhr die Frau mit falscher Liebenswürdigkeit fort. »Er war so krank, als er gestern nach Hause kam – er mußte sich furchtbar übergeben – ich dachte schon, ich müßte zum Doktor schicken. – Sie wissen ja, er hat ein schwaches Herz.«

Mit ihren blassen, toten Augen sah die Frau Ursula an.

»Nein,« sagte das Mädchen, »davon weiß ich nichts.«

Voller Abscheu und Unsicherheit stand sie ihr gegenüber. Mr. Harby, breit und männlich mit seinem überhängenden Schnurrbart, stand mit einem leichten, häßlichen Lächeln in den Augenwinkeln daneben. Hinterlistig, gar nicht wie ein Mensch, fuhr die Frau fort:

»O ja, er ist herzkrank schon von Kindheit an. Daher ist er in der Schule auch nicht so ganz dabei. Und es ist sehr schlimm, wenn er solche Schläge kriegt. Er mußte sich heute morgen furchtbar übergeben – ich muß zum Doktor gehen, jetzt auf dem Nachhausewege.«

»Wer ist denn jetzt bei ihm?« warf die tiefe Stimme des Vorstehers schlau ein.

»O, ich habe eine Frau bei ihm gelassen, die mir immer hilft – und die ihn auch versteht. Aber auf dem Nachhausewege werde ich doch den Doktor holen.«

Ursula stand still. Sie empfand in all diesem unbestimmte Drohungen. Aber die Frau war ihr so sonderbar, daß sie sie gar nicht begriff.

»Er erzählte mir, er hätte Prügel gekriegt,« fuhr die Frau fort, »und als ich ihn auszog, um ihn zu Bett zu bringen, war sein ganzer Körper voller Striemen – ich könnte sie noch jedem Doktor zeigen.«

Mr. Harby sah Ursula um Antwort an. Nun begann sie zu begreifen. Die Frau drohte ihr mit einer Klage wegen körperlicher Mißhandlung ihres Sohnes. Vielleicht wollte sie auch Geld.

»Ich habe ihn geschlagen«, sagte sie. »Er macht mir sehr viel Ärger.«

»Das tut mir sehr leid, wenn er Ihnen Ärger verursacht, aber er muß ganz schauderhaft verprügelt worden sein. Jedem Doktor könnte ich die Spuren noch zeigen. Ich bin sicher, das ist doch nicht erlaubt, wenn so was bekannt würde.«

»Ich habe ihn geschlagen, weil er mich fortwährend trat«, sagte Ursula, die nun ärgerlich wurde, weil sie sich halbwegs entschuldigen mußte; denn Mr. Harby stand mit einem Zwinkern in den Augenwinkeln daneben und freute sich offenbar nur über das Gezänk der beiden Frauen.

»O ganz gewiß, es tut mir sehr leid, wenn er sich häßlich benommen hat«, sagte die Frau. »Aber ich kann mir doch nicht denken, daß er eine solche Behandlung verdient hat. Ich kann ihn nicht zur Schule schicken und kann auch die Doktorkosten nicht bezahlen. – Dürfen denn die Lehrer die Kinder so schlagen, Mr. Harby?«

Der Vorsteher wollte nicht mit der Antwort heraus. Ursula ekelte es vor sich selbst und vor Mr. Harby mit seinem schlauen Augenzwinkern und seiner bösartigen Freude an diesem Schauspiel. Die jämmerliche Frau nahm ihre Gelegenheit wahr.

»Das kostet nun wieder so viel, und ich muß sowieso schon hart kämpfen, um meinen Jungen anständig aufzubringen.«

Ursula wollte hierauf nicht antworten. Sie sah auf den Schulhof hinaus, wo ein schmutziges Stück Papier im Winde umherküselte.

»Und ganz gewiß ist es doch nicht gestattet, die Kinder so zu schlagen, noch dazu, wenn sie so zart sind.«

Mit verschlossenem Gesicht starrte Ursula auf den Schulhof hinaus, als hörte sie nichts. Es ekelte sie vor allem, und sie hatte längst aufgehört etwas zu empfinden oder zugegen zu sein.

»Wenn ich auch weiß, daß er zuweilen recht unruhig ist – aber das war doch zu viel, meine ich. Sein Körper war ja ganz voller Striemen.«

Untersetzt und unbeweglich stand Mr. Harby daneben und wartete nun daraus, sie sollten aufhören, mit den winzigen, zwinkernden Runzeln eines spöttischen Lächelns in den Augenwinkeln. Er fühlte sich vollkommen Herr der Lage.

»Und er mußte sich so furchtbar übergeben. Ich hätte ihn unmöglich heute morgen zur Schule schicken können. Er konnte ja den Kopf nicht hochkriegen.«

Sie antwortete immer noch nicht.

»Sie verstehen wohl, Mr. Harby, weswegen er fehlen mußte.«

»O ja«, sagte der rauh und wegwerfend. Ursula verabscheute ihn wegen seines männlichen Siegesbewußtseins. Und vor der Frau ekelte es sie. Es ekelte sie vor allem.

»Sie werden es denn wohl in Erinnerung bringen, Mr. Harby, daß er ein schwaches Herz hat. Er ist nach so was immer so elend.«

»Ja«, sagte der Vorsteher, »ich werde drauf achten.«

»Ich weiß, er ist ungezogen«, die Frau wandte sich nun ausschließlich an den Mann – »aber wenn Sie ihn bestrafen lassen könnten, ohne daß er geschlagen würde – – er ist wirklich sehr zart.«

Ursula begann sich außer sich zu fühlen. Harby stand in stolzer Meisterschaft da, und das Frauenzimmer bemühte sich ihn zu kitzeln, als wäre er eine Forelle.

»Ich kam nur, um Ihnen zu sagen, weswegen er heute morgen fehlen mußte. Sie verstehen wohl.«

Sie hielt ihm die Hand hin. Harby ergriff sie und ließ sie wieder fallen, überrascht und ärgerlich.

»Guten Morgen«, sagte sie und hielt ihre mit einem abgetragenen Handschuh bekleidete Hand auch Ursula hin. Sie sah nicht häßlich aus und hatte etwas merkwürdig Einschmeichelndes, etwas sehr Widerwärtiges aber doch Wirkungsvolles.

»Guten Morgen, Mr. Harby, und vielen Dank.«

Die Gestalt im grauen Kleide und dem Purpurhut schritt langsam in einer seltsam zögernden Gangart über den Schulhof. Ursula fühlte sich von einem seltsamen Mitgefühl mit ihr gepackt und doch auch wieder abgestoßen. Sie schauderte. Dann ging sie wieder in die Klasse.

Am nächsten Morgen war Williams wieder da, blasser als je, sehr sauber und nett angezogen mit einer Matrosenbluse. Halb lächelnd sah er Ursula an: schlau, unterwürfig, bereit, alles zu tun, was sie ihm auftragen würde. Er hatte etwas an sich, das sie schaudern machte. Es ekelte sie bei dem Gedanken, sie habe Hand an ihn gelegt. Während der Spielpause stand sein älterer Bruder, ein Junge von fünfzehn, draußen am Tore, lang und dünn und blaß. Er nahm den Hut ab, fast wie ein Herr. Aber auch in ihm lag etwas Hinterlistiges, Unterwürfiges.

»Wer ist das?« sagte Ursula.

»Das ist der ältere Williams«, sagte Violet Harby schroff. »Sie war ja wohl gestern hier, nicht wahr?«

»Ja.«

»Das nützt ihr nichts, wenn sie auch herkommt – sie ist nicht die Frau danach, um einem zu schaffen zu machen.«

Ursula schauderte vor allem Rohen und Lauten zurück. Aber es hatte doch auch etwas greulich Bezauberndes an sich. Wie schmutzig ihr alles vorkam! Die merkwürdige Frau mit dem zögernden Schritt tat ihr leid, und diese sonderbaren, hinterlistigen Jungens auch. Der Williams in ihrer Klasse war irgendwie nicht in Ordnung. Wie eklig das alles war.

So ging der Kampf weiter, bis sie sich im Herzen krank fühlte. Sie mußte sich noch ein paar andere Jungens unterwerfen, bevor sie festen Fuß fassen konnte. Und Mr. Harby haßte sie fast so, als wäre auch sie ein Mann. Jetzt begriff sie, daß nur eine tüchtige Tracht Prügel ein paar der größten Lümmel, die Katze und Maus mit ihr spielen wollten, zur Vernunft bringen könne. Mr. Harby würde sie nicht hauen, wenn er es vermeiden könnte. Denn er haßte die Lehrerin, die hochnäsige, anmaßende »höhere Tochter« mit ihrer Unabhängigkeit.

»Na, Wright, was hast du denn diesmal wieder angestellt?« fragte er gemütlich den ihm aus der fünften Klasse zugesandten Jungen, der Prügel haben sollte. Und dann ließ er den Jungen stehen und seine Zeit vertrödeln.

Ursula wandte sich also nicht mehr an den Vorsteher um Hilfe, sondern wenn der Zorn sie übermannte, packte sie ihren Stock und haute den Jungen, der frech gegen sie gewesen war, über Hände und Kopf und Ohren. Und schließlich bekamen sie Angst vor ihr, und sie hielt sie im Zaume.

Aber um so weit zu kommen, hatte ihre Seele einen hohen Preis zahlen müssen. Es schien ihr, als sei eine gewaltige Flamme durch sie hindurch gefahren und habe ihr alle Empfindung ausgebrannt. Sie, die schon vor dem Gedanken an körperliches Leid in jedweder Form zurückschreckte, hatte sich gezwungen gesehen zu kämpfen, mit einem Stock um sich zu schlagen, und hatte ihre gesamte Empfindung auf das Hervorrufen von Schmerz richten müssen. Und nachher war sie gezwungen gewesen, auch noch das Geschluchze und Gejammere anzuhören, als sie sie endlich zur Ordnung gebracht hatte.

O, zuweilen kam sie sich vor, als müsse sie verrückt werden. Was lag denn daran, was lag denn daran, ob ihre Hefte dreckig und sie selbst ungehorsam waren? In Wirklichkeit hätte sie sie lieber ungehorsam gegen sämtliche Schulvorschriften gesehen, als geschlagen, gebrochen, in einen solchen hoffnungslosen, heulenden Zustand versetzt. Tausendmal lieber wollte sie alle ihre Unarten und Frechheiten ertragen als sie und sich selbst so erniedrigen. Sie bereute bitterlich, sich so weit haben gehen zu lassen, den Jungen überhaupt angefaßt zu haben.

Und doch hatte es ja sein müssen. Sie hatte es nicht so gewollt. Aber trotzdem hatte sie es tun müssen. O warum, warum verschrieb sie sich denn einer so üblen Einrichtung, in der sie selbst verrohen mußte, nur um leben zu können? Weshalb war sie nur Lehrerin geworden, weshalb, weshalb?

Die Kinder hatten sie gezwungen, sie zu schlagen. Nein, sie hatte kein Mitleid mit ihnen. Voller Güte und Liebe war sie ihnen entgegengekommen, und sie hätten sie am liebsten in Stücke gerissen. Sie waren für Mr. Harby. Na gut, dann mußten sie sie ebensogut anerkennen wie Mr. Harby, in erster Linie sollten sie ihr untertan sein. Denn sie ließ sich nicht zu einer Null machen, nein, weder von ihnen, noch von Mr. Harby, noch von dem ganzen Getriebe um sie her. Sie ließ sich nicht unterkriegen, ließ sich ihre Freiheit nicht entziehen. Es sollte von ihr nicht heißen, sie fülle ihren Platz nicht aus oder führe ihre Aufgabe nicht durch. Sie wollte weiterkämpfen und ihren Platz in dieser Umgebung auch behaupten, in dieser Welt der Arbeit, in der alles vom Manne festgesetzt wurde.

Von dem Leben ihrer Kindheit war sie nun abgeschnitten, ein Fremdling in einem neuen Leben, das der Arbeit und triebmäßiger Erwägung gewidmet war. Sie und Maggie besprachen das Leben und seinen geistigen Inhalt während ihrer Frühstücksstunden und bei gelegentlichen kleinen Tees in der kleinen Teestube. Maggie war eine große Frauenrechtlerin und setzte ihre ganze Hoffnung auf das Frauenstimmrecht. Für Ursula besaß dies Stimmrecht keine Wirklichkeit. Sie besaß in ihrem Inneren jenes seltsame Wissen um Gott und das Leben, das weit über alle Grenzen dieses selbsttätig wirkenden Gefüges hinausging, das das Stimmrecht in sich schloß. Aber ihr grundlegendes Wissen sollte erst noch Gestalt annehmen und reif für einen eigenen Ausdruck werden. Für sie ebenso wie für Maggie bedeutete die Freiheit der Frau etwas Wirkliches, Tiefes. Sie fühlte sich irgendwie, in irgendwelcher Hinsicht unfrei. Und sie wollte frei sein. Sie war in Aufruhr. War sie erst einmal frei, dann konnte sie überallhin. Ach, dies wunderbare, wirkliche Überall, das dort jenseits lag, dies Überall, das sie tief, tief in ihrem Innern fühlte.

In dem Schritt zum Verdienen des eigenen Lebensunterhaltes hatte sie eine starke, grausame Bewegung ihrer Freiheit entgegen ausgeführt. Aber je mehr Freiheit sie besaß, um so tiefer wurde sie nur gewahr, wie viel sie ersehnte. Sie wünschte sich so vieles. Sie hätte so gern große, schöne Bücher gelesen und sich an ihnen bereichert; sie hätte so gern so viel Schönes gesehen und sich immerfort daran erfreuen mögen; sie hätte so gern große, freie Menschen kennen gelernt; und dann blieb immer noch dies Sehnen, das sie nicht zu benennen vermochte.

Es war so schwer. Da war so vielerlei, so manches auf sich zu nehmen und zu überwinden. Und dann wußte man doch auch nie, wohin man eigentlich ging. Es war ein blindes Fechten. Bitterlich hatte sie hier an der St. Philipps-Schule leiden müssen. Sie war wie ein junges Füllen, das ans Geschirr gewöhnt wird und damit seine Freiheit verloren hat. Und nun litt sie tödlich unter der Gabel. Unter dem Tödlichen, Verbitternden, Beschämenden der Zucht. Das fraß sich ihr in die Seele. Aber nachgeben wollte sie niemals. Einer Deichsel wie dieser würde sie sich nie lange unterwerfen. Aber sie würde sie dann kennen. Sie wollte ihnen erst dienen, um sie später vernichten zu können.

Sie und Maggie gingen zu allen möglichen Veranstaltungen, in große Frauenrechtsversammlungen in Nottingham, in Konzerte, Theater, in Gemäldeausstellungen. Ursula sparte ihr Geld, bis sie sich ein Rad kaufen konnte, und dann fuhren die beiden Mädchen nach Lincoln, nach Southwell und nach Derbyshire. Sie besaßen einen endlosen Vorrat an Fragen, die sie zu besprechen hatten. Und es machte so viel Freude, dies Auffinden, dies Entdecken.

Aber nie erzählte Ursula von Winifred Inger. Das war eine geheime Seitenvorstellung ihres Lebens geworden, die nie wieder an die Öffentlichkeit gebracht werden durfte. Sie dachte nicht einmal mehr daran. Das war die verschlossene Tür, die sie nicht die Kraft besaß zu öffnen.

Sobald Ursula einmal an ihren Lehrberuf gewöhnt war, begann allmählich wieder ein neues Leben für sie. In anderthalb Jahren sollte sie auf die Hochschule gehen. Dann würde sie ihre Prüfungen bestehen, und ach! – vielleicht würde sie dann eine bedeutende Frau werden. Führerin einer großen Bewegung. Wer weiß? – Auf alle Fälle würde sie erst mal in anderthalb Jahren auf die Hochschule gehen. Alles, worauf es jetzt ankam, war Arbeit, Arbeit.

Und bis zur Hochschule mußte sie mit diesem Lehrerspielen an der St. Philipps-Schule fortfahren, das sie zwar immer zu vernichten drohte, mit dem sie jetzt aber doch fertig werden konnte, ohne daß es ihr ganzes Leben verdarb. Eine Zeitlang wollte sie es sich gefallen lassen, da die Zeit ja eine begrenzte war.

Der Unterricht wurde schließlich auch beinahe ganz handwerksmäßig. Er blieb aber doch eine große Anstrengung für sie, fast bis zur Erschöpfung anstrengend, stets unnatürlich. Aber in dem Vergessen des Unterrichts allein schon fand sie ein gewisses Vergnügen, und dann die viele Arbeit, die vielen Kinder, um die sie sich kümmern mußte, so vielerlei zu besorgen, daß sie sich selbst ganz darüber vergaß. Sobald sie sich an ihre Arbeit gewöhnt hatte und ihre Seele draußen bleiben konnte, ihren Nährboden anderswo finden konnte, da fühlte sie sich beinahe glücklich.

Ihre wirkliche, eigentliche Wesenheit sammelte sich während dieses zweijährigen Schulunterrichts, während dieses Kampfes gegen die Unebenheiten des Unterrichts und wurde einheitlicher. Sie blieb eben ein Gefängnis für sie, die Schule. Aber es war ein Gefängnis, in dem ihre wilde, ungeordnete Seele gehärtet und unabhängig gemacht wurde. Sie freute sich morgens darauf, das Ding in Gang bringen, all ihre Kraft anwenden zu müssen, um es laufen zu lassen. Das gewährte ihr eine vorzügliche Übung. Und ihre Seele blieb dabei in Ruhe, sie hatte nun eine Zeit der Starre vor sich, in der sie wieder frische Kräfte sammeln konnte. Aber die Unterrichtsstunden waren für sie zu lang, die Aufgaben zu schwer und die Ordnung in der Schule zu unnatürlich. Sie wurde dünn und zitterig.

Als sie morgens zur Schule ging, sah sie die Rotdornblüten ganz feucht, die kleinen, rosigen Blättchen in einem Meer von Tau schwimmen. Mit lautem Tirili stiegen die Lerchen in den neuen Sonnenschein empor, und das Land sah so froh aus. Wie eine Vergewaltigung kam es ihr vor, jetzt in den Staub, das Grau der Stadt untertauchen zu müssen.

Unwillig, sich der Lehrtätigkeit zu überlassen, stand sie vor ihrer Klasse, unwillig, ihre Tatkraft, die sich nach dem Lande und der Freude am Vorsommer sehnte, mit dem Beherrschen von fünfzig Kindern und dem Eintrichtern von ein paar Rechenaufgaben zu vergeuden. Es lag etwas Zerstreutes über ihr. Sie konnte sich nicht zum Vergessen zwingen. Ein Glas mit Butterblumen und Hundspetersilie auf der Fensterbank hielt ihre Gedanken auf der Wiese fest, wo die Marienblümchen und ein Schwarm Rotkehlchen in dem üppigen Grase halb versanken. Und doch waren da vor ihr die Gesichter von fünfzig Kindern. Sie glichen fast großen Marienblümchen im dämmerigen Grase.

Eine Helligkeit lag auf ihrem Gesicht, etwas Unwirkliches in ihrem Unterricht. Sie vermochte die Kinder nicht richtig zu sehen. Sie lag im Kampfe mit zwei Welten, ihrer eigenen, der Welt jungen Sommers und der Blumen, und jener anderen Welt der Arbeit. Und nun lag der Glanz ihres Sonnenscheins zwischen ihr und den Kindern.

Aber der Morgen verlief in seltsamer Abgeschiedenheit und Ruhe. Die Frühstückszeit kam, und sie und Maggie tafelten fröhlich bei weitoffenen Fenstern. Und dann gingen sie hinaus auf St. Philipps Kirchhof, wo sie einen schattigen Winkel unter dem blühenden Rotdorn wußten. Und dort redeten sie miteinander oder lasen Shelley oder Browning oder irgendein Werk über »Die Frau und die Arbeit«.

Und als sie wieder in die Schule mußte, lebte Ursula doch weiter in der schattigen Ecke auf dem Kirchhofe, wo rosarote Blütenblätter unter dem Rotdorn wie unzählige kleine Muscheln an einer Meeresbucht verstreut lagen und zuweilen eine Kirchenglocke volltönig erklang, manchmal sogar ein Vogel sich hören ließ, während Maggies Stimme leise und süß weiterlief.

An diesen Tagen fühlte ihre Seele sich vollkommen glücklich. O, sie war so glücklich, sie hätte am liebsten ihre Freude nehmen und mit vollen Händen umherstreuen mögen. Auch ihre Kinder machte sie durch einen leisen Anflug ihrer eigenen Freude glücklich. Aber sie waren für sie diesen Nachmittag auch gar nicht ihre Klasse. Sie waren Blumen, Vögel, kleine helleuchtende Wesen, Kinder, irgendwas. Nur Klasse Fünf waren sie nicht. Sie fühlte keine Verantwortung für sie. Dies eine Mal war es ein reines Spiel, ihr Unterricht. Und wenn sie sich auch mal verrechneten, was lag daran? Und sie wollte sie etwas Nettes lesen lassen. Und an Stelle Geschichte mit einem Haufen Zahlen wollte sie ihnen ein hübsches Märchen erzählen. Und als Ersatz für Sprachlehre könnten sie auch mal etwas Geschriebenes zergliedern, was nicht zu schwer war, weil sie es schon einmal durchgenommen hatten:

»Leichtfüßig sei sie wie ein Reh,
Das fröhlich durch den grünen Klee
Hinauf zum Hügel springet.«

Sie schrieb das aus dem Gedächtnis, weil es ihr so gut gefiel.

So lief dieser goldene Nachmittag hin, und sie ging glückselig nach Hause. Sie hatte ihren Schultag hinter sich und konnte sich nun frei in den glühenden Abend von Cossethay hineinstürzen. Und sie hatte ihren Heimweg so gern. Aber dies war ja auch gar keine Schule gewesen. Es war Schulespielen gewesen unter blühendem Rotdorn.

Aber so konnte es nicht immer weitergehen. Die Vierteljahrsprüfung nahte, und ihre Klasse war noch nicht fertig. Es ärgerte sie, sich nun von ihrem glücklichen Ich losreißen und mit ganzer Kraft dazu zwingen zu müssen, diese schwerfällige Masse von Kindern richtig rechnen zu lassen. Die wollten nicht arbeiten, und sie hatte keine Lust, sie dazu zu zwingen. Und doch, eine Art zweiten Gewissens nagte an ihr und meinte, ihre Arbeit sei nicht wohlgetan. Das reizte sie fast zum Wahnsinn, und sie ließ ihre Gereiztheit an ihrer Klasse aus. Dann kam es wieder zu einem Tag voll Haß und Kampf und Gewalttätigkeit, an dem sie ganz wund nach Hause kam, als sei ihr goldener Abend ihr genommen und sie in einen dunklen, schwer auf ihr lastenden Kerker gesperrt, in dem die Ketten des Bewußtseins, ihr Werk schlecht getan zu haben, sie umschlossen.

Wozu war es denn Sommer, wozu stiegen denn bis zum Abend hin die Lerchen ins Licht empor und sangen bis in die sinkende Nacht hinein, bis zum Abend, wo der Wachtelkönig anfing zu rufen. Was sollte das alles, wenn sie nicht in Stimmung war, wenn sie den ganzen Tag lang an nichts als an die Last, die Schmach ihrer Schule denken konnte.

Und sie haßte diese Schule. Sie schrie laut auf, sie wollte nicht an sie glauben. Warum mußten die Kinder lernen, warum mußte sie sie lehren? Sie konnte genau so gut Wind mahlen. Was für ein Unsinn, sein ganzes Leben so einzurichten, auf die Erfüllung eines törichten, ganz künstlichen Begriffes von Pflicht? Das war alles so zurechtgemacht, so unnatürlich. Die Schule, ihre Aufgaben, die Sprachlehre, die Vierteljahrsprüfung, die Listen – alles ein unfruchtbares Nichts.

Warum sollte sie dieser Welt treu bleiben und sich von ihr beherrschen lassen, auf daß ihre eigene Welt warmen Sonnenscheins und wachsenden, saftstrotzenden Lebens zunichte würde? Das wollte sie einfach nicht. Sie wollte sich der trockenen, herrischen Manneswelt nicht gefangen geben. Sie wollte sich nicht um sie kümmern. Was lag denn daran, wenn ihre Klasse auch in der Vierteljahrsprüfung schlecht abschnitt? Mochte sie doch – was lag denn dran?

Aber trotzdem, als nun die Zeit herankam und der Bericht über ihre Klasse wirklich schlecht ausfiel, da war sie elend, ihre ganze Sommerfreude war dahin, sie fühlte sich in Dunkelheit eingeschlossen. Sie konnte eben dieser Welt künstlichen Getriebes und Arbeitens doch nicht entfliehen, hinaus auf die Felder, wo sie glücklich war. Sie mußte ihren Platz in der arbeitenden Welt behaupten, in ihr ein anerkanntes Mitglied mit vollen Rechten werden. Das war wichtiger jetzt für sie als Felder und Sonne und Dichtung. Aber sie fühlte sich nur um so feindseliger gegen sie.

Sie fand, es sei doch recht schwierig, während der langen Freistunden in den Sommerwochen wieder sie selbst zu sein, wieder ihr glückliches, altes Ich zu werden, das so liebend gern in der Sonne lag, spielte und schwamm und zufrieden war, und daneben als Lehrerin dann gute Ergebnisse aus einer Klasse von Kindern herauszuholen. Mit Vorliebe träumte sie von der Zeit, wo sie keine Lehrerin mehr zu sein brauchte. Aber wenn auch undeutlich, sie empfand doch stets, das Gefühl für Verantwortlichkeit habe für immer einen Halt in ihr gewonnen, und ihre erste Pflicht von nun an sei Arbeit.

Der Herbst ging hin, und der Winter kam näher. Ursula wurde mehr und mehr zu einer Bewohnerin der Welt der Arbeit, die man so Leben nennt. Ihre Zukunft vermochte sie noch nicht zu übersehen, aber nur wenig voraus lag die Hochschule, und an den Gedanken an diese klammerte sie sich zähe fest. Sie würde zur Hochschule gehen und dort zwei oder drei Jahre bei freiem Unterhalt arbeiten. Sie hatte sich schon beworben und hatte für das nächste Jahr eine Stelle angewiesen bekommen.

So arbeitete sie weiter auf ihre akademischen Grade hin. Sie wollte Französisch, Lateinisch, Englisch, Mathematik und Pflanzenlehre nehmen. Sie besuchte Vorbereitungsstunden in Ilkeston und arbeitete die Abende. Denn diese Welt mußte sie sich erobern, diese Kenntnisse erwerben, die Befähigung für sie erst nachweisen. Und sie arbeitete mit großem Eifer aus innerer Sehnsucht. Fast alles war nun dieser einen Sehnsucht unterworfen, ihren Platz in der Welt einnehmen zu können. Was das für eine Art Platz wäre, danach fragte sie gar nicht. Blinde Sehnsucht trieb sie vorwärts. Sie mußte ihren Platz erwerben.

Sie wußte recht gut, als Lehrerin an einer Volksschule würde sie es nie zu großen Erfolgen bringen. Aber ganz versagt hatte sie auch nicht. Sie haßte sie, aber sie war doch mit ihr fertig geworden.

Maggie hatte die St. Philipps-Schule verlassen und hatte eine ihren Fähigkeiten angemessenere Stelle gefunden. Die beiden Mädchen blieben gute Freundinnen. Sie trafen sich beim Abendunterricht, sie arbeiteten zusammen und feuerten gegenseitig ihre Hoffnungen an. Auf was sie am Ende loswollten, was sie eigentlich ersehnten, das wußten sie selbst noch nicht. Aber sie wußten, sie wollten lernen, wissen und handeln.

Sie sprachen auch über Liebe und Ehe und die Stellung der Frau in der Ehe. Maggie behauptete, die Liebe sei die Blüte des Lebens, sie blühe unerwartet und ohne feste Gesetze empor, sie müsse gepflückt werden, wo sie sich finde, und die kurze Zeit ihres Bestehens genossen werden.

Das war Ursula unbefriedigend. Sie glaubte, sie liebe Anton Skrebensky immer noch. Aber sie vergab es ihm nicht, daß er sie nicht genügend anerkannt habe. Er hatte sie verleugnet. Wie konnte sie ihn also noch lieben? Wie konnte nur die Liebe so unbedingt sein? Daran glaubte sie nicht. Sie hielt die Liebe für einen Weg, ein Mittel, nicht für einen Selbstzweck, wie Maggie zu glauben schien. Und die Liebe würde stets einen Weg finden. Aber wohin führte dieser Weg?

»Ich glaube, es gibt in der Welt viele Männer, die man lieben könnte – es gibt nicht nur einen«, sagte Ursula.

Sie dachte an Skrebensky. Ihr Herz war leer beim Gedanken an Winifred Inger.

»Aber du mußt doch zwischen Liebe und Leidenschaft unterscheiden«, sagte Maggie und setzte mit einem Anflug von Verachtung hinzu: »Die Männer geraten leicht in Leidenschaft für dich, aber lieben tun sie dich nicht.«

»Ja«, sagte Ursula heftig mit einem Ausdruck des Leides, fast der Schwärmerei auf ihrem Gesicht. »Leidenschaft ist nur ein Bestandteil der Liebe. Und sie kommt uns nur so wichtig vor, weil sie doch nicht anhalten kann. Daher ist Leidenschaft auch niemals glücklich.«

Im Gegensatz zu Maggie war sie entschieden für Freude, für Glück, für Beständigkeit, während jene für Traurigkeit und das unvermeidliche Vergehen aller Dinge war. Ursula litt bitterlich unter der Hand des Lebens. Maggie stand immer allein, war immer zurückhaltend und hatte sich aus diesem Grunde wohl in dies traurige Hinbrüten versenkt, das ihr fast zu einer Lebensnotwendigkeit geworden war. Während Ursulas letztem Winter an der St. Philipps-Schule erreichte die Freundschaft der beiden Mädchen ihren Höhepunkt, Grade in diesem Winter litt Ursula ganz besonders unter Maggies ewiger, trübseliger Zurückgezogenheit. Maggie freute sich über Ursulas Kämpfe gegen die Beschränkungen des Lebens und duldete sie. Und dann kamen die beiden Mädchen auseinander, da Ursula sich von der Form des Lebens frei machte, in der Maggie umschlossen bleiben mußte.


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